Reine Nervensachen - Medizinische Universität Innsbruck
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Magazin der Medizinischen Universität Innsb ruck Reine Nervensachen Volkskrankheit Schmerz COVID-19-Pandemie Spotlights Dem komplexen Thema widmen sich Forschung & Studien zu Sars-CoV-2, Nephrologie • ALUMNUS Georg Wick unterschiedliche Disziplinen COVID-19 und Long COVID Seltenes Fiebersyndrom • Mykologie
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Sehr geehrte Leserin, sehr geehrter Leser! J ede und jeder von uns hat sie schon ge- So wie die psychische Gesundheit in Zeiten fühlt: Schmerzen – ob psychischer oder der Pandemie eines der zentralen Themen physischer Natur – begleiten die einen ist, dem sich eine Reihe von Studien an un- mehr, die anderen weniger. Betroffen sind wir serer Universität widmet, wird uns auch das im Lauf unseres Lebens aber alle davon. Wie Post-COVID-Syndrom – vielen als Long-CO- aktuell wir mit unserem Titelthema „Chroni- VID geläufiger – als Forschungsthema erhal- scher Schmerz“ in der vorliegenden Ausgabe ten bleiben. Mehr davon erzählen uns zwei sind, zeigt nicht nur die Manifestation von klinische ForscherInnen im Interview. Und chronischem Schmerz als Volkskrankheit, son- wie in dieser Ausgabe nachzulesen, sorgen die dern auch die Vergabe des diesjährigen Medi- Forschungserkenntnisse und Erfahrungsbe- zin-Nobelpreises an David Julius und Ardem richte unserer Expertinnen und Experten zum Patapoutian für die Entschlüsselung der mo- Infektionsgeschehen auch im zweiten Pande- lekularbiologischen Grundlagen körperlicher miejahr für anhaltendes mediales Interesse. Empfindungen. An der Medizinischen Universi- Für Kontinuität im positiven Sinn sorgt tät Innsbruck widmen sich Forscherinnen und auch der Nachfolger im Amt des Vizerektors Forscher aus den unterschiedlichsten Diszipli- für Lehre und Studienangelegenheiten. Der nen diesem komplexen Thema. Lesen Sie mehr „Längseinsteiger“ Wolfgang Prodinger be- zu innovativen Schmerztherapien und neuen richtet im Interview, wie er die hohe Qualität IMPRESSUM Forschungsansätzen in diesem Heft. unseres Medizin-Studiums erhalten und neue Abseits vom Schmerz bietet unser Schwer- Impulse setzen will. Der Lehrbetrieb stand in Herausgeberin & Medieninhaberin: Medizinische Universität Innsbruck, punkt Neurowissenschaften aber auch Wis- der Pandemie vor besonderen Herausforde- Christoph-Probst-Platz, Innrain 52, senswertes über einen neuen Biomarker für die rungen und war so auch ein Stresstest für die Innsbruck Multiple Sklerose, über die Regeneration von IT-Infrastruktur. Nutzen Sie in dieser Ausgabe Verlegerin: KULTIG Werbeagentur KG – Corporate Publishing Nervenfasern oder ein von der Tuba-Stiftung den Blick hinter die Kulissen der Abteilung In- Maria-Theresien-Straße 21 gefördertes Projekt, das untersucht, inwieweit formationstechnologie, die den viel zitierten 6020 Innsbruck, www.kultig.at das Tragen einer Bauchbinde Blutdruckabfälle „Digitalisierungs-Boost“ für unsere Universität Redaktion: David Bullock (db), bei MSA-PatientInnen verhindern und damit bewerkstelligt hat. Andreas Hauser (ah), die Sturzneigung minimieren kann. Spannend Ob digital oder analog – haben Sie viel Freu- Doris Heidegger (hei), auch die Beiträge über die Identifizierung ei- de bei der Lektüre der aktuellen Ausgabe von Barbara H offmann-Ammann (hof), Theresa Mair (mai) ner Kalziumkanal-Genvariante als Verursacher MED•INN! Layout & Bildbearbeitung: neurologischer Erkrankungen, den klinischen Ihr W. Wolfgang Fleischhacker Andreas Hauser, Florian Koch Einsatz von Cannabis-Präparaten oder den Anzeigen: Theresa Rass Fotos: Andreas Friedle, Medizinische noch weitgehend unerforschten Nutzen von Rektor der Universität Innsbruck Bergsport für die psychische Gesundheit. Medizinischen Universität Innsbruck Druck: Gutenberg, Linz Foto: Medizinische Universität Innsbruck / Florian Lechner 01 | 2021 MED•INN 3
Inhalt 16 / Axon-Regeneration Thema: Neuroscience 8 Rund 20 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher sind im Laufe ihres Lebens von der Volkskrankheit „Chronischer Schmerz“ betroffen. An der Medizinischen Universität Die Abbildung von Rüdiger Schweigreiter (Medizinische Universität Innsbruck) und Innsbruck widmen sich Forscherinnen und Forscher Sebastian Munck (Katholieke Universiteit Leuven) zeigt regenerierende Nervenfasern im Ischiasnerv der Maus nach einer Läsion. Die Fasern produzieren einen transgenen unterschiedlichster Disziplinen diesem komplexen Thema. Marker und fluoreszieren deshalb grün. 14 16 Der Verlauf von Multipler Sklerose kann sehr unterschiedlich Um im peripheren Nervensystem die Axonregeneration sein. Mit einem neuen Biomarker zur frühen Prognose will zu verbessern, will Rüdiger Schweigreiter das Wachstum von Harald Hegen die Wahl der Immuntherapie erleichtern. Nervenfasern ankurbeln und präziser steuern. 17 18 Ein Projekt von Gregor Wenning und Alessandra Fanciulli Kalziumkanäle steuern zahlreiche Körperfunktionen, spielen verfolgt das Ziel, mit Hilfe einer Bauchbinde die Mobilität von aber auch, wie ein Team rund um Bernhard Flucher nachweisen Menschen mit Parkinson-Syndromen zu verbessern. konnte, bei neuronalen Entwicklungsstörungen eine Rolle. 20 22 In einer Innsbrucker Pilotstudie konnte gezeigt werden, dass Was für den Körper gesund ist, tut auch der Seele gut, ein Cannabinoid manche Symptome bei Morbus Parkinson zu heißt es. Doch inwieweit gilt das auch für psychisch kranke lindern scheint. Doch wie schaut es generell mit dem gehypten Menschen beim Bergsport? Psychiaterin und Neurologin klinischen Einsatz von Cannabis-Präparaten aus? Katharina Hüfner wartet mit ersten Erkenntnissen auf. Junge Forschung 28 Junge Forschung: Während die Bio- und Umwelttechnologin Judith Hagenbuchner im 3D Bioprinting Labor technisches Know-how und Zellbiologie kombiniert, sucht am Institut für Biologische Chemie die Lise-Meitner-Stipendiatin Clara Baldin im Eisenstoffwechsel von Aspergillus fumigatus nach neuen 29 / Clara Baldin Angriffspunkten. Coverfoto: Rüdiger Schweigreiter / Sebastian Munck 4 MED•INN 01 | 2021
Spotlights 30 32 COVID-19: Expertinnen und Experten der Medizini- COVID-19 & Long COVID: Judith Löffler-Ragg und Raimund schen Universität Innsbruck lieferten 2021 für Medien und Helbok erläutern, wie ein interdisziplinäres Forschungsteam Bevölkerung Wissenswertes zum Coronavirus. Ein Auszug. Long COVID charakterisieren und Symptome objektivieren will. 34 36 COVID-19 & Psyche: Welche Auswirkungen haben die Angst COVID-19 & Kardiologie: Ein Team aus Innsbruck und vor einer Infektion, die Erkrankung selbst und die sozialen München untersuchte den Einfluss von ACE-Hemmern und Begleitumständeauf die psychische Gesundheit? Angiotensin-Rezeptorblockern. 38 38 / Wolfgang Prodinger Interview: Wolfgang Prodinger, neuer Vizerektor für Lehre und Studienangelegenheiten, setzt auf Kontinuität in der Lehre. 40 Infrastruktur: Die IT-Abteilung der Medizinischen Universität Innsbruck „baut“ an einem Data-Warehouse für die Forschung. 42 44 Mykologie: Die Mikrobiologin Michaela Lackner will eine neue Nephrologie: Gert Mayer möchte Krankheitsverläufe bei Generation von Antimykotika mitentwickeln. diabetischen Nierenerkrankungen rechnerisch vorhersagen. 46 Seltenes periodisches Fiebersyndrom: Andreas und Sabine Gruber erhielten in Innsbruck Diagnose und passende Therapie. 48 ALUMNUS im Interview: Georg Wick, 1975 nach Innsbruck berufen, etablierte die Alternsforschung in Tirol. 42 / Michaela Lackner Rubriken 50 Editorial/Impressum 3 | Neuberufungen & Auszeichnungen 6 Hautklinik: Innsbrucks einzige Sammlung medizinischer Mou- Im Detail: Molekularer Inflammationsmarker 24 | Kurzmeldungen 26 lagen wurde einer „Frischekur“ unterzogen. Fotos: Rüdiger Schweigreiter / Sebastian Munck( 1), Medizinische Universität Innsbruck (1), Andreas Friedle (2) 01 | 2021 MED•INN 5
Wieder Sieg beim Neuberufungen Paul-Ehrlich-Contest Angewandte Anatomie Ein Studierenden-Team der Med Zum Professor für Angewandte Anato- Uni Innsbruckerreichte den 1. mie wurde Marko Konschake berufen. Platz beim Paul- Ehrlich-Contest Konschake steht für einen Austausch 2021. Bereits 2018 und 2019 wa- des Wissens: „Die angewandte Ana- ren die Innsbrucker Studierenden Prämierte tomie ist mehr, als sich die Menschen die Besten. Der Sieg des interna- vorstellen.“ Die Zukunft der anatomi- tionalen Leistungswettbewerbs Chirurginnen schen Lehre liegt für Konschake in der Kombination des stellt den Innsbrucker Studieren- Im Rahmen des 62. Kongresses Studiums am realen Körper und der Verwendung neu- den und der medizinischen Aus- der Österreichischen Gesellschaft er digitaler Hilfsmittel: „Die Haptik kann man allerdings bildung am Standort abermals für Chirurgie in Salzburg wurde nicht an einem digitalen Seziertisch erfahren.“ Es sei ein hervorragendes Zeugnis aus. Annemarie Weißenbacher (im notwendig, dass die künftigen ÄrztInnen den gesam- Marcel Dagli, Martina Dalpiaz, Bild) für eine klinisch-experimen- ten Körper sezieren – eine Besonderheit in Innsbruck. Lukas Gatterer, Felix Öttl und telle Studie zur normothermen Nikolas Schmidbauer setzten Langzeitnierenperfusion mit dem Hepatologie sich gegen 14 Teams von ande- angesehenen Theodor Billroth- Über das Eisen führte der Weg von ren renommierten medizinischen Preis ausgezeichnet. Margot Fo- Heinz Zoller zur Leber und nun zur Hochschulen durch, als es darum dor, ihre Kollegin im OrganLife- Professur für Hepatologie. Das hohe ging, möglichst schnell und richtig Labor der Universitätsklinik für Niveau zu halten und mit weiter aus- Blick- und Differentialdiagnosen Visceral-, Transplantations- und zubauen, ist eines seiner Ziele für die zu stellen und Multiple- Choice- Thoraxchirurgie, erhielt den Wis- Hepatologie. „Innsbruck soll das west Fragen, klinische Fälle und prak- senschaftspreis. Damit gingen österreichische Referenzzentrum für akute und chroni- tische Aufgaben zu bewältigen. erstmals beide Preise nach Inns- sche Lebererkrankungen bleiben“, betont der Leiter des 2022 wird Innsbruck Austra- bruck. Christian-Doppler-Forschungslabors für Eisen- und gungsort sein. Phosphatbiologie. Molekulare Onkologie Preis für kardio Per Sonne Holm wurde zum Professor Auszeichnungsreigen vaskuläre Forschung für Molekulare Therapien an die Uni- versitätsklinik für Mund- Kiefer und Einen Reigen an Auszeichnungen Der von der Medizinischen Uni- Gesichtschirurgie berufen. Sein Haupt- und Würdigungen für wissen- versität Wien und der Österrei- interesse liegt in der Erforschung von schaftliche MitarbeiterInnen der chischen Kardiologischen Gesell- Krebstherapien mit Hilfe von Viren, die Universitätsklinik für Dermato- schaft ausgeschriebene Hans sich nur im Tumor vermehren. An der Medizinischen logie, Venerologie und Allergolo- und Blanca Moser-Förderungs Universität Innsbruck schätzt der Biologe das „Ge- gie gab bei der Jahrestagung der preis auf dem Gebiet der kardio samtpaket“: Forschungsfeld und -richtung seitens der Österreichischen Gesellschaft vaskulären Forschung ging heuer Universität waren bereits vorhanden. für Dermatologie und Vene- an den Innsbrucker Arzt Lukas rologie (ÖGDV). So wurde der Mayer-Süß von der Universitäts- Pathophysiologie Ferdinand von Hebra-Preis an klinik für Neurologie. In dem mit Die Pathophysiologie hat es Hesso Gudrun Ratzinger verliehen. As- 3.000 Euro prämierten Projekt Farhan angetan. Nun folgte er dem sistenzarzt und Postdoc Stefan beschäftigten sich Mayer-Süß Ruf nach Innsbruck und trat hier seine Blunder erhielt den ÖGDV Cli- und Michael Knoflach im Rah- Professur an. Eines seiner Hauptfor- nician Scientist Fellowship. Der men der Dissektionskohorten- schungsgebiete ist der intrazelluläre Anton Luger-Dissertationspreis studie ReSect mit spontanen Transport, der bei mehr Krankheiten der Gesellschaft ging an Dominik Dissektionen der Halsgefäße, die eine Rolle spielen könnte, als bisher bekannt ist. Mit Klaver, der im Molekularbiolo- einer der Hauptgründe für einen Projekten zum Multiplen Myelom, Brustkrebs oder Par- gischen Labor der Hautklinik im ischämischen Schlaganfall bei Er- kinson hat der Grundlagenforscher aber auch die klini- Bereich der Allergieforschung wachsenen unter 50 Jahren sind. sche Anwendung seiner Erkenntnisse im Blick. arbeitet. Fotos: Medizinische Universität Innsbruck (4), Robert Schober (1) 6 MED•INN 01 | 2021
Doppelte Auszeichnung Nach dem Studium an der Medizinischen Universität Inns bruck dissertierte die Innsbrucker Gefäßchirurgin Alexandra Gratl 2018 auch an der Berliner Charité. Für ihre Erkenntnisse zur Erforschung der Mitochondrienfunkti- on bei PatientInnen mit peripherer arterieller Verschluss- krankheit im Rahmen ihrer Dissertation erhielt sie nun den „Wissenschaftspreis 2020“ der deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin-Preis Gefäßchirurgie und Gefäßmedizin e.V. Im Zuge des „55th Prämierte Gender Congress of the European Society for Surgical Research Medizin Martin Bodner vom Fachbereich (ESSR)“ wurde sie auch mit dem „ESSR Best Clinical Forensische Genomik am Insti- Research Award“ aus- Den Preis für Gender Medizin tut für Gerichtliche Medizin war gezeichnet. Gratls For- 2020 der Med Uni Innsbruck er- an Aufbau und Etablierung der in schung soll nun als Teil hielt Evi Holzknecht, Assistenz Innsbruck verorteten DNA-Fre- eines neuen Forschungs- ärztin und Schlafforscherin an der quenzdatenbank STRidER (STRs schwerpunkts an der Universitätsklinik für Neurologie for Identity Referenzdatenbank Innsbrucker Uniklinik für für eine Publikation im Journal of des Netzwerks der Europäischen Gefäßchirurgie weiterge- Sleep Research. Die Ergebnisse Forensischen Institute) maß- führt werden. der vergleichenden Untersuchung geblich beteiligt. Nun wacht er von 42 Frauen und 42 Männern über die Einträge in STRidER hinsichtlich des Schweregrads und unterzieht entsprechende des Restless Legs Syndroms, der Datensätze aufwändigen Über- Beste medizinische Doktorarbeit Eisenparameter und polysomno- prüfungen. Die Deutsche Gesell- grafischer Daten weisen ihr zufol- schaft für Rechtsmedizin (DGRM) Für seine Doktorarbeit wurde Can Gollmann-Tepeköylü ge auf bisher noch nicht näher be- würdigte den wissenschaftlichen von der Universitätsklinik für Herzchirurgie mit dem Wil- schriebene Genderunterschiede Einsatz des Genetikers nun mit helm Auerswald-Preis – zur Verfügung gestellt von der hin: „Bei Frauen stehen sensori- dem angesehenen Konrad-Sanofi-aventis GmbH – ausgezeichnet. Mit seinem Team sche Symptome im Vordergrund, Händel-Preis für Rechtsmedizin gelang es ihm nachzuweisen, dass der Immunrezeptor während Männer vorwiegend 2021. Toll-Like Rezeptor 3 eine gewichtige Rolle bei der Entste- motorische Symptome zeigen“, hung der Aortenklappenstenose spielt. erläutert Holzknecht. Drei Preise für die „Ausgezeichnete“ Innsbrucker Herzmedizin Anästhesie Innsbrucks KardiologInnen und HerzchirurgInnen liefern seit jeher essen- Die Österreichische Gesellschaft zielle Beiträge auf dem Gebiet der Herzmedizin und konnten sich Ende Mai für Anästhesiologie, Reanimation im kompetitiven Umfeld der Jahrestagung der Österreichischen Kardiolo- und Intensivmedizin (ÖGARI) hat gischen Gesellschaft (ÖKG) sowie der parallel stattfindenden Jahrestagung im Rahmen ihres Jahreskongres- der Österreichischen Gesellschaft für Herz- und thorakale Gefäßchirurgie ses Ende November 2020 Aus- (ÖGHTG) hervorragend behaupten. Insbesondere junge KollegInnen der zeichnungen für die drei besten Arbeitsgruppen um Sebastian Reinstadler und Bernhard Metzler (Uniklinik eingereichten Abstracts verge- f. Kardiologie u. Angiologie) sowie Johannes Holfeld (Uniklinik f. Herzchirurgie) konnten ben. Alle drei Preise gingen an mit der wissenschaftlichen Qualität ihrer Arbeiten aufzeigen: Christoph Krapf wurde für ÄrztInnen des Departments für die beste Publikation auf dem Gebiet der Herzchirurgie mit dem Wolfgang Denk-Preis der Experimentelle Anästhesie – un- ÖGHTG ausgezeichnet. Das begehrte, mit 50.000 Euro dotierte „Präsidentenstipendium“ ter der Leitung von Judith Marti- der ÖKG ging an die Kardiologin Christina Tiller (im Bild). Außerdem wurden noch Arbei- ni – an der Universitätsklinik für ten von Ivan Lechner, Leo Pölzl und Michael Graber ausgezeichnet. Gleich zweimal räumte Anästhesie und Intensivmedizin Felix Nägele ab: Seine Arbeiten wurden sowohl mit dem Best Abstract Award der ÖKG in Innsbruck: Julia Abram, Patrick der Kategorie „COVID-19 und Herz“ sowie dem Best Abstract Award in der Kategorie Basic Spraider und Gerald Putzer. Science der ÖGHTG honoriert. Fotos: Medizinische Universität Innsbruck 01 | 2021 MED•INN 7
Den Schmerz im Visier Akuter Schmerz hilft uns, unseren Körper zu schützen. Doch Schmerz kann diese Warnfunktion verlieren und sich zu einem eigenständigen Krankheitsbild entwickeln. Rund 20 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher sind im Laufe ihres Lebens von solchem chronischen Schmerz betroffen. Die Volkskrankheit „Chronischer Schmerz“ steht daher auch im Fokus von Forschung und Behandlung an der Medizinischen Universität Innsbruck, dem komplexen Thema widmen sich Forscherinnen und Forscher unterschiedlichster Disziplinen. 8 MED•INN 01 | 2021
E igentlich“, sagt Andreas Schlager, „ist Schmerz“ steht daher auch im Fokus von unser Kreuz ja nur ein dünnes Stan- Forschung und Behandlung an der Medizini- gerl, an dem das ganze Körpergewicht schen Universität Innsbruck, dem komplexen hängt und das durch Arbeit und Sport extrem Thema widmen sich Forscherinnen und For- belastet wird. Da bin ich immer wieder ver- scher unterschiedlichster Disziplinen. blüfft, wie viel es aushält.“ Doch alles hält un- Schmerztherapie ser Rücken doch nicht aus, wie Schlager, Lei- „SCHMERZ IST an und für sich etwas Gutes, ter der Schmerzambulanz an der Innsbrucker er warnt vor Schäden, die unserem Körper an der Wirbelsäule Universitätsklinik für Anästhesie und Intensiv zugefügt werden können. So reagieren wir Das linke Bild zeigt die sichere medizin, weiß. Der Großteil seines Klientels auf schmerzhafte Reize, indem wir z. B. blitz- Zielführung der Nadel im CT an kommt wegen chronischer Schmerzen im schnell den Finger von einer heißen Herdplat- die Nervenwurzel heran. Das Bewegungsapparat, hauptsächlich betroffen te nehmen“, sagt Michaela Kress, Direktorin rechte Bild zeigt die Verteilung der mit Kontrastmittel gemisch- ist das „dünne Stangerl“. Was durch Zahlen des Instituts für Physiologie der Medizini- ten Lokalanästhetikum-Korti- bestätigt wird: Laut der Krankheitslast-Stu- schen Universität Innsbruck. Ausgangspunkt son-Mischung in optimaler Aus- die BURDEN 2020 sind fast zwei Drittel der für das Empfinden von akutem Schmerz sind breitung um die Nervenwurzel. deutschen Bevölkerung von Rückenschmer- Schmerzsensoren, die Nozizeptoren. Diese zen betroffen (61,3 Prozent), 15,5 Prozent der freien sensorischen Nervenendigungen neh- Befragten – umgerechnet circa 12,5 Millionen men schmerzende Reize – z. B. extreme Hit- Menschen – klagten über chronische, also ze an der Fingerkuppe – auf, wandeln sie in über drei Monate oder länger anhaltende, fast elektrische Signale um und schicken diese täglich auftretende Rückenschmerzen. Das mit rund 20 Meter pro Sekunde Richtung Rü- „Kreuz mit dem Kreuz“ ist somit die häufigs- ckenmark. Dort wird eine Reflexschaltung – te Form des chronischen Schmerzsyndroms z. B. das Zurückziehen der Hand – ausgelöst, (siehe Infobox Seite 11). Von irgendeiner Art die größere Schäden verhindert. Gleichzeitig von chronischem Schmerz, schätzt Schlager, wird die Information an verschiedene Regi- werden 20 Prozent der Österreicherinnen onen im Gehirn weitergeleitet, wo Schmerz und Österreicher im Laufe ihres Lebens be- bewusst wahrgenommen, emotional bewer- troffen sein. Die Volkskrankheit „Chronischer tet und verarbeitet wird. Durch anhaltende, immer wieder keh- rende Schmerzreize oder bei Entzündungen reagieren Nozizeptoren immer empfindlicher – in Folge sinkt die Schmerzschwelle. Aus der ständigen Aktivität in der Schmerzbahn ent- wickelt sich ein Schmerzgedächtnis: Das Ner- vensystem hat „gelernt“, Schmerzen zu emp- finden. Der Schmerz wird chronisch und zur eigenen Schmerzerkrankung mit psychischer Belastung der Betroffenen und ihrer Familien. „Um Schmerztherapeutinnen und -therapeu- ten wirksamere Behandlungsmöglichkeiten zu geben, müssen wir die Prozesse besser verste- hen, die zur Chronifizierung von Schmerz füh- ren“, sagt Kress, die in ihrer Forschung am Be- ginn der Schmerzbahn, bei den Nozizeptoren, ansetzt: „Wir beschäftigen uns unter anderem mit proinflammatorischen Zytokinen, im Spe- ziellen mit Interleukin 6, und seinen Rezepto- ren.“ So untersuchte sie in dem FWF-Projekt NIPPS das Zusammenspiel von Interleukin 6 „Schmerz kann man nicht mit einem Rezeptor (Glykoprotein gp130) und heilen. Wir lindern ihn.“ einem Ionenkanal (TRPA1) beim neuropathi- Andreas Schlager schen Schmerz. „TRPA1 erlaubt den Nozizep- 10 MED•INN 01 | 2021
Michaela Kress und Kai Kummer wollen die Prozesse, die zur Chronifizierung von Schmerz führen, besser verstehen. toren, etwa auf Druckreize oder Abkühlung zu Schmerzwahrnehmung assoziiert sind – be- reagieren“, erklärt die Medizinerin. Während sonders verändert werden“, sagt Kummer. TRPA1 nach der Verletzung in den lädierten Gestartet hat er mit dem präfrontalen Cor- Nervenfasern fast verschwindet, wird der Io- tex, der gezielt auf den Neuro transmitter nenkanal in den noch intakten Fasern stark Acetylcholin untersucht wurde. „Wir konn- nach oben reguliert, wodurch diese sehr viel ten im Mausmodell zeigen, dass es beim empfindlicher werden. „Wir gehen davon aus, chronischen Schmerz im präfrontalen Cortex Chronisches dass dieser Mechanismus sekundär die Ver- zur Verminderung der Aktivität kommt und änderungen im Rückenmark und Gehirn an- dass das basale Vorderhirn – eine wichti- Schmerzsyndrom stößt“, vermutet Kress. ge, bislang im Schmerzkontext nicht un- Von einem chronischen Schmerz- tersuchte Hirnregion – dabei eine wichtige syndrom bzw. chronischen Schmer- IHR INNSBRUCKER TEAM stieß vor einigen Rolle spielt“, berichtet Kummer. Das basale zen spricht man, wenn Schmerzen über einen Zeitraum von mindestens Jahren auf einen wichtigen Bestandteil der von Vorderhirn ist sozusagen die Quellregion für drei bis sechs Monaten fast immer Interleukin 6 gesteuerten Signalprozesse, näm- den „Kognitionsneurotransmitter“ Acetyl- vorhanden sind oder häufig wieder- lich regulatorische microRNAs (miRNA). Diese cholin. „Es kommt zu einer Veränderung der kehren und die Patientinnen und Pa- kurzen Sequenzen von Nukleotiden gehören cholinergen Signale“, weiß der Forscher, der tienten körperlich (Beweglichkeits- verlust, Funktionseinschränkung), zur Gruppe der non-coding RNA (ncRNA), die aktuell zu entschlüsseln versucht, welche körperlich-kognitiv (Befindlichkeit, – im Gegensatz zur messenger RNA – nicht in Neuronentypen im basalen Vorderhirn dafür Stimmung, Denken) und sozial be- Proteine übersetzt werden. Lange Zeit dachte verantwortlich sind: „Wir untersuchen auch, einträchtigen. Der Schmerz hat dabei man, ncRNA und miRNA wären überflüssige welche Regionen in das basale Vorderhirn seine eigentliche Funktion als Warn- und Leithinweis verloren und ist das Abfallstoffe, inzwischen weiß man, dass sie projizieren.“ Dass das basale Vorderhirn ein vorherrschende Symptom („Leitsym- wichtig für die Regulation zahlreicher intrazel- starker Modulator für die Chronifizierung von ptom“) der Beschwerden. lulärer Signalkaskaden sind. „Wir gehen davon Schmerz zu sein scheint, sei, sagt Kress, „be- Erkrankungen, die zu chronischen aus, dass bestimmte m iRNAsdie Nozizeptoren sonders spannend in Hinblick auf die mit der Schmerzen führen können, sind • Erkrankungen oder Verletzungen so verändern, dass diese vermehrt aktiv sind. Zeit immer stärker wirksamen psycho-sozia- des Bewegungsapparats (Arthritis, Diese vermehrte Aktivität führt im Rücken- len Faktoren bei der Manifestation der chroni- Arthrose, Rheuma, Osteoporose, mark und Gehirn zu Verstärkungsprozessen. schen Schmerzerkrankung.“ Knochenfrakturen…) In Folge dieser verstärkten Aktivität kommt es Dieses Zusammenspiel von Physis und Psy- • Tumorerkrankungen • Erkrankungen des Nervensystems auch dort zu funktionellen und strukturellen che kommt auch in der Behandlung von chro- (Gürtelrose, Multiple Sklerose, Par- Veränderungen“, spannt Kress den Bogen zur nischem Schmerz zum Tragen. „Es gibt ein kinson…) Arbeit ihres Mitarbeiters Kai Kummer, der sich international anerkanntes biopsychosoziales • Psychische Erkrankungen (Angst- auf Mechanismen, die im Gehirn stattfinden, Schmerzmodell. Es ist wichtig, Patientinnen störungen, Depressionen…) • Erkrankungen innerer Organe (chro- konzentriert. und Patienten in diesem Sinne abzuklären“, nische Entzündungen der Bauch- „Uns interessiert, welche Neuronentypen betont Andreas Schlager. Betroffene wer- speicheldrüse, chronisch-entzünd- in der Pain-Matrix – Hirnregionen, die mit den von ihren Ärztinnen und Ärzten an die liche Darmerkrankungen…) Fotos: Universitätsklinik für Neuroradiologie (1), Andreas Friedle (2) 01 | 2021 MED•INN 11
die einen sind primäre Kopfschmerzen (PKS), die anderen sekundäre (SKS). „Bei PKS ist der Schmerz selbst die Erkrankung, bei SKS ist er das Symptom einer anderen Erkrankung“, er- klärt Brössner den Unterschied, dem bei der Diagnose sein erstes Augenmerk gilt: „PKS wie Migräne, Spannungs- oder Clusterkopf- schmerz sind unangenehm bis extrem belas- tend, aber nicht lebensbedrohend. SKS kön- nen das sehr wohl sein, etwa als Auswirkung einer Gehirnblutung.“ Schwieriger zu klären ist die Frage, ob Kopfschmerzen eine chronische Schmerzerkrankung sind. Migräne etwa be- gleitet Menschen über einen langen Zeitraum ihres Lebens – hauptsächlich betroffen ist die Altersgruppe der ca. 20- bis 50- und 60-Jäh- „In Innsbruck haben Innsbrucker Schmerzambulanz überwiesen. rigen –, kann aber episodisch ein- bis zweimal wir neben der Dort werden von Schlager und seinen Mit- im Jahr bis zu mehrmals in der Woche auf- Computertomografie arbeiterinnen Sabine Egger-Zech und Anna treten. Neben anderen PKS steht die Migrä- auch die Rastner ein standardisierter Fragebogen und ne im Fokus der wissenschaftlichen Arbeit sonografiegesteuerte schon existierende Befunde gecheckt bzw. Brössners: „30 Prozent der Österreicherinnen neue angefordert. Dann folgt das Gespräch. sind davon betroffen, auf die Gesamtbevöl- Infiltration gut etabliert.“ Eine Stunde nimmt sich Schlager Zeit, gilt es kerung gesehen sind es 13 Prozent.“ Reiz und Elke Gizewski doch, mögliche biologische, psychische und/ Herausforderung in der Kopfschmerzmedizin oder soziale Ursachen zu ergründen. „Der sind für ihn, „dass wir noch keinen Biomarker, persönliche Umgang mit Schmerz ist unter- keinen Eiweißstoff im Blut gefunden haben, schiedlich. Der eine kennt keinen Schmerz, der der zeigt, ob ein Patient Migräne oder eine an- andere ist dafür sehr empfänglich. Oft geht dere Erkrankung hat. PKS werden daher aus- es dabei um Vorerfahrungen, körperlicher schließlich mit Hilfe ausführlicher Anamnese oder psychischer Missbrauch ist nicht selten diagnostiziert.“ Auf der Suche nach solchen eine Ursache“, sagt Schlager. Dieses subjek- Biomarkern forscht er mit seinem Team in der tive Schmerzempfinden mache die Diagnose Höhenkammer (siehe Infobox Seite 13). Mit schwierig: „Alle Über-50-Jährigen haben eine ihrer Hilfe hofft Brössner Aussagen treffen zu Abnützung der Wirbelsäule. Die einen spüren können, ob ein erhöhtes Risiko für schwere nichts, andere haben chronische Rücken- Migräne besteht oder wie Betroffene auf be- schmerzen. Wir müssen herausfinden, ob kör- stimmte Therapien ansprechen. perliche oder psychische Aspekte der Grund Dass Kopfschmerzen als tatsächliche dafür sind.“ Daher wären multidisziplinäre neurobiologische Erkrankungen verstanden Schmerzambulanzen wie in anderen Ländern werden, liegt auch an neuen bildgebenden oft üblich, an denen Betroffene von mehre- Verfahren. „In Zusammenarbeit mit der Inns- ren Fachärztinnen und Fachärzten untersucht brucker Universitätsklinik für Neuroradiologie werden, wünschenswert. Schlager: „In Öster- und dem Institut für Systemische Neurowis- reich gibt es das leider nicht.“ So behelfe man senschaften in Hamburg-Eppendorf konnten sich mit Erfahrung und der guten Zusammen- wir visuell darstellen, dass Teile des Gehirns arbeit mit anderen Kliniken – wie etwa der in Migränephasen anders funktionieren“, sagt Neurologie, wo Gregor Brössner die Ambulanz Brössner. Doch moderne Bildgebung ist nur für Kopf- und Gesichtsschmerzen leitet. eines der „spannenden neuen Tools“, wie sie Kai Kummer nennt, mit denen Forscherinnen RUND 200 VERSCHIEDENE Kopfschmerz und Forscher dem „extrem komplexen Phäno- erkrankungen kennt die International Classi- men Schmerz“ auf den Grund gehen wollen. fication of Headache Disorders: die einen sind Kummer etwa setzt auf Optogenetik. Aus extrem selten, die andere eine Volkskrankheit; Algen extrahierte lichtsensitive Proteine wer- 12 MED•INN 01 | 2021
„Reiz und Herausforderung der Kopfschmerzmedizin sind, dass wir Migräneforschung noch keine Biomarker gefunden in der Höhenkammer haben, die zeigen, ob ein Patient Migräne oder eine andere „Wir haben hier in Innsbruck das weltweit erste nicht-invasive Kopfschmerzerkrankung hat.“ humane Migränemodell ent- Gregor Brössner wickelt“, sagt Gregor Brössner, Leiter der Ambulanz für Kopf- und Gesichtsschmerzen an der den dabei in Zielzellen eingeschleust. „Diese Universitätsklinik für Neurologie. können dann mittels Licht aktiviert werden“, Und dass es gerade in der Tiro- erläutert Kummer. Im Gegensatz etwa zu ler Landeshauptstadt entwickelt wurde, sei kein Zufall, stehe es pharmakologischen Verfahren, die auf alle doch in engem Zusammenhang Zelltypen einwirken, „können wir mit optoge- mit dem Bergsport. Ausgangs- netischen Verfahren bestimmte Nervenzellen punkt waren zwei Beobachtun- aussuchen, selektiv aktivieren und beobach- gen: Untersuchungen zeigen, dass Menschen, die in Höhenre- ten, wie sie sich verhalten.“ Mitwirkung der Patientinnen und Patienten gionen wie Nepal leben, häufiger ist immens wichtig." – oder einer medikamen- an Migräne leiden; andere Un- MIT „KLASSISCHER“ BILDGEBUNG, wie tösen Therapie, wobei auf die genaue Einstel- tersuchen belegen, dass Berg- zum Beispiel funktioneller Magnetresonanzto- lung der Schmerzmittel und mögliche Neben- steigerinnen und Bergsteiger ab bestimmten Höhen vermehrt mografie (fMRT), will hingegen Elke Gizewski, wirkungen zu achten ist. „Ein 50-Jähriger mit Kopfschmerzen bekommen und Direktorin der Universitätsklinik für Neuro- Rückenproblemen nimmt seine Medikamente dass Migräne ein Risikofaktor radiologie, die zerebrale Schmerzmodulation ja jahre- bis jahrzehntelang ein“, sagt Schlager. für die Entwicklung der Höhen- sichtbar machen. In einer Studie untersuchte Die (Neuro-)Radiologie kommt bei sogenann- krankheit ist. „Wir haben uns dann die Frage gestellt, ob Höhe sie zum Beispiel die Schmerzverarbeitung von ten Infiltrationstherapien wieder ins Spiel. per se Migräneattacken auslösen Probandinnen und Probanden, die autogenes CT-gesteuert wird ein Gemisch aus Cortison kann“, sagt Brössner. Studien in Training beherrschen, und die einer Kontroll- und lokalem Betäubungsmittel gezielt an die der Höhenkammer am Institut gruppe. „Wir konnten zeigen, dass in solchen schmerzende Stelle injiziert, um Schmerzen für Sportwissenschaft der Uni- versität Innsbruck bestätigten Trainingsphasen bestimmte Teile des lim- auf längere Zeit zu lindern. „In Innsbruck haben diese Überlegung. Simuliert bischen Systems im Vergleich zu normalen wir zusätzlich die sonografiegesteuerte Infilt- werden Höhenlagen von 4. 500 Wachphasen herunterreguliert sind. Autoge- ration gut etabliert“, berichtet Gizewski, die Metern, die freiwilligen Mig- nes Training hat also einen sicht- und mess- überzeugt ist, dass diese Methode aufgrund ränepatientinnen und -patienten bekommen „mit hoher Wahr- baren zerebralen Effekt“, berichtet Gizewski. der wegfallenden Strahlenbelastung vermehrt scheinlichkeit eine Migräneatta- Entspannende Verfahren wie autogenes Trai- zum Einsatz kommen wird. Rund zehn bis 15 cke“, so Brössner. Zeitnahe Blut- ning oder Meditation könnten daher durchaus Rücken-Infiltrationen werden an der Innsbru- untersuchungen zeigen dabei einen positiven Einfluss auf die Schmerzbe- cker Neuroradiologie und Radiologie täglich Veränderungen an bestimmten Biomarkern. „Wir können jene wertung haben. durchgeführt, reichen diese nicht mehr aus, Botenstoffe nachweisen, die für Bildgebende Verfahren kommen aber nicht besteht in bestimmten Fällen die Möglichkeit, eine mögliche Migränetherapie nur in der Schmerzforschung, sondern auch mittels Nervverödung durch Hitze oder Kälte entscheidend sind“, berichtet in der Schmerztherapie zum Einsatz. Hoch- die Rückenleiden zu lindern. Brössner und verweist nochmals auf die Einzigartigkeit dieses Hy- aufgelöste Bilder aus CT und MRT verfeinern „Eine Operation sollte die Ultima Ratio sein“, poxiemodells. „Es ist nichtinva- die Diagnose etwa beim Rückenschmerz. Wo hält Schlager fest. Für ihn ist die Schmerzthe- siv – im Gegensatz zu anderen genau liegt der Bandscheibenvorfall? Welche rapie das Paradebeispiel einer personalisierten Modellen, bei denen bestimm- Nervenwurzel ist betroffen? Drückt etwa eine Medizin, sie ist „ein subjektives Eingehen auf te Substanzen injiziert werden müssen.“ Zyste? Mit der verbesserten Differentialdiag- jede Patientin bzw. jeden Patienten mit einer nose wird das weitere Vorgehen besprochen. eigens abgestimmten Therapie.“ Zudem ist „Schmerz kann man nicht heilen“, betont da- Schmerz eine interdisziplinäre und allgegen- bei Schlager, „wir lindern den Schmerz.“ Die wärtige Angelegenheit. „Alle Ärztinnen und Abnützung der Wirbelsäule kann nicht rück- Ärzte sind bei ihrer Arbeit mit dem Thema gängig gemacht werden, verbessert werden Schmerz konfrontiert. Insofern wäre es wün- kann aber die Lebensqualität: Mit Gymnastik, schenswert, wenn es auch in der medizini- Training oder Physiotherapie – Schlager: „Die schen Ausbildung fest verankert wäre.“ ah ¶ Fotos: Andreas Friedle 01 | 2021 MED•INN 13
Biomarker mit Weitblick Die Multiple Sklerose ist eine chronisch entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems, deren Verlauf sehr unterschiedlich sein kann. Ein neuer Biomarker zur frühen Prognose soll die Wahl der Immuntherapie erleichtern. 14 MED•INN 01 | 2021
D ie Multiple Sklerose ist die häufigs- sich um ein Protein, das im Liquor cerebrospi- te neurologische Erkrankung im nalis nachweisbar ist“, so Harald Hegen. jungen Erwachsenenalter, die meist In die Innsbrucker Studie wurden insge- zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr auf- samt 88 Patientinnen und Patienten zum tritt und mit dem Risiko für eine bleibende Zeitpunkt des ersten klinischen Ereignisses, Behinderung verbunden ist. Lähmungen, etwa einer Rückenmarks- oder Sehnerv Sensibilitätsdefizite, Gleichgewichtsstörun- entzündung, eingeschlossen. Das Durch- gen, Sehstörungen, Gehbehinderung und schnittsalter lag bei 33 Jahren, zwei Drittel kognitive Beeinträchtigungen können die waren Frauen, damit entsprach die Kohorte Folge entzündlicher Veränderungen in Ge- einem auch in der Realität typischen Kollektiv hirn und Rückenmark sein. Typischerweise von Patientinnen und Patienten. Die Studi- treten Beschwerden in Form sogenannter enteilnehmerinnen und -teilnehmer wurden Krankheitsschübe auf. Wann sich ein Schub dann über vier Jahre lang beobachtet. ereignet, ist kaum vorauszusehen, denn der Anhand initial, zum Krankheitsbeginn, Krankheitsverlauf ist interindividuell sehr un- entnommener Liquor- und Serum-Pro- terschiedlich. ben wurde der K-FLC-Index bestimmt und „Die Zeit nach der Erstmanifestation bis mit der Zeit bis zum Auftreten des zweiten zum zweiten Schub hat einen Einfluss auf Krankheitsschubes verglichen. Das Ergebnis: die Langzeitprognose. Eine Vorhersage zu Patientinnen und Patienten mit einem ho- Beginn der Erkrankung ist schwierig und hen K-FLC-Index (über 100) hatten ein vier- erschwert oft die Therapieentscheidung“, fach erhöhtes Risiko für einen schwereren weiß Harald Hegen. Der Neuroimmunologe Krankheitsverlauf. Die Zeit bis zum zweiten forscht an der Innsbrucker Universitätsklinik Schub betrug im Schnitt lediglich elf Mona- für Neurologie seit mehr als zehn Jahren zur te, während bei Patientinnen und Patienten Multiplen Sklerose. Seit einigen Jahren steht mit einem niedrigen K-FLC-Index (100 oder eine Reihe von Therapiemöglichkeiten zur weniger) durchschnittlich erst nach 36 Mo- Verfügung, welche die Krankheitsaktivität naten ein zweiter Schub auftrat. „Auch unter auch bei schweren Verläufen günstig beein- Berücksichtigung bekannter prädiktiver Fak- flussen können. Für die Wahl der individuell toren wie Alter, Geschlecht, MRT-Läsionslast passenden Therapie wäre deshalb die treff- und -aktivität erwies sich der K-FLC-Index als sichere Vorhersage des weiteren Krankheits- unabhängiger Marker, mit dem Patientinnen verlaufs essenziell. und Patienten mit höherer Krankheitsakti- Zwar lässt sich mittels Magnetresonanzto- vität früh identifiziert und damit der für sie mografie (MRT) die Anzahl entzündlicher Lä- geeigneten Therapie zugeführt werden kön- sionen im Gehirn darstellen und damit eine nen“, betont Harald Hegen. gewisse Einschätzung des Krankheitsver- laufs gewinnen, weitere Stratifizierungskri- IN DER LIQUORDIAGNOSTIK sind zum terien sind aber rar. Dabei wäre die Erstellung Nachweis von entzündlichen Prozessen im einer individuellen Prognose notwendig, um zentralen Nervensystem bereits seit Jahr- den Nutzen gegen die Risiken der verschiede- zehnten die sogenannten oligoklonalen Ban- nen Immuntherapien im Einzelfall abwägen den (Immunglobuline vom Typ IgG) etabliert, zu können. allerdings nur mit der Möglichkeit eines posi- tiven oder negativen Ergebnisses. „Nachdem MIT SEINEM TEAM an der Innsbrucker Neu- bei rund 90 Prozent der Patientinnen und „Wie lange Betroffene ab rologie sowie Kolleginnen und Kollegen in Patienten mit Multipler Sklerose ohnehin Beginn der Erkrankung Wien und Graz konnte Harald Hegen diesem oligoklonale Banden nachweisbar sind, ist ohne Einschränkungen Ziel nun näherkommen. „Im Rahmen einer ihr prognostischer Wert sehr limitiert. Der Beobachtungsstudie ist es uns gelungen, die K-FLC-Index erlaubt hier erstmals eine weite- bleiben oder wann der sogenannten K-freien Leichtketten (K-FLC, re Stratifizierung. Außerdem besticht dieser nächste Krankheitsschub kappa free light chain) als unabhängigen Bio- Marker durch niedrigere Kosten und deutlich auftritt, war bislang marker für die frühe Prognose der Multiplen schnellere Ergebnisverfügbarkeit“, berichtet kaum verlässlich Sklerose zu identifizieren. Dabei handelt es Harald Hegen. hei ¶ vorherzusehen.“ Harald Hegen Fotos: Medizinische Universität Innsbruck / David Bullock (1), Medizinische Universität Innsbruck / Martin Vandory (1) 01 | 2021 MED•INN 15
Den Motor anwerfen Um im peripheren Nervensystem die Axonregeneration zu verbessern, will Rüdiger Schweigreiter das Wachstum von Nervenfasern ankurbeln und präziser steuern. während der Embryonalentwicklung exakt de- terminiert, nach einer Läsion finden aber nicht alle in distaler Richtung aussprossenden Axo- ne ihren ursprünglichen Zielort wieder. Dazu kommt noch Problem Nummer 3: Axone rege- nerieren hydrenhaft. Bis zu 25 Sprosse können sich mit mehreren Zielen im Körper verbinden, Fehlverschaltungen sind die Folge. Diesem Problem des Sproutings und dem Long-Dis- tance-Wachstum widmet sich Schweigreiters Team in einem FWF-Projekt. „IN EINEM VORPROJEKT konnten wir zeigen, dass exzessives Sprouting reduziert werden kann“, sagt Schweigreiter. Eine spezielle Rol- F ühren Läsionen im Zentralnervensystem lespielen dabei Schwann-Zellen, eigentlich Axon-Regeneration zu irreversiblen Lähmungen, können myelinbildende Zellen im Nervengewebe, die In dem dreijährigen FWF-Projekt Nerven im peripheren Nervensystem nach einer Läsion eine Regenerationsfunkti- „Verbesserte Axonregeneration hingegen regenerieren. „Im klinischen Sinn ist onübernehmen: Sie bilden die Büngnerschen im peripheren Nervensystem“ die funktionelle Wiederherstellung aber moto- Bänder, ein roter Teppich für regenerierende erwartet sich das Team um Rü- risch und sensorisch nicht befriedigend,“ hält Axone. „Schwann-Zellen werfen einen Cocktail diger Schweigreiter (Institut für Neurobiochmie) bedeutende Er- Rüdiger Schweigreiter vom Institut für Neu- an Goodies für Axone aus. Das ist gut für das kenntnisse zum Long-Distance- robiochemie fest. Die Motorik und das Fein- Anwachsen, einige Faktoren fördern aber auch Wachstum und Sprouting von gefühl, wie etwa Temperaturempfindlichkeit, das Sprouting“, sagt Schweigreiter. In einer Axonen nach Nervenläsionen. wären nicht mehr so wie vor der Verletzung, so In-Vitro-Kultur von sensorischen Neuronen und „Wir wollen sozusagen den Mo- der Forscher. Der Grund ist die unzureichende Schwann-Zellen stieß sein Team auf Neuronen- tor der Axone anwerfen und die Steuerung präzisieren“, sagt Regeneration der Axone, der schlauchartigen seite mit NgBR auf einen Rezeptor, der mit dem Schweigreiter. Von speziellem Nervenzellfortsätze. Von Myelin, einer kompak- von Schwann-Zellen exprimierten Protein No- Interesse sind dabei die ersten ten Biomembran, umhüllt, können Axone über go-B interagiert. „Viel deutet darauf hin, dass zwei bis drei Wochen nach der einen Meter lang werden und bilden das, was über diese Verbindung in den Neuronen Sig- Verletzung, da in dieser Zeit die man unter „Nervenfasern“ versteht – Bündel nalwege angestoßen werden, die das Sprou- morphologisch-anatomische Ba- sis für die regenerierenden Ner- von ihnen bilden einen Nerv. Nach schweren ting ankurbeln“, berichtet der Forscher. Dieses venfasern gelegt wird. Ob die Verletzungen von Nerven z. B. einer Durch Branching, so der In-Vitro-Terminus für Sprou- molekularen Mechanismen zur trennung werden die großen Nervenstümpfe ting, konnte das Team durch das Neutralisieren Unterdrückung des exzessiven mikrochirurgisch zueinander geführt und stabi- von NgBR bzw. den Knock-out von Nogo-B re- Sproutings und zur Förderung lisiert, damit sie auf natürliche Art regenerieren. duzieren, nun will man in vivo den Rezeptor in des Längenwachstums auch in klinischer Hinsicht interessant „Allerdings springen nur rund 50 Prozent der regenerierenden Nervenfasern neutralisieren. sein und Patientinnen und Pa- Axone wieder an und beginnen zu wachsen“, Doch Schweigreiter verfolgt noch eine andere tienten einen Gewinn bringen weiß Schweigreiter. Und wiederum nur ein Spur. In-Vitro-Daten des Teams zeigen, dass können, wird im Mausmodell Teil dieser Axone schafft das Long-Distance- sich die Blockade eines anderen Rezeptors im gemeinsam mit Forscherinnen Wachstum bis zum Ziel z. B. in die Fingerspitze. Nogo-Modul (NgR1) positiv auf das Long-Dis- und Forschern des Biozentrums in Wien sowie der Universität Ein weiteres Problem ist die fehlende Präzisi- tance-Wachstum auswirkt: „Auch diesen An- Leuven erforscht. on. Die Verkabelung des Nervensystems wird satz wollen wir in vivo weiterverfolgen.“ ah ¶ Foto: Andreas Friedle 16 MED•INN 01 | 2021
Mobil mit Bauchbinde Ein von der Tuba-Stiftung gefördertes Projekt hat das Ziel, mit einer Bauchbinde die Mobilität von Menschen mit Parkinson-Syndromen zu verbessern. D er Alltag von Menschen mit Parkin- son und parkinsonähnlichen Erkran- kungen wie der Multisystematrophie (MSA) wird oft von Stürzen und Verletzun- gen beeinträchtigt. „Zahlreiche Studien ha- ben gezeigt, dass die erhöhte Fallneigung bei Parkinson auf spontane Blutdruckabfälle – klassische orthostatische Hypotonien – zurückzuführen ist“, bestätigt Neurobiologe Gregor Wenning, der an der Neurologie seit vielen Jahren zu Parkinson und MSA forscht. Ein von der US-amerikanischen MSA-Coali- tion unterstütztes Projekt wird auch von der Dr. Johannes und Hertha Tuba-Stiftung mit 100.000 Euro gefördert. Orthostatische Hypotonie ist eine Kreis- laufstörung, die aufgrund von Fehlfunktio- lastet werden sollten. Sie entscheiden zudem Tuba-Stiftung nen des autonomen Nervensystems auftritt. selbst, wann und wie lange sie die Bauchbin- Sie zeigt sich als drastischer Abfall des Blut- de untertags tragen. Im Auftrag der Dr. Johannes und drucks innerhalb von einer bis drei Minuten Hertha Tuba-Stiftung schreibt die Medizinische Universität nach dem Aufstehen. Schwindel und kurze DIE WIRKUNG DER BAUCHBINDE unter- Innsbruck die Einreichung von Bewusstlosigkeit sind oft die Folge. suchen die Experten im Kipptisch-Labor. Projekten auf den Gebieten der In der Studie, die Wenning mit Alessand- „Die Patientinnen und Patienten liegen auf Gerontologie und Geriatrie aus. ra Fanciulli und Cecilia Raccagni (Neurolo- einer Trage und sind mit Gurten gesichert. Neben dem hoch dotierten Par- gie Bozen) leitet und mit der Parkinson-Ar- Nach dem Kippen der Liegefläche können wir kinson-Projekt von Gregor Wen- ning wurde Sebastian Reinstadler beitsgruppe um Klaus Seppi durchführt, will messen, ob die spontane Lageveränderung (Uniklinik für Kardiologie) mit dem man an 30 PatientInnen die Wirkung einer zu einem Blutdruckabfall führt. Damit steht Forschungspreis 2020 ausge- Bauchbinde auf den Blutdruck beobachten. uns ein standardisierter Parameter zur klini- zeichnet. Stipendien erhielten „Die Bauchbinde kommt aus der Adipo- schen Beurteilung der orthostatischen Hy- auch die Psychiaterin Michaela sitas-Chirurgie und wird in unserem Projekt potonie zur Verfügung“, erklärt Wenning. Ob Defrancesco sowie Florian Kro- nenberg (Institut für Genetische quasi zweckentfremdet. Wir setzen sie ein, das Tragen der Bauchbinde zur Verbesserung Epidemiologie). Videos zu den um mit Kompression Blutansammlungen im von Gangbild und -geschwindigkeit beiträgt, Projekten: www.i-med.ac.at/ Bauchraum zu unterbinden oder aufzulösen, wird anhand von Schuh-Sensoren überprüft. events/tuba-preis.html sodass das Blut wieder zurück in den Kreis- „Die ausgeprägte Fallneigung bei älteren Par- lauf fließt und der Blutdruck stabilisiert wird“, kinson- und MSA-PatientInnen ist mit hoher erklärt Fanciulli. Schon eine kleine Pilotstudie Verletzungsgefahr und auch Mortalität ver- hatte gezeigt, dass eine Bauchbinde Blut- bunden. Die mechanische Stabilisierung des druckabfälle verhindern kann. Diese Therapie Blutdrucks verbessert die Gangsicherheit, bewährt sich v.a. bei älteren PatientInnen, hilft, Stürze zu vermeiden und erleichtert da- die mehrere Medikamente einnehmen und mit den Alltag der Betroffenen“, betont Gregor nicht noch durch ein weiteres Präparat be- Wenning. mai/hei ¶ Alessandra Fanciulli, Gregor Wenning Fotos: Medizinische Universität Innsbruck 01 | 2021 MED•INN 17
Bernhard Flucher und Yousra El Ghaleb konnten Varianten des Kalziumkanal-Gens CACNA1I als Verursacher neurologischer Erkrankungen identifizieren. Aus dem Rhythmus Kalziumkanäle steuern zahlreiche Körperfunktionen, spielen aber auch als krank- heitsauslösende Gene eine Rolle – etwa bei neuronalen Entwicklungsstörungen, wie Innsbrucker Forscherinnen und Forscher kürzlich nachweisen konnten. K alzium wird nicht nur für den Kno- Tuluc von der Universität Innsbruck und der chenaufbau benötigt. Es fungiert Humangenetikerin Kerstin Kutsche von der auch als intrazellulärer Botenstoff, Universität Hamburg-Eppendorf für das letzte der wichtige Zellfunktionen steuert. Zehn Mitglied dieser Kanalfamilie genetische De- Typen spannungsaktivierter Kalziumkanäle fekte beschreiben, welche intellektuelle Stö- regulieren im menschlichen Körper etwa die rungen und epileptische Anfälle verursachen. Kontraktion von Herz- und Skelettmuskula- Veröffentlicht wurde die Arbeit im Wissen- tur, die Sekretion von Hormonen und Neurot- schaftsjournal Brain. ransmittern oder auch die aktivitätsabhängige „T-Typ-Kanäle – sogenannte Low-Voltage- Genexpression. Neun der zehn waren bereits Activated Calcium Channels; CaV3.1-3.3 – re- als krankheitsverursachende Gene bekannt. agieren bereits auf geringfügige Veränderun- Nun konnte ein Team um Bernhard Flucher gen der Membranspannung und sind damit und Yousra El Ghaleb vom Institut für Physio- insbesondere an der Entstehung neuronaler logie der Medizinischen Universität Innsbruck Aktionspotenziale und an der Steuerung rhyth- gemeinsam mit dem Pharmakologen Petronel mischer Aktivität im Gehirn beteiligt. Nicht 18 MED•INN 01 | 2021
verwunderlich, dass eine Rolle dieser Kanäle in neuronalen Rhythmusstörungen, wie bei der Epilepsie, vermutet wird, und dass sie als ver- Struktur & Funktion heißungsvolle Drug Targets für die Entwicklung mutierter Ca-Kanäle neuer Medikamente hoch gehandelt werden“, Veränderte molekulare Interaktio- beschreibt Bernhard Flucher die Ausgangssi- nen verlangsamen das Schließen tuation. Er forscht in Innsbruck seit Mitte der der Kanalpore, erhöhen dadurch 1990er Jahre zu den vielfältigen Funktionen den Kalziumeinstrom und die Er- dieser wichtigen Ionenkanäle und deren Bedeu- regbarkeit von Nervenzellen. tung in verschiedenen Krankheiten. TATSÄCHLICH WURDEN in den letzten erklären könnte. Drittens war bemerkenswert, Jahren zahlreiche genetische Varianten von dass das Ausmaß der veränderten Kanalfunk- T-Typ-Kanälen beschrieben, von denen insbe- tionen bei den unterschiedlichen Mutationen sondere spontan auftretende gain-of-function gut mit dem Schweregrad des Krankheitsbil- Mutationen von CaV3.1 (CACNA1G) und CaV3.2 des der jeweiligen Patientinnen und Patienten (CACNA1H) eindeutig als Ursache neuronaler zusammenpasste. „Alles in allem lassen die Erkrankungen, wie der zerebellaren Atrophie Ergebnisse keinen Zweifel daran, dass die ge- bzw. von Hyperaldosteronismus, identifiziert netischen Veränderungen im CACNA1I-Gen die wurden. Ein ursächlicher Zusammenhang Ursache der Erkrankungen sind“, betonten die mit Epilepsie konnte jedoch für keinen der Innsbrucker Forscher, deren Resultate die Kli- T-Typ-Kanäle bestätigt werden, und genetische niker ermutigten, die Behandlung mit Blockern Varianten von CaV3.3 (CACNA1I) wurden bisher von T-Typ-Kalziumkanälen zu beginnen, was lediglich als Risikofaktor für Schizophrenie tatsächlich zu einer merklichen Linderung der eingestuft. Als das Humangenetik-Team vom epileptischen Anfälle führte. Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf in Neben den wissenschaftlichen Resultaten mehreren Patientinnen und Patienten einen und deren klinischer Bedeutung ist die Stu- starken genetischen Zusammenhang von Vari- die auch aufgrund des breiten Spektrums der anten des CACNA1I-Gens mit neurologischen angewandten Techniken eine Klasse für sich. Erkrankungen unterschiedlicher Ausprägung „Es ist phantastisch, welche Vielzahl von Me- fanden, kam die Expertise der Innsbrucker thoden und Modellsystemen zur Erforschung Kalziumkanalforscherinnen und -forscher zum von Kalziumkanälen uns in Innsbruck zur Ver- Einsatz, um die Auswirkung der Mutationen fügung steht“, freut sich Flucher und erklärt funktionell zu charakterisieren. Die Ergebnisse weiter: „Krankheitsmutanten sind immer dieser Untersuchungen waren eindeutig und in eine große Herausforderung, weil man vorab Bernhard Flucher mehrfacher Hinsicht bemerkenswert: Erstens nie weiß, wo die Reise hingeht; d.h. welche Der gebürtige Salzburger Bernhard zeigten die Kanalvarianten funktionelle Ver- Methoden letztlich für die Entschlüsselung Flucher ist Professor für Molekulare änderungen, welche als gain-of-function, also des Krankheitsmechanismus notwendig sein Zellphysiologie am Institut für Physio- als Verstärkung der Kanalfunktion, eingestuft werden. Da ist es extrem wertvoll, in einem logie der Medizinischen Universität Innsbruck. Nach seinem Forschungs- werden konnten, was gut zum heterozygot Umfeld arbeiten zu können, wo mehrere For- aufenthalt in Washington ermöglich- dominanten Erbgang der genetischen Verän- schergruppen zusammen eine Vielzahl unter- ten es ihm ein Forschungspreis der derungen passt. Zweitens deuteten die funkti- schiedlicher Techniken und Modellsysteme Akademie der Wissenschaften und onellen Veränderungen auf zwei parallel ablau- zur Verfügung haben, und bereit sind, diese in die kontinuierliche Förderung durch fende Pathomechanismen hin. Einerseits, dass gemeinsame Projekte einzubringen“. Wie die- den Österreichischen Wissenschafts- fonds (FWF), ein Forschungsteam vermehrter Kalziumeinstrom Neurone schä- se Studie eindrucksvoll zeigt, ist das in Inns- in Innsbruck aufzubauen, aus dem digt oder abtötet, was die teils dramatischen bruck eindeutig der Fall. Dazu ergänzt Tuluc: mehrere Gruppen hervorgingen. Defekte in der neuronalen und intellektuellen „Ich kenne keinen anderen Ort weltweit, an Mittlerweile sind die Arbeitsgruppen Entwicklung der Patientinnen und Patienten dem so viele Forscherteams beider Unis an an beiden Innsbrucker Universitäten erklärt. Und andererseits führten die Mutatio- unterschiedlichen Aspekten dieses Kanaltyps etabliert und bieten zusammen eine Vielzahl unterschiedlicher Techniken nen zu einer erhöhten Erregbarkeit von Neuro- forschen und zudem noch so ausgezeich- und Modellsysteme und damit ein nen, was die epileptischen Anfälle in den stär- net zusammenarbeiten. So wird Forschung einzigartiges wissenschaftliches Um- ker betroffenen Patientinnen und Patienten schlagkräftig und macht Spaß!“ red ¶ feld für die Arbeit an Kalziumkanälen. Fotos: Andreas Friedle; Grafik: Monica Fernández-Quintero / Petronel Tuluc / Bernhard Flucher 01 | 2021 MED•INN 19
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