Reine Nervensachen - Medizinische Universität Innsbruck

 
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Reine Nervensachen - Medizinische Universität Innsbruck
Magazin der Medizinischen Universität Inns­b ruck

Reine
Nervensachen
Volkskrankheit Schmerz            COVID-19-Pandemie                    Spotlights
Dem komplexen Thema widmen sich   Forschung & Studien zu Sars-CoV-2,   Nephrologie • ALUMNUS Georg Wick
unterschiedliche Disziplinen      COVID-19 und Long COVID              Seltenes Fiebersyndrom • Mykologie
Reine Nervensachen - Medizinische Universität Innsbruck
Das persönliche
Vorstadthotel
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Reine Nervensachen - Medizinische Universität Innsbruck
Sehr geehrte Leserin, sehr geehrter Leser!

       J
            ede und jeder von uns hat sie schon ge-              So wie die psychische Gesundheit in Zeiten
            fühlt: Schmerzen – ob psychischer oder            der Pandemie eines der zentralen Themen
            physischer Natur – begleiten die einen            ist, dem sich eine Reihe von Studien an un-
       mehr, die anderen weniger. Betroffen sind wir          serer Universität widmet, wird uns auch das
       im Lauf unseres Lebens aber alle davon. Wie            Post-COVID-Syndrom – vielen als Long-CO-
       aktuell wir mit unserem Titelthema „Chroni-            VID geläufiger – als Forschungsthema erhal-
       scher Schmerz“ in der vorliegenden Ausgabe             ten bleiben. Mehr davon erzählen uns zwei
       sind, zeigt nicht nur die Manifestation von            klinische ForscherInnen im Interview. Und
       chronischem Schmerz als Volkskrankheit, son-           wie in dieser Ausgabe nachzulesen, sorgen die
       dern auch die Vergabe des diesjährigen Medi-           Forschungserkenntnisse und Erfahrungsbe-
       zin-Nobelpreises an David Julius und Ardem             richte unserer Expertinnen und Experten zum
       Patapoutian für die Entschlüsselung der mo-            Infektionsgeschehen auch im zweiten Pande-
       lekularbiologischen Grundlagen körperlicher            miejahr für anhaltendes mediales Interesse.
       Empfindungen. An der Medizinischen Universi-              Für Kontinuität im positiven Sinn sorgt
       tät Innsbruck widmen sich Forscherinnen und            auch der Nachfolger im Amt des Vizerektors
       Forscher aus den unterschiedlichsten Diszipli-         für Lehre und Studienangelegenheiten. Der
       nen diesem komplexen Thema. Lesen Sie mehr             „Längseinsteiger“ Wolfgang Prodinger be-
       zu innovativen Schmerztherapien und neuen              richtet im Interview, wie er die hohe Qualität     IMPRESSUM
       Forschungsansätzen in diesem Heft.                     unseres Medizin-Studiums erhalten und neue
          Abseits vom Schmerz bietet unser Schwer-            Impulse setzen will. Der Lehrbetrieb stand in      Herausgeberin & Medieninhaberin:
                                                                                                                 Medizinische Universität Inns­bruck,
       punkt Neurowissenschaften aber auch Wis-               der Pandemie vor besonderen Herausforde-           Christoph-Probst-Platz, Innrain 52,
       senswertes über einen neuen Biomarker für die          rungen und war so auch ein Stresstest für die      Inns­bruck
       Multiple Sklerose, über die Regeneration von           IT-Infrastruktur. Nutzen Sie in dieser Ausgabe     Verlegerin: KULTIG Werbeagentur KG
                                                                                                                 – Corporate Publishing
       Nervenfasern oder ein von der Tuba-Stiftung            den Blick hinter die Kulissen der Abteilung In-    Maria-Theresien-Straße 21
       gefördertes Projekt, das untersucht, inwieweit         formationstechnologie, die den viel zitierten      6020 Inns­bruck, www.kultig.at
       das Tragen einer Bauchbinde Blutdruckabfälle           „Digitalisierungs-Boost“ für unsere Universität    Redaktion:
                                                                                                                 David Bullock (db),
       bei MSA-PatientInnen verhindern und damit              bewerkstelligt hat.                                Andreas Hauser (ah),
       die Sturzneigung minimieren kann. Spannend                Ob digital oder analog – haben Sie viel Freu-   Doris Heidegger (hei),
       auch die Beiträge über die Identifizierung ei-         de bei der Lektüre der aktuellen Ausgabe von       Barbara H­ offmann-Ammann (hof),
                                                                                                                 Theresa Mair (mai)
       ner Kalziumkanal-Genvariante als Verursacher           MED•INN!                                           Layout & Bildbearbeitung:
       neurologischer Erkrankungen, den klinischen                            Ihr W. Wolfgang Fleischhacker      Andreas Hauser, Florian Koch
       Einsatz von Cannabis-Präparaten oder den                                                                  Anzeigen: Theresa Rass
                                                                                                                 Fotos: Andreas Friedle, Medizinische
       noch weitgehend unerforschten Nutzen von                                                 Rektor der       Universität Inns­bruck
       Bergsport für die psychische Gesundheit.                        Medizinischen Universität Inns­bruck      Druck: Gutenberg, Linz

Foto: Medizinische Universität Inns­bruck / Florian Lechner

                                                                                                                                  01 | 2021 MED•INN     3
Reine Nervensachen - Medizinische Universität Innsbruck
Inhalt
                                                                                                                                   16 / Axon-Regeneration

    Thema: Neuroscience
    8
      Rund 20 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher sind
    im Laufe ihres Lebens von der Volkskrankheit „Chronischer­
    Schmerz“ betroffen. An der Medizinischen Universität              Die Abbildung von Rüdiger Schweigreiter (Medizinische Universität Innsbruck) und
    ­Innsbruck widmen sich Forscherinnen und Forscher                 Sebastian Munck (Katholieke Universiteit Leuven) zeigt regenerierende Nervenfasern
                                                                      im Ischiasnerv der Maus nach einer Läsion. Die Fasern produzieren einen transgenen
     ­unterschiedlichster Disziplinen diesem komplexen Thema.         Marker und fluoreszieren deshalb grün.

    14                                                                16
    Der Verlauf von Multipler Sklerose kann sehr unterschiedlich      Um im peripheren Nervensystem die Axonregeneration
    sein. Mit einem neuen Biomarker zur frühen Prognose will          zu verbessern, will Rüdiger Schweigreiter das Wachstum von
    Harald Hegen die Wahl der Immuntherapie erleichtern.              Nervenfasern ankurbeln und präziser steuern.

    17                                                                18
    Ein Projekt von Gregor Wenning und Alessandra Fanciulli           Kalziumkanäle steuern zahlreiche Körperfunktionen, spielen
    verfolgt das Ziel, mit Hilfe einer Bauchbinde die Mobilität von   aber auch, wie ein Team rund um Bernhard Flucher nachweisen
    Menschen mit Parkinson-Syndromen zu verbessern.                   konnte, bei neuronalen Entwicklungsstörungen eine Rolle.

    20                                                                22
    In einer Innsbrucker Pilotstudie konnte gezeigt werden, dass      Was für den Körper gesund ist, tut auch der Seele gut,
    ein Cannabinoid manche Symptome bei Morbus Parkinson zu           heißt es. Doch inwieweit gilt das auch für psychisch kranke
    lindern scheint. Doch wie schaut es generell mit dem gehypten     ­Menschen beim Bergsport? Psychiaterin und Neurologin
    klinischen Einsatz von ­Cannabis-Präparaten aus?                   ­Katharina Hüfner wartet mit ersten Erkenntnissen auf.

                                                                      Junge Forschung
                                                                      28
                                                                      Junge Forschung: Während die Bio- und Umwelttechnologin
                                                                      Judith Hagenbuchner im 3D Bioprinting Labor technisches
                                                                      Know-how und Zellbiologie kombiniert, sucht am Institut für
                                                                      Biologische Chemie die Lise-Meitner-Stipendiatin Clara Baldin
                                                                      im Eisenstoffwechsel von Aspergillus fumigatus nach neuen
    29 / Clara Baldin
                                                                      Angriffspunkten.

                                                                                                                      Coverfoto: Rüdiger Schweigreiter / Sebastian Munck

4   MED•INN 01 | 2021
Reine Nervensachen - Medizinische Universität Innsbruck
Spotlights
       30                                                                                                         32
       COVID-19: Expertinnen und Experten der Medizini-                                                           COVID-19 & Long COVID: Judith Löffler-Ragg und Raimund
       schen ­Universität Innsbruck lieferten 2021 für Medien und                                                 Helbok erläutern, wie ein interdisziplinäres Forschungsteam
       ­Bevölkerung Wissenswertes zum Coronavirus. Ein Auszug.                                                    Long COVID charakterisieren und Symptome objektivieren will.

       34                                                                                                         36
       COVID-19 & Psyche: Welche Auswirkungen haben die Angst                                                     COVID-19 & Kardiologie: Ein Team aus Innsbruck und
       vor einer Infektion, die Erkrankung selbst und die sozialen                                                München untersuchte den Einfluss von ACE-Hemmern und
       ­Begleitumstände­auf die psychische Gesundheit?                                                            Angiotensin-Rezeptorblockern.

        38                                                                                                        38 / Wolfgang Prodinger

        Interview: Wolfgang Prodinger, neuer Vizerektor für Lehre und
        ­Studienangelegenheiten, setzt auf Kontinuität in der Lehre.

       40
       Infrastruktur: Die IT-Abteilung der Medizinischen Universität
       Innsbruck „baut“ an einem Data-Warehouse für die Forschung.

       42                                                                                                         44
       Mykologie: Die Mikrobiologin Michaela Lackner will eine neue                                               Nephrologie: Gert Mayer möchte Krankheitsverläufe bei
       Generation von Antimykotika mitentwickeln.                                                                 ­diabetischen Nierenerkrankungen rechnerisch vorhersagen.

                                                                                                                  46
                                                                                                                  Seltenes periodisches Fiebersyndrom: Andreas und Sabine
                                                                                                                  Gruber erhielten in Innsbruck Diagnose und passende Therapie.

                                                                                                                  48
                                                                                                                  ALUMNUS im Interview: Georg Wick, 1975 nach Innsbruck
                                                                                                                  berufen, etablierte die Alternsforschung in Tirol.
         42 / Michaela Lackner

       Rubriken
                                                                                                                  50
       Editorial/Impressum 3 | Neuberufungen & Auszeichnungen 6                                                   Hautklinik: Innsbrucks einzige Sammlung medizinischer Mou-
       Im Detail: Molekularer Inflammationsmarker 24 | Kurzmeldungen 26                                           lagen wurde einer „Frischekur“ unterzogen.

Fotos: Rüdiger Schweigreiter / Sebastian Munck( 1), Medizinische Universität Innsbruck (1), Andreas Friedle (2)

                                                                                                                                                                01 | 2021 MED•INN   5
Reine Nervensachen - Medizinische Universität Innsbruck
Wieder Sieg beim
                                                         Neuberufungen                                     Paul-Ehrlich-Contest
                                         Angewandte Anatomie                                           Ein Studierenden-Team der Med
                                                           Zum Professor für Angewandte Anato-         Uni Innsbruck­erreichte den 1.
                                                           mie wurde Marko Konschake berufen.          Platz beim Paul-­ Ehrlich-Contest
                                                           Konschake steht für einen Austausch         2021. Bereits 2018 und 2019 wa-
                                                           des Wissens: „Die angewandte Ana-           ren die Innsbrucker Studierenden
            Prämierte                                      tomie ist mehr, als sich die Menschen       die Besten. Der Sieg des interna-
                                                           vorstellen.“ Die Zukunft der anatomi-       tionalen Leistungswettbewerbs
           Chirurginnen
                                         schen Lehre liegt für Konschake in der Kombination des        stellt den Innsbrucker Studieren-
    Im Rahmen des 62. Kongresses         Studiums am realen Körper und der Verwendung neu-             den und der medizinischen Aus-
    der Österreichischen Gesellschaft    er digitaler Hilfsmittel: „Die Haptik kann man allerdings     bildung am Standort abermals
    für Chirurgie in Salzburg wurde      nicht an einem digitalen Seziertisch erfahren.“ Es sei        ein hervorragendes Zeugnis aus.
    Annemarie Weißenbacher (im           notwendig, dass die künftigen ÄrztInnen den gesam-            Marcel Dagli, Martina Dalpiaz,
    Bild) für eine klinisch-experimen-   ten Körper sezieren – eine Besonderheit in Innsbruck.         Lukas Gatterer, Felix Öttl und
    telle Studie zur normothermen                                                                      Nikolas Schmidbauer setzten
    Langzeitnierenperfusion mit dem      Hepatologie                                                   sich gegen 14 Teams von ande-
    angesehenen Theodor Billroth-­                       Über das Eisen führte der Weg von             ren renommierten medizinischen
    Preis ausgezeichnet. Margot Fo-                      Heinz Zoller zur Leber und nun zur            Hochschulen durch, als es darum
    dor, ihre Kollegin im OrganLife-­                    Professur für Hepatologie. Das hohe           ging, möglichst schnell und richtig
    Labor der Universitätsklinik für                     Niveau zu halten und mit weiter aus-          Blick- und Differential­diagnosen
    Visceral-, Transplantations- und                     zubauen, ist eines seiner Ziele für die       zu stellen und Multiple-­  Choice-
    Thoraxchirurgie, erhielt den Wis-                    Hepatologie. „Innsbruck soll das west­        Fragen, klinische Fälle und prak-
    senschaftspreis. Damit gingen        österreichische Referenzzentrum für akute und chroni-         tische Aufgaben zu bewältigen.
    erstmals beide Preise nach Inns-     sche Lebererkrankungen bleiben“, betont der Leiter des        2022 wird Innsbruck Austra-
    bruck.                               Christian-Doppler-Forschungslabors für Eisen- und             gungsort sein.
                                         Phosphatbiologie.

                                         Molekulare Onkologie
       Preis für kardio­                                Per Sonne Holm wurde zum Professor               Auszeichnungsreigen
     vaskuläre Forschung                                für Molekulare Therapien an die Uni-
                                                        versitätsklinik für Mund- Kiefer und           Einen Reigen an Auszeichnungen
    Der von der Medizinischen Uni-                      Gesichtschirurgie berufen. Sein Haupt-         und Würdigungen für wissen-
    versität Wien und der Österrei-                     interesse liegt in der Erforschung von         schaftliche MitarbeiterInnen der
    chischen Kardiologischen Ge­sell­-                  Krebstherapien mit Hilfe von Viren, die        Universitätsklinik für Dermato-
    schaft ausgeschriebene Hans          sich nur im Tumor vermehren. An der Medizinischen             logie, Venerologie und Allergolo-
    und Blanca Moser-Förderungs­         Universität Innsbruck schätzt der Biologe das „Ge-            gie gab bei der Jahrestagung der
    preis auf dem Gebiet der kardio­     samtpaket“: Forschungsfeld und -richtung seitens der          ­Österreichischen Gesellschaft
    vaskulären Forschung ging heuer      Universität waren bereits vorhanden.                           für Dermatologie und Vene-
    an den Innsbrucker Arzt Lukas                                                                       rologie (ÖGDV). So wurde der
    Mayer-Süß von der Universitäts-      Pathophysiologie                                               Ferdinand von Hebra-Preis an
    klinik für Neurologie. In dem mit                    Die Pathophysiologie hat es Hesso              Gudrun Ratzinger verliehen. As-
    3.000 Euro prämierten Projekt                        Farhan angetan. Nun folgte er dem              sistenzarzt und Postdoc Stefan
    beschäftigten sich Mayer-Süß                         Ruf nach Innsbruck und trat hier seine         Blunder erhielt den ÖGDV Cli-
    und Michael Knoflach im Rah-                         Professur an. Eines seiner Hauptfor-           nician Scientist Fellowship. Der
    men der Dissektionskohorten-                         schungsgebiete ist der intrazelluläre          Anton Luger-Dissertationspreis
    studie ReSect mit spontanen                          Transport, der bei mehr Krankheiten            der Gesellschaft ging an Dominik
    Dissektionen der Halsgefäße, die     eine Rolle spielen könnte, als bisher bekannt ist. Mit         Klaver, der im Molekularbiolo-
    einer der Hauptgründe für einen      Projekten zum Multiplen Myelom, Brustkrebs oder Par-           gischen Labor der Hautklinik im
    ischämischen Schlaganfall bei Er-    kinson hat der Grundlagenforscher aber auch die klini-         Bereich der Allergieforschung
    wachsenen unter 50 Jahren sind.      sche Anwendung seiner Erkenntnisse im Blick.                   arbeitet.

                                                                                                     Fotos: Medizinische Universität Inns­bruck (4), Robert Schober (1)

6   MED•INN 01 | 2021
Reine Nervensachen - Medizinische Universität Innsbruck
Doppelte Auszeichnung

                                             Nach dem Studium an der Medizinischen Universität
                                             Inns­ bruck dissertierte die Innsbrucker Gefäßchirurgin
                                             ­Alexandra Gratl 2018 auch an der Berliner Charité. Für ihre
                                              Erkenntnisse zur Erforschung der Mitochondrienfunkti-
                                              on bei PatientInnen mit peripherer arterieller Verschluss-
                                              krankheit im Rahmen ihrer Dissertation erhielt sie nun den
                                              „Wissenschaftspreis 2020“ der deutschen Gesellschaft für
          Rechtsmedizin-Preis                 Gefäßchirurgie und Gefäßmedizin e.V. Im Zuge des „55th           Prämierte Gender
                                              Congress of the European Society for Surgical ­Research              Medizin
       Martin Bodner vom Fachbereich          (ESSR)“ wurde sie auch mit dem „ESSR Best Clinical
       Forensische Genomik am Insti-          ­Research Award“ aus-                                         Den Preis für Gender Medizin
       tut für Gerichtliche Medizin war        gezeichnet. Gratls For-                                      2020 der Med Uni Innsbruck er-
       an Aufbau und Etablierung der in        schung soll nun als Teil                                     hielt Evi Holzknecht, Assistenz­
       Innsbruck verorteten DNA-Fre-           eines neuen Forschungs-                                      ärztin und Schlafforscherin an der
       quenzdatenbank STRidER (STRs            schwerpunkts an der                                          Universitätsklinik für Neurologie
       for Identity Referenzdatenbank          Innsbrucker Uniklinik für                                    für eine Publikation im Journal of
       des Netzwerks der Europäischen          Gefäßchirurgie weiterge-                                     Sleep Research. Die Ergebnisse
       Forensischen Institute) maß-            führt werden.                                                der vergleichenden Untersuchung
       geblich beteiligt. Nun wacht er                                                                      von 42 Frauen und 42 Männern
       über die Einträge in STRidER                                                                         hinsichtlich des Schweregrads
       und unterzieht entsprechende                                                                         des Restless Legs Syndroms, der
       Datensätze aufwändigen Über-            Beste medizinische Doktorarbeit                              Eisenparameter und polysomno-
       prüfungen. Die Deutsche Gesell-                                                                      grafischer Daten weisen ihr zufol-
       schaft für Rechtsmedizin (DGRM) Für seine Doktorarbeit wurde Can Gollmann-Tepeköylü                  ge auf bisher noch nicht näher be-
       würdigte den wissenschaftlichen von der Universitätsklinik für Herzchirurgie mit dem Wil-            schriebene Genderunterschiede
       Einsatz des Genetikers nun mit helm Auerswald-Preis – zur Verfügung gestellt von der                 hin: „Bei Frauen stehen sensori-
       dem angesehenen Konrad-­Sanofi-aventis GmbH – ausgezeichnet. Mit seinem Team                         sche Symptome im Vordergrund,
       Händel-Preis für Rechtsmedizin gelang es ihm nachzuweisen, dass der Immunrezeptor                    während Männer vorwiegend
       2021.                            Toll-Like Rezeptor 3 eine gewichtige Rolle bei der Entste-          motorische Symptome zeigen“,
                                        hung der Aortenklappenstenose spielt.                               erläutert Holzknecht.

             Drei Preise für die                            „Ausgezeichnete“ Innsbrucker Herzmedizin
                Anästhesie
                                               Innsbrucks KardiologInnen und HerzchirurgInnen liefern seit jeher essen-
       Die Österreichische Gesellschaft        zielle Beiträge auf dem Gebiet der Herzmedizin und konnten sich Ende Mai
       für Anästhesiologie, Reanimation        im kompetitiven Umfeld der Jahrestagung der Österreichischen Kardiolo-
       und Intensivmedizin (ÖGARI) hat         gischen Gesellschaft (ÖKG) sowie der pa­rallel stattfindenden Jahrestagung
       im Rahmen ihres Jahreskongres-          der Österreichischen Gesellschaft für Herz- und thorakale Gefäßchirurgie
       ses Ende November 2020 Aus-             (ÖGHTG) hervorragend behaupten. Insbesondere junge KollegInnen der
       zeichnungen für die drei besten         Arbeitsgruppen um Sebastian Reinstadler und Bernhard Metzler (Uniklinik
       eingereichten Abstracts verge-          f. Kardiologie u. Angiologie) sowie Johannes Holfeld (Uniklinik f. Herzchirurgie) konnten
       ben. Alle drei Preise gingen an         mit der wissenschaftlichen Qualität ihrer Arbeiten aufzeigen: Christoph Krapf wurde für
       ÄrztInnen des Departments für           die beste Publikation auf dem Gebiet der Herzchirurgie mit dem Wolfgang Denk-Preis der
       Experimentelle Anästhesie – un-         ÖGHTG ausgezeichnet. Das begehrte, mit 50.000 Euro dotierte „Präsidentenstipendium“
       ter der Leitung von Judith Marti-       der ÖKG ging an die Kardiologin Christina Tiller (im Bild). Außerdem wurden noch Arbei-
       ni – an der Universitätsklinik für      ten von Ivan Lechner, Leo Pölzl und Michael Graber ausgezeichnet. Gleich zweimal räumte
       Anästhesie und Intensivmedizin          Felix Nägele ab: Seine Arbeiten wurden sowohl mit dem Best Abstract Award der ÖKG in
       Innsbruck: Julia Abram, Patrick         der Kategorie „COVID-19 und Herz“ sowie dem Best Abstract Award in der Kategorie Basic
       Spraider und Gerald Putzer.             Science der ÖGHTG honoriert.

Fotos: Medizinische Universität Inns­bruck

                                                                                                                            01 | 2021 MED•INN    7
Reine Nervensachen - Medizinische Universität Innsbruck
Den Schmerz
             im Visier
             Akuter Schmerz hilft uns, unseren Körper zu schützen. Doch Schmerz kann
             diese Warnfunktion verlieren und sich zu einem eigenständigen
             Krankheitsbild entwickeln. Rund 20 Prozent der Österreicherinnen und
             Österreicher sind im Laufe ihres Lebens von solchem chronischen
             Schmerz betroffen. Die Volkskrankheit „Chronischer Schmerz“
             steht daher auch im Fokus von Forschung und Behandlung an der
             Medizinischen Universität Innsbruck, dem komplexen Thema
             widmen sich Forscherinnen und Forscher unterschiedlichster Disziplinen.

8   MED•INN 01 | 2021
Reine Nervensachen - Medizinische Universität Innsbruck
Foto: Universitätsklinik für Neuroradiologie

                                               01 | 2021 MED•INN   9
Reine Nervensachen - Medizinische Universität Innsbruck
E
                                                  igentlich“, sagt Andreas Schlager, „ist     Schmerz“ steht daher auch im Fokus von
                                                  unser Kreuz ja nur ein dünnes Stan-         Forschung und Behandlung an der Medizini-
                                                  gerl, an dem das ganze Körpergewicht        schen Universität Innsbruck, dem komplexen
                                          hängt und das durch Arbeit und Sport extrem         Thema widmen sich Forscherinnen und For-
                                          belastet wird. Da bin ich immer wieder ver-         scher unterschiedlichster Disziplinen.
                                          blüfft, wie viel es aushält.“ Doch alles hält un-
       Schmerztherapie                    ser Rücken doch nicht aus, wie Schlager, Lei-       „SCHMERZ IST an und für sich etwas Gutes,
                                          ter der Schmerzambulanz an der Innsbrucker          er warnt vor Schäden, die unserem Körper
       an der Wirbelsäule                 Universitätsklinik für Anästhesie und Intensiv­     zugefügt werden können. So reagieren wir
       Das linke Bild zeigt die sichere   medizin, weiß. Der Großteil seines Klien­tels       auf schmerzhafte Reize, indem wir z. B. blitz-
       Zielführung der Nadel im CT an     kommt wegen chronischer Schmerzen im                schnell den Finger von einer heißen Herdplat-
       die Nervenwurzel heran. Das        Bewegungsapparat, hauptsächlich betroffen           te nehmen“, sagt Michaela Kress, Direktorin
       rechte Bild zeigt die Verteilung
       der mit Kontrastmittel gemisch-    ist das „dünne Stangerl“. Was durch Zahlen          des Instituts für Physiologie der Medizini-
       ten Lokalanästhetikum-Korti-       bestätigt wird: Laut der Krankheitslast-Stu-        schen Universität Innsbruck. Ausgangspunkt
       son-Mischung in optimaler Aus-     die BURDEN 2020 sind fast zwei Drittel der          für das Empfinden von akutem Schmerz sind
       breitung um die Nervenwurzel.      deutschen Bevölkerung von Rückenschmer-             Schmerzsensoren, die Nozizeptoren. Diese
                                          zen betroffen (61,3 Prozent), 15,5 Prozent der      freien sensorischen Nervenendigungen neh-
                                          Befragten – umgerechnet circa 12,5 Millionen        men schmerzende Reize – z. B. extreme Hit-
                                          Menschen – klagten über chronische, also            ze an der Fingerkuppe – auf, wandeln sie in
                                          über drei Monate oder länger anhaltende, fast       elektrische Signale um und schicken diese
                                          täglich auftretende Rückenschmerzen. Das            mit rund 20 Meter pro Sekunde Richtung Rü-
                                          „Kreuz mit dem Kreuz“ ist somit die häufigs-        ckenmark. Dort wird eine Reflexschaltung –
                                          te Form des chronischen Schmerzsyndroms             z. B. das Zurückziehen der Hand – ausgelöst,
                                          (siehe Infobox Seite 11). Von irgendeiner Art       die größere Schäden verhindert. Gleichzeitig
                                          von chronischem Schmerz, schätzt Schlager,          wird die Information an verschiedene Regi-
                                          werden 20 Prozent der Österreicherinnen             onen im Gehirn weitergeleitet, wo Schmerz
                                          und Österreicher im Laufe ihres Lebens be-          bewusst wahrgenommen, emotional bewer-
                                          troffen sein. Die Volkskrankheit „Chronischer       tet und verarbeitet wird.
                                                                                                  Durch anhaltende, immer wieder keh-
                                                                                              rende Schmerzreize oder bei Entzündungen
                                                                                              ­reagieren Nozizeptoren immer empfindlicher
                                                                                               – in Folge sinkt die Schmerzschwelle. Aus der
                                                                                               ständigen Aktivität in der Schmerzbahn ent-
                                                                                               wickelt sich ein Schmerzgedächtnis: Das Ner-
                                                                                               vensystem hat „gelernt“, Schmerzen zu emp-
                                                                                               finden. Der Schmerz wird chronisch und zur
                                                                                               eigenen Schmerzerkrankung mit psychischer
                                                                                               Belastung der Betroffenen und ihrer Familien.
                                                                                               „Um Schmerztherapeutinnen und -therapeu-
                                                                                               ten wirksamere Behandlungsmöglichkeiten zu
                                                                                               geben, müssen wir die Prozesse besser verste-
                                                                                               hen, die zur Chronifizierung von Schmerz füh-
                                                                                               ren“, sagt Kress, die in ihrer Forschung am Be-
                                                                                               ginn der Schmerzbahn, bei den Nozizeptoren,
                                                                                               ansetzt: „Wir beschäftigen uns unter anderem
                                                                                               mit proinflammatorischen Zytokinen, im Spe-
                                                                                               ziellen mit Interleukin 6, und seinen Rezepto-
                                                                                               ren.“ So untersuchte sie in dem FWF-Projekt
                                                                                               NIPPS das Zusammenspiel von Interleukin 6
     „Schmerz kann man nicht                                                                  mit einem Rezeptor (Glykoprotein gp130) und
       heilen. Wir lindern ihn.“                                                              einem Ionenkanal (TRPA1) beim neuropathi-
                      Andreas Schlager                                                        schen Schmerz. „TRPA1 erlaubt den Nozizep-

10   MED•INN 01 | 2021
Michaela Kress und Kai Kummer wollen die Prozesse, die zur Chronifizierung von Schmerz führen, besser verstehen.

        toren, etwa auf Druckreize oder Abkühlung zu                     Schmerzwahrnehmung assoziiert sind – be-
        reagieren“, erklärt die Medizinerin. Während                     sonders verändert werden“, sagt Kummer.
        TRPA1 nach der Verletzung in den lädierten                       Gestartet hat er mit dem prä­frontalen Cor-
        Nervenfasern fast verschwindet, wird der Io-                     tex, der gezielt auf den Neuro­   transmitter
        nenkanal in den noch intakten Fasern stark                       Acetylcholin untersucht wurde. „Wir konn-
        nach oben reguliert, wodurch diese sehr viel                     ten im Mausmodell zeigen, dass es beim
        empfindlicher werden. „Wir gehen davon aus,                      chronischen Schmerz im präfrontalen Cortex
                                                                                                                           Chronisches
        dass dieser Mechanismus sekundär die Ver-                        zur Verminderung der Aktivität kommt und
        änderungen im Rückenmark und Gehirn an-                          dass das basale Vorderhirn – eine wichti-
                                                                                                                           Schmerzsyndrom
        stößt“, vermutet Kress.                                          ge, bislang im Schmerzkontext nicht un-           Von einem chronischen Schmerz-
                                                                         tersuchte Hirnregion – dabei eine wichtige        syndrom bzw. chronischen Schmer-
        IHR INNSBRUCKER TEAM stieß vor einigen                           Rolle spielt“, berichtet Kummer. Das basale       zen spricht man, wenn Schmerzen
                                                                                                                           über einen Zeitraum von mindestens
        Jahren auf einen wichtigen Bestandteil der von                   Vorderhirn ist sozusagen die Quellregion für
                                                                                                                           drei bis sechs Monaten fast immer
        Interleukin 6 gesteuerten Signalprozesse, näm-                   den „Kognitionsneuro­transmitter“ Acetyl-         vorhanden sind oder häufig wieder-
        lich regulatorische microRNAs (miRNA). Diese                     cholin. „Es kommt zu einer Veränderung der        kehren und die Patientinnen und Pa-
        kurzen Sequenzen von Nukleotiden gehören                         cholinergen Signale“, weiß der Forscher, der      tienten körperlich (Beweglichkeits-
                                                                                                                           verlust,      Funktionseinschränkung),
        zur Gruppe der non-coding RNA (­ncRNA), die                      aktuell zu entschlüsseln versucht, welche
                                                                                                                           körperlich-kognitiv (Befindlichkeit,
        – im Gegensatz zur messenger RNA – nicht in                      Neuronentypen im basalen Vorderhirn dafür         Stimmung, Denken) und sozial be-
        Proteine übersetzt werden. Lange Zeit dachte                     verantwortlich sind: „Wir untersuchen auch,       einträchtigen. Der Schmerz hat dabei
        man, ncRNA und miRNA wären überflüssige                          welche Regionen in das basale Vorderhirn          seine eigentliche Funktion als Warn-
                                                                                                                           und Leithinweis verloren und ist das
        Abfallstoffe, inzwischen weiß man, dass sie                      projizieren.“ Dass das basale Vorderhirn ein
                                                                                                                           vorherrschende Symptom („Leitsym-
        wichtig für die Regulation zahlreicher intrazel-                 starker Modulator für die Chronifizierung von     ptom“) der Beschwerden.
        lulärer Signalkaskaden sind. „Wir gehen davon                    Schmerz zu sein scheint, sei, sagt Kress, „be-    Erkrankungen, die zu chronischen
        aus, dass bestimmte m ­ iRNAs­die Nozizeptoren                   sonders spannend in Hinblick auf die mit der      Schmerzen führen können, sind
                                                                                                                           • Erkrankungen oder Verletzungen
        so verändern, dass diese vermehrt aktiv sind.                    Zeit immer stärker wirksamen psycho-sozia-
                                                                                                                               des Bewegungsapparats (Arthritis,
        Diese vermehrte Aktivität führt im Rücken-                       len Faktoren bei der Manifestation der chroni-        Arthrose, Rheuma, Osteoporose,
        mark und Gehirn zu Verstärkungsprozessen.                        schen Schmerz­erkrankung.“                            Knochenfrakturen…)
        In Folge dieser verstärkten Aktivität kommt es                      Dieses Zusammenspiel von Physis und Psy-       • Tumorerkrankungen
                                                                                                                           • Erkrankungen des Nervensystems
        auch dort zu funktionellen und strukturellen                     che kommt auch in der Behandlung von chro-
                                                                                                                               (Gürtelrose, Multiple Sklerose, Par-
        Veränderungen“, spannt Kress den Bogen zur                       nischem Schmerz zum Tragen. „Es gibt ein              kinson…)
        Arbeit ihres Mitarbeiters Kai Kummer, der sich                   international anerkanntes biopsychosoziales       • Psychische Erkrankungen (Angst-
        auf Mechanismen, die im Gehirn stattfinden,                      Schmerzmodell. Es ist wichtig, Patientinnen           störungen, Depressionen…)
                                                                                                                           • Erkrankungen innerer Organe (chro-
        konzentriert.                                                    und Patienten in diesem Sinne abzuklären“,
                                                                                                                               nische Entzündungen der Bauch-
           „Uns interessiert, welche Neuronen­typen                      betont Andreas Schlager. Betroffene wer-              speicheldrüse, chronisch-entzünd-
        in der Pain-Matrix – Hirnregionen, die mit                       den von ihren Ärztinnen und Ärzten an die             liche Darmerkrankungen…)

Fotos: Universitätsklinik für Neuroradiologie (1), Andreas Friedle (2)

                                                                                                                                              01 | 2021 MED•INN       11
die einen sind primäre Kopfschmerzen (PKS),
                                                                                               die anderen sekundäre (SKS). „Bei PKS ist der
                                                                                               Schmerz selbst die Erkrankung, bei SKS ist er
                                                                                               das Symptom einer anderen Erkrankung“, er-
                                                                                               klärt Brössner den Unterschied, dem bei der
                                                                                               Diagnose sein erstes Augenmerk gilt: „PKS
                                                                                               wie Migräne, Spannungs- oder Clusterkopf-
                                                                                               schmerz sind unangenehm bis extrem belas-
                                                                                               tend, aber nicht lebensbedrohend. SKS kön-
                                                                                               nen das sehr wohl sein, etwa als Auswirkung
                                                                                               einer Gehirnblutung.“ Schwieriger zu klären ist
                                                                                               die Frage, ob Kopfschmerzen eine chronische
                                                                                               Schmerzerkrankung sind. Migräne etwa be-
                                                                                               gleitet Menschen über einen langen Zeitraum
                                                                                               ihres Lebens – hauptsächlich betroffen ist die
                                                                                               Altersgruppe der ca. 20- bis 50- und 60-Jäh-
     „In Innsbruck haben                   I­nnsbrucker Schmerzambulanz überwiesen.           rigen –, kann aber episodisch ein- bis zweimal
       wir neben der                         Dort werden von Schlager und seinen Mit-          im Jahr bis zu mehrmals in der Woche auf-
       ­Computertomografie                   arbeiterinnen Sabine Egger-Zech und Anna          treten. Neben anderen PKS steht die Migrä-
        auch die                             Rastner ein standardisierter Fragebogen und       ne im Fokus der wissenschaftlichen Arbeit
        ­sonografiegesteuerte                schon existierende Befunde gecheckt bzw.          Brössners: „30 Prozent der Österreicherinnen
                                             neue angefordert. Dann folgt das Gespräch.        sind davon betroffen, auf die Gesamtbevöl-
         Infiltration gut etabliert.“
                                             Eine Stunde nimmt sich Schlager Zeit, gilt es     kerung gesehen sind es 13 Prozent.“ Reiz und
                           Elke Gizewski
                                             doch, mögliche biologische, psychische und/       Herausforderung in der Kopfschmerzmedizin
                                             oder soziale Ursachen zu ergründen. „Der          sind für ihn, „dass wir noch keinen Biomarker,
                                             persönliche Umgang mit Schmerz ist unter-         keinen Eiweißstoff im Blut gefunden haben,
                                             schiedlich. Der eine kennt keinen Schmerz, der    der zeigt, ob ein Patient Migräne oder eine an-
                                             andere ist dafür sehr empfänglich. Oft geht       dere Erkrankung hat. PKS werden daher aus-
                                             es dabei um Vorerfahrungen, körperlicher          schließlich mit Hilfe ausführlicher Anamnese
                                             oder psychischer Missbrauch ist nicht selten      diagnostiziert.“ Auf der Suche nach solchen
                                             eine Ursache“, sagt Schlager. Dieses subjek-      Biomarkern forscht er mit seinem Team in der
                                             tive Schmerzempfinden mache die Diagnose          Höhenkammer (siehe Infobox Seite 13). Mit
                                             schwierig: „Alle Über-50-Jährigen haben eine      ihrer Hilfe hofft Brössner Aussagen treffen zu
                                             Abnützung der Wirbelsäule. Die einen spüren       können, ob ein erhöhtes Risiko für schwere
                                             nichts, andere haben chronische Rücken-           Migräne besteht oder wie Betroffene auf be-
                                             schmerzen. Wir müssen herausfinden, ob kör-       stimmte Therapien ansprechen.
                                             perliche oder psychische Aspekte der Grund           Dass Kopfschmerzen als tatsächliche
                                             dafür sind.“ Daher wären multidisziplinäre        neurobiologische Erkrankungen verstanden
                                             Schmerzambulanzen wie in anderen Ländern          werden, liegt auch an neuen bildgebenden
                                             oft üblich, an denen Betroffene von mehre-        Verfahren. „In Zusammenarbeit mit der Inns-
                                             ren Fachärztinnen und Fachärzten untersucht       brucker Universitätsklinik für Neuroradiologie
                                             werden, wünschenswert. Schlager: „In Öster-       und dem Institut für Systemische Neurowis-
                                             reich gibt es das leider nicht.“ So behelfe man   senschaften in Hamburg-Eppendorf konnten
                                             sich mit Erfahrung und der guten Zusammen-        wir visuell darstellen, dass Teile des Gehirns
                                             arbeit mit anderen Kliniken – wie etwa der        in Migränephasen anders funktionieren“, sagt
                                             Neurologie, wo Gregor Brössner die Ambulanz       Brössner. Doch moderne Bildgebung ist nur
                                             für Kopf- und Gesichtsschmerzen leitet.           eines der „spannenden neuen Tools“, wie sie
                                                                                               Kai Kummer nennt, mit denen Forscherinnen
                                            RUND 200 VERSCHIEDENE Kopfschmerz­                 und Forscher dem „extrem komplexen Phäno-
                                            erkrankungen kennt die International Classi-       men Schmerz“ auf den Grund gehen wollen.
                                            fication of Headache Disorders: die einen sind     Kummer etwa setzt auf Optogenetik. Aus
                                            extrem selten, die andere eine Volkskrankheit;     Algen extrahierte lichtsensitive Proteine wer-

12   MED•INN 01 | 2021
„Reiz und Herausforderung der
         ­Kopfschmerzmedizin sind, dass wir                                                                Migräneforschung
          noch keine Biomarker gefunden­
                                                                                                           in der Höhenkammer
          haben, die zeigen, ob ein Patient
          ­Migräne oder eine andere                                                                        „Wir haben hier in Innsbruck das
                                                                                                           weltweit erste nicht-invasive
           ­Kopfschmerzerkrankung hat.“                                                                   humane Migränemodell ent-
                                    Gregor Brössner                                                       wickelt“, sagt Gregor Brössner,
                                                                                                           Leiter der Ambulanz für Kopf-
                                                                                                           und Gesichtsschmerzen an der
       den dabei in Zielzellen eingeschleust. „Diese                                                       Universitätsklinik für Neurologie.
       können dann mittels Licht aktiviert werden“,                                                        Und dass es gerade in der Tiro-
       erläutert Kummer. Im Gegensatz etwa zu                                                              ler Landeshauptstadt entwickelt
                                                                                                           wurde, sei kein Zufall, stehe es
       pharmakologischen Verfahren, die auf alle                                                           doch in engem Zusammenhang
       Zelltypen einwirken, „können wir mit optoge-                                                        mit dem Bergsport. Ausgangs-
       netischen Verfahren bestimmte Nervenzellen                                                          punkt waren zwei Beobachtun-
       aussuchen, selektiv aktivieren und beobach-                                                         gen: Untersuchungen zeigen,
                                                                                                           dass Menschen, die in Höhenre-
       ten, wie sie sich verhalten.“                   Mitwirkung der Patientinnen und Patienten           gionen wie Nepal leben, häufiger
                                                       ist immens wichtig." – oder einer medikamen-        an Migräne leiden; andere Un-
       MIT „KLASSISCHER“ BILDGEBUNG, wie               tösen Therapie, wobei auf die genaue Einstel-       tersuchen belegen, dass Berg-
       zum Beispiel funktioneller Magnetresonanzto-    lung der Schmerzmittel und mögliche Neben-          steigerinnen und Bergsteiger ab
                                                                                                           bestimmten Höhen vermehrt
       mografie (fMRT), will hingegen Elke Gizewski,   wirkungen zu achten ist. „Ein 50-Jähriger mit       Kopfschmerzen bekommen und
       Direktorin der Universitätsklinik für Neuro-    Rückenproblemen nimmt seine Medikamente             dass Migräne ein Risikofaktor
       radiologie, die zerebrale Schmerzmodulation     ja jahre- bis jahrzehntelang ein“, sagt Schlager.   für die Entwicklung der Höhen-
       sichtbar machen. In einer Studie untersuchte    Die (Neuro-)Radiologie kommt bei sogenann-          krankheit ist. „Wir haben uns
                                                                                                           dann die Frage gestellt, ob Höhe
       sie zum Beispiel die Schmerzverarbeitung von    ten Infiltrationstherapien wieder ins Spiel.        per se Migräneattacken auslösen
       Probandinnen und Probanden, die autogenes       CT-gesteuert wird ein Gemisch aus Cortison          kann“, sagt Brössner. Studien in
       Training beherrschen, und die einer Kontroll-   und lokalem Betäubungsmittel gezielt an die         der Höhenkammer am Institut
       gruppe. „Wir konnten zeigen, dass in solchen    schmerzende Stelle injiziert, um Schmerzen          für Sportwissenschaft der Uni-
                                                                                                           versität Innsbruck bestätigten
       Trainingsphasen bestimmte Teile des lim-        auf längere Zeit zu lindern. „In Innsbruck haben    diese Überlegung. Simuliert
       bischen Systems im Vergleich zu normalen        wir zusätzlich die sonografiegesteuerte Infilt-     werden Höhenlagen von 4. 500
       Wachphasen herunterreguliert sind. Autoge-      ration gut etabliert“, berichtet Gizewski, die      Metern, die freiwilligen Mig-
       nes Training hat also einen sicht- und mess-    überzeugt ist, dass diese Methode aufgrund          ränepatientinnen und -patienten
                                                                                                           bekommen „mit hoher Wahr-
       baren zerebralen Effekt“, berichtet Gizewski.   der wegfallenden Strahlenbelastung vermehrt         scheinlichkeit eine Migräneatta-
       Entspannende Verfahren wie autogenes Trai-      zum Einsatz kommen wird. Rund zehn bis 15           cke“, so Brössner. Zeitnahe Blut-
       ning oder Meditation könnten daher durchaus     Rücken-Infiltrationen werden an der Innsbru-        untersuchungen zeigen dabei
       einen positiven Einfluss auf die Schmerzbe-     cker Neuroradiologie und Radiologie täglich         Veränderungen an bestimmten
                                                                                                           Biomarkern. „Wir können jene
       wertung haben.                                  durchgeführt, reichen diese nicht mehr aus,         Botenstoffe nachweisen, die für
          Bildgebende Verfahren kommen aber nicht      besteht in bestimmten Fällen die Möglichkeit,       eine mögliche Migränetherapie
       nur in der Schmerzforschung, sondern auch       mittels Nervverödung durch Hitze oder Kälte         entscheidend sind“, berichtet
       in der Schmerztherapie zum Einsatz. Hoch-       die Rückenleiden zu lindern.                        Brössner und verweist nochmals
                                                                                                           auf die Einzigartigkeit dieses Hy-
       aufgelöste Bilder aus CT und MRT verfeinern        „Eine Operation sollte die Ultima Ratio sein“,   poxiemodells. „Es ist nichtinva-
       die Diagnose etwa beim Rückenschmerz. Wo        hält Schlager fest. Für ihn ist die Schmerzthe-     siv – im Gegensatz zu anderen
       genau liegt der Bandscheibenvorfall? Welche     rapie das Paradebeispiel einer personalisierten     Modellen, bei denen bestimm-
       Nervenwurzel ist betroffen? Drückt etwa eine    Medizin, sie ist „ein subjektives Eingehen auf      te Substanzen injiziert werden
                                                                                                           müssen.“
       Zyste? Mit der verbesserten Differentialdiag-   jede Patientin bzw. jeden Patienten mit einer
       nose wird das weitere Vorgehen besprochen.      eigens abgestimmten Therapie.“ Zudem ist
       „Schmerz kann man nicht heilen“, betont da-     Schmerz eine interdisziplinäre und allgegen-
       bei Schlager, „wir lindern den Schmerz.“ Die    wärtige Angelegenheit. „Alle Ärztinnen und
       Abnützung der Wirbelsäule kann nicht rück-      Ärzte sind bei ihrer Arbeit mit dem Thema
       gängig gemacht werden, verbessert werden        Schmerz konfrontiert. Insofern wäre es wün-
       kann aber die Lebensqualität: Mit Gymnastik,    schenswert, wenn es auch in der medizini-
       Training oder Physiotherapie – Schlager: „Die   schen Ausbildung fest verankert wäre.“  ah ¶

Fotos: Andreas Friedle

                                                                                                                           01 | 2021 MED•INN    13
Biomarker
     mit Weitblick
     Die Multiple Sklerose ist eine chronisch entzündliche Erkrankung des zentralen
     Nervensystems, deren Verlauf sehr unterschiedlich sein kann. Ein neuer Biomarker
     zur frühen Prognose soll die Wahl der Immuntherapie erleichtern.

14   MED•INN 01 | 2021
D
                ie Multiple Sklerose ist die häufigs-                                    sich um ein Protein, das im Liquor cerebrospi-
                te neurologische Erkrankung im                                           nalis nachweisbar ist“, so Harald Hegen.
                jungen Erwachsenenalter, die meist                                          In die Innsbrucker Studie wurden insge-
       zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr auf-                                          samt 88 Patientinnen und Patienten zum
       tritt und mit dem Risiko für eine bleibende                                       Zeitpunkt des ersten klinischen Ereignisses,
       Behinderung verbunden ist. Lähmungen,                                             etwa einer Rückenmarks- oder Sehnerv­
       Sensibilitätsdefizite, Gleichgewichtsstörun-                                      entzündung, eingeschlossen. Das Durch-
       gen, Sehstörungen, Gehbehinderung und                                             schnittsalter lag bei 33 Jahren, zwei Drittel
       kognitive Beeinträchtigungen können die                                           waren Frauen, damit entsprach die Kohorte
       Folge entzündlicher Veränderungen in Ge-                                          einem auch in der Realität typischen Kollektiv
       hirn und Rückenmark sein. Typischerweise                                          von Patientinnen und Patienten. Die Studi-
       treten Beschwerden in Form sogenannter                                            enteilnehmerinnen und -teilnehmer wurden
       Krankheitsschübe auf. Wann sich ein Schub                                         dann über vier Jahre lang beobachtet.
       ereignet, ist kaum vorauszusehen, denn der                                           Anhand initial, zum Krankheitsbeginn,
       Krankheitsverlauf ist interindividuell sehr un-                                   entnommener Liquor- und Serum-Pro-
       terschiedlich.                                                                    ben wurde der K-FLC-Index bestimmt und
          „Die Zeit nach der Erstmanifestation bis                                       mit der Zeit bis zum Auftreten des zweiten
       zum zweiten Schub hat einen Einfluss auf                                          Krankheitsschubes verglichen. Das Ergebnis:
       die Langzeitprognose. Eine Vorhersage zu                                          Patientinnen und Patienten mit einem ho-
       Beginn der Erkrankung ist schwierig und                                           hen K-FLC-Index (über 100) hatten ein vier-
       erschwert oft die Therapieentscheidung“,                                          fach erhöhtes Risiko für einen schwereren
       weiß Harald Hegen. Der Neuroimmunologe                                            Krankheitsverlauf. Die Zeit bis zum zweiten
       forscht an der Innsbrucker Universitätsklinik                                     Schub betrug im Schnitt lediglich elf Mona-
       für Neurologie seit mehr als zehn Jahren zur                                      te, während bei Patientinnen und Patienten
       Multiplen Sklerose. Seit einigen Jahren steht                                     mit einem niedrigen K-FLC-Index (100 oder
       eine Reihe von Therapiemöglichkeiten zur                                          weniger) durchschnittlich erst nach 36 Mo-
       Verfügung, welche die Krankheitsaktivität                                         naten ein zweiter Schub auftrat. „Auch unter
       auch bei schweren Verläufen günstig beein-                                        Berücksichtigung bekannter prädiktiver Fak-
       flussen können. Für die Wahl der individuell                                      toren wie Alter, Geschlecht, MRT-Läsionslast
       passenden Therapie wäre deshalb die treff-                                        und -aktivität erwies sich der K-FLC-Index als
       sichere Vorhersage des weiteren Krankheits-                                       unabhängiger Marker, mit dem Patientinnen
       verlaufs essenziell.                                                              und Patienten mit höherer Krankheitsakti-
          Zwar lässt sich mittels Magnetresonanzto-                                      vität früh identifiziert und damit der für sie
       mografie (MRT) die Anzahl entzündlicher Lä-                                       geeigneten Therapie zugeführt werden kön-
       sionen im Gehirn darstellen und damit eine                                        nen“, betont Harald Hegen.
       gewisse Einschätzung des Krankheitsver-
       laufs gewinnen, weitere Stratifizierungskri-                                      IN DER LIQUORDIAGNOSTIK sind zum
       terien sind aber rar. Dabei wäre die Erstellung                                   Nachweis von entzündlichen Prozessen im
       einer individuellen Prognose notwendig, um                                        zentralen Nervensystem bereits seit Jahr-
       den Nutzen gegen die Risiken der verschiede-                                      zehnten die sogenannten oligoklonalen Ban-
       nen Immuntherapien im Einzelfall abwägen                                          den (Immunglobuline vom Typ IgG) etabliert,
       zu können.                                                                        allerdings nur mit der Möglichkeit eines posi-
                                                                                         tiven oder negativen Ergebnisses. „Nachdem
       MIT SEINEM TEAM an der Innsbrucker Neu-                                           bei rund 90 Prozent der Patientinnen und         „Wie lange Betroffene ab
       rologie sowie Kolleginnen und Kollegen in                                         Patienten mit Multipler Sklerose ohnehin
                                                                                                                                            Beginn der Erkrankung
       Wien und Graz konnte Harald Hegen diesem                                          oligoklonale Banden nachweisbar sind, ist
                                                                                                                                            ohne Einschränkungen
       Ziel nun näherkommen. „Im Rahmen einer                                            ihr prognostischer Wert sehr limitiert. Der
       Beobachtungsstudie ist es uns gelungen, die                                       K-FLC-Index erlaubt hier erstmals eine weite-
                                                                                                                                            bleiben oder wann der
       sogenannten K-freien Leichtketten (K-FLC,                                         re Stratifizierung. Außerdem besticht dieser       nächste Krankheitsschub
       kappa free light chain) als unabhängigen Bio-                                     Marker durch niedrigere Kosten und deutlich        auftritt, war ­bislang
       marker für die frühe Prognose der Multiplen                                       schnellere Ergebnisverfügbarkeit“, berichtet       kaum verlässlich
       Sklerose zu identifizieren. Dabei handelt es                                      Harald Hegen.                           hei ¶     ­vorherzusehen.“ Harald Hegen

Fotos: Medizinische Universität Innsbruck / David Bullock (1), Medizinische Universität Innsbruck / Martin Vandory (1)

                                                                                                                                                         01 | 2021 MED•INN   15
Den Motor anwerfen
     Um im peripheren Nervensystem die Axonregeneration zu verbessern, will Rüdiger
     Schweigreiter das Wachstum von Nervenfasern ankurbeln und präziser steuern.

                                                                                                 während der Embryonalentwicklung exakt de-
                                                                                                 terminiert, nach einer Läsion finden aber nicht
                                                                                                 alle in distaler Richtung aussprossenden Axo-
                                                                                                 ne ihren ursprünglichen Zielort wieder. Dazu
                                                                                                 kommt noch Problem Nummer 3: Axone rege-
                                                                                                 nerieren hydrenhaft. Bis zu 25 Sprosse können
                                                                                                 sich mit mehreren Zielen im Körper verbinden,
                                                                                                 Fehlverschaltungen sind die Folge. Diesem
                                                                                                 Problem des Sproutings und dem Long-Dis-
                                                                                                 tance-Wachstum widmet sich Schweigreiters
                                                                                                 Team in einem FWF-Projekt.

                                                                                                 „IN EINEM VORPROJEKT konnten wir zeigen,
                                                                                                 dass exzessives Sprouting reduziert werden
                                                                                                 kann“, sagt Schweigreiter. Eine spezielle Rol-

                                           F
                                                    ühren Läsionen im Zentralnervensystem        le­spielen dabei Schwann-Zellen, eigentlich
       Axon-Regeneration
                                                    zu irreversiblen Lähmungen, können           mye­linbildende Zellen im Nervengewebe, die
       In dem dreijährigen FWF-Projekt              Nerven im peripheren Nervensystem            nach einer Läsion eine Regenerationsfunkti-
       „Verbesserte Axonregeneration       hingegen regenerieren. „Im klinischen Sinn ist        on­übernehmen: Sie bilden die Büngnerschen
       im peripheren Nervensystem“         die funktionelle Wiederherstellung aber moto-         Bänder, ein roter Teppich für regenerierende
       erwartet sich das Team um Rü-
                                           risch und sensorisch nicht befriedigend,“ hält        Axone. „Schwann-Zellen werfen einen Cocktail
       diger Schweigreiter (Institut für
       Neurobiochmie) bedeutende Er-       Rüdiger Schweigreiter vom Institut für Neu-           an Goodies für Axone aus. Das ist gut für das
       kenntnisse zum Long-Distance-       robiochemie fest. Die Motorik und das Fein-           Anwachsen, einige Faktoren fördern aber auch
       Wachstum und Sprouting von          gefühl, wie etwa Temperaturempfindlichkeit,           das Sprouting“, sagt Schweigreiter. In einer
       Axonen nach Nervenläsionen.         wären nicht mehr so wie vor der Verletzung, so        In-Vitro-Kultur von sensorischen Neuronen und
       „Wir wollen sozusagen den Mo-
                                           der Forscher. Der Grund ist die unzureichende         Schwann-Zellen stieß sein Team auf Neuronen-
       tor der Axone anwerfen und
       die Steuerung präzisieren“, sagt    Regeneration der Axone, der schlauchartigen           seite mit NgBR auf einen Rezeptor, der mit dem
       Schweigreiter. Von speziellem       Nervenzellfortsätze. Von Myelin, einer kompak-        von Schwann-Zellen exprimierten Protein No-
       Interesse sind dabei die ersten     ten Biomembran, umhüllt, können Axone über            go-B interagiert. „Viel deutet darauf hin, dass
       zwei bis drei Wochen nach der       einen Meter lang werden und bilden das, was           über diese Verbindung in den Neuronen Sig-
       Verletzung, da in dieser Zeit die
                                           man unter „Nervenfasern“ versteht – Bündel            nalwege angestoßen werden, die das Sprou-
       morphologisch-anatomische Ba­-
       sis für die regenerierenden Ner-    von ihnen bilden einen Nerv. Nach schweren            ting ankurbeln“, berichtet der Forscher. Dieses
       venfasern gelegt wird. Ob die       Verletzungen von Nerven z. B. einer Durch­            Branching, so der In-Vitro-Terminus für Sprou-
       molekularen Mechanismen zur         trennung werden die großen Nervenstümpfe              ting, konnte das Team durch das Neutralisieren
       Unterdrückung des exzessiven        mikrochirurgisch zueinander geführt und stabi-        von NgBR bzw. den Knock-out von Nogo-B re-
       Sproutings und zur Förderung
                                           lisiert, damit sie auf natürliche Art regenerieren.   duzieren, nun will man in vivo den Rezeptor in
       des Längenwachstums auch in
       klinischer Hinsicht interessant     „Allerdings springen nur rund 50 Prozent der          regenerierenden Nervenfasern neutralisieren.
       sein und Patientinnen und Pa-       Axone wieder an und beginnen zu wachsen“,             Doch Schweigreiter verfolgt noch eine andere
       tienten einen Gewinn bringen        weiß Schweigreiter. Und wiederum nur ein              Spur. In-Vitro-Daten des Teams zeigen, dass
       können, wird im Mausmodell          Teil dieser Axone schafft das Long-­Distance-         sich die Blockade eines anderen Rezeptors im
       gemeinsam mit Forscherinnen
                                           Wachstum bis zum Ziel z. B. in die Fingerspitze.      Nogo-Modul (NgR1) positiv auf das Long-Dis-
       und Forschern des Biozentrums
       in Wien sowie der Universität       Ein weiteres Problem ist die fehlende Präzisi-        tance-Wachstum auswirkt: „Auch diesen An-
       Leuven erforscht.                   on. Die Verkabelung des Nervensystems wird            satz wollen wir in vivo weiterverfolgen.“  ah ¶

                                                                                                                                        Foto: Andreas Friedle

16   MED•INN 01 | 2021
Mobil mit Bauchbinde
       Ein von der Tuba-Stiftung gefördertes Projekt hat das Ziel, mit einer Bauchbinde
       die Mobilität von Menschen mit Parkinson-Syndromen zu verbessern.

       D
                 er Alltag von Menschen mit Parkin-
                 son und parkinsonähnlichen Erkran-
                 kungen wie der Multisystematrophie
       (MSA) wird oft von Stürzen und Verletzun-
       gen beeinträchtigt. „Zahlreiche Studien ha-
       ben gezeigt, dass die erhöhte Fallneigung
       bei Parkinson auf spontane Blutdruckabfälle
       – klassische orthostatische Hypotonien –
       zurückzuführen ist“, bestätigt Neurobiologe
       Gregor Wenning, der an der Neurologie seit
       vielen Jahren zu Parkinson und MSA forscht.
       Ein von der US-amerikanischen MSA-Coali-
       tion unterstütztes Projekt wird auch von der
       Dr. Johannes und Hertha Tuba-Stiftung mit
       100.000 Euro gefördert.
          Orthostatische Hypotonie ist eine Kreis-
       laufstörung, die aufgrund von Fehlfunktio-          lastet werden sollten. Sie entscheiden zudem     Tuba-Stiftung
       nen des autonomen Nervensystems auftritt.           selbst, wann und wie lange sie die Bauchbin-
       Sie zeigt sich als drastischer Abfall des Blut-     de untertags tragen.                             Im Auftrag der Dr. Johannes und
       drucks innerhalb von einer bis drei Minuten                                                          Hertha Tuba-Stiftung schreibt
                                                                                                            die Medizinische Universität
       nach dem Aufstehen. Schwindel und kurze             DIE WIRKUNG DER BAUCHBINDE unter-                Innsbruck die Einreichung von
       Bewusstlosigkeit sind oft die Folge.                suchen die Experten im Kipptisch-Labor.          Projekten auf den Gebieten der
          In der Studie, die Wenning mit Alessand-         „Die Patientinnen und Patienten liegen auf       Gerontologie und Geriatrie aus.
       ra Fanciulli und Cecilia Raccagni (Neurolo-         einer Trage und sind mit Gurten gesichert.       Neben dem hoch dotierten Par-
       gie Bozen) leitet und mit der Parkinson-Ar-         Nach dem Kippen der Liegefläche können wir       kinson-Projekt von Gregor Wen-
                                                                                                            ning wurde Sebastian Reinstadler
       beitsgruppe um Klaus Seppi durchführt, will         messen, ob die spontane Lageveränderung          (Uniklinik für Kardiologie) mit dem
       man an 30 PatientInnen die Wirkung einer            zu einem Blutdruckabfall führt. Damit steht      Forschungspreis 2020 ausge-
       Bauchbinde auf den Blutdruck beobachten.            uns ein standardisierter Parameter zur klini-    zeichnet. Stipendien erhielten
       „Die Bauchbinde kommt aus der Adipo-                schen Beurteilung der orthostatischen Hy-        auch die Psychiaterin Michaela
       sitas-Chirurgie und wird in unserem Projekt         potonie zur Verfügung“, erklärt Wenning. Ob      Defrancesco sowie Florian Kro-
                                                                                                            nenberg (Institut für Genetische
       quasi zweckentfremdet. Wir setzen sie ein,          das Tragen der Bauchbinde zur Verbesserung       Epidemiologie). Videos zu den
       um mit Kompression Blutansammlungen im              von Gangbild und -geschwindigkeit beiträgt,      Projekten:       www.i-med.ac.at/
       Bauchraum zu unterbinden oder aufzulösen,           wird anhand von Schuh-Sensoren überprüft.        events/tuba-preis.html
       sodass das Blut wieder zurück in den Kreis-         „Die ausgeprägte Fallneigung bei älteren Par-
       lauf fließt und der Blutdruck stabilisiert wird“,   kinson- und MSA-PatientInnen ist mit hoher
       erklärt Fanciulli. Schon eine kleine Pilotstudie    Verletzungsgefahr und auch Mortalität ver-
       hatte gezeigt, dass eine Bauchbinde Blut-           bunden. Die mechanische Stabilisierung des
       druckabfälle verhindern kann. Diese Therapie        Blutdrucks verbessert die Gangsicherheit,
       bewährt sich v.a. bei älteren PatientInnen,         hilft, Stürze zu vermeiden und erleichtert da-
       die mehrere Medikamente einnehmen und               mit den Alltag der Betroffenen“, betont Gregor
       nicht noch durch ein weiteres Präparat be-          Wenning.                            mai/hei ¶   Alessandra Fanciulli, Gregor Wenning

Fotos: Medizinische Universität Inns­bruck

                                                                                                                             01 | 2021 MED•INN     17
Bernhard Flucher und Yousra El Ghaleb konnten Varianten des Kalziumkanal-Gens CACNA1I als Verursacher neurologischer Erkrankungen identifizieren.

     Aus dem Rhythmus
     Kalziumkanäle steuern zahlreiche Körperfunktionen, spielen aber auch als krank-
     heitsauslösende Gene eine Rolle – etwa bei neuronalen Entwicklungsstörungen,
     wie Innsbrucker Forscherinnen und Forscher kürzlich nachweisen konnten.

                                                 K
                                                          alzium wird nicht nur für den Kno-                 Tuluc von der Universität Innsbruck und der
                                                          chenaufbau benötigt. Es fungiert                   Humangenetikerin Kerstin Kutsche von der
                                                          auch als intrazellulärer Botenstoff,               Universität Hamburg-Eppendorf für das letzte
                                                 der wichtige Zellfunktionen steuert. Zehn                   Mitglied dieser Kanalfamilie genetische De-
                                                 Typen spannungsaktivierter Kalziumkanäle                    fekte beschreiben, welche intellektuelle Stö-
                                                 regulieren im menschlichen Körper etwa die                  rungen und epileptische Anfälle verursachen.
                                                 Kontraktion von Herz- und Skelettmuskula-                   Veröffentlicht wurde die Arbeit im Wissen-
                                                 tur, die Sekretion von Hormonen und Neurot-                 schaftsjournal Brain.
                                                 ransmittern oder auch die aktivitätsabhängige                  „T-Typ-Kanäle – sogenannte Low-Vol­tage-
                                                 Gen­expression. Neun der zehn waren bereits                 Activated Calcium Channels; CaV3.1-3.3 – re-
                                                 als krankheitsverursachende Gene bekannt.                   agieren bereits auf geringfügige Veränderun-
                                                 Nun konnte ein Team um Bernhard Flucher                     gen der Membranspannung und sind damit
                                                 und Yousra El Ghaleb vom Institut für Physio-               insbesondere an der Entstehung neuronaler
                                                 logie der Medizinischen Universität Innsbruck               Aktionspotenziale und an der Steuerung rhyth-
                                                 gemeinsam mit dem Pharmakologen Petronel                    mischer Aktivität im Gehirn beteiligt. Nicht

18   MED•INN 01 | 2021
verwunderlich, dass eine Rolle dieser Kanäle in
       neuronalen Rhythmusstörungen, wie bei der
       Epilepsie, vermutet wird, und dass sie als ver-                                                                                   Struktur & Funktion
       heißungsvolle Drug Targets für die Entwicklung                                                                                    mutierter Ca-Kanäle
       neuer Medikamente hoch gehandelt werden“,
                                                                                                                                         Veränderte molekulare Interaktio-
       beschreibt Bernhard Flucher die Ausgangssi-                                                                                       nen verlangsamen das Schließen
       tuation. Er forscht in Innsbruck seit Mitte der                                                                                   der Kanalpore, erhöhen dadurch
       1990er Jahre zu den vielfältigen Funktionen                                                                                       den Kalziumeinstrom und die Er-
       dieser wichtigen Ionenkanäle und deren Bedeu-                                                                                     regbarkeit von Nervenzellen.
       tung in verschiedenen Krankheiten.

       TATSÄCHLICH WURDEN in den letzten                                               erklären könnte. Drittens war bemerkenswert,
       Jahren zahlreiche genetische Varianten von                                      dass das Ausmaß der veränderten Kanalfunk-
       T-Typ-Kanälen beschrieben, von denen insbe-                                     tionen bei den unterschiedlichen Mutationen
       sondere spontan auftretende gain-of-function                                    gut mit dem Schweregrad des Krankheitsbil-
       Mutationen von CaV3.1 (CACNA1G) und CaV3.2                                      des der jeweiligen Patientinnen und Patienten
       (CACNA1H) eindeutig als Ursache neuronaler                                      zusammenpasste. „Alles in allem lassen die
       Erkrankungen, wie der zerebellaren Atrophie                                     Ergebnisse keinen Zweifel daran, dass die ge-
       bzw. von Hyperaldosteronismus, identifiziert                                    netischen Veränderungen im CACNA1I-Gen die
       wurden. Ein ursächlicher Zusammenhang                                           Ursache der Erkrankungen sind“, betonten die
       mit Epilepsie konnte jedoch für keinen der                                      Innsbrucker Forscher, deren Resultate die Kli-
       T-Typ-Kanäle bestätigt werden, und genetische                                   niker ermutigten, die Behandlung mit Blockern
       Varianten von CaV3.3 (CACNA1I) wurden bisher                                    von T-Typ-Kalziumkanälen zu beginnen, was
       lediglich als Risikofaktor für Schizophrenie                                    tatsächlich zu einer merklichen Linderung der
       eingestuft. Als das Humangenetik-Team vom                                       epileptischen Anfälle führte.
       Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf in                                          Neben den wissenschaftlichen Resultaten
       mehreren Patientinnen und Patienten einen                                       und deren klinischer Bedeutung ist die Stu-
       starken genetischen Zusammenhang von Vari-                                      die auch aufgrund des breiten Spektrums der
       anten des CACNA1I-Gens mit neurologischen                                       angewandten Techniken eine Klasse für sich.
       Erkrankungen unterschiedlicher Ausprägung                                       „Es ist phantastisch, welche Vielzahl von Me-
       fanden, kam die Expertise der Innsbrucker                                       thoden und Modellsystemen zur Erforschung
       Kalziumkanalforscherinnen und -forscher zum                                     von Kalziumkanälen uns in Innsbruck zur Ver-
       Einsatz, um die Auswirkung der Mutationen                                       fügung steht“, freut sich Flucher und erklärt
       funktionell zu charakterisieren. Die Ergebnisse                                 weiter: „Krankheitsmutanten sind immer
       dieser Untersuchungen waren eindeutig und in                                    eine große Herausforderung, weil man vorab
                                                                                                                                         Bernhard Flucher
       mehrfacher Hinsicht bemerkenswert: Erstens                                      nie weiß, wo die Reise hingeht; d.h. welche       Der gebürtige Salzburger Bernhard
       zeigten die Kanalvarianten funktionelle Ver-                                    Methoden letztlich für die Entschlüsselung        Flucher ist Professor für Molekulare
       änderungen, welche als gain-of-function, also                                   des Krankheitsmechanismus notwendig sein          Zellphysiologie am Institut für Physio-
       als Verstärkung der Kanalfunktion, eingestuft                                   wer­den. Da ist es extrem wertvoll, in einem      logie der Medizinischen Universität
                                                                                                                                         Innsbruck. Nach seinem Forschungs-
       werden konnten, was gut zum heterozygot                                         Umfeld arbeiten zu können, wo mehrere For-        aufenthalt in Washington ermöglich-
       dominanten Erbgang der genetischen Verän-                                       schergruppen zusammen eine Vielzahl unter-        ten es ihm ein Forschungspreis der
       derungen passt. Zweitens deuteten die funkti-                                   schiedlicher Techniken und Modellsysteme          Akademie der Wissenschaften und
       onellen Veränderungen auf zwei parallel ablau-                                  zur Verfügung haben, und bereit sind, diese in    die kontinuierliche Förderung durch
       fende Pathomechanismen hin. Einerseits, dass                                    gemeinsame Projekte einzubringen“. Wie die-       den Österreichischen Wissenschafts-
                                                                                                                                         fonds (FWF), ein Forschungsteam
       vermehrter Kalziumeinstrom Neurone schä-                                        se Studie eindrucksvoll zeigt, ist das in Inns-   in Innsbruck aufzubauen, aus dem
       digt oder abtötet, was die teils dramatischen                                   bruck eindeutig der Fall. Dazu ergänzt Tuluc:     mehrere Gruppen hervorgingen.
       Defekte in der neuronalen und intellektuellen                                   „Ich kenne keinen anderen Ort weltweit, an        Mittlerweile sind die Arbeitsgruppen
       Entwicklung der Patientinnen und Patienten                                      dem so viele Forscherteams beider Unis an         an beiden Innsbrucker Universitäten
       erklärt. Und andererseits führten die Mutatio-                                  unterschiedlichen Aspekten dieses Kanaltyps       etabliert und bieten zusammen eine
                                                                                                                                         Vielzahl unterschiedlicher Techniken
       nen zu einer erhöhten Erregbarkeit von Neuro-                                   forschen und zudem noch so ausgezeich-            und Modellsysteme und damit ein
       nen, was die epileptischen Anfälle in den stär-                                 net zusammenarbeiten. So wird Forschung           einzigartiges wissenschaftliches Um-
       ker betroffenen Patientinnen und Patienten                                      schlagkräftig und macht Spaß!“           red ¶   feld für die Arbeit an Kalziumkanälen.

Fotos: Andreas Friedle; Grafik: Monica Fernández-Quintero / Petronel Tuluc / Bernhard Flucher

                                                                                                                                                            01 | 2021 MED•INN      19
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