Was bleiben muss - Hans-Böckler-Stiftung

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Was bleiben muss - Hans-Böckler-Stiftung
www.magazin-mitbestimmung.de | Nr. 6 | Dezember 2022

Was
bleiben muss
Preissteigerungen bedrohen energieintensive Industrien

Immer anders                                       Leben statt Tod
Wie die IG Metall Betriebsräte                     Wissenschaftlerin Azadeh Akbari
unterstützt, eigene Lösungen zu finden             über die Aussichten für den Iran
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Was bleiben muss - Hans-Böckler-Stiftung
editorial

                                                                                        Mein Lesetipp:
                                                                                        Mein Lesetipp ist „Ich bin vol-
                                                                                        ler Hoffnung“ (Seite 40 f.) über

                                                 LIEBE
Foto: Jan Rathke

                                                                                        unsere Alumna Azadeh Akbari
                                                                                        und die Demonstrationen im

                                                 LESER*INNEN,
                                                                                        Iran. Denn die Menschen im
                                                                                        Iran sind nicht allein.

        2
                           022 geht zu Ende, ein Jahr, geprägt von Krieg und Krisen.
                          Sie stellten Politik und Gesellschaft vor Herausforderun­-
                          gen, auf die es keine einfachen Antworten gibt und die
                    gleichzeitig oft schnelle Reaktionen erforderten. Geradezu ein
                    Dilemma – und so fielen Entscheidungen oft unter großer
                    Unsicherheit.
                        „Wann, wenn nicht jetzt, sind Gewerkschaften gefragt, um
                    ­genau das mitzugestalten?“, fragt Yasmin Fahimi im Interview.
                    Denn Gewerkschaften sind geübt darin, mit gegensätzlichen
                   ­Anforderungen umzugehen und Interessen auszugleichen. Sie
                     sind es gewohnt, den Widersprüchen zum Trotz das Bestmögliche
                    für die Beschäftigten und damit die Mehrheit der Bürger*innen
                    herauszuholen und ihren Interessen eine Stimme zu geben.
                        Unsere Forschung zeigt, dass sich der Einsatz für alle lohnt.
                    Denn wer gute Arbeitsbedingungen hat und in seinem Betrieb
                    mitwirken kann, besitzt auch größeres Vertrauen in die Politik
                    und in die Demokratie. Demokratie in Arbeit stärkt also Demo-
                    kratie im Allgemeinen und sichert damit die Grundlagen für
                    Frieden, Freiheit und Wohlstand.

                   Einen guten Jahresausklang und ein besseres 2023 wünscht
                   Ihre

                   Claudia Bogedan,
                   Geschäftsführerin

                   claudia-bogedan@boeckler.de

                                                                                        MITBESTIMMUNG | Nr. 6 | Dezember 2022   3
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IN DIESER AUSGABE …

                                                 TITELTHEMA: GEMEINSAM DURCH DIE ENERGIEKRISE

                                                 10 „Wir werden nicht alles halten können“
                                                 	Unsere Industrie ist in Gefahr. Von Kay Meiners und Andreas Molitor

                                                 18 „Weil es um die Zukunft dieses Landes geht“
                                                      Die DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi über ein Land im Krisenmodus

                                                 21 Auf Kosten der Schwächsten
                                                 	Deutschland kauft Kohle, egal wo. Von Kay Meiners und
                                                   Andreas Molitor

                                                 24 Einer trotzt der Krise
                                                      Der Arbeitsmarkt ist bisher erstaunlich robust. Von Fabienne Melzer

                                                 26	Positive und negative Signale
                                                      Eine wirtschaftliche Prognose für das Jahr 2023. Von Peter Bofinger

          10                                     ARBEIT UND MITBESTIMMUNG

                                                 29 Praxistipp
                                                       Vorbildlich geregelt: KI bei IBM und Dupont

                                                 30 Einigung ohne Handicap
                                                 	Der BASF-Betriebsrat fördert Schwerbehinderte. Von Andreas Schulte

                                                 32 Wir bestimmen mit
                                                       Armando Dente, Aufsichtsrat bei der Lanxess AG in Köln

                                                 34 Demokratisch entschieden
                                                       Verkauf oder nicht? Premium Aerotec stimmte ab. Von Carmen Molitor
                                 36              36 Jedes Problem verdient seine eigene Lösung
                                                       Die IG Metall stärkt die Mitbestimmung im Betrieb. Von Martin Kaluza

                                                 POLITIK UND GESELLSCHAFT

                                                 39 Ein Schlupfloch weniger
                                                       Warum das SAP-Urteil des EuGH über den Einzelfall hinausweist

                                                 40 „Ich bin voller Hoffnung“
                                                       Eine Altstipendiatin verfolgt die Proteste im Iran. Von Fabienne Melzer

                                                 42 Kunst trifft Gewerkschaft
                                                       Das BöcklerK-Stipendium fördert junge Künstler. Von Jeannette Goddar

                                            40   45 Starke Mitbestimmung für eine starke Demokratie
                                                       Aktuelle Böckler-Events. Von Jeannette Goddar und Fabienne Melzer

4   MITBESTIMMUNG | Nr. 6 | Dezember 2022
Was bleiben muss - Hans-Böckler-Stiftung
IMMER IM HEFT …
                                                                                       WAS
                                                                                    SONST NOCH
                                                                                     GESCHAH

KOMPAKT

                                                                                                                                Foto: TV–B–Gone
6 NACHRICHTEN
8 CHECK Die Zahlen hinter der Zahl
9 PRO & CONTRA Ein Thema, zwei Experten

AUS DER STIFTUNG

47 RADAR Böckler-Institute, Böckler-Projekte, Meldungen
50 WIR — DIE STIFTUNG Industrie

    52
                                                                  Einfach mal abschalten
                                                                  In Paris sabotierten Klimaaktivisten Fuß-
   Porträt                                                        ballfans, die in Kneipen die Weltmeister-
   JÜRGEN JOHANNESDOTTER war der erste Theologie-                 schaft schauten: Sie schalteten die Ap-
                                                                  parate per Fernsteuerung aus. Welche
   Stipendiat der Stiftung. Er hat es bis zum Bischof gebracht.
                                                                  Möglichkeiten hätte ich, gäbe es ein sol-
                                                                  ches Gerät für meine Mitmenschen! Ich
                                                                  könnte den Typen abschalten, der seinen
54 TERMINE Böckler-Seminare für Aufsichtsräte 2023                Hass über Menschen ausschüttet, auf
                                                                  die sowieso alle draufhauen, die Frau in
                                                                  der U-Bahn, die den kleinen Jungen
MEDIEN                                                            anbrüllt, weil er an den Handschlaufen
                                                                  schaukelt, und den Selbstgerechten, der
56 BUCH Rezensionen, Tipps & Debatten                             sich für einen besseren Menschen hält,
                                                                  weil er moralisch immer auf der richti-
59 DAS POLITISCHE LIED Pink Floyd feat. Andriy Khlyvnyuk         gen – angesagten – Seite steht.
    from BoomBox: Hey Hey Rise Up                                     Dafür würde ich gerne ein paar Men-
                                                                  schen lauter drehen: den Mann mit der
60 DIGITAL Links, Apps & Blogs                                    Gitarre, der samstags am Marktplatz so
                                                                  wunderschön spielt, oder den Obdach-
                                                                  losen, der immer mit einem Buch vor
                                                                  seinem Pappbecher sitzt. Er wünscht je-
                                                                  dem einem schönen Tag, der ihm etwas
                                   RUBRIKEN                       in den Becher wirft – immer freundlich
                                                                  und ein bisschen beschämt.

                                   3 EDITORIAL
                                   62 FUNDSTÜCK
                                   64 LESERFORUM                                                FABIENNE MELZER ist
                                                                  Foto: Uli Baatz

    66                             65 IMPRESSUM/VORSCHAU                                        leitende Redakteurin
                                                                                                des Magazins
                                   66 MEIN ARBEITSPLATZ                                         Mitbestimmung.

                                                                                        MITBESTIMMUNG | Nr. 6 | Dezember 2022                     5
Was bleiben muss - Hans-Böckler-Stiftung
Foto: picture alliance/dpa / Christophe Gateau
                                                                                                                              Foto: Benjamin Jenak
    SOZIALPOLITIK

    Fauler Kompromiss
    beim Bürgergeld
    Die Gewerkschaft Verdi kritisiert den zwischen
    Union und der Ampel ausgehandelten Kompro-
    miss zum Bürgergeld. CDU und CSU hatten durch-
    gesetzt, das Schonvermögen zu reduzieren. Auch
    ermöglicht das Gesetz mehr Sanktionen als der
    Entwurf. Bettina Kohlrausch, Direktorin des Wirt-
    schafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der
    Hans-Böckler-Stiftung bemängelt die Streichung
    der weitgehend sanktionsfreien sechsmonatigen
    Vertrauenszeit. „Es ist bedauerlich, dass sich dieser
    Vorschlag, der das Vertrauen in staatliche Instituti-
    onen gestärkt hätte, nicht durchsetzen konnte“, sagt
    Kohlrausch. Politisches Engagement gegen Armut
    sei gerade jetzt in Zeiten hoher Inflation wichtig
    für den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

    INFLATION

    Arme tragen die größere Last
    Inflationsrate in Prozent nach Haushalten:

                     10,6
             Paar, 2 Kinder,
                                           11,8
                                                            Luftnummer
             3600 bis 5000               Paar, 2 Kinder,
               Euro (netto)              2000 bis 2600      Das Flugzeug von Egypt Air über einem Tagungsraum der Weltklima-
                                         Euro (netto)
                                                            konferenz im ägyptischen Sharm El Sheikh erscheint wie ein Menetekel.
                                                            Fortschritte zum Schutz des Weltklimas sind in dem teuren Seebad an
                                                            der Südspitze der Sinaihalbinsel, das mit seinen Diskotheken, Golfclubs
                                                            und internationalen Hotels selbst ein Ziel des Massentourismus ist, nur
                                                            schwer zu erzielen. Die Konferenz geht mit einem Minimalkonsens zu
                     8,4                                    Ende. Nur wenige Länder haben ihre Selbstverpflichtung zur Reduktion
                                          11,4              von Emissionen nachgeschärft. Einziger Lichtblick: Erstmals wurde für
             Alleinlebende,                                 die von Klimakatastrophen hart getroffenen ärmsten Länder ein Fonds
            5000 Euro oder             Alleinlebende,
              mehr (netto)                                  eingerichtet. Für DGB-Vorstandsmitglied Stefan Körzell ein positives
                                       weniger als 900
                                       Euro (netto)         Ergebnis ebenso wie das Bekenntnis der Konferenz zu einem sozial ge-
                                                            rechten Wandel. „Vollkommen unverständlich“ findet er, „dass Menschen-
    Quelle: Statistisches Bundesamt, Berechnungen IMK       und Arbeitnehmerrechte im Abschlussdokument nicht auftauchen.“

6   MITBESTIMMUNG | Nr. 6 | Dezember 2022
Was bleiben muss - Hans-Böckler-Stiftung
kompakt

                                                                                                               6,64
                                                                                                                                                 EINE FRAGE, HERR SEVERO
TARIFKONFLIKT

                                                                                                                                                                                         Foto: Roberto Parizotti
Erfolg nach Streik in Riesa                                                                                         Millionen
                                                                                                                    Menschen
Der fast zweimonatige Streik beim Nu-

                                                                 Foto: picture alliance / ZB | Jan Woitas
delhersteller Teigwaren Riesa ist im                                                                             in Deutschland
November mit einem Erfolg der Ge-                                                                           bekommen seit Oktober
                                                                                                            mehr Geld. Sie verdien-
werkschaft NGG zu Ende gegangen.
                                                                                                            ten bislang weniger als
Zentraler Punkt der Einigung mit dem                                                                         zwölf Euro pro Stunde
Arbeitgeber ist eine Erhöhung des Stun-                                                                       und profitieren daher
denlohns um zwei Euro: zum Dezember                                                                           vom neuen Mindest-
um einen Euro und um jeweils 50 Cent                                                                          lohn. Das entspricht
                                                                                                                17,8 Prozent aller
zum Juli und Dezember nächsten Jahres.
                                                                                                               Beschäftigten. Die
Außerdem werden die rund 150 Beschäftigten eine Corona­                                                     Kreise mit den meisten               Was erwarten die
prämie von 50 Euro monatlich bis ins Jahr 2024 erhalten. Nach-                                               Mindestlohnberechtig-               Gewerkschaften von
dem sich die Fronten verhärtet hatten, brachte eine Moderation                                              ten liegen in Thüringen,
durch den früheren brandenburgischen Ministerpräsidenten                                                     Brandenburg und Vor-                der Präsidentschaft
Matthias Platzeck und den Ex-Präsidenten des Landesarbeits-
                                                                                                            pommern. Die niedrigs-
                                                                                                            ten Anteile verzeichnen
                                                                                                                                                 Lula da Silvas?
gerichts Berlin-Brandenburg, Gerhard Binkert, den Durch­­-                                                    Wolfsburg, Erlangen
bruch. Erst im letzten Jahr war es den Riesaer Beschäftigten                                                   und der Landkreis                 Der Kampf gegen Armut und
gelungen, überhaupt einen Tarifvertrag durchzusetzen (Maga-                                                         München.                     Hunger in Brasilien muss end-
zin Mitbestimmung 5/2021).                                                                                                                       lich aufgenommen werden. Die
                                                                                                                                                 Zahl der Menschen, die nicht
                                                                                                              Quelle: Toralf Pusch/Eric Seils:
                                                                                                                  Mindestlohn 12 Euro.           genug zu essen haben, stieg in
                                                                                                              Aus­wirkungen in den Kreisen.
                                                                                                                WSI P­olicy Brief Nr. 72,        den vergangenen zwei Jahren
                                                                                                                     September 2022
GUTACHTEN                                                                                                                                        um 14 Millionen. Unsere staat-
                                                                                                                                                 lichen Einrichtungen wie das
Was für Gewerkschaften im                                                                                                                        Gesundheitssystem und die öf-
                                                                                                            WISSEN SIE …                         fentliche Bildung müssen wie-
Lieferkettengesetz steckt
                                                                                                                                                 der gestärkt werden genauso
Der Jahreswechsel bringt für Unternehmen neue Pflichten                                                     … dass die deutsche                  wie unsere sozialen Sicherungs-
                                                                                                            Industrie aufgrund von
mit sich. Zum 1. Januar 2023 tritt das Lieferkettensorgfalts-                                                                                    systeme allgemein. Wir brau-
                                                                                                            Lieferkettenproblemen
pflichtengesetz in Kraft. Danach müssen Unternehmen mit                                                     von Anfang 2021 bis Mit-             chen Arbeitsgesetze, die die
einer bestimmten Größe Arbeits-, Umwelt- und Menschen-                                                      te 2022 Güter im Wert                Grundlage für menschenwür-
rechte auch entlang ihrer Lieferketten einhalten. Dem Gesetz                                                von knapp 64 Milliarden              dige Arbeit schaffen, und ein
war 2016 ein Nationaler Aktionsplan Wirtschaft und Men-                                                     Euro nicht herstellen                demokratisches System der Ar-
                                                                                                            konnte? Am schwersten
schenrechte vorausgegangen. Allerdings erfüllten bis 2020 laut                                                                                   beitsbeziehungen, das die ge-
                                                                                                            trafen Lieferengpässe
einer Befragung nur 13 bis 18 Prozent der Firmen die Anfor-                                                 die Auto­industrie, die              werkschaftliche Autonomie
derungen des Aktionsplans. In einem Gutachten für das Hugo                                                  dennoch hohe Gewinne                 achtet. Der Klimawandel muss
Sinzheimer Institut der Hans-Böckler-Stiftung beleuchtet                                                    ­verzeichnen konnte. Sie             gestoppt werden, und deshalb
Rechtswissenschaftlerin Reingard Zimmer die Möglichkeiten,                                                   konzentrierte sich auf              muss auch die Abholzung des
                                                                                                             den Verkauf teurer Fahr-
die das Gesetz Gewerkschaften und Interessenvertretungen                                                                                         Regenwalds ein Ende haben.
                                                                                                             zeuge. Diese Ergebnisse
gibt. So können Gewerkschaften in Deutschland Rechte der                                                     einer IMK-Studie zeigen,            Das alles kann ein Präsident si-
Betroffenen geltend machen, und Betriebsräte haben Mitspra-                                                  wie wichtig die Wider-              cher nicht in einer Amtszeit
cherechte bei der Umsetzung des Risikomanagements.                                                           stands­fähigkeit von Lie-           erreichen. Er kann aber die Wei-
                                                                                                             ferketten ist.                      chen dafür stellen.

Reingard Zimmer: Das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz                                                                                        QUINTINO SEVERO, Stellvertreten-
                                                                                                             Quelle: Thomas Theobald/Peter       der Sekretär für internationale
(LkSG). Handlungsoptionen für Mitbestimmungsakteure und                                                     Hohlfeld: Materialengpässe setzen
Gewerkschaften. Gutachten für das Hugo Sinzheimer Institut                                                   deutscher Automobilproduktion       Beziehungen des brasilianischen
                                                                                                               massiv zu. IMK Policy Brief
in der Hans-Böckler-Stiftung, August 2022                                                                      Nr. 141, November 2022.           Gewerkschaftsbunds CUT

                                                                                                                                                 MITBESTIMMUNG | Nr. 6 | Dezember 2022                             7
Was bleiben muss - Hans-Böckler-Stiftung
kompakt

     CHECK DIE ZAHLEN HINTER DER ZAHL

     Ganztagsbetreuung ohne Fachkräfte
     BILDUNG Von 2026 an haben Grundschulkinder einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung. Doch es braucht
     wesentlich mehr Personal, um ihn zu gewährleisten. Verschiedene Szenarien des aktuellen Ländermonitors zeigen:
     Bis 2030 könnten bis zu 100 000 Fachkräfte fehlen.
     Von Fabienne Melzer

      Rechtsanspruch mit
      großer Lücke
      Fehlende Fachkräfte im Ganztag, 2021 bis 2030                                         Schleswig-
                                                                               0            Holstein
                                                                                            S 1: – 2000                         Mecklenburg-
                           Hamburg                                                          S 5: – 4000                         Vorpommern
                                                                                                                     0
                                                                                                                                S 1: – 4000
                           S 1: +1000
                                                                                                                                S 5: – 5000
                           S 5: +1000
                           0

                                                                                     Niedersachsen
                           Bremen                                                    S 1: – 6000
                                                                                                                                                                    Berlin
                           S 1: – 1000                                               S 5: – 11.000
                                                                                                                                                                    S 1: +2000
                           S 5: – 1000                                               0                            Sachsen-
                                                                                                                  Anhalt                                            S 5: +1000
                           0                                                                                                                0
                                                                                                                  S 1: – 4000                                       0
                                                                                                                  S 5: – 6000              Brandenburg
                                                                  0                                           0                            S 1: – 3000
     Vor dem Kollaps                              Nordrhein–                                                                               S 5: – 5000
                                                  Westfalen                                                                     0
     Mit den Ergebnissen des
                                                  S 1: – 7000
     Ländermonitors sieht sich                                                                    Thüringen                             Sachsen
                                                  S 5: – 17.000
     die Gewerkschaft Verdi                                                                       S 1: +1000                            S 1: – 9000
     bestätigt. Sie warnt seit                                                Hessen                                                    S 5: – 11.000
                                                                                                  S 5: +1000
     Jahren vor einem Kollaps                                                 S 1: – 1000
                                                                              S 5: – 5000          0
     des Systems aufgrund des
                                                                      0
     Fachkräftemangels. Die stell-                                                                                                                Erklärung Szenarien
     vertretende Vorsitzende               Rheinland-Pfalz                                                                              Szenario A (S A): Nicht alle Kinder nehmen
     Christine Behle begrüßt den           S 1: – 2000                                                                               die volle Betreuungszeit von 40 Stunden pro
     Rechtsanspruch für Grund-             S 5: – 5000                                                                               Woche in Anspruch, ein Teil bleibt in der Über-
     schulkinder auf Ganztagsbe­                     0                                                                               mittagsbetreuung. Die Personalschlüssel Ost-
     treuung. Die Politik habe aber                                                                       Bayern
                                                                                                                                      deutschlands (1:14) gleichen sich bis 2030
     versäumt, das Ausbildungssys-                                                                        S 1: – 10.000                   dem ­Median Westdeutschlands (1:6) an.
     tem entsprechend auszubauen.                                                                         S 5: – 21.000                       Szenario B (S B): Alle Kinder nehmen
    „Wir erwarten, dass Bund und                                          Baden-                          0                                      bis 2030 die volle Betreuungszeit
                                                                          Württemberg                                                                von 40 Stunden pro Woche in
     Länder einen Stufenplan vorlegen,
                                                                          S 1: – 6000                                                                  Anspruch. Die Personalschlüs-
     welcher den Ausbau des Systems,
                                                                          S 5: – 12.000                                                                 sel Ostdeutschlands gleichen
     die Hebung der Qualität und die
                                                                                                                                                        sich bis 2030 dem Median
     Gewinnung und Ausbildung von Fach-                                   0
                                                                                                                                                        Westdeutschlands an, der auf
     kräften synchronisiert“, sagte Behle.                                                                                                          dem Niveau von 2021 bleibt.

                                0            Saarland
                                                                                                                                            Quelle: Kathrin Bock-Famulla/Antje Girndt/
                                             S 1: – 1000                                                                                    Tim Vetter/Ben Kriechel: Fachkräfteradar für
                                                                                                                                            KiTa und Grundschule 2022. Gütersloh,
                                             S 5: – 1000                                                                                    Bertelsmann Stiftung

8    MITBESTIMMUNG | Nr. 6 | Dezember 2022
Was bleiben muss - Hans-Böckler-Stiftung
kompakt

                                                              PRO & CONTRA EIN THEMA, ZWEI EXPERTEN

          Brauchen wir eine soziale Pflichtzeit?
                                   Foto: Bundespräsidialamt

                                                                                                                   Foto: Verdi
                  Millionen Menschen in unserem Land küm-                                                          Einen Pflichtdienst für junge Men-

 JA.              mern sich täglich um ihre Kinder, um alte oder
                  kranke Verwandte, um Freunde oder Kollegen.
                                                                                       NEIN.                       schen lehne ich ab. Die Debatte ist
                                                                                                                   irritierend, denn sie wird von denje-
Millionen sind im Ehrenamt oder als freiwillige Helferinnen                           nigen geführt, die dieser Generation längst entwachsen sind. Ich
und Helfer für andere da, und das zumeist neben dem Beruf                             setze auf Freiwilligkeit statt Zwang.
und der Familie. Aber es gibt auch Anzeichen dafür, dass das                              Die bestehenden Freiwilligendienste sind eine wichtige
bürgerschaftliche Engagement, das Rückgrat unseres Gemein-                            Einrichtung. Sie ermöglichen jungen Menschen, sich während
wesens, mancherorts schwächer wird. Mein Eindruck ist, dass es                        Übergangsphasen zwischen Schule und Ausbildung bezie-
in unserem Land an Begegnung und Austausch mangelt – zwi-                             hungsweise Studium zu orientieren und sich für das Gemein-
schen Jungen und Alten, Armen und Reichen, Ost- und West-                             wohl zu engagieren – freiwillig. Das Interesse daran ist groß.
deutschen, zwischen Städtern und Landbewohnern, zwischen                              Bundesweit und vor allem im urbanen Raum gibt es, außerhalb
hier Geborenen und Zugewanderten.                                                     der Alten- und Behindertenhilfe, mehr Freiwillige als Plätze.
    Wir brauchen Ideen, wie es gelingen kann, dass mehr Men-                          Richtig ist es deshalb, das Angebot auszubauen. Freiwilligen-
schen mindestens einmal in ihrem Leben eine Zeit lang aus ihrem                       dienste sind richtigerweise arbeitsmarktneutral konzipiert,
gewohnten Umfeld herauskommen und sich den Sorgen ganz                                sodass sie keine Fachkräfte oder Ausbildungsstellen ersetzen
anderer widmen. Daher habe ich eine Debatte über eine soziale                         oder Personalengpässe abfedern. Aber bereits heute verlaufen
Pflichtzeit angeregt. Eine solche Pflichtzeit muss kein ganzes Jahr                   in der Praxis die Grenzen fließend. Freiwilligendienstleistende
dauern, sie kann kürzer sein oder auf mehrere Lebensabschnitte                        übernehmen teilweise oder zeitweise Aufgaben von professio-
verteilt werden. Man könnte den Dienst in sozialen Einrichtun-                        nellen Fachkräften in der Alten- und Krankenpflege oder Kin-
gen, in der Flüchtlingshilfe, in der Umwelt- und Klimaarbeit, im                      dertagesbetreuung. Vor dem Hintergrund des Fachkräfteman-
Katastrophenschutz oder auch bei der Bundeswehr leisten.                              gels ist dies leider auch nicht überraschend.
    Mir war von vornherein sehr klar, dass mein Vorschlag nicht                           Mit einem neuen Pflichtdienst würden motivierte, aber
nur Begeisterung hervorrufen würde. Aber mir ist wichtig, dass                        eben auch vermutlich unmotivierte Pflichtdienstleistende die
wir die Debatte über unser Engagement für das gemeinsame                              Arbeit in Bereichen der Pflege, der sozialen Arbeit und der
Ganze nicht nur beginnen, sondern fortsetzen. Und mir ist vor                         Erziehung übernehmen. Das ist keine Lösung – ein Gegensteu-
allen Dingen wichtig, dass diese Debatte jetzt nicht wieder im                        ern beim Personalmangel in diesem Bereich kann nur mit
Nichts endet.                                                                         Guter Arbeit, Tarifbindung und Mitbestimmung gelingen.

FRANK-WALTER STEINMEIER ist Bundespräsident der Bundesrepu-                           FRANK WERNEKE ist Vorsitzender der Vereinten Dienstleistungs-
blik Deutschland.                                                                     gewerkschaft Verdi.

     Und Ihre Meinung? Was halten Sie davon? Schreiben Sie an redaktion@boeckler.de

                                                                                                                                 MITBESTIMMUNG | Nr. 6 | Dezember 2022    9
Was bleiben muss - Hans-Böckler-Stiftung
Foto: picture alliance/dpa (Sina Schuldt)

                                                 Stahlproduktion bei
                                                 ­ rcelorMittal in Hamburg:
                                                 A
                                                 Wie lange noch?

                                            10   MITBESTIMMUNG | Nr. 6 | Dezember 2022
titelthema: gemeinsam durch die energiekrise

„WIR WERDEN
 NICHT ALLES
   HALTEN
  KÖNNEN“
 INDUSTRIE Die hohen Preise für Strom und Gas
   bedrohen die energieintensiven Industrien in
 der Substanz. Erste Stilllegungen sind die Folge.
   Eine Debatte, welche Produktionen im Land
          bleiben ­sollen, ist überfällig.
             Von Kay Meiners und Andreas Molitor

W
           enn Rolf Langhard vom Parkplatz des Rheinwerks
           im nordrhein-westfälischen Neuss aus nach Südwes-
           ten schaut, sieht er auch an Tagen mit strahlend
           blauem Himmel in der Ferne dicke Wolkenberge –
Wasserdampf von den gewaltigen Kühltürmen des Braunkoh-
lenkraftwerks im 20 Kilometer entfernten Neurath. „Unser
Wolkenmacher“, scherzt der Betriebsratsvorsitzende der Alu-
miniumhütte. In dem Kraftwerksboliden, 1972 ans Netz ge-
gangen, verheizt der Stromriese RWE Braunkohle aus dem
konzerneigenen Tagebau Hambach und erzeugt daraus Strom –
zu traumselig günstigen Kosten.
    Das zum Aluminiumspezialisten Speira gehörende Rhein-
werk wiederum benötigt Strom in rauen Mengen. In dem
Neusser Werk wird aus dem Erz Bauxit in mehreren Schritten
Aluminium gewonnen. Finaler Schritt ist das Erschmelzen des
Rohaluminiums aus Aluminiumoxid in langen Reihen großer
Öfen. Aluminium ist leicht, praktisch, fast unverwüstlich und –
auf lange Sicht – unschlagbar in seiner Energiebilanz. Anders
als Stahl oder Kunststoff ist es fast unbegrenzt wiederverwert-
bar, und mit jeder neuen Verwendung verbessert sich seine
Ökobilanz. Allerdings birgt die Herstellung ein gravierendes
Problem: Sie verschlingt gigantische Mengen Elektrizität.

                                    MITBESTIMMUNG | Nr. 6 | Dezember 2022   11
Die Elektrolyseöfen verbrauchen 14 bis 15 Preis, der beim Zehn- bis Fünfzehnfachen der
     Mega­wattstunden Strom für die Produktion ei- Einnahmen liegt, die sich erzielen lassen, wenn
     ner Tonne Aluminium – damit kann ein 300- wir mit dem Strom Aluminium erzeugen“, erklärt
     Liter-Kühlschrank mehr als 80 Jahre lang kühlen. Langhard. Das bringt Geld in die Kasse und si-
         Den preiswert erzeugten Strom aus dem Neu- chert für eine Zeit lang das Überleben der Hütte,
     rather Kraftwerk könnten die Neusser Alumini- aber es verkürzt ihre Restlebensdauer. Weil we-
     umschmelzer gut gebrauchen. Doch RWE ver- niger Strom für die Produktion zur Verfügung
     kauft seinen Braunkohlenstrom nicht zu
     Erzeugerpreisen ans Rheinwerk, sondern zu ak-
     tuellen Marktpreisen am Spotmarkt. Und die
     sind seit dem Ausbruch des Ukrainekriegs in
                                                              In seiner Not hat das Speira-Management
     schwindelnde Höhen geschnellt. Nicht zuletzt
     dank der auf Volllast laufenden alten Braunkoh-          jetzt einen Teil des alten Stromkontingents
     lenmeiler fuhr RWE im ersten Halbjahr 2022
                                                              mit hohem Gewinn am Spotmarkt verkauft.
     einen Gewinn von 2,8 Milliarden Euro ein, eine
     Milliarde mehr als im gleichen Zeitraum des
     Vorjahres. Damit wäre der Essener Konzern ein
     sicherer Kandidat für die Übergewinnsteuer – ge-
     nauso allerdings die Betreiber von Windparks steht, wurden ab Anfang Oktober die Hälfte der
     und Solarkraftwerken.                             Elektrolyseöfen heruntergefahren und 125 Jobs
         Für die Arbeitsplätze an den Schmelzöfen des gestrichen. Gute, tarifgebundene Arbeitsplätze
     Rheinwerks dagegen sind hohe Strompreise exis- gehen verloren. „Unsere Schichtarbeiter leisten
     tenzbedrohend. Schon vor dem Ukrainekrieg harte, gut bezahlte Arbeit“, erzählt Langhard.
     schwebten die im Vergleich zum Ausland deut- „3000 bis 3500 Euro netto – wo sollen sie denn so
     lich höheren Energiekosten wie ein Damokles- was noch mal herkriegen?“
     schwert über dem Werk. Bis Anfang 2025 kann           Nicht besser als das Rheinwerk sind die an-

                                                                                                  Foto: Karsten Schöne
     die Hütte noch mit alten, vor sieben Jahren zu deren drei Aluminiumhütten in Deutschland
     Preisen von knapp unter fünf Cent pro Kilowatt- dran, die alle zur Essener Trimet Aluminium SE
     stunde eingekauften Stromkontingenten wirt- gehören. Selbst Michael Vassiliadis, der in der
     schaften. Auch mit einem Strompreis von sechs Vergangenheit stets für die Arbeitsplätze in der
     oder sieben Cent könnte das Werk kosten- Alu-Branche gekämpft hat, sorgt sich um die Zu-
     deckend arbeiten, sagt Rolf Langhard – aber auf kunft dieser Industrie. „Wir müssen einiges tun,
     keinen Fall mit den Konditionen der jetzt be- damit wir in zehn Jahren in Deutschland noch
     schlossenen Strompreisbremse, also mit 13 Cent Aluminium herstellen werden“, sagt der IG BCE-
     für 70 Prozent der bisher verbrauchten Strom- Vorsitzende.
     menge. Bei diesem Preis würde allein der Strom
     zur Erzeugung einer Tonne Aluminium deutlich Es trifft auch andere Industrien
     mehr kosten als der Erlös aus dem Verkauf des Bedrohlich eng wird es aber nicht nur für die
     Metalls. Der Betriebsratsvorsitzende kann seinen Aluminiumhersteller. Auch in anderen energiein-
     Rheinwerkern derzeit nichts versprechen, nicht tensiven Industriezweigen, einem Großteil der
     mal fünf Jahre Gnadenfrist. Fest steht nur: „Wenn Chemiebranche sowie bei Glas, Papier, Zink und
     wir bis Anfang 2025 keinen bezahlbaren Indus- Stahl, herrscht Alarmstimmung. Derzeit vergeht
     triestrom haben, gehen hier die Öfen aus und kaum eine Woche ohne Meldungen über Pro-
     werden nie wieder hochgefahren.“                  duktionskürzungen, Anlagenstilllegungen oder
                                                       auf Eis gelegte Investitionsvorhaben in diesen
     Stromhandel rettet die Bilanz                     Branchen, die in Deutschland fast 900 000 Men-
     In seiner Not hat das Speira-Management jetzt schen beschäftigen. So hat die Zinkhütte im nie-
     einen Teil des alten Stromkontingents mit ho- dersächsischen Nordenham ihre Produktion
     hem Gewinn am Spotmarkt verkauft, „zu einem Anfang November für ein Jahr komplett einge-

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titelthema: gemeinsam durch die energiekrise

 stellt. Hauptabnehmer des Zinks ist die Stahlin- tistik schlägt all dies schon durch. Seit dem rus-              Genau hingeschaut
 dustrie – und die ist ebenfalls voll im Krisenmo- sischen Überfall auf die Ukraine ist die Gesamt-              Kay Kürschner, Benedikt
                                                                                                                 Schreiter, Sebastian
 dus. An drei von vier deutschen Standorten von produktion der energieintensiven Branchen um
                                                                                                                 Schwidder und Jale
 ArcelorMittal gibt es bereits Kurzarbeit. Im Ham- mehr als zehn Prozent geschrumpft – einer der
                                                                                                                 Wohlert: Branchenanalyse
 burger Werk des Konzerns wurde wegen der Gründe, warum die Bundesregierung im Win-                              Aluminium. Strukturen,
 hohen Energiepreise kürzlich eine mit Gas be- terhalbjahr 2022/23 eine „rückläufige Entwick-                    Trends und Herausforde-
 feuerte Pilotanlage zur Direktreduktion von Ei- lung“ erwartet, sprich eine Rezession. Im Schnitt               rungen. Working Paper
                                                                                                                 Forschungsförderung
 senerz, ein wichtiger Baustein für die Erzeugung dauerte eine Rezession in der Bundesrepublik je
                                                                                                                 Nr. 230. Düsseldorf, Okto-
„grünen“ Stahls, außer Betrieb genommen. Die nach Definition drei bis vier Vierteljahre. Das                     ber 2021 bit.ly/3EZYrge
 Stahlproduktion wird ergrünen, aber womöglich zeigt die Forschung des Ökonomen Ullrich Hei-
 nicht in Deutschland, sondern in Ländern, wo lemann. Am längsten dauerte, mit fünf Viertel-
 grüner Wasserstoff preiswert und in Hülle und jahren, die erste Ölkrise 1973/74. Das Vorkrisen-
 Fülle zur Verfügung steht: in Skan­dinavien, in niveau wird meist allerdings erst ein weiteres Jahr
 Nordafrika und den Golfstaaten. Der Energie- nach Ende der Rezession erreicht und „bei der
 preisschock und die Rezessionsangst haben sich, Arbeitslosigkeit in der Regel erst sehr viel später“.
 so Michael Vassiliadis, „mittlerweile schon Dazu kommt, dass politische Interventionen
 durch die Wertschöpfungsketten gefressen“. Er meist zu spät kommen, um optimal zu wirken.
 kenne etliche Unternehmen „mit vollen Auf- „Eine aktuelle Rezession könnte man am ehesten
 tragsbüchern, aber derart hohen Energiekosten, mit den Energiepreisrezessionen der 1970er Jahre
 dass sie die Produktion lieber zurückfahren oder vergleichen“, sagt Heilemann. Aber einiges sei
                                                                                                                 Elektrolyseöfen für die
 ganz einstellen“. Wenn deren Lieferungen dann jetzt anders: „Früher haben die Saudis das Geld,
                                                                                                                 Alumi­niumerzeugung in Neuss
 andernorts fehlen, beispielsweise in der Autoin- das sie für ihr Öl bekamen, rasch in Nachfrage                 (l.); Betriebsratschef Rolf Lang-
 dustrie, komme es dort zu Preissteigerungen nach deutschen Produkten umgesetzt.“ Aber jetzt                     hard (r.): „Die Hälfte der Öfen
 und weiteren Produktionsausfällen. In der Sta- sind die Aussichten für die Weltwirtschaft                       ist schon heruntergefahren.“
                                                                    Foto: Karsten Schöne

                                                                                                              MITBESTIMMUNG | Nr. 6 | Dezember 2022   13
Foto: picture alliance/dpa (Sina Schuldt)
       Neubau des ersten deutschen               ins­gesamt eher trüb, die Welt spaltet sich wie-   für 70 Prozent des Verbrauchs von 2021. Die
       Flüssiggas-Terminals in Wil-          der stärker in Blöcke, und die Energielieferanten      Gaspreiskommission habe „insgesamt sehr gute
       hemshaven: Anschaffung und
                                             haben­offenbar weniger Importhunger als früher.        Vorschläge gemacht“, um die Konjunktur zu stüt-
       Unterhalt aller schwimmenden
       Terminals kosten Deutschland
                                             Das führt laut Heilemann dazu, „dass uns dieses        zen, die Inflation zu dämpfen und Anreize zum
       jetzt rund 6,6 Milliarden Euro,       Mal die Exporte nicht so schnell aus der Rezessi-      Sparen zu erhalten, schreiben die Ökonomen
       doppelt so viel wie geplant.          on heraushelfen werden“. Das Institut für Makro-       Sebastian Dullien und Jan-Erik Thie der Hans-
                                             ökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der             Böckler-Stiftung in einem gemeinsam mit der
                                             Hans-Böckler-Stiftung prognostizierte bereits          Wirtschaftswissenschaftlerin Isabella Weber ver-
                                             Ende September ein Minuswachstum von einem             fassten Papier.
                                             Prozent. Die Bundesregierung ist etwas optimis-             Allerdings stören die IMK-Forscher sich da-
                                             tischer und prognostiziert einen Rückgang um           ran, dass die Gaspreisbremse auch schädliche
                                             0,4 Prozent. Die Geschäftserwartungen der Un-          Anreize setzt, weil Unternehmen das subventio-
                                             ternehmen und das Konsumklima liegen auf               nierte Gas auch vollständig „am Markt verwerten“
                                             Tiefständen, die Inflationsrate wird voraussicht-      dürfen. Das berge die Gefahr, dass die Gaspreis-
                                             lich weiter über sieben Prozent liegen, die Ar-        bremse als „Winterschlafprämie“ missbraucht
                                             beitslosenquote konstant bei unter sechs Prozent.      werde. Firmen könnten ihre Produktion stillle-
                                                                                                    gen und mit dem subventionierten Gas handeln,
                                             200 Milliarden sollen es richten                       so, wie es die Neusser Aluminiumkocher mit
                                             Die Regierung steuert nach Kräften gegen die           dem günstigen Strom aus ihrem Altvertrag ma-
                                             Rezessionsgefahr. Insgesamt 200 Milliarden Euro        chen. Dies wiederum würde den wirtschaftlichen
                                             sollen den Energienotstand lindern und die             Abschwung noch beschleunigen. Sinnvoller sei
                                             Preise­ für Gas und Strom auf ein erträgliches         es, nur Gas zu subventionieren, das auch wirklich
                                             Niveau drücken. Für die Industrie bedeutet das         in der Produktion eingesetzt wird.
                                             einen Gaspreis von 7,5 Cent und einen Strom-                Während die energieintensive Industrie zu
                                             preis von 13 Cent pro Kilowattstunde – jeweils         den Verlierern der Energiekrise zählt, gehört ein

14   MITBESTIMMUNG | Nr. 6 | Dezember 2022
titelthema: gemeinsam durch die energiekrise

                                   erheblicher Teil der Energiebranche selbst zu den     Prozent reduziert. „Die meisten Unternehmen
                                   Gewinnen – so wie RWE, wo man den vergleichs-         sterben nicht von heute auf morgen.“ Der Weg
                                   weise günstig erzeugten Strom nun mit enor-           durch die kommenden Monate ist einigermaßen
                                   mem Aufschlag verkaufen kann. Zwar wird               gesichert. Außerdem deuten die Prognosen der
                                   RWE-Vorstandschef Markus Krebber nicht müde,          Wirtschaftsforscher fast übereinstimmend auf
                                   zu betonen, wie weit der Konzern auf dem Weg          einen vermutlich nicht allzu harten und langen
                                   vom Kohleverstromer zum „grünen“ Energiekon­          Rezessionsverlauf hin.
                                   zern vorangekommen sei. Fünf Milliarden Euro              Viel mehr Sorgen macht sich Vassiliadis, des-
                                   investiere das Unternehmen in diesem Jahr in          sen Gewerkschaft die Beschäftigten fast aller ener-
                                   den Ausbau erneuerbarer Energien. Ein Blick ins       gieintensiven Industrien außer dem Stahl unter
                                                                                         ihrem Dach vereint, um die Zeit danach: „Wenn
                                                                                         wir nicht ausreichend Gas sparen, könnte der
                                                                                         Winter von 2023 auf 2024 sehr hart werden, weil
                                                                                         wir möglicherweise nicht genug Gas haben.“ Dass
                                Der Weg durch die kommenden
                                                                                         es beim Gas im nächsten Jahr Engpässe geben
                              Monate scheint gesichert. Aber die                         könnte, befürchtet auch Fatih Birol, der Leiter der
                                                                                         Internationalen Energieagentur. Schwierig werde
                                bange Frage lautet: Wie wird es
                                                                                         es vor allem, wenn China seine Covidbeschrän-
                                          danach weitergehen?                            kungen aufhebt und damit den Wettbewerb um
                                                                                         das verfügbare Gas, vor allem LNG, das mit Tank-
                                                                                         schiffen geliefert wird, noch weiter anheizt. Zu-
                                                                                         dem fehlen in Deutschland bislang LNG-Termi-
                                   Internet belegt allerdings, dass die alten Braun-     nals. In Wilhelmshaven ist das erste gerade fertig
                                   kohlenmeiler zumindest derzeit mit Abstand am         geworden, weitere sind im Bau.
                                   meisten zur jüngsten Gewinnexplosion des Un-              Selbst wenn der Konjunktureinbruch nicht
                                   ternehmens beitragen. Dort kann man RWE               so arg wird, es bleibt das Problem dauerhaft hö-
                                   nämlich beim Stromerzeugen quasi zuschauen.           herer Energiepreise. Eine Rückkehr zu Industrie-
                                       Auf einer digitalen Karte veröffentlicht der      strompreisen von vier Cent pro Kilowattstunde
                                   Konzern die realen Erzeugungsdaten seiner deut-       erscheint auch langfristig ausgeschlossen. Beim
                                   schen Standorte. An einem Nachmittag im No-           Gas wiederum rechnet BASF-Chef Martin Bru-
                                   vember etwa zeigt sie für die Braunkohle eine         dermüller dauerhaft mit Preisen, die dreimal so
                                   stündliche Stromerzeugung von 6236 Megawatt           hoch sind wie in den USA. „Gerade für die ener-
                                   an, bei Windanlagen 750 und bei Wasserkraft           gieintensiven Unternehmen könnte das ‚New
                                   150 Megawatt. Alles hochprofitabel. In seinen         Normal‘ der Energiepreise kritisch werden“, sagt
                                   Tagebauen darf der Konzern bis 2030 weiterbag-        Michael Vassiliadis. „Wir landen dann auf einem
                                   gern, so lange reicht die Braunkohle, die anschlie-   Niveau, bei dem nicht klar ist, ob wir Teile unse-
                                   ßend in den längst abgeschriebenen Kraftwerken        rer industriellen Wertschöpfungskette halten
                                   des Unternehmens verbrannt wird. Das sind             können.“
                                   noch ein paar fette Jahre.                                Das Gespenst der Deindustrialisierung geht
                                                                                         um. Es ist viel bedrohlicher als die derzeitige Tal-
                                    Das „New Normal“ ist ein Risiko                      sohle, die in zwei, drei Quartalen durchschritten
Blick in die Zukunft               Bislang richtete sich der Blick auf die bange Fra-    sein dürfte. „Bleiben die deutschen Energiepreise
André Küster-Simić, Janek          ge, ob und wie das Land durch den Winter              auf dem derzeitigen Niveau, dann werden wir
Schönfeldt: H2-Transforma-         kommt. Michael Vassiliadis findet diese Fokus-        erleben, dass reihenweise Betriebe in deutschen
tion der Stahlindustrie und        sierung auf die nächsten Monate „fast ein biss-       Schlüsselindustrien schließen“, warnte jüngst
des Energieanlagenbaus.
                                   chen überzogen“: Die Hilfen des Bundes sind           Matthias Zachert, der Vorstandschef des Spezial-
Working Paper Forschungs-
förderung, Nr. 260, Düssel-        unterwegs, die Speicher proppenvoll mit teuer         chemie-Konzerns Lanxess.
dorf November 2022.                eingekauftem Gas, die Wirtschaft hat ihren Gas-           Droht ein schleichender Exodus ganzer Bran-
bit.ly/3OPBpvR                     verbrauch seit Jahresbeginn schon um rund 20          chen, so wie er sich bei der Aluminium­

                                                                                                           MITBESTIMMUNG | Nr. 6 | Dezember 2022   15
erzeugung abzeichnet? Selbst ein kluger
                                                                                                                                 Stratege wie Michael Vassiliadis lässt Skepsis
                                                                                                                                 anklingen. „Ich beteilige mich nicht an Spekula-
                                                       Ich weiß nicht, ob wir in zehn                                            tionen, welche Industrien wir noch wie lange
                                                                                                                                 haben“, sagt er. „Aber wir werden nicht alles hal-
                                                         Jahren in Deutschland noch                                              ten können.“
                                                       Aluminium herstellen werden.“
                                                                                                                                 Manche würden gerne abschalten
                                                                                                                                 Der eine oder andere dürfte bei dieser Aussicht
                                                                          MICHAEL VASSILIADIS, Vorsitzender der Gewerkschaft     sogar frohlocken. Manche sehen Aluhütten und
                                                                                                   IG Bergbau, Chemie, Energie   Chemiewerke primär als Stromfresser und CO₂-
                                                                                                                                 Schleudern, die man schnell sterben lassen soll.
                                                                                                                                 Versorgen kann man sich schließlich am Welt-
                             Foto: picture alliance/dpa (Werner Baum)

                                                                                                                                 markt. „Es gibt Kräfte in der Politik, die meinen,
                                                                                                                                 so etwas wie die Aluminiumindustrie gehöre
                                                                                                                                 nicht nach Deutschland“, bestätigt Vassiliadis. In
                                                                                                                                 der Gaspreiskommission beispielsweise habe er
                                                                                                                                 Leute erlebt, „die gesagt haben: Was soll das mit
                                                                                                                                 dem Gas sparen? Wir schalten die Industrie ein-
                                                                                                                                 fach ab.“ Aber wozu würde ein Exodus führen?
                                                                                                                                 Wenn beispielsweise neue Aluhütten in China,
                                                                                                                                 schon heute mit riesigem ­Abstand größter Alu-
                                                                                                                                 miniumproduzent der Welt, errichtet werden,
                                                                                                                                 entstehen dort neue Arbeitsplätze – natürlich
                                                                                                                                 nicht mitbestimmt und tarifgebunden wie jene
                                                                                                                                 in der Neusser Rheinhütte. Zudem setzt China
                             Foto: picture alliance/ap (Michael Probst)

                                                                             Vergangenheit trifft Zukunft:
                                                                             RWE-Braunkohlekraftwerk
                                                                             Neurath; im Vordergrund
                                                                             ein Tagebaubagger und
                                                                             Windkraftanlagen

16   MITBESTIMMUNG | Nr. 6 | Dezember 2022
titelthema: gemeinsam durch die energiekrise

Wer verbraucht am meisten Strom und Gas?
Industrieller Energieverbrauch nach Branchen, 2020, in Mrd. Kilowattstunden

Herstellung von chemischen Erzeugnissen                                                                               304,7

Metallerzeugung und -bearbeitung                                                          228,5

Kokerei und Mineralölverarbeitung                                103,9

Herstellung von Glaswaren, Keramik,                         84,7
Verarbeitung von Steinen und Erden

Papier und Pappe                                         69,9                 Quelle: Statistisches Bundesamt, 2022

bei seiner Energieversorgung in den nächsten Einen erneuten Subventions-Kraftakt wie den
Jahren noch einmal voll auf Kohle. Mehr als 200 200-Milliarden-„Doppelwumms“ wird Deutsch-
neue Kohlekraftwerke sind im Bau. Wandert die land sich nicht leisten können. IMK-Direktor
Aluminiumherstellung aus Deutschland ab, ver- Dullien sagt: „Um mittel- und langfristig eine
ringert sich zwar hierzulande der CO₂-Ausstoß, bezahlbare Energieversorgung sicherzustellen,
aber nur, weil wir die Emissionen nach China muss massiv der Ausbau der eneuerbaren Ener-
verschieben.                                       gien gefördert werden.“ Bei erfolgreicher Dekar-
    Kein Fortschritt fürs Weltklima, sondern ein bonisierung „dürften die Energiekosten in
Rückschritt. Ein Verzicht auf weite Teile der Deutschland wieder deutlich niedriger sein als
Grundstoffindustrie würde Deutschland zudem heute“.
in neue Abhängigkeiten stürzen und politisch          Aber bis dahin? Michael Vassiliadis denkt
erpressbar machen. Die Zeiten, in denen die Kos- darüber nach, künftige Finanzspritzen – ganz
ten den alleinigen Ausschlag bei Standortent- ohne werde es nicht gehen – zielgenauer einzu-
scheidungen und beim Rohstoffbezug gaben, setzen als bei der Strom- und Gaspreisbremse.
sind vorbei – das ist die Lehre aus dem Desaster „Wir könnten die energieintensiven Industrien
ums russische Erdgas. Außerdem, warnt Michael bevorzugt mit subventionierten Kontingenten
Vassiliadis, nähme „unser fein gesponnenes in- regenerativer Energie versorgen“, schlägt er vor.
dustrielles Innovations- und Effizienznetz großen Die bekämen den grünen Strom also zuerst und
Schaden. Mit jedem zerschnittenen Faden sinkt zu vertretbaren Preisen. „Aber dazu“, schließt er,
der Nutzen dieses Netzwerks“.                     „müssen wir erst die Grundfrage klären, ob wir
    Vassiliadis will für die Arbeitsplätze in den diese Industrien in Deutschland möglichst
energieintensiven Branchen kämpfen. Ein Patent- schnell loswerden oder weiter haben wollen.“
rezept für auskömmliche Strompreise kann auch
er nicht vorweisen. Der Ausbau der Erneuerbaren
zieht sich hin, vor allem der Ausbau der Netzin-
frastruktur hinkt hinterher. Eine erneute Lauf-           Ein Verzicht auf weite Teile der
zeitverlängerung für die letzten drei Atommeiler
ist mit dem Machtwort von Bundeskanzler                   Grundstoffindustrie würde Deutschland
Scholz endgültig vom Tisch. Und noch einmal               in neue Abhängigkeiten stürzen und
mit Russland ins Gasgeschäft zu kommen, er-
scheint erst recht undenkbar. Auf derart vage             politisch erpressbar machen.
Gedankenspiele baut kein Vorstandschef.

                                                                                                          MITBESTIMMUNG | Nr. 6 | Dezember 2022   17
„Weil es um die
               Zukunft dieses
                 Landes geht“
                                 STANDORT DEUTSCHLAND Im Mai übernahm Yasmin
                                Fahimi den Vorsitz des Deutschen Gewerkschaftsbunds.
                                    Ein Gespräch über den Ernst der Lage und darüber,
                                    warum Gewerkschaften gerade jetzt gefordert sind.
                            Das Gespräch führten Kay Meiners und Fabienne Melzer – Fotos Dominik Butzmann

     Gab es schon einmal schwierigere Zeiten für eine                                                       Wir sind uns völlig einig: Der russische Angriffs-
     DGB-Vorsitzende?                                                                                       krieg ist ohne Einschränkungen zu verurteilen.
     Eine solch überkomplexe Herausforderung wie                                                            Die weiteren politischen Schlussfolgerungen
     aktuell hat es sicherlich in der Geschichte der                                                        wollen aber genau geklärt sein. Wir haben auf
     Gewerkschaften nicht allzu häufig gegeben. Wir                                                         dem ordentlichen DGB-Bundeskongress im Mai
     müssen nicht nur Krisenmanagement betreiben,                                                           einen Antrag beschlossen, der die Ambivalenzen
     sondern gleichzeitig den Strukturwandel voran-                                                         zwischen Friedenspolitik und Verteidigungsauf-
     bringen und dabei die Weichen stellen für eine                    Die Zukunfts-                        trag aufgreift. Damit ist die Debatte aber nicht
     stabile und nachhaltige Wirtschaft mit guten                                                           abgeschlossen. Deswegen lehnen wir auch jeg-
     Arbeitsplätzen.
                                                                    fähigkeit unserer                       liche Form militärischer Konfrontation oder
                                                                      Industrie wird                        auch nur Bedrohung ab. Gleichzeitig sehen wir
                                                                                                            uns mit einem Aggressor konfrontiert, der mit
     Können Sie sich an etwas Vergleichbares erin-
     nern?
                                                                    davon abhängen,                         militärischer Gewalt seine territorialen Interes-
     Jede Zeit hat ihre eigenen Herausforderungen                   ob und wann wir                         sen durchsetzen will. Und wir reden hier von
     und braucht ihre eigenen Antworten. Unser gro-                                                         einem Aggressor, der eine atomare Weltmacht
     ßer Vorteil in Deutschland ist, dass wir immer
                                                                       wettbewerbs-                         darstellt.
     noch enorme Potenziale haben. Wir müssen jetzt                    fähige Strom-
     nur schauen, dass wir diese Potenziale richtig                                                         Was bedeutet das konkret?
     nutzen.
                                                                       preise sicher-                       Wir können uns nicht vor der Frage drücken, wie
                                                                     stellen können.“                       man in einer solchen Welt für Sicherheit sorgen
     Auslöser des aktuellen Energiepreisschocks ist                                                         kann und wie wir uns für einen Verteidigungs-
     der russische Angriff auf die Ukraine. Unser                                                           fall aufstellen müssen. Doch aktuell gerät eine
     Eindruck ist, dass die Gewerkschaftsmitglieder in                                                      Frage in der Diskussion zu sehr ins Hintertreffen:
     sehr unterschiedliche Richtungen wollen. Wie                                                           Welche Art der Zusammenarbeit, welche Art der
     geht der DBG damit um?                                                                                 Friedensprävention, welche Initiative der Rüs-

18   MITBESTIMMUNG | Nr. 6 | Dezember 2022
titelthema: gemeinsam durch die energiekrise
                                       Yasmin Fahimi, Vorsitzende des Deutschen
                                                            Gewerkschaftsbunds

                                                                                  Die Zukunftsfähigkeit unserer Industrie wird
                                                                                  davon abhängen, ob und wann wir wettbewerbs-
                                                                                  fähige Strompreise sicherstellen können. Diese
                                                                                  Konkurrenz gibt es schon länger. Sie spitzt sich
                                                                                  nun aber zu. Daher ist es jetzt besonders wichtig,
                                                                                  keinen weiteren Abwanderungsgrund etwa
                                                                                  durch Fachkräftemangel zu schaffen. Es hat den
                                                                                  Standort Deutschland immer stark gemacht, dass
                                                                                  wir neben der akademischen eine duale Ausbil-
                                                                                  dung haben. Ebenso ist eine funktionsfähige
                                                                                  Infrastruktur wichtig. Diese Standortfaktoren
                                                                                  dürfen wir nicht verlieren.

                                                                                  Bei der Erhaltung der Infrastruktur gibt es aller-
                                                                                  dings seit Jahren einen riesigen Investitionsstau.
                                                                                  Um diesen Standortfaktor zu erhalten, muss drin-
                                                                                  gend investiert werden. Ist das alles gleichzeitig
                                                                                  leistbar?
                                                                                  Es muss leistbar sein, weil es um die Zukunft
                                                                                  dieses Landes geht. Wir müssen eine Wirtschafts-
                                                                                  struktur für zukünftige Generationen sicherstel-
tungskontrolle braucht es jetzt trotz alledem, um                                 len. Deutschland ist nach wie vor eines der kre-
nicht noch weitere Auseinandersetzungen in der                                    ditwürdigsten Länder der Welt. Wir haben auch
Welt zu provozieren?                                                              nach wie vor im internationalen Vergleich eine
                                                                                  akzeptable Haushaltsverschuldung. Insofern ist
Wie groß ist Ihre Sorge, dass die aktuelle Krise                                  das Gerede um ein Festhalten an der Schulden-
die Basis unseres Wohlstands gefährdet?                                           bremse nichts anderes als eine Bremse unserer
 Die hohen Energiekosten stellen die Wirtschaft                                   Zukunftsfähigkeit.
 und insbesondere die Industrie vor große He­
rausforderungen. Die Gasbrücke in das Zeitalter                                   Sind mehr Schulden die Lösung?
der erneuerbaren Energien funktioniert so nicht
                                                                Damit die         Nein, nicht zwangsläufig. Wir müssen auch das
 mehr; der Umbau muss jetzt schneller erfolgen.                                   brach liegende Kapital in Deutschland besser mo-
Gleichzeitig bewegen wir uns auf eine Rezes­                Menschen sicher       bilisieren, die Umverteilung von Vermögen si-
 sion zu. Insofern ist die Lage schon bedrohlich.                                 cherstellen und es für das Gemeinwohl einsetzen.
                                                            durch den Winter
Und machen wir uns nichts vor: Die USA nut-                                       Dazu gehört eine gerechte Erbschaftssteuer eben-
 zen diese Zeit, um Investitionen und Kapital              kommen, sind jetzt     so wie die Vermögenssteuer, die wieder einge-
anzulocken. Insofern müssen wir uns schon                                         führt werden sollte. Und ich bin mir sicher, dass
anstrengen, um zu beweisen, dass Europa und
                                                             praktikable und      auch Superreiche mehr zum Gemeinwesen bei-
 Deutschland nach wie vor attraktive Industrie-             schnell wirkende      tragen können – es ist Zeit für eine Vermögens-
 standorte sind – und zwar mit guten Arbeits-                                     abgabe. Die vor uns liegenden Aufgaben müssen
plätzen. Also wann, wenn nicht jetzt, sind
                                                           Lösungen wichtig.“     mit Mut angepackt werden. Dazu sind wir bereit.
­Gewerkschaften gefragt, um genau das mitzu-                                      Uns ist wichtig, dass nicht über die Köpfe der Be-
gestalten?                                                                        schäftigten hinweg entschieden wird, sondern mit
                                                                                  ihnen gemeinsam Vereinbarungen für Zukunfts-
Gibt es bereits Abwanderungen von Unter-                                          investitionen, für Standortsicherung und für gute
nehmen oder Überlegungen dazu?                                                    Löhne getroffen werden.

                                                                                                   MITBESTIMMUNG | Nr. 6 | Dezember 2022   19
Sind Sie zuversichtlich, dass die Tarifpolitik   Welche politischen Maßnahmen sollen die
                                             diese hohe Inflation ausgleichen kann?               Beschäftigten schützen? Immerhin plant jedes
                                             Das entscheiden unsere Mitgliedsgewerkschaften.      vierte Unternehmen laut einer ifo-Umfrage
                                             Aber: Wir haben immer verantwortungsvolle Ta-        Entlassungen.
                                             rifpolitik gemacht. Warum sollte das jetzt anders    Das Kurzarbeitergeld ist sehr wichtig. Die Idee
                                             sein? Etliche große Unternehmen haben in die-        ist ja, dass vorübergehende Rückgänge bei der
                                             sem Jahr Rekorddividenden ausgeschüttet. Es gibt     Auftragslage abgefedert werden und so Beschäf-
                                             also nicht unmittelbar einen Grund für Lohnzu-       tigung gesichert wird. Aber wenn Unternehmen
                                             rückhaltung. Klar ist aber auch, dass die Tarif­     die hohen Energiepreise nicht mehr weitergeben
                                             politik die Kriegsfolgen, also die extremen Teue-    können oder dadurch Kunden wegbrechen und
                                             rungsraten und Belastungen, nicht allein             die Nachfrage zurückgeht, greift das bisherige
                                             schultern kann. Politische Maßnahmen und die         Kurzarbeitergeld zu kurz. Daher tauschen wir
                                             Tarifpolitik müssen hier ineinandergreifen.          uns gerade mit der Bundesregierung über neue
                                                                                                  Instrumente für solche Fälle aus. Aber natürlich
                                                                                                  darf es keine Mitnahmeeffekte geben. Deshalb
                                                                                                  müssen neue Hilfen für die Unternehmen an
                                                                                                  entsprechende Beschäftigungsvereinbarungen
                                                                                                  gebunden sein, die mit den Gewerkschaften zu
                                                                                                  treffen sind.

                                                                                                  Sind die Maßnahmen zur Senkung der Energie-
                                                                                                  preise sozial ausgewogen?

          Es braucht Anreize,                                                                     Damit die Menschen sicher durch den Winter
                                                                                                  kommen, sind jetzt praktikable und schnell wir-

        privates Kapital wieder                                                                   kende Lösungen wichtig. Die Gassubventionie-
                                                                                                  rung, die jetzt kommt und die im Wesentlichen

       hier und nicht woanders                                                                    auf unserem Vorschlag basiert, ist so eine Lösung.
                                                                                                  Ich habe trotzdem große Sympathie dafür, Min-

      in der Welt zu investieren.“
                                                                                                  destabsicherungen gegen Mitnahmeeffekte und
                                                                                                  für soziale Gerechtigkeit zu schaffen. Und die
                                                                                                  gibt es durchaus: Die Abschlagszahlung im De-
                                                                                                  zember muss ab einem Einkommen von
                                                                                                  75.000 Euro versteuert werden. Es gibt einen
                                                                                                  sozialen Härtefallfonds und Hilfsfonds für sozi-
                                                                                                  ale Einrichtungen wie Krankenhäuser und Pfle-
                                                                                                  geheime.

                                                                                                  Hat der derzeitige Vorschlag der Gaskommission
                                                                                                  auch Fehler?
                                                                                                  Leider wurde in der Gaskommission ein Vor-
                                                                                                  schlag nicht verhindert: die Option des soge-
                                                                                                  nannten Winterschlafs. Unternehmen können
                                                                                                  demnach nicht nur bis zu 70 Prozent ihres Gases
                                                                                                  subventioniert bekommen. Sie können auch die
                                                                                                  Produktion runterfahren, die Beschäftigten in
                                                                                                  Kurzarbeit schicken und das subventionierte Gas
                                                                                                  gewinnbringend am Markt weiterverkaufen. Das
                                                                                                  muss unbedingt verhindert werden. Sich auf
                                                                                                  Kosten der Allgemeinheit zu bereichern ist ein
                                                                                                  absolutes No-Go!

20   MITBESTIMMUNG | Nr. 6 | Dezember 2022
titelthema: gemeinsam durch die energiekrise

                                                                                                                                                           Foto: ddp
Auf Kosten der Schwächsten
ENERGIEKRISE Deutschland geht weltweit auf Einkaufstour nach Gas und Kohle – als Ersatz für die Lieferungen
aus Russland. Das bleibt nicht folgenlos. Eine Spurensuche in Bangladesch, Südafrika und Kolumbien
Von Kay Meiners und Andreas Molitor

                                      S
                                               o unterschiedlich können Energiespar-         Auf der Suche nach den Ursachen landet man
                                               maßnahmen sein: In Deutschland sind           ziemlich schnell bei den großen Flüssiggastan-
                                               die Haushalte jetzt aufgerufen, die Hei-      kern, die Bangladeschs Kraftwerke mit Brennstoff
                                               zung nicht den ganzen Tag über laufen         versorgen. Das Land bestreitet fast drei Viertel
                                      zu lassen und die Raumtemperatur in den Büros          seiner Stromerzeugung mit gasbefeuerten Kraft-
                                      öffentlicher Gebäude auf 19 Grad zu beschränken.       werken. Doch seit dem Ausbruch des Ukraine-
                                      Dagegen helfen dicke Socken und ein warmer             kriegs können die Energieversorger sich das Gas
                                      Pulli. In Bangladesch wiederum mussten Anfang          nicht mehr leisten. Die Europäer, allen voran
                                      Oktober 130 Millionen Menschen einen halben            Deutschland, decken sich in den USA, in Katar
                                      Tag lang ohne Elektrizität auskommen. Mit Aus-         und Australien mit Flüssiggas ein, um die Aus-
                                      nahme einiger Teile im Nordwesten lag das ge-          fälle bei den Erdgaslieferungen aus Russland
                                      samte Land im Blackout, nachdem als „Sparmaß-          halbwegs zu kompensieren – zu nahezu jedem
                                      nahme“ die meisten Kraftwerke des Landes               Preis.
                                      abgeschaltet worden waren.                                 Die meisten Länder des Südens können da
                                          Es war nicht der erste Blackout oder Brown-        nicht mehr mithalten. Jene Flüssiggastanker, die
                                      out in diesem Jahr. Bereits mehrfach standen Fa-       bislang Pakistan, Bangladesch, Myanmar oder
                                      briken still, das Internet fiel aus, Einkaufszentren   Indien ansteuerten, begeben sich nun auf den
Geschäfte bei Kerzenlicht:            und Märkte mussten auf Anordnung der Behör-            Weg nach Europa. Selbst Schiffe, die bereits un-
Auf e­ inem Markt in
                                      den schließen, und die Moscheen wurden ange-           terwegs Richtung Südasien waren, machten kur-
Bangladeschs Hauptstadt
Dhaka gehen beim Blackout             wiesen, die Klima­anlagen nur während der fünf         zerhand kehrt und nahmen Kurs auf Europa.
am 4. Oktober die Lichter aus.        täglichen Gebete laufen zu lassen.                     Und die Schwellenländer stehen im

                                                                                                              MITBESTIMMUNG | Nr. 6 | Dezember 2022   21
Dunkeln. „Die Mengen nehmen wir natür- Dirksen, die Leiterin des Büros der Friedrich-
      lich auf dem Weltmarkt jemand anderem weg“, Ebert-Stiftung in Johannesburg, berichtet von
      sagte Klaus Müller, der Präsident der Bundesnetz- „wachsenden Spannungen“ und „gewaltsamen
      agentur, kürzlich in der Talkshow von Markus lokalen Protesten“ im Land.
      Lanz. „Es ist in mehrfacher Hinsicht ein furcht-         Im September kletterte die Inflation auf 7,5
      bares Dilemma.“                                      Prozent, den höchsten Wert seit zehn Jahren. Das
                                                           klingt nicht bedrohlich, kann aber wirken wie
      Afrikanische Kohle für Deutschland                   Dynamit. Denn je nach Warenkorb kann sich
      Südafrika könnte ein blühendes Land mit einer die offizielle Inflation beim Einkauf vervielfa-
      stabilen Energieversorgung sein. Doch die Reali- chen. „Am stärksten ist der Preisanstieg bei Le-
      tät sieht anders aus. Politische Versäumnisse, Ar- bensmitteln, und hier vor allem bei Speiseöl und
      mut und jetzt die Energiekrise bilden eine schwie- Weizenprodukten“, sagt Lebogang Mulaisi. Mit
      rige Melange. Noch werden rund 85 Prozent des enormen Folgen für arme Familien, die auf staat-
      Stroms mit heimischer Kohle erzeugt. „Doch die liche Unterstützung angewiesen sind. Südafrika
      südafrikanische Kohleinfrastruktur ist veraltet muss einen erheblichen Teil seiner Grundnah-
      und steht kurz vor dem Zusammenbruch“, sagt rungsmittel importieren; beim Weizen ist es die
      Lebogang Mulaisi, eine junge Ökonomin, die die Hälfte. Die zwei wichtigsten Importländer wa-
      Politikabteilung des Gewerkschaftsbunds Cosatu ren im Jahr 2020 Polen und Russland – gefolgt
      leitet. Es gehört zum Alltag, dass die Versorger die von Deutschland. Weizen gegen Steinkohle, so
      Stromversorgung stundenlang kappen.                  sieht ein Teil unserer Handelsbilanz mit dem
           Erst im letzten Jahr ging das Kraftwerk Me- Kap aus.
                                                                                                                Gewerkschaftsprotest gegen hohe
      dupi, einer der weltgrößten Kohlenmeiler, neu            Cosatu bildet mit dem regierenden ANC und        Strompreise in Pretoria: Elektrizität
      ans Netz, geschätzte Lebensdauer 50 Jahre. Doch der kommunistischen Partei SACP eine fragile              ist teuer – wenn es sie denn gibt.
      das Land will weg von der schmutzigen Kohle. politische Allianz. Dennoch hat sich Cosatu jetzt
     „Es gibt einen Konsens für den Aufbau einer neu- an die Spitze der landesweiten Proteste gegen die
      en Infrastruktur zugunsten erneuerbarer Energie- Inflation und die Regierung gesetzt. Die Forde-
      quellen“, sagt Mulaisi. Experten bescheinigen dem rungen reichen von Hilfen für das staatliche
      Land ein großes Potenzial für erneuerbare Ener- Stromunternehmen ­ESKOM mit rund 40 000
      gien: Solarenergie, Wind, dazu jede Menge Roh- Beschäftigten sowie für die Eisenbahnunterneh-
      stoffe. Doch bislang hängt Südafrika bei der Ent- men Transnet und Metro­rail, die teilweise eben-
      wicklung der regenerativen Ener­gien noch falls in Staatsbesitz sind, Unterstützung für lokal
      zurück. Ihr Anteil an der Gesamtenergieerzeu- produzierte Waren, Investitionen in die Infra-
      gung liegt bei nur rund 11 Prozent. Auf der Welt- struktur bis zu einem tragfähigen Benzinpreissys-
      klimakonferenz wurden Südafrika deshalb Mil- tem. Die Proteste, sagt die Cosatu-Ökonomin,
      liarden für die Energiewende versprochen.            hätten zu etwas niedrigeren Benzinpreisen und
          Auch Deutschland hilft mit Hunderten Mil- Verbesserungen im Nahverkehr geführt.
      lionen aus Steuergeldern. Doch zugleich kaufen           Den russischen Angriffskrieg würde kaum
      deutsche Kraftwerksbetreiber an südafrikanischer jemand in Südafrika beachten, gäbe es nicht die
      Steinkohle, was zu kriegen ist. „Den Widerspruch, Inflation. Gerade so, wie sich auch die Europäer
      einen kohlenstoffarmen Übergang zu predigen, um Kriege auf dem afrikanischen Kontinent
      aber in Krisen ebenfalls auf Kohle zu setzen, neh- kaum gekümmert haben. Die ANC-Regierung
      men wir zur Kenntnis“, sagt die Cosatu-Ökono- ist in dieser Frage kein einfacher Partner für den
      min Mulaisi. Und fügt trotzig hinzu. „Aber das Westen. Als Bundeskanzler Olaf Scholz im Mai
      hält den Übergang in Südafrika nicht auf.“           nach Südafrika reiste, traten die Differenzen zwi-
          Tatächlich tut sich das Land schwer mit Ver- schen ihm und Regierungschef Cyril Ramapho-
      änderungen. Die ANC-Regierung hat es herun- sa, der selbst aus der Gewerkschaftsbewegung
      tergewirtschaftet, Corona letzte Reserven aufge- stammt, offen zutage: Während Scholz den Über-
      zehrt. Und jetzt kommt die Inflation hinzu. Uta fall auf die Ukraine scharf verurteilte und die

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