Was bleiben muss - Hans-Böckler-Stiftung
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www.magazin-mitbestimmung.de | Nr. 6 | Dezember 2022 Was bleiben muss Preissteigerungen bedrohen energieintensive Industrien Immer anders Leben statt Tod Wie die IG Metall Betriebsräte Wissenschaftlerin Azadeh Akbari unterstützt, eigene Lösungen zu finden über die Aussichten für den Iran
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editorial Mein Lesetipp: Mein Lesetipp ist „Ich bin vol- ler Hoffnung“ (Seite 40 f.) über LIEBE Foto: Jan Rathke unsere Alumna Azadeh Akbari und die Demonstrationen im LESER*INNEN, Iran. Denn die Menschen im Iran sind nicht allein. 2 022 geht zu Ende, ein Jahr, geprägt von Krieg und Krisen. Sie stellten Politik und Gesellschaft vor Herausforderun- gen, auf die es keine einfachen Antworten gibt und die gleichzeitig oft schnelle Reaktionen erforderten. Geradezu ein Dilemma – und so fielen Entscheidungen oft unter großer Unsicherheit. „Wann, wenn nicht jetzt, sind Gewerkschaften gefragt, um genau das mitzugestalten?“, fragt Yasmin Fahimi im Interview. Denn Gewerkschaften sind geübt darin, mit gegensätzlichen Anforderungen umzugehen und Interessen auszugleichen. Sie sind es gewohnt, den Widersprüchen zum Trotz das Bestmögliche für die Beschäftigten und damit die Mehrheit der Bürger*innen herauszuholen und ihren Interessen eine Stimme zu geben. Unsere Forschung zeigt, dass sich der Einsatz für alle lohnt. Denn wer gute Arbeitsbedingungen hat und in seinem Betrieb mitwirken kann, besitzt auch größeres Vertrauen in die Politik und in die Demokratie. Demokratie in Arbeit stärkt also Demo- kratie im Allgemeinen und sichert damit die Grundlagen für Frieden, Freiheit und Wohlstand. Einen guten Jahresausklang und ein besseres 2023 wünscht Ihre Claudia Bogedan, Geschäftsführerin claudia-bogedan@boeckler.de MITBESTIMMUNG | Nr. 6 | Dezember 2022 3
IN DIESER AUSGABE … TITELTHEMA: GEMEINSAM DURCH DIE ENERGIEKRISE 10 „Wir werden nicht alles halten können“ Unsere Industrie ist in Gefahr. Von Kay Meiners und Andreas Molitor 18 „Weil es um die Zukunft dieses Landes geht“ Die DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi über ein Land im Krisenmodus 21 Auf Kosten der Schwächsten Deutschland kauft Kohle, egal wo. Von Kay Meiners und Andreas Molitor 24 Einer trotzt der Krise Der Arbeitsmarkt ist bisher erstaunlich robust. Von Fabienne Melzer 26 Positive und negative Signale Eine wirtschaftliche Prognose für das Jahr 2023. Von Peter Bofinger 10 ARBEIT UND MITBESTIMMUNG 29 Praxistipp Vorbildlich geregelt: KI bei IBM und Dupont 30 Einigung ohne Handicap Der BASF-Betriebsrat fördert Schwerbehinderte. Von Andreas Schulte 32 Wir bestimmen mit Armando Dente, Aufsichtsrat bei der Lanxess AG in Köln 34 Demokratisch entschieden Verkauf oder nicht? Premium Aerotec stimmte ab. Von Carmen Molitor 36 36 Jedes Problem verdient seine eigene Lösung Die IG Metall stärkt die Mitbestimmung im Betrieb. Von Martin Kaluza POLITIK UND GESELLSCHAFT 39 Ein Schlupfloch weniger Warum das SAP-Urteil des EuGH über den Einzelfall hinausweist 40 „Ich bin voller Hoffnung“ Eine Altstipendiatin verfolgt die Proteste im Iran. Von Fabienne Melzer 42 Kunst trifft Gewerkschaft Das BöcklerK-Stipendium fördert junge Künstler. Von Jeannette Goddar 40 45 Starke Mitbestimmung für eine starke Demokratie Aktuelle Böckler-Events. Von Jeannette Goddar und Fabienne Melzer 4 MITBESTIMMUNG | Nr. 6 | Dezember 2022
IMMER IM HEFT … WAS SONST NOCH GESCHAH KOMPAKT Foto: TV–B–Gone 6 NACHRICHTEN 8 CHECK Die Zahlen hinter der Zahl 9 PRO & CONTRA Ein Thema, zwei Experten AUS DER STIFTUNG 47 RADAR Böckler-Institute, Böckler-Projekte, Meldungen 50 WIR — DIE STIFTUNG Industrie 52 Einfach mal abschalten In Paris sabotierten Klimaaktivisten Fuß- Porträt ballfans, die in Kneipen die Weltmeister- JÜRGEN JOHANNESDOTTER war der erste Theologie- schaft schauten: Sie schalteten die Ap- parate per Fernsteuerung aus. Welche Stipendiat der Stiftung. Er hat es bis zum Bischof gebracht. Möglichkeiten hätte ich, gäbe es ein sol- ches Gerät für meine Mitmenschen! Ich könnte den Typen abschalten, der seinen 54 TERMINE Böckler-Seminare für Aufsichtsräte 2023 Hass über Menschen ausschüttet, auf die sowieso alle draufhauen, die Frau in der U-Bahn, die den kleinen Jungen MEDIEN anbrüllt, weil er an den Handschlaufen schaukelt, und den Selbstgerechten, der 56 BUCH Rezensionen, Tipps & Debatten sich für einen besseren Menschen hält, weil er moralisch immer auf der richti- 59 DAS POLITISCHE LIED Pink Floyd feat. Andriy Khlyvnyuk gen – angesagten – Seite steht. from BoomBox: Hey Hey Rise Up Dafür würde ich gerne ein paar Men- schen lauter drehen: den Mann mit der 60 DIGITAL Links, Apps & Blogs Gitarre, der samstags am Marktplatz so wunderschön spielt, oder den Obdach- losen, der immer mit einem Buch vor seinem Pappbecher sitzt. Er wünscht je- dem einem schönen Tag, der ihm etwas RUBRIKEN in den Becher wirft – immer freundlich und ein bisschen beschämt. 3 EDITORIAL 62 FUNDSTÜCK 64 LESERFORUM FABIENNE MELZER ist Foto: Uli Baatz 66 65 IMPRESSUM/VORSCHAU leitende Redakteurin des Magazins 66 MEIN ARBEITSPLATZ Mitbestimmung. MITBESTIMMUNG | Nr. 6 | Dezember 2022 5
Foto: picture alliance/dpa / Christophe Gateau Foto: Benjamin Jenak SOZIALPOLITIK Fauler Kompromiss beim Bürgergeld Die Gewerkschaft Verdi kritisiert den zwischen Union und der Ampel ausgehandelten Kompro- miss zum Bürgergeld. CDU und CSU hatten durch- gesetzt, das Schonvermögen zu reduzieren. Auch ermöglicht das Gesetz mehr Sanktionen als der Entwurf. Bettina Kohlrausch, Direktorin des Wirt- schafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung bemängelt die Streichung der weitgehend sanktionsfreien sechsmonatigen Vertrauenszeit. „Es ist bedauerlich, dass sich dieser Vorschlag, der das Vertrauen in staatliche Instituti- onen gestärkt hätte, nicht durchsetzen konnte“, sagt Kohlrausch. Politisches Engagement gegen Armut sei gerade jetzt in Zeiten hoher Inflation wichtig für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. INFLATION Arme tragen die größere Last Inflationsrate in Prozent nach Haushalten: 10,6 Paar, 2 Kinder, 11,8 Luftnummer 3600 bis 5000 Paar, 2 Kinder, Euro (netto) 2000 bis 2600 Das Flugzeug von Egypt Air über einem Tagungsraum der Weltklima- Euro (netto) konferenz im ägyptischen Sharm El Sheikh erscheint wie ein Menetekel. Fortschritte zum Schutz des Weltklimas sind in dem teuren Seebad an der Südspitze der Sinaihalbinsel, das mit seinen Diskotheken, Golfclubs und internationalen Hotels selbst ein Ziel des Massentourismus ist, nur schwer zu erzielen. Die Konferenz geht mit einem Minimalkonsens zu 8,4 Ende. Nur wenige Länder haben ihre Selbstverpflichtung zur Reduktion 11,4 von Emissionen nachgeschärft. Einziger Lichtblick: Erstmals wurde für Alleinlebende, die von Klimakatastrophen hart getroffenen ärmsten Länder ein Fonds 5000 Euro oder Alleinlebende, mehr (netto) eingerichtet. Für DGB-Vorstandsmitglied Stefan Körzell ein positives weniger als 900 Euro (netto) Ergebnis ebenso wie das Bekenntnis der Konferenz zu einem sozial ge- rechten Wandel. „Vollkommen unverständlich“ findet er, „dass Menschen- Quelle: Statistisches Bundesamt, Berechnungen IMK und Arbeitnehmerrechte im Abschlussdokument nicht auftauchen.“ 6 MITBESTIMMUNG | Nr. 6 | Dezember 2022
kompakt 6,64 EINE FRAGE, HERR SEVERO TARIFKONFLIKT Foto: Roberto Parizotti Erfolg nach Streik in Riesa Millionen Menschen Der fast zweimonatige Streik beim Nu- Foto: picture alliance / ZB | Jan Woitas delhersteller Teigwaren Riesa ist im in Deutschland November mit einem Erfolg der Ge- bekommen seit Oktober mehr Geld. Sie verdien- werkschaft NGG zu Ende gegangen. ten bislang weniger als Zentraler Punkt der Einigung mit dem zwölf Euro pro Stunde Arbeitgeber ist eine Erhöhung des Stun- und profitieren daher denlohns um zwei Euro: zum Dezember vom neuen Mindest- um einen Euro und um jeweils 50 Cent lohn. Das entspricht 17,8 Prozent aller zum Juli und Dezember nächsten Jahres. Beschäftigten. Die Außerdem werden die rund 150 Beschäftigten eine Corona Kreise mit den meisten Was erwarten die prämie von 50 Euro monatlich bis ins Jahr 2024 erhalten. Nach- Mindestlohnberechtig- Gewerkschaften von dem sich die Fronten verhärtet hatten, brachte eine Moderation ten liegen in Thüringen, durch den früheren brandenburgischen Ministerpräsidenten Brandenburg und Vor- der Präsidentschaft Matthias Platzeck und den Ex-Präsidenten des Landesarbeits- pommern. Die niedrigs- ten Anteile verzeichnen Lula da Silvas? gerichts Berlin-Brandenburg, Gerhard Binkert, den Durch- Wolfsburg, Erlangen bruch. Erst im letzten Jahr war es den Riesaer Beschäftigten und der Landkreis Der Kampf gegen Armut und gelungen, überhaupt einen Tarifvertrag durchzusetzen (Maga- München. Hunger in Brasilien muss end- zin Mitbestimmung 5/2021). lich aufgenommen werden. Die Zahl der Menschen, die nicht Quelle: Toralf Pusch/Eric Seils: Mindestlohn 12 Euro. genug zu essen haben, stieg in Auswirkungen in den Kreisen. WSI Policy Brief Nr. 72, den vergangenen zwei Jahren September 2022 GUTACHTEN um 14 Millionen. Unsere staat- lichen Einrichtungen wie das Was für Gewerkschaften im Gesundheitssystem und die öf- WISSEN SIE … fentliche Bildung müssen wie- Lieferkettengesetz steckt der gestärkt werden genauso Der Jahreswechsel bringt für Unternehmen neue Pflichten … dass die deutsche wie unsere sozialen Sicherungs- Industrie aufgrund von mit sich. Zum 1. Januar 2023 tritt das Lieferkettensorgfalts- systeme allgemein. Wir brau- Lieferkettenproblemen pflichtengesetz in Kraft. Danach müssen Unternehmen mit von Anfang 2021 bis Mit- chen Arbeitsgesetze, die die einer bestimmten Größe Arbeits-, Umwelt- und Menschen- te 2022 Güter im Wert Grundlage für menschenwür- rechte auch entlang ihrer Lieferketten einhalten. Dem Gesetz von knapp 64 Milliarden dige Arbeit schaffen, und ein war 2016 ein Nationaler Aktionsplan Wirtschaft und Men- Euro nicht herstellen demokratisches System der Ar- konnte? Am schwersten schenrechte vorausgegangen. Allerdings erfüllten bis 2020 laut beitsbeziehungen, das die ge- trafen Lieferengpässe einer Befragung nur 13 bis 18 Prozent der Firmen die Anfor- die Autoindustrie, die werkschaftliche Autonomie derungen des Aktionsplans. In einem Gutachten für das Hugo dennoch hohe Gewinne achtet. Der Klimawandel muss Sinzheimer Institut der Hans-Böckler-Stiftung beleuchtet verzeichnen konnte. Sie gestoppt werden, und deshalb Rechtswissenschaftlerin Reingard Zimmer die Möglichkeiten, konzentrierte sich auf muss auch die Abholzung des den Verkauf teurer Fahr- die das Gesetz Gewerkschaften und Interessenvertretungen Regenwalds ein Ende haben. zeuge. Diese Ergebnisse gibt. So können Gewerkschaften in Deutschland Rechte der einer IMK-Studie zeigen, Das alles kann ein Präsident si- Betroffenen geltend machen, und Betriebsräte haben Mitspra- wie wichtig die Wider- cher nicht in einer Amtszeit cherechte bei der Umsetzung des Risikomanagements. standsfähigkeit von Lie- erreichen. Er kann aber die Wei- ferketten ist. chen dafür stellen. Reingard Zimmer: Das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz QUINTINO SEVERO, Stellvertreten- Quelle: Thomas Theobald/Peter der Sekretär für internationale (LkSG). Handlungsoptionen für Mitbestimmungsakteure und Hohlfeld: Materialengpässe setzen Gewerkschaften. Gutachten für das Hugo Sinzheimer Institut deutscher Automobilproduktion Beziehungen des brasilianischen massiv zu. IMK Policy Brief in der Hans-Böckler-Stiftung, August 2022 Nr. 141, November 2022. Gewerkschaftsbunds CUT MITBESTIMMUNG | Nr. 6 | Dezember 2022 7
kompakt CHECK DIE ZAHLEN HINTER DER ZAHL Ganztagsbetreuung ohne Fachkräfte BILDUNG Von 2026 an haben Grundschulkinder einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung. Doch es braucht wesentlich mehr Personal, um ihn zu gewährleisten. Verschiedene Szenarien des aktuellen Ländermonitors zeigen: Bis 2030 könnten bis zu 100 000 Fachkräfte fehlen. Von Fabienne Melzer Rechtsanspruch mit großer Lücke Fehlende Fachkräfte im Ganztag, 2021 bis 2030 Schleswig- 0 Holstein S 1: – 2000 Mecklenburg- Hamburg S 5: – 4000 Vorpommern 0 S 1: – 4000 S 1: +1000 S 5: – 5000 S 5: +1000 0 Niedersachsen Bremen S 1: – 6000 Berlin S 1: – 1000 S 5: – 11.000 S 1: +2000 S 5: – 1000 0 Sachsen- Anhalt S 5: +1000 0 0 S 1: – 4000 0 S 5: – 6000 Brandenburg 0 0 S 1: – 3000 Vor dem Kollaps Nordrhein– S 5: – 5000 Westfalen 0 Mit den Ergebnissen des S 1: – 7000 Ländermonitors sieht sich Thüringen Sachsen S 5: – 17.000 die Gewerkschaft Verdi S 1: +1000 S 1: – 9000 bestätigt. Sie warnt seit Hessen S 5: – 11.000 S 5: +1000 Jahren vor einem Kollaps S 1: – 1000 S 5: – 5000 0 des Systems aufgrund des 0 Fachkräftemangels. Die stell- Erklärung Szenarien vertretende Vorsitzende Rheinland-Pfalz Szenario A (S A): Nicht alle Kinder nehmen Christine Behle begrüßt den S 1: – 2000 die volle Betreuungszeit von 40 Stunden pro Rechtsanspruch für Grund- S 5: – 5000 Woche in Anspruch, ein Teil bleibt in der Über- schulkinder auf Ganztagsbe 0 mittagsbetreuung. Die Personalschlüssel Ost- treuung. Die Politik habe aber Bayern deutschlands (1:14) gleichen sich bis 2030 versäumt, das Ausbildungssys- S 1: – 10.000 dem Median Westdeutschlands (1:6) an. tem entsprechend auszubauen. S 5: – 21.000 Szenario B (S B): Alle Kinder nehmen „Wir erwarten, dass Bund und Baden- 0 bis 2030 die volle Betreuungszeit Württemberg von 40 Stunden pro Woche in Länder einen Stufenplan vorlegen, S 1: – 6000 Anspruch. Die Personalschlüs- welcher den Ausbau des Systems, S 5: – 12.000 sel Ostdeutschlands gleichen die Hebung der Qualität und die sich bis 2030 dem Median Gewinnung und Ausbildung von Fach- 0 Westdeutschlands an, der auf kräften synchronisiert“, sagte Behle. dem Niveau von 2021 bleibt. 0 Saarland Quelle: Kathrin Bock-Famulla/Antje Girndt/ S 1: – 1000 Tim Vetter/Ben Kriechel: Fachkräfteradar für KiTa und Grundschule 2022. Gütersloh, S 5: – 1000 Bertelsmann Stiftung 8 MITBESTIMMUNG | Nr. 6 | Dezember 2022
kompakt PRO & CONTRA EIN THEMA, ZWEI EXPERTEN Brauchen wir eine soziale Pflichtzeit? Foto: Bundespräsidialamt Foto: Verdi Millionen Menschen in unserem Land küm- Einen Pflichtdienst für junge Men- JA. mern sich täglich um ihre Kinder, um alte oder kranke Verwandte, um Freunde oder Kollegen. NEIN. schen lehne ich ab. Die Debatte ist irritierend, denn sie wird von denje- Millionen sind im Ehrenamt oder als freiwillige Helferinnen nigen geführt, die dieser Generation längst entwachsen sind. Ich und Helfer für andere da, und das zumeist neben dem Beruf setze auf Freiwilligkeit statt Zwang. und der Familie. Aber es gibt auch Anzeichen dafür, dass das Die bestehenden Freiwilligendienste sind eine wichtige bürgerschaftliche Engagement, das Rückgrat unseres Gemein- Einrichtung. Sie ermöglichen jungen Menschen, sich während wesens, mancherorts schwächer wird. Mein Eindruck ist, dass es Übergangsphasen zwischen Schule und Ausbildung bezie- in unserem Land an Begegnung und Austausch mangelt – zwi- hungsweise Studium zu orientieren und sich für das Gemein- schen Jungen und Alten, Armen und Reichen, Ost- und West- wohl zu engagieren – freiwillig. Das Interesse daran ist groß. deutschen, zwischen Städtern und Landbewohnern, zwischen Bundesweit und vor allem im urbanen Raum gibt es, außerhalb hier Geborenen und Zugewanderten. der Alten- und Behindertenhilfe, mehr Freiwillige als Plätze. Wir brauchen Ideen, wie es gelingen kann, dass mehr Men- Richtig ist es deshalb, das Angebot auszubauen. Freiwilligen- schen mindestens einmal in ihrem Leben eine Zeit lang aus ihrem dienste sind richtigerweise arbeitsmarktneutral konzipiert, gewohnten Umfeld herauskommen und sich den Sorgen ganz sodass sie keine Fachkräfte oder Ausbildungsstellen ersetzen anderer widmen. Daher habe ich eine Debatte über eine soziale oder Personalengpässe abfedern. Aber bereits heute verlaufen Pflichtzeit angeregt. Eine solche Pflichtzeit muss kein ganzes Jahr in der Praxis die Grenzen fließend. Freiwilligendienstleistende dauern, sie kann kürzer sein oder auf mehrere Lebensabschnitte übernehmen teilweise oder zeitweise Aufgaben von professio- verteilt werden. Man könnte den Dienst in sozialen Einrichtun- nellen Fachkräften in der Alten- und Krankenpflege oder Kin- gen, in der Flüchtlingshilfe, in der Umwelt- und Klimaarbeit, im dertagesbetreuung. Vor dem Hintergrund des Fachkräfteman- Katastrophenschutz oder auch bei der Bundeswehr leisten. gels ist dies leider auch nicht überraschend. Mir war von vornherein sehr klar, dass mein Vorschlag nicht Mit einem neuen Pflichtdienst würden motivierte, aber nur Begeisterung hervorrufen würde. Aber mir ist wichtig, dass eben auch vermutlich unmotivierte Pflichtdienstleistende die wir die Debatte über unser Engagement für das gemeinsame Arbeit in Bereichen der Pflege, der sozialen Arbeit und der Ganze nicht nur beginnen, sondern fortsetzen. Und mir ist vor Erziehung übernehmen. Das ist keine Lösung – ein Gegensteu- allen Dingen wichtig, dass diese Debatte jetzt nicht wieder im ern beim Personalmangel in diesem Bereich kann nur mit Nichts endet. Guter Arbeit, Tarifbindung und Mitbestimmung gelingen. FRANK-WALTER STEINMEIER ist Bundespräsident der Bundesrepu- FRANK WERNEKE ist Vorsitzender der Vereinten Dienstleistungs- blik Deutschland. gewerkschaft Verdi. Und Ihre Meinung? Was halten Sie davon? Schreiben Sie an redaktion@boeckler.de MITBESTIMMUNG | Nr. 6 | Dezember 2022 9
Foto: picture alliance/dpa (Sina Schuldt) Stahlproduktion bei rcelorMittal in Hamburg: A Wie lange noch? 10 MITBESTIMMUNG | Nr. 6 | Dezember 2022
titelthema: gemeinsam durch die energiekrise „WIR WERDEN NICHT ALLES HALTEN KÖNNEN“ INDUSTRIE Die hohen Preise für Strom und Gas bedrohen die energieintensiven Industrien in der Substanz. Erste Stilllegungen sind die Folge. Eine Debatte, welche Produktionen im Land bleiben sollen, ist überfällig. Von Kay Meiners und Andreas Molitor W enn Rolf Langhard vom Parkplatz des Rheinwerks im nordrhein-westfälischen Neuss aus nach Südwes- ten schaut, sieht er auch an Tagen mit strahlend blauem Himmel in der Ferne dicke Wolkenberge – Wasserdampf von den gewaltigen Kühltürmen des Braunkoh- lenkraftwerks im 20 Kilometer entfernten Neurath. „Unser Wolkenmacher“, scherzt der Betriebsratsvorsitzende der Alu- miniumhütte. In dem Kraftwerksboliden, 1972 ans Netz ge- gangen, verheizt der Stromriese RWE Braunkohle aus dem konzerneigenen Tagebau Hambach und erzeugt daraus Strom – zu traumselig günstigen Kosten. Das zum Aluminiumspezialisten Speira gehörende Rhein- werk wiederum benötigt Strom in rauen Mengen. In dem Neusser Werk wird aus dem Erz Bauxit in mehreren Schritten Aluminium gewonnen. Finaler Schritt ist das Erschmelzen des Rohaluminiums aus Aluminiumoxid in langen Reihen großer Öfen. Aluminium ist leicht, praktisch, fast unverwüstlich und – auf lange Sicht – unschlagbar in seiner Energiebilanz. Anders als Stahl oder Kunststoff ist es fast unbegrenzt wiederverwert- bar, und mit jeder neuen Verwendung verbessert sich seine Ökobilanz. Allerdings birgt die Herstellung ein gravierendes Problem: Sie verschlingt gigantische Mengen Elektrizität. MITBESTIMMUNG | Nr. 6 | Dezember 2022 11
Die Elektrolyseöfen verbrauchen 14 bis 15 Preis, der beim Zehn- bis Fünfzehnfachen der Megawattstunden Strom für die Produktion ei- Einnahmen liegt, die sich erzielen lassen, wenn ner Tonne Aluminium – damit kann ein 300- wir mit dem Strom Aluminium erzeugen“, erklärt Liter-Kühlschrank mehr als 80 Jahre lang kühlen. Langhard. Das bringt Geld in die Kasse und si- Den preiswert erzeugten Strom aus dem Neu- chert für eine Zeit lang das Überleben der Hütte, rather Kraftwerk könnten die Neusser Alumini- aber es verkürzt ihre Restlebensdauer. Weil we- umschmelzer gut gebrauchen. Doch RWE ver- niger Strom für die Produktion zur Verfügung kauft seinen Braunkohlenstrom nicht zu Erzeugerpreisen ans Rheinwerk, sondern zu ak- tuellen Marktpreisen am Spotmarkt. Und die sind seit dem Ausbruch des Ukrainekriegs in In seiner Not hat das Speira-Management schwindelnde Höhen geschnellt. Nicht zuletzt dank der auf Volllast laufenden alten Braunkoh- jetzt einen Teil des alten Stromkontingents lenmeiler fuhr RWE im ersten Halbjahr 2022 mit hohem Gewinn am Spotmarkt verkauft. einen Gewinn von 2,8 Milliarden Euro ein, eine Milliarde mehr als im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Damit wäre der Essener Konzern ein sicherer Kandidat für die Übergewinnsteuer – ge- nauso allerdings die Betreiber von Windparks steht, wurden ab Anfang Oktober die Hälfte der und Solarkraftwerken. Elektrolyseöfen heruntergefahren und 125 Jobs Für die Arbeitsplätze an den Schmelzöfen des gestrichen. Gute, tarifgebundene Arbeitsplätze Rheinwerks dagegen sind hohe Strompreise exis- gehen verloren. „Unsere Schichtarbeiter leisten tenzbedrohend. Schon vor dem Ukrainekrieg harte, gut bezahlte Arbeit“, erzählt Langhard. schwebten die im Vergleich zum Ausland deut- „3000 bis 3500 Euro netto – wo sollen sie denn so lich höheren Energiekosten wie ein Damokles- was noch mal herkriegen?“ schwert über dem Werk. Bis Anfang 2025 kann Nicht besser als das Rheinwerk sind die an- Foto: Karsten Schöne die Hütte noch mit alten, vor sieben Jahren zu deren drei Aluminiumhütten in Deutschland Preisen von knapp unter fünf Cent pro Kilowatt- dran, die alle zur Essener Trimet Aluminium SE stunde eingekauften Stromkontingenten wirt- gehören. Selbst Michael Vassiliadis, der in der schaften. Auch mit einem Strompreis von sechs Vergangenheit stets für die Arbeitsplätze in der oder sieben Cent könnte das Werk kosten- Alu-Branche gekämpft hat, sorgt sich um die Zu- deckend arbeiten, sagt Rolf Langhard – aber auf kunft dieser Industrie. „Wir müssen einiges tun, keinen Fall mit den Konditionen der jetzt be- damit wir in zehn Jahren in Deutschland noch schlossenen Strompreisbremse, also mit 13 Cent Aluminium herstellen werden“, sagt der IG BCE- für 70 Prozent der bisher verbrauchten Strom- Vorsitzende. menge. Bei diesem Preis würde allein der Strom zur Erzeugung einer Tonne Aluminium deutlich Es trifft auch andere Industrien mehr kosten als der Erlös aus dem Verkauf des Bedrohlich eng wird es aber nicht nur für die Metalls. Der Betriebsratsvorsitzende kann seinen Aluminiumhersteller. Auch in anderen energiein- Rheinwerkern derzeit nichts versprechen, nicht tensiven Industriezweigen, einem Großteil der mal fünf Jahre Gnadenfrist. Fest steht nur: „Wenn Chemiebranche sowie bei Glas, Papier, Zink und wir bis Anfang 2025 keinen bezahlbaren Indus- Stahl, herrscht Alarmstimmung. Derzeit vergeht triestrom haben, gehen hier die Öfen aus und kaum eine Woche ohne Meldungen über Pro- werden nie wieder hochgefahren.“ duktionskürzungen, Anlagenstilllegungen oder auf Eis gelegte Investitionsvorhaben in diesen Stromhandel rettet die Bilanz Branchen, die in Deutschland fast 900 000 Men- In seiner Not hat das Speira-Management jetzt schen beschäftigen. So hat die Zinkhütte im nie- einen Teil des alten Stromkontingents mit ho- dersächsischen Nordenham ihre Produktion hem Gewinn am Spotmarkt verkauft, „zu einem Anfang November für ein Jahr komplett einge- 12 MITBESTIMMUNG | Nr. 6 | Dezember 2022
titelthema: gemeinsam durch die energiekrise stellt. Hauptabnehmer des Zinks ist die Stahlin- tistik schlägt all dies schon durch. Seit dem rus- Genau hingeschaut dustrie – und die ist ebenfalls voll im Krisenmo- sischen Überfall auf die Ukraine ist die Gesamt- Kay Kürschner, Benedikt Schreiter, Sebastian dus. An drei von vier deutschen Standorten von produktion der energieintensiven Branchen um Schwidder und Jale ArcelorMittal gibt es bereits Kurzarbeit. Im Ham- mehr als zehn Prozent geschrumpft – einer der Wohlert: Branchenanalyse burger Werk des Konzerns wurde wegen der Gründe, warum die Bundesregierung im Win- Aluminium. Strukturen, hohen Energiepreise kürzlich eine mit Gas be- terhalbjahr 2022/23 eine „rückläufige Entwick- Trends und Herausforde- feuerte Pilotanlage zur Direktreduktion von Ei- lung“ erwartet, sprich eine Rezession. Im Schnitt rungen. Working Paper Forschungsförderung senerz, ein wichtiger Baustein für die Erzeugung dauerte eine Rezession in der Bundesrepublik je Nr. 230. Düsseldorf, Okto- „grünen“ Stahls, außer Betrieb genommen. Die nach Definition drei bis vier Vierteljahre. Das ber 2021 bit.ly/3EZYrge Stahlproduktion wird ergrünen, aber womöglich zeigt die Forschung des Ökonomen Ullrich Hei- nicht in Deutschland, sondern in Ländern, wo lemann. Am längsten dauerte, mit fünf Viertel- grüner Wasserstoff preiswert und in Hülle und jahren, die erste Ölkrise 1973/74. Das Vorkrisen- Fülle zur Verfügung steht: in Skandinavien, in niveau wird meist allerdings erst ein weiteres Jahr Nordafrika und den Golfstaaten. Der Energie- nach Ende der Rezession erreicht und „bei der preisschock und die Rezessionsangst haben sich, Arbeitslosigkeit in der Regel erst sehr viel später“. so Michael Vassiliadis, „mittlerweile schon Dazu kommt, dass politische Interventionen durch die Wertschöpfungsketten gefressen“. Er meist zu spät kommen, um optimal zu wirken. kenne etliche Unternehmen „mit vollen Auf- „Eine aktuelle Rezession könnte man am ehesten tragsbüchern, aber derart hohen Energiekosten, mit den Energiepreisrezessionen der 1970er Jahre dass sie die Produktion lieber zurückfahren oder vergleichen“, sagt Heilemann. Aber einiges sei Elektrolyseöfen für die ganz einstellen“. Wenn deren Lieferungen dann jetzt anders: „Früher haben die Saudis das Geld, Aluminiumerzeugung in Neuss andernorts fehlen, beispielsweise in der Autoin- das sie für ihr Öl bekamen, rasch in Nachfrage (l.); Betriebsratschef Rolf Lang- dustrie, komme es dort zu Preissteigerungen nach deutschen Produkten umgesetzt.“ Aber jetzt hard (r.): „Die Hälfte der Öfen und weiteren Produktionsausfällen. In der Sta- sind die Aussichten für die Weltwirtschaft ist schon heruntergefahren.“ Foto: Karsten Schöne MITBESTIMMUNG | Nr. 6 | Dezember 2022 13
Foto: picture alliance/dpa (Sina Schuldt) Neubau des ersten deutschen insgesamt eher trüb, die Welt spaltet sich wie- für 70 Prozent des Verbrauchs von 2021. Die Flüssiggas-Terminals in Wil- der stärker in Blöcke, und die Energielieferanten Gaspreiskommission habe „insgesamt sehr gute hemshaven: Anschaffung und habenoffenbar weniger Importhunger als früher. Vorschläge gemacht“, um die Konjunktur zu stüt- Unterhalt aller schwimmenden Terminals kosten Deutschland Das führt laut Heilemann dazu, „dass uns dieses zen, die Inflation zu dämpfen und Anreize zum jetzt rund 6,6 Milliarden Euro, Mal die Exporte nicht so schnell aus der Rezessi- Sparen zu erhalten, schreiben die Ökonomen doppelt so viel wie geplant. on heraushelfen werden“. Das Institut für Makro- Sebastian Dullien und Jan-Erik Thie der Hans- ökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Böckler-Stiftung in einem gemeinsam mit der Hans-Böckler-Stiftung prognostizierte bereits Wirtschaftswissenschaftlerin Isabella Weber ver- Ende September ein Minuswachstum von einem fassten Papier. Prozent. Die Bundesregierung ist etwas optimis- Allerdings stören die IMK-Forscher sich da- tischer und prognostiziert einen Rückgang um ran, dass die Gaspreisbremse auch schädliche 0,4 Prozent. Die Geschäftserwartungen der Un- Anreize setzt, weil Unternehmen das subventio- ternehmen und das Konsumklima liegen auf nierte Gas auch vollständig „am Markt verwerten“ Tiefständen, die Inflationsrate wird voraussicht- dürfen. Das berge die Gefahr, dass die Gaspreis- lich weiter über sieben Prozent liegen, die Ar- bremse als „Winterschlafprämie“ missbraucht beitslosenquote konstant bei unter sechs Prozent. werde. Firmen könnten ihre Produktion stillle- gen und mit dem subventionierten Gas handeln, 200 Milliarden sollen es richten so, wie es die Neusser Aluminiumkocher mit Die Regierung steuert nach Kräften gegen die dem günstigen Strom aus ihrem Altvertrag ma- Rezessionsgefahr. Insgesamt 200 Milliarden Euro chen. Dies wiederum würde den wirtschaftlichen sollen den Energienotstand lindern und die Abschwung noch beschleunigen. Sinnvoller sei Preise für Gas und Strom auf ein erträgliches es, nur Gas zu subventionieren, das auch wirklich Niveau drücken. Für die Industrie bedeutet das in der Produktion eingesetzt wird. einen Gaspreis von 7,5 Cent und einen Strom- Während die energieintensive Industrie zu preis von 13 Cent pro Kilowattstunde – jeweils den Verlierern der Energiekrise zählt, gehört ein 14 MITBESTIMMUNG | Nr. 6 | Dezember 2022
titelthema: gemeinsam durch die energiekrise erheblicher Teil der Energiebranche selbst zu den Prozent reduziert. „Die meisten Unternehmen Gewinnen – so wie RWE, wo man den vergleichs- sterben nicht von heute auf morgen.“ Der Weg weise günstig erzeugten Strom nun mit enor- durch die kommenden Monate ist einigermaßen mem Aufschlag verkaufen kann. Zwar wird gesichert. Außerdem deuten die Prognosen der RWE-Vorstandschef Markus Krebber nicht müde, Wirtschaftsforscher fast übereinstimmend auf zu betonen, wie weit der Konzern auf dem Weg einen vermutlich nicht allzu harten und langen vom Kohleverstromer zum „grünen“ Energiekon Rezessionsverlauf hin. zern vorangekommen sei. Fünf Milliarden Euro Viel mehr Sorgen macht sich Vassiliadis, des- investiere das Unternehmen in diesem Jahr in sen Gewerkschaft die Beschäftigten fast aller ener- den Ausbau erneuerbarer Energien. Ein Blick ins gieintensiven Industrien außer dem Stahl unter ihrem Dach vereint, um die Zeit danach: „Wenn wir nicht ausreichend Gas sparen, könnte der Winter von 2023 auf 2024 sehr hart werden, weil wir möglicherweise nicht genug Gas haben.“ Dass Der Weg durch die kommenden es beim Gas im nächsten Jahr Engpässe geben Monate scheint gesichert. Aber die könnte, befürchtet auch Fatih Birol, der Leiter der Internationalen Energieagentur. Schwierig werde bange Frage lautet: Wie wird es es vor allem, wenn China seine Covidbeschrän- danach weitergehen? kungen aufhebt und damit den Wettbewerb um das verfügbare Gas, vor allem LNG, das mit Tank- schiffen geliefert wird, noch weiter anheizt. Zu- dem fehlen in Deutschland bislang LNG-Termi- Internet belegt allerdings, dass die alten Braun- nals. In Wilhelmshaven ist das erste gerade fertig kohlenmeiler zumindest derzeit mit Abstand am geworden, weitere sind im Bau. meisten zur jüngsten Gewinnexplosion des Un- Selbst wenn der Konjunktureinbruch nicht ternehmens beitragen. Dort kann man RWE so arg wird, es bleibt das Problem dauerhaft hö- nämlich beim Stromerzeugen quasi zuschauen. herer Energiepreise. Eine Rückkehr zu Industrie- Auf einer digitalen Karte veröffentlicht der strompreisen von vier Cent pro Kilowattstunde Konzern die realen Erzeugungsdaten seiner deut- erscheint auch langfristig ausgeschlossen. Beim schen Standorte. An einem Nachmittag im No- Gas wiederum rechnet BASF-Chef Martin Bru- vember etwa zeigt sie für die Braunkohle eine dermüller dauerhaft mit Preisen, die dreimal so stündliche Stromerzeugung von 6236 Megawatt hoch sind wie in den USA. „Gerade für die ener- an, bei Windanlagen 750 und bei Wasserkraft gieintensiven Unternehmen könnte das ‚New 150 Megawatt. Alles hochprofitabel. In seinen Normal‘ der Energiepreise kritisch werden“, sagt Tagebauen darf der Konzern bis 2030 weiterbag- Michael Vassiliadis. „Wir landen dann auf einem gern, so lange reicht die Braunkohle, die anschlie- Niveau, bei dem nicht klar ist, ob wir Teile unse- ßend in den längst abgeschriebenen Kraftwerken rer industriellen Wertschöpfungskette halten des Unternehmens verbrannt wird. Das sind können.“ noch ein paar fette Jahre. Das Gespenst der Deindustrialisierung geht um. Es ist viel bedrohlicher als die derzeitige Tal- Das „New Normal“ ist ein Risiko sohle, die in zwei, drei Quartalen durchschritten Blick in die Zukunft Bislang richtete sich der Blick auf die bange Fra- sein dürfte. „Bleiben die deutschen Energiepreise André Küster-Simić, Janek ge, ob und wie das Land durch den Winter auf dem derzeitigen Niveau, dann werden wir Schönfeldt: H2-Transforma- kommt. Michael Vassiliadis findet diese Fokus- erleben, dass reihenweise Betriebe in deutschen tion der Stahlindustrie und sierung auf die nächsten Monate „fast ein biss- Schlüsselindustrien schließen“, warnte jüngst des Energieanlagenbaus. chen überzogen“: Die Hilfen des Bundes sind Matthias Zachert, der Vorstandschef des Spezial- Working Paper Forschungs- förderung, Nr. 260, Düssel- unterwegs, die Speicher proppenvoll mit teuer chemie-Konzerns Lanxess. dorf November 2022. eingekauftem Gas, die Wirtschaft hat ihren Gas- Droht ein schleichender Exodus ganzer Bran- bit.ly/3OPBpvR verbrauch seit Jahresbeginn schon um rund 20 chen, so wie er sich bei der Aluminium MITBESTIMMUNG | Nr. 6 | Dezember 2022 15
erzeugung abzeichnet? Selbst ein kluger Stratege wie Michael Vassiliadis lässt Skepsis anklingen. „Ich beteilige mich nicht an Spekula- Ich weiß nicht, ob wir in zehn tionen, welche Industrien wir noch wie lange haben“, sagt er. „Aber wir werden nicht alles hal- Jahren in Deutschland noch ten können.“ Aluminium herstellen werden.“ Manche würden gerne abschalten Der eine oder andere dürfte bei dieser Aussicht MICHAEL VASSILIADIS, Vorsitzender der Gewerkschaft sogar frohlocken. Manche sehen Aluhütten und IG Bergbau, Chemie, Energie Chemiewerke primär als Stromfresser und CO₂- Schleudern, die man schnell sterben lassen soll. Versorgen kann man sich schließlich am Welt- Foto: picture alliance/dpa (Werner Baum) markt. „Es gibt Kräfte in der Politik, die meinen, so etwas wie die Aluminiumindustrie gehöre nicht nach Deutschland“, bestätigt Vassiliadis. In der Gaspreiskommission beispielsweise habe er Leute erlebt, „die gesagt haben: Was soll das mit dem Gas sparen? Wir schalten die Industrie ein- fach ab.“ Aber wozu würde ein Exodus führen? Wenn beispielsweise neue Aluhütten in China, schon heute mit riesigem Abstand größter Alu- miniumproduzent der Welt, errichtet werden, entstehen dort neue Arbeitsplätze – natürlich nicht mitbestimmt und tarifgebunden wie jene in der Neusser Rheinhütte. Zudem setzt China Foto: picture alliance/ap (Michael Probst) Vergangenheit trifft Zukunft: RWE-Braunkohlekraftwerk Neurath; im Vordergrund ein Tagebaubagger und Windkraftanlagen 16 MITBESTIMMUNG | Nr. 6 | Dezember 2022
titelthema: gemeinsam durch die energiekrise Wer verbraucht am meisten Strom und Gas? Industrieller Energieverbrauch nach Branchen, 2020, in Mrd. Kilowattstunden Herstellung von chemischen Erzeugnissen 304,7 Metallerzeugung und -bearbeitung 228,5 Kokerei und Mineralölverarbeitung 103,9 Herstellung von Glaswaren, Keramik, 84,7 Verarbeitung von Steinen und Erden Papier und Pappe 69,9 Quelle: Statistisches Bundesamt, 2022 bei seiner Energieversorgung in den nächsten Einen erneuten Subventions-Kraftakt wie den Jahren noch einmal voll auf Kohle. Mehr als 200 200-Milliarden-„Doppelwumms“ wird Deutsch- neue Kohlekraftwerke sind im Bau. Wandert die land sich nicht leisten können. IMK-Direktor Aluminiumherstellung aus Deutschland ab, ver- Dullien sagt: „Um mittel- und langfristig eine ringert sich zwar hierzulande der CO₂-Ausstoß, bezahlbare Energieversorgung sicherzustellen, aber nur, weil wir die Emissionen nach China muss massiv der Ausbau der eneuerbaren Ener- verschieben. gien gefördert werden.“ Bei erfolgreicher Dekar- Kein Fortschritt fürs Weltklima, sondern ein bonisierung „dürften die Energiekosten in Rückschritt. Ein Verzicht auf weite Teile der Deutschland wieder deutlich niedriger sein als Grundstoffindustrie würde Deutschland zudem heute“. in neue Abhängigkeiten stürzen und politisch Aber bis dahin? Michael Vassiliadis denkt erpressbar machen. Die Zeiten, in denen die Kos- darüber nach, künftige Finanzspritzen – ganz ten den alleinigen Ausschlag bei Standortent- ohne werde es nicht gehen – zielgenauer einzu- scheidungen und beim Rohstoffbezug gaben, setzen als bei der Strom- und Gaspreisbremse. sind vorbei – das ist die Lehre aus dem Desaster „Wir könnten die energieintensiven Industrien ums russische Erdgas. Außerdem, warnt Michael bevorzugt mit subventionierten Kontingenten Vassiliadis, nähme „unser fein gesponnenes in- regenerativer Energie versorgen“, schlägt er vor. dustrielles Innovations- und Effizienznetz großen Die bekämen den grünen Strom also zuerst und Schaden. Mit jedem zerschnittenen Faden sinkt zu vertretbaren Preisen. „Aber dazu“, schließt er, der Nutzen dieses Netzwerks“. „müssen wir erst die Grundfrage klären, ob wir Vassiliadis will für die Arbeitsplätze in den diese Industrien in Deutschland möglichst energieintensiven Branchen kämpfen. Ein Patent- schnell loswerden oder weiter haben wollen.“ rezept für auskömmliche Strompreise kann auch er nicht vorweisen. Der Ausbau der Erneuerbaren zieht sich hin, vor allem der Ausbau der Netzin- frastruktur hinkt hinterher. Eine erneute Lauf- Ein Verzicht auf weite Teile der zeitverlängerung für die letzten drei Atommeiler ist mit dem Machtwort von Bundeskanzler Grundstoffindustrie würde Deutschland Scholz endgültig vom Tisch. Und noch einmal in neue Abhängigkeiten stürzen und mit Russland ins Gasgeschäft zu kommen, er- scheint erst recht undenkbar. Auf derart vage politisch erpressbar machen. Gedankenspiele baut kein Vorstandschef. MITBESTIMMUNG | Nr. 6 | Dezember 2022 17
„Weil es um die Zukunft dieses Landes geht“ STANDORT DEUTSCHLAND Im Mai übernahm Yasmin Fahimi den Vorsitz des Deutschen Gewerkschaftsbunds. Ein Gespräch über den Ernst der Lage und darüber, warum Gewerkschaften gerade jetzt gefordert sind. Das Gespräch führten Kay Meiners und Fabienne Melzer – Fotos Dominik Butzmann Gab es schon einmal schwierigere Zeiten für eine Wir sind uns völlig einig: Der russische Angriffs- DGB-Vorsitzende? krieg ist ohne Einschränkungen zu verurteilen. Eine solch überkomplexe Herausforderung wie Die weiteren politischen Schlussfolgerungen aktuell hat es sicherlich in der Geschichte der wollen aber genau geklärt sein. Wir haben auf Gewerkschaften nicht allzu häufig gegeben. Wir dem ordentlichen DGB-Bundeskongress im Mai müssen nicht nur Krisenmanagement betreiben, einen Antrag beschlossen, der die Ambivalenzen sondern gleichzeitig den Strukturwandel voran- zwischen Friedenspolitik und Verteidigungsauf- bringen und dabei die Weichen stellen für eine Die Zukunfts- trag aufgreift. Damit ist die Debatte aber nicht stabile und nachhaltige Wirtschaft mit guten abgeschlossen. Deswegen lehnen wir auch jeg- Arbeitsplätzen. fähigkeit unserer liche Form militärischer Konfrontation oder Industrie wird auch nur Bedrohung ab. Gleichzeitig sehen wir uns mit einem Aggressor konfrontiert, der mit Können Sie sich an etwas Vergleichbares erin- nern? davon abhängen, militärischer Gewalt seine territorialen Interes- Jede Zeit hat ihre eigenen Herausforderungen ob und wann wir sen durchsetzen will. Und wir reden hier von und braucht ihre eigenen Antworten. Unser gro- einem Aggressor, der eine atomare Weltmacht ßer Vorteil in Deutschland ist, dass wir immer wettbewerbs- darstellt. noch enorme Potenziale haben. Wir müssen jetzt fähige Strom- nur schauen, dass wir diese Potenziale richtig Was bedeutet das konkret? nutzen. preise sicher- Wir können uns nicht vor der Frage drücken, wie stellen können.“ man in einer solchen Welt für Sicherheit sorgen Auslöser des aktuellen Energiepreisschocks ist kann und wie wir uns für einen Verteidigungs- der russische Angriff auf die Ukraine. Unser fall aufstellen müssen. Doch aktuell gerät eine Eindruck ist, dass die Gewerkschaftsmitglieder in Frage in der Diskussion zu sehr ins Hintertreffen: sehr unterschiedliche Richtungen wollen. Wie Welche Art der Zusammenarbeit, welche Art der geht der DBG damit um? Friedensprävention, welche Initiative der Rüs- 18 MITBESTIMMUNG | Nr. 6 | Dezember 2022
titelthema: gemeinsam durch die energiekrise Yasmin Fahimi, Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbunds Die Zukunftsfähigkeit unserer Industrie wird davon abhängen, ob und wann wir wettbewerbs- fähige Strompreise sicherstellen können. Diese Konkurrenz gibt es schon länger. Sie spitzt sich nun aber zu. Daher ist es jetzt besonders wichtig, keinen weiteren Abwanderungsgrund etwa durch Fachkräftemangel zu schaffen. Es hat den Standort Deutschland immer stark gemacht, dass wir neben der akademischen eine duale Ausbil- dung haben. Ebenso ist eine funktionsfähige Infrastruktur wichtig. Diese Standortfaktoren dürfen wir nicht verlieren. Bei der Erhaltung der Infrastruktur gibt es aller- dings seit Jahren einen riesigen Investitionsstau. Um diesen Standortfaktor zu erhalten, muss drin- gend investiert werden. Ist das alles gleichzeitig leistbar? Es muss leistbar sein, weil es um die Zukunft dieses Landes geht. Wir müssen eine Wirtschafts- struktur für zukünftige Generationen sicherstel- tungskontrolle braucht es jetzt trotz alledem, um len. Deutschland ist nach wie vor eines der kre- nicht noch weitere Auseinandersetzungen in der ditwürdigsten Länder der Welt. Wir haben auch Welt zu provozieren? nach wie vor im internationalen Vergleich eine akzeptable Haushaltsverschuldung. Insofern ist Wie groß ist Ihre Sorge, dass die aktuelle Krise das Gerede um ein Festhalten an der Schulden- die Basis unseres Wohlstands gefährdet? bremse nichts anderes als eine Bremse unserer Die hohen Energiekosten stellen die Wirtschaft Zukunftsfähigkeit. und insbesondere die Industrie vor große He rausforderungen. Die Gasbrücke in das Zeitalter Sind mehr Schulden die Lösung? der erneuerbaren Energien funktioniert so nicht Damit die Nein, nicht zwangsläufig. Wir müssen auch das mehr; der Umbau muss jetzt schneller erfolgen. brach liegende Kapital in Deutschland besser mo- Gleichzeitig bewegen wir uns auf eine Rezes Menschen sicher bilisieren, die Umverteilung von Vermögen si- sion zu. Insofern ist die Lage schon bedrohlich. cherstellen und es für das Gemeinwohl einsetzen. durch den Winter Und machen wir uns nichts vor: Die USA nut- Dazu gehört eine gerechte Erbschaftssteuer eben- zen diese Zeit, um Investitionen und Kapital kommen, sind jetzt so wie die Vermögenssteuer, die wieder einge- anzulocken. Insofern müssen wir uns schon führt werden sollte. Und ich bin mir sicher, dass anstrengen, um zu beweisen, dass Europa und praktikable und auch Superreiche mehr zum Gemeinwesen bei- Deutschland nach wie vor attraktive Industrie- schnell wirkende tragen können – es ist Zeit für eine Vermögens- standorte sind – und zwar mit guten Arbeits- abgabe. Die vor uns liegenden Aufgaben müssen plätzen. Also wann, wenn nicht jetzt, sind Lösungen wichtig.“ mit Mut angepackt werden. Dazu sind wir bereit. Gewerkschaften gefragt, um genau das mitzu- Uns ist wichtig, dass nicht über die Köpfe der Be- gestalten? schäftigten hinweg entschieden wird, sondern mit ihnen gemeinsam Vereinbarungen für Zukunfts- Gibt es bereits Abwanderungen von Unter- investitionen, für Standortsicherung und für gute nehmen oder Überlegungen dazu? Löhne getroffen werden. MITBESTIMMUNG | Nr. 6 | Dezember 2022 19
Sind Sie zuversichtlich, dass die Tarifpolitik Welche politischen Maßnahmen sollen die diese hohe Inflation ausgleichen kann? Beschäftigten schützen? Immerhin plant jedes Das entscheiden unsere Mitgliedsgewerkschaften. vierte Unternehmen laut einer ifo-Umfrage Aber: Wir haben immer verantwortungsvolle Ta- Entlassungen. rifpolitik gemacht. Warum sollte das jetzt anders Das Kurzarbeitergeld ist sehr wichtig. Die Idee sein? Etliche große Unternehmen haben in die- ist ja, dass vorübergehende Rückgänge bei der sem Jahr Rekorddividenden ausgeschüttet. Es gibt Auftragslage abgefedert werden und so Beschäf- also nicht unmittelbar einen Grund für Lohnzu- tigung gesichert wird. Aber wenn Unternehmen rückhaltung. Klar ist aber auch, dass die Tarif die hohen Energiepreise nicht mehr weitergeben politik die Kriegsfolgen, also die extremen Teue- können oder dadurch Kunden wegbrechen und rungsraten und Belastungen, nicht allein die Nachfrage zurückgeht, greift das bisherige schultern kann. Politische Maßnahmen und die Kurzarbeitergeld zu kurz. Daher tauschen wir Tarifpolitik müssen hier ineinandergreifen. uns gerade mit der Bundesregierung über neue Instrumente für solche Fälle aus. Aber natürlich darf es keine Mitnahmeeffekte geben. Deshalb müssen neue Hilfen für die Unternehmen an entsprechende Beschäftigungsvereinbarungen gebunden sein, die mit den Gewerkschaften zu treffen sind. Sind die Maßnahmen zur Senkung der Energie- preise sozial ausgewogen? Es braucht Anreize, Damit die Menschen sicher durch den Winter kommen, sind jetzt praktikable und schnell wir- privates Kapital wieder kende Lösungen wichtig. Die Gassubventionie- rung, die jetzt kommt und die im Wesentlichen hier und nicht woanders auf unserem Vorschlag basiert, ist so eine Lösung. Ich habe trotzdem große Sympathie dafür, Min- in der Welt zu investieren.“ destabsicherungen gegen Mitnahmeeffekte und für soziale Gerechtigkeit zu schaffen. Und die gibt es durchaus: Die Abschlagszahlung im De- zember muss ab einem Einkommen von 75.000 Euro versteuert werden. Es gibt einen sozialen Härtefallfonds und Hilfsfonds für sozi- ale Einrichtungen wie Krankenhäuser und Pfle- geheime. Hat der derzeitige Vorschlag der Gaskommission auch Fehler? Leider wurde in der Gaskommission ein Vor- schlag nicht verhindert: die Option des soge- nannten Winterschlafs. Unternehmen können demnach nicht nur bis zu 70 Prozent ihres Gases subventioniert bekommen. Sie können auch die Produktion runterfahren, die Beschäftigten in Kurzarbeit schicken und das subventionierte Gas gewinnbringend am Markt weiterverkaufen. Das muss unbedingt verhindert werden. Sich auf Kosten der Allgemeinheit zu bereichern ist ein absolutes No-Go! 20 MITBESTIMMUNG | Nr. 6 | Dezember 2022
titelthema: gemeinsam durch die energiekrise Foto: ddp Auf Kosten der Schwächsten ENERGIEKRISE Deutschland geht weltweit auf Einkaufstour nach Gas und Kohle – als Ersatz für die Lieferungen aus Russland. Das bleibt nicht folgenlos. Eine Spurensuche in Bangladesch, Südafrika und Kolumbien Von Kay Meiners und Andreas Molitor S o unterschiedlich können Energiespar- Auf der Suche nach den Ursachen landet man maßnahmen sein: In Deutschland sind ziemlich schnell bei den großen Flüssiggastan- die Haushalte jetzt aufgerufen, die Hei- kern, die Bangladeschs Kraftwerke mit Brennstoff zung nicht den ganzen Tag über laufen versorgen. Das Land bestreitet fast drei Viertel zu lassen und die Raumtemperatur in den Büros seiner Stromerzeugung mit gasbefeuerten Kraft- öffentlicher Gebäude auf 19 Grad zu beschränken. werken. Doch seit dem Ausbruch des Ukraine- Dagegen helfen dicke Socken und ein warmer kriegs können die Energieversorger sich das Gas Pulli. In Bangladesch wiederum mussten Anfang nicht mehr leisten. Die Europäer, allen voran Oktober 130 Millionen Menschen einen halben Deutschland, decken sich in den USA, in Katar Tag lang ohne Elektrizität auskommen. Mit Aus- und Australien mit Flüssiggas ein, um die Aus- nahme einiger Teile im Nordwesten lag das ge- fälle bei den Erdgaslieferungen aus Russland samte Land im Blackout, nachdem als „Sparmaß- halbwegs zu kompensieren – zu nahezu jedem nahme“ die meisten Kraftwerke des Landes Preis. abgeschaltet worden waren. Die meisten Länder des Südens können da Es war nicht der erste Blackout oder Brown- nicht mehr mithalten. Jene Flüssiggastanker, die out in diesem Jahr. Bereits mehrfach standen Fa- bislang Pakistan, Bangladesch, Myanmar oder briken still, das Internet fiel aus, Einkaufszentren Indien ansteuerten, begeben sich nun auf den Geschäfte bei Kerzenlicht: und Märkte mussten auf Anordnung der Behör- Weg nach Europa. Selbst Schiffe, die bereits un- Auf e inem Markt in den schließen, und die Moscheen wurden ange- terwegs Richtung Südasien waren, machten kur- Bangladeschs Hauptstadt Dhaka gehen beim Blackout wiesen, die Klimaanlagen nur während der fünf zerhand kehrt und nahmen Kurs auf Europa. am 4. Oktober die Lichter aus. täglichen Gebete laufen zu lassen. Und die Schwellenländer stehen im MITBESTIMMUNG | Nr. 6 | Dezember 2022 21
Dunkeln. „Die Mengen nehmen wir natür- Dirksen, die Leiterin des Büros der Friedrich- lich auf dem Weltmarkt jemand anderem weg“, Ebert-Stiftung in Johannesburg, berichtet von sagte Klaus Müller, der Präsident der Bundesnetz- „wachsenden Spannungen“ und „gewaltsamen agentur, kürzlich in der Talkshow von Markus lokalen Protesten“ im Land. Lanz. „Es ist in mehrfacher Hinsicht ein furcht- Im September kletterte die Inflation auf 7,5 bares Dilemma.“ Prozent, den höchsten Wert seit zehn Jahren. Das klingt nicht bedrohlich, kann aber wirken wie Afrikanische Kohle für Deutschland Dynamit. Denn je nach Warenkorb kann sich Südafrika könnte ein blühendes Land mit einer die offizielle Inflation beim Einkauf vervielfa- stabilen Energieversorgung sein. Doch die Reali- chen. „Am stärksten ist der Preisanstieg bei Le- tät sieht anders aus. Politische Versäumnisse, Ar- bensmitteln, und hier vor allem bei Speiseöl und mut und jetzt die Energiekrise bilden eine schwie- Weizenprodukten“, sagt Lebogang Mulaisi. Mit rige Melange. Noch werden rund 85 Prozent des enormen Folgen für arme Familien, die auf staat- Stroms mit heimischer Kohle erzeugt. „Doch die liche Unterstützung angewiesen sind. Südafrika südafrikanische Kohleinfrastruktur ist veraltet muss einen erheblichen Teil seiner Grundnah- und steht kurz vor dem Zusammenbruch“, sagt rungsmittel importieren; beim Weizen ist es die Lebogang Mulaisi, eine junge Ökonomin, die die Hälfte. Die zwei wichtigsten Importländer wa- Politikabteilung des Gewerkschaftsbunds Cosatu ren im Jahr 2020 Polen und Russland – gefolgt leitet. Es gehört zum Alltag, dass die Versorger die von Deutschland. Weizen gegen Steinkohle, so Stromversorgung stundenlang kappen. sieht ein Teil unserer Handelsbilanz mit dem Erst im letzten Jahr ging das Kraftwerk Me- Kap aus. Gewerkschaftsprotest gegen hohe dupi, einer der weltgrößten Kohlenmeiler, neu Cosatu bildet mit dem regierenden ANC und Strompreise in Pretoria: Elektrizität ans Netz, geschätzte Lebensdauer 50 Jahre. Doch der kommunistischen Partei SACP eine fragile ist teuer – wenn es sie denn gibt. das Land will weg von der schmutzigen Kohle. politische Allianz. Dennoch hat sich Cosatu jetzt „Es gibt einen Konsens für den Aufbau einer neu- an die Spitze der landesweiten Proteste gegen die en Infrastruktur zugunsten erneuerbarer Energie- Inflation und die Regierung gesetzt. Die Forde- quellen“, sagt Mulaisi. Experten bescheinigen dem rungen reichen von Hilfen für das staatliche Land ein großes Potenzial für erneuerbare Ener- Stromunternehmen ESKOM mit rund 40 000 gien: Solarenergie, Wind, dazu jede Menge Roh- Beschäftigten sowie für die Eisenbahnunterneh- stoffe. Doch bislang hängt Südafrika bei der Ent- men Transnet und Metrorail, die teilweise eben- wicklung der regenerativen Energien noch falls in Staatsbesitz sind, Unterstützung für lokal zurück. Ihr Anteil an der Gesamtenergieerzeu- produzierte Waren, Investitionen in die Infra- gung liegt bei nur rund 11 Prozent. Auf der Welt- struktur bis zu einem tragfähigen Benzinpreissys- klimakonferenz wurden Südafrika deshalb Mil- tem. Die Proteste, sagt die Cosatu-Ökonomin, liarden für die Energiewende versprochen. hätten zu etwas niedrigeren Benzinpreisen und Auch Deutschland hilft mit Hunderten Mil- Verbesserungen im Nahverkehr geführt. lionen aus Steuergeldern. Doch zugleich kaufen Den russischen Angriffskrieg würde kaum deutsche Kraftwerksbetreiber an südafrikanischer jemand in Südafrika beachten, gäbe es nicht die Steinkohle, was zu kriegen ist. „Den Widerspruch, Inflation. Gerade so, wie sich auch die Europäer einen kohlenstoffarmen Übergang zu predigen, um Kriege auf dem afrikanischen Kontinent aber in Krisen ebenfalls auf Kohle zu setzen, neh- kaum gekümmert haben. Die ANC-Regierung men wir zur Kenntnis“, sagt die Cosatu-Ökono- ist in dieser Frage kein einfacher Partner für den min Mulaisi. Und fügt trotzig hinzu. „Aber das Westen. Als Bundeskanzler Olaf Scholz im Mai hält den Übergang in Südafrika nicht auf.“ nach Südafrika reiste, traten die Differenzen zwi- Tatächlich tut sich das Land schwer mit Ver- schen ihm und Regierungschef Cyril Ramapho- änderungen. Die ANC-Regierung hat es herun- sa, der selbst aus der Gewerkschaftsbewegung tergewirtschaftet, Corona letzte Reserven aufge- stammt, offen zutage: Während Scholz den Über- zehrt. Und jetzt kommt die Inflation hinzu. Uta fall auf die Ukraine scharf verurteilte und die 22 MITBESTIMMUNG | Nr. 6 | Dezember 2022
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