102 BREXIT UND GREXIT - Argumente und Materialien zum Zeitgeschehen - Hanns-Seidel-Stiftung
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Kea-Sophie Stieber (Hrsg.) BREXIT UND GREXIT Voraussetzungen eines Austritts 102 Argumente und Materialien zum Zeitgeschehen www.hss.de
Kea-Sophie Stieber (Hrsg.) BREXIT UND GREXIT Voraussetzungen eines Austritts
Impressum ISBN 978-3-88795-499-4 Herausgeber Copyright 2015, Hanns-Seidel-Stiftung e.V., München Lazarettstraße 33, 80636 München, Tel. +49 (0)89 / 1258-0 E-Mail: info@hss.de, Online: www.hss.de Vorsitzende Prof. Ursula Männle, Staatsministerin a.D. Hauptgeschäftsführer Dr. Peter Witterauf Leiter der Akademie für Prof. Dr. Reinhard Meier-Walser Politik und Zeitgeschehen Leiter PRÖ / Publikationen Hubertus Klingsbögl Redaktion Prof. Dr. Reinhard Meier-Walser (Chefredakteur, V.i.S.d.P.) Barbara Fürbeth M.A. (Redaktionsleiterin) Susanne Berke, Dipl.-Bibl. (Redakteurin) Claudia Magg-Frank, Dipl. sc. pol. (Redakteurin) Marion Steib (Redaktionsassistentin) Druck Hanns-Seidel-Stiftung e.V., Hausdruckerei, München Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung, Verbreitung sowie Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil dieses Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung der Hanns- Seidel-Stiftung e.V. reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Davon ausgenommen sind Teile, die als Creative Commons gekennzeichnet sind. Das Copyright für diese Publikation liegt bei der Hanns-Seidel-Stiftung e.V. Namentlich gekennzeichnete redaktionelle Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung des Herausgebers wieder.
INHALT 5 EINFÜHRUNG Kea-Sophie Stieber 7 RECHTLICHE RAHMENBEDINGUNGEN DER KRISE Rudolf Streinz 15 UNSCHLÜSSIGE AUSTRITTSSZENARIEN AUS DER EU UND DEREN KONSEQUENZEN Austritt aus der EU, Austritt aus der Euro-Zone, Ausschluss? Waldemar Hummer 27 GLAUBWÜRDIGKEIT DER AKTEURE UND LANGFRISTIGE STABILISIERUNG DER EU UND WWU Wim Kösters 33 IST DER GREXIT EIN WEGWEISER FÜR AUSTRITTSSZENARIEN? Jens Bastian 43 DIE NOTWENDIGKEIT EINER STAATSINSOLVENZORDNUNG Hubert Mayer 53 GREXIT, BREXIT – QUO VADIS EUROPA? Christian M. Stiefmüller ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 102 3
EINFÜHRUNG KEA-SOPHIE STIEBER || Es ist ruhiger geworden um Griechenland. Ob dies an den neuen Heraus- forderungen liegt, die die Europäische Union (EU) dieser Tage zu meistern hat, oder daran, dass die größte Gefahr erst einmal gebannt scheint? Brüssel hat sich – zumindest für den Moment – gegen einen Austritt Griechenlands aus der Europäischen Union beziehungsweise der Währungsunion entschieden. Jedoch auch Großbritannien und die allgemeinen Entwicklungen in der EU geben An- lass, sich einmal mehr mit der Thematik um Austrittsszenarien zu beschäftigen. Dies aber, ohne den Integrationsprozess Europas in Frage zu stellen oder gar dessen Scheitern prognostizieren zu wollen. Es ist ein Thema, das einer multiperspekti- Europäischen Zentralbank (EZB) eingeführt, vischen Beleuchtung bedarf. Eine Kooperation ohne eine europäische Finanz- oder Wirtschafts- zwischen Juristen, Ökonomen und Politologen regierung zu etablieren. Das Prinzip der staat- eröffnet die Chance, eine differenzierte und lichen Eigenverantwortlichkeit, auch für die problemorientierte Betrachtung und Bewertung finanzielle Situation, wird gemäß Art. 123 ff. der Sachlage darzulegen. Nicht nur wirtschaft- AEUV (Vertrag über die Arbeitsweise der Euro- lich ist der Austritt eines Mitgliedstaates, sei es päischen Union) ausdrücklich zu Grunde gelegt. aus der EU oder lediglich der Wirtschafts- und Begünstigt durch die internationale Finanz- Währungsunion (WWU), ein schwer kalkulier- krise, begann 2009 die Eurokrise in Europa, aus- bares Risiko. Auch europapolitisch und -rechtlich gelöst durch die hohe Verschuldung einzelner steht die EU in einem solchen Fall vor enorm Staaten. Zahlreiche Länder hatten kontinuier- diffizilen Entscheidungen. In den Verträgen ist lich gegen die Konvergenzkriterien des mit der der Euro als unwiderruflich (Art. 140 EUV) an- Einführung des Euro festgelegten Stabilitätspakts gelegt. Einmal beigetreten, dürfen EU-Mitglied- verstoßen, Deutschland nicht ausgenommen. staaten die Eurozone nicht mehr verlassen. Geahndet hat dies die Europäische Kommis- Ein erster Anlauf zu einer gemeinsamen sion kaum. Während es den meisten krisenbe- Wirtschafts- und Währungsunion wurde bereits hafteten Ländern wie Irland, Spanien oder auch in den 1970er-Jahren von Helmut Schmidt und Portugal gelang, mittels konsequenter Sparpro- Valéry Giscard d’Estaing unternommen. Tat- gramme und der Hilfe des Europäischen Stabili- sächlichen Aufwind erhielt das Projekt jedoch tätsmechanismus (ESM) ihre Defizite zu senken, erst mit dem Fall der Mauer. Kritische Stimmen verebbte die Krise um Griechenland nicht. mahnten bereits damals an, eine Gemeinschafts- Hieraus entstand eine Debatte, der sich eine währung erst dann einzuführen, wenn die EU- interdisziplinäre Expertenrunde der Hanns-Sei- Staaten sich ausreichend wirtschaftlich ange- del-Stiftung annahm. Welche Möglichkeiten ei- glichen hätten. Bedenken von fachlicher Seite nes Austritts aus der Europäischen Union und / wurden jedoch beiseite geschoben. Es war ein oder Währungsunion bestehen und wie kann politisches Projekt. Der Euro sollte als Instru- ein solcher verhindert werden? Die Autoren ment der Balance in Europa eingesetzt werden. dieses Bandes betrachten diese Fragen aus ver- Die gemeinsame Währung wurde schließ- schiedenen Blickwinkeln und zeigen Ursachen lich zum 1. Januar 1999 unter der Aufsicht der sowie Ausblicke auf. ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 102 5
KEA-SOPHIE STIEBER Die Grundlagen einer Rechtsgemeinschaft, auch der WWU findet ebenfalls keine rechtliche wie sie die Europäische Union zu sein bean- Grundlage. sprucht, sind die rechtlichen Rahmenbedingun- Nicht nur aufgrund der Situation Griechen- gen. Eines der großen Probleme aktueller Krisen lands, durch diese jedoch erneut in den Fokus jedoch ist der Trend zur Aussetzung rechtlicher gerückt, werden die Forderungen nach Regelun- Vorgaben, wenn es der politischen Strategie zu- gen für eine geordnete Staatsinsolvenz wieder träglich ist. Unmittelbar daran knüpft sich eine lauter. Die Schwierigkeit liegt darin, dass eine allgemeine Verunsicherung, nach welchen Re- solche Insolvenzordnung weltweite Geltungs- geln die Entscheidungsträger agieren. Was wie- anwendung finden müsste, da von der Insol- derum einen damit einhergehenden Vertrauens- venz eines Staates Interessen verschiedenster verlust auslöst. Ohne Vertrauen und der Über- Banken und anderer Länder tangiert sind, die zeugung von dem Projekt Europa verliert dieses sich nicht auf eine bestimmte Region beschrän- den Rückhalt in der Bevölkerung. ken lassen. Die zuvor angesprochene Nichtahndung von Unabhängig vom Zustandekommen einer Verstößen gegen Konvergenzkriterien ist ein internationalen Staateninsolvenzordnung obliegt gutes Beispiel hierfür. Insbesondere auch die es der Europäischen Union in ihrer Einheit und Einführung des ESM erachten viele Kritiker als Eigenheit, Regelungen zu schaffen, die Klarheit Verstoß gegen die „No-Bail-out“-Klausel des und Voraussehbarkeit hinsichtlich einer Staats- Art. 125 AEUV. Sieht man diese als Absiche- insolvenz bringen. rung der Vorgaben (wie beispielsweise der Kon- Die Auswirkungen eines Austritts oder einer vergenzkriterien), nach denen es von vorne- Insolvenz auf das wirtschaftliche und politische herein gar nicht zu einem Szenario wie dem in Geschehen in der Europäischen Union sind auch Griechenland hätte kommen können, legt dies mit einem umfassenden Regelungswerk nicht eine strikte Anwendung des Art. 125 AEUV abschließend voraus- und absehbar. Jedoch ohne Einschränkungen nahe. Dem stimmt der lassen sich solche Prozesse auch nicht einfach Europäische Gerichtshof (EuGH) grundsätzlich verhindern, indem man sich ihnen verschließt. zu, allerdings hält er die „Anwendung des ESM Die Basis aller Regelungen ist das Vertrauen in dann mit Art. 125 AEUV vereinbar, wenn sie für der Bevölkerung, welches nur zurückgewonnen die Wahrung des gesamten Euro-Währungs- werden kann, wenn Regelungen bestehen, an gebietes unabdingbar ist und strengen Auflagen die sich auch die Politik hält. Auch Angst vor unterliegt“. Unbekanntem kann durch einen rechtlichen Regeln und Vorgaben für ein Austrittsproze- Leitfaden gemindert werden. Die nachfolgenden dere finden sich in den europäischen Vertrags- Artikel bieten hierzu entsprechende Bausteine. werken nur sehr zurückhaltend. Dies ist darauf zurückzuführen, dass ein desintegrativer Prozess || KEA-SOPHIE STIEBER nicht vorgesehen, vor allem aber nicht gewollt Referentin für Europäische Integration, Europa- ist. Die Europäische Union ist einzig auf weiteres und Völkerrecht, Bürgerrechte und Verfassungs- Zusammenwachsen ausgelegt und sieht in den staat der Akademie für Politik und Zeitgeschehen, Hanns-Seidel-Stiftung, München Verträgen lediglich zwei Austrittsoptionen vor: im Konsens mit den anderen Mitgliedstaaten durch Vertrag oder durch einseitige Austrittser- klärung und Verstreichen einer entsprechenden Frist (Art. 50 AEUV). Ein Austritt Großbritan- niens aufgrund des von Premierminister David Cameron angestrebten Referendums wäre durch Art. 50 AEUV gedeckt. Ein isolierter Austritt aus der Währungsunion, dauerhaft oder temporär, wie es zuletzt im Falle Griechenlands thema- tisiert wurde, ist juristisch nicht geregelt. Der erzwungene Ausschluss sowohl aus der EU als 6 ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 102
RECHTLICHE RAHMENBEDINGUNGEN DER KRISE RUDOLF STREINZ || Der ambivalente Zusammenhang zwischen Recht und Politik und die begrenzte Leistungsfähigkeit des Rechts zeigen sich leider gerade in mehreren Bereichen der Europäischen Union (EU), die eine Rechtsgemeinschaft sein soll und, will sie dauerhaft bestehen, auch sein muss. Einer dieser Bereiche ist die Wirtschafts- und Währungsunion (WWU), die insoweit in jüngster Zeit durch die faktische Aussetzung der europäischen Regeln über das Asylrecht1 mit noch nicht ab- sehbaren Folgen übertroffen wird und in der politischen Aktualität in den Hintergrund getreten ist, ohne dass – wie die Entwicklung in Griechenland zeigt – von einer Lösung gesprochen werden kann. PROBLEMSTELLUNG UNIONSRECHTLICHE RAHMENBEDINGUNGEN Wenn im Folgenden die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der Krise, die letztlich eine Europa mehrerer Geschwindigkeiten auch durch Fehlentwicklungen der Währungs- (differenzierte Integration) union ausgelöste Staatsschuldenkrise insbeson- Die WWU ist ein Beispiel für die differenzier- dere Griechenlands ist, knapp dargestellt wer- te Integration eines Europa mehrerer Geschwin- den, dürfen die politischen Implikationen nicht digkeiten. Wie die verstärkte Zusammenarbeit außer Acht gelassen werden, will man zu einer (VZ) durch Sekundärrecht mit mindestens realistischen Betrachtung der in Art. 3 EUV an- neun Mitgliedstaaten (Art. 20 EUV, Art. 326- gestrebten Wirtschaftsverfassung der EU („in 334 AEUV) ist sie auch darauf angelegt, dass hohem Maß wettbewerbsfähige soziale Markt- zunächst im Kreis der dazu bereiten Staaten be- wirtschaft“; „Solidarität zwischen den Mitglied- gonnen wird, bei Erfüllung der Voraussetzungen staaten“; „Wirtschafts- und Währungsunion“) aber alle Mitgliedstaaten den Euro als gemein- kommen. Wenn man die Trennung zwischen same Währung haben sollen. „Bereit“ heißt hier der für die Mitgliedstaaten, deren Währung der aber allein, anders als bei der VZ, die anderen Euro ist (sog. Eurozone), „vergemeinschafte- Mitgliedstaaten nur offen stehen muss, dass die ten“ Währungspolitik und der auch insoweit in Aufnahmekriterien erfüllt sind bzw. dies von der Kompetenz der Mitgliedstaaten verbliebe- den zuständigen Organen – im Fall Griechen- nen Wirtschaftspolitik als „Geburtsfehler“ der land aufgrund falscher Daten unzutreffend – WWU betrachtet und eine Vergemeinschaf- bestätigt wird. Dann erfolgt die Aufnahme an tung der Wirtschaftspolitik, eine europäische sich automatisch. Dieser Ansatz wird auch da- „Wirtschaftsregierung“ fordert, muss man sich rin sichtbar, dass für die anderen Mitgliedstaa- zum einen über deren Inhalt und zum anderen ten eine „Ausnahmeregelung“ besteht (Art. 139 über deren Folgen bewusst sein, um die Chan- AEUV), die nach Erfüllung der Konvergenzkrite- cen politischer Realisierung richtig einzuschät- rien „aufgehoben“ wird (Art. 140 AEUV). Aller- zen – ganz abgesehen von den erheblichen und dings haben sich (mit unterschiedlicher Tragwei- grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Impli- te) das Vereinigte Königreich2 und Dänemark3 kationen. durch Protokolle mit primärrechtlicher Wirkung ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 102 7
RUDOLF STREINZ eine Befreiung von der Mitwirkung an der hängigkeit ein grundsätzlicher Systemwechsel, Währungsunion gesichert, während das Fern- dessen politische Akzeptanz nach wie vor Prob- bleiben Schwedens, politisch unterstützt durch leme bereitet. Die Wirtschaftspolitik verbleibt ein unionsrechtlich irrelevantes Referendum, dagegen, auch in der Eurozone, in der Kompe- durch die fehlende Erfüllung des Wechselkurs- tenz der Mitgliedstaaten (Art. 120 AEUV: „ihre kriteriums durch die mangelnde Bereitschaft, Wirtschaftspolitik“). Diese sind zu einer „engen am Wechselkurmechanismus teilzunehmen, Koordinierung“ (Art. 119 Abs. 1 AEUV) ver- herbeigeführt wird.4 Derzeit haben 19 Mitglied- pflichtet. Während dies auch auf die Mitglied- staaten den Euro als gemeinsame Währung, staaten mit Ausnahmeregelung zutrifft, gelten nämlich nach den ursprünglichen elf Mitglie- die für die Einhaltung der für eine „Stabilitäts- dern Belgien, Deutschland, Finnland, Frankreich, gemeinschaft“ (Art. 119 Abs. 2 AEUV: „vor- Irland, Italien, Luxemburg, Niederlande, Öster- rangiges Ziel der Preisstabilität“) erforderlichen reich, Portugal und Spanien, später Griechenland Kriterien vorgesehenen Kontrollmöglichkeiten (2001), Slowenien (2007), Malta und Zypern von Kommission und Rat (vgl. Art. 121, Art. 126 (2008), Slowakei (2009), Estland (2011), Lett- AEUV) nur für die Staaten der Eurozone (vgl. land (2014) und Litauen (2015). Die Staaten Art. 139 Abs. 2 lit. a und b AEUV). Deren Rea- mit Ausnahmeregelung sind zwar in die WWU lisierung bereitet erhebliche Probleme, was die eingebunden, z. B. gehören ihre Zentralbanken Frage nach den Grenzen einer „Vergemeinschaf- dem Europäischen System der Zentralbanken tung“ der Fiskalpolitik aufwirft. (ESZB) an (Art. 282 Abs. 1 S. 1 AEUV) und müssen auch deshalb – mit Ausnahme der Eintrittsvoraussetzungen zur Währungsunion Bank von England5 – Unabhängigkeit erhalten Rechtliche Voraussetzung ist zunächst die (Art. 130 AEUV).6 Sie behalten aber ihre bishe- Anpassung des nationalen Rechts, insbesondere rigen währungspolitischen Befugnisse nach ih- die rechtliche Absicherung der Unabhängigkeit rem innerstaatlichen Recht. Sie sind auch nicht der nationalen Zentralbank (Art. 140 Abs. 1 am Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) UAbs. 1 S. 2 AEUV). Die materiellen Vorausset- beteiligt und müssen sich nicht an sonstigen zungen der Aufnahme in die Eurozone werden Stützungsmaßnahmen beteiligen. mindestens alle zwei Jahre oder auf Antrag eines ihr noch nicht angehörenden Mitgliedstaats ge- Kompetenzverteilung mäß der vier materiellen „Konvergenzkriterien“ Die Mitgliedstaaten der Eurozone haben die (Art. 140 Abs. 1 S. 3 AEUV) geprüft, die in ei- Währungshoheit und damit ein wesentliches nem Protokoll „näher festgelegt“ werden.8 Das Element staatlicher Souveränität auf die EU Kriterium der anhaltenden Preisstabilität for- und dort auf die Europäische Zentralbank (EZB) dert, dass die Inflationsrate der drei besten Mit- übertragen. Diese hat dafür die ausschließliche gliedstaaten während des letzten Jahres vor der Kompetenz (Art. 3 Abs. 1 lit. c bzw. Art. 282 Prüfung nicht um mehr als 1,5 % überschritten Abs. 3 AEUV). Um insbesondere das vorran- wurde. Zur Finanzlage der öffentlichen Hand gige Ziel der Preisstabilität (Art. 119 Abs. 2, darf zum Zeitpunkt der Prüfung kein Beschluss Art. 282 Abs. 2 S. 3 AEUV) erfüllen zu können, des Rates nach Art. 126 Abs. 6 AEUV vorlie- besitzt die EZB primärrechtlich gesicherte Un- gen. Dieses Kriterium ist als einziges dauerhaft abhängigkeit, woran sich nach ihrer Einord- relevant und wird gemäß dem Stabilitäts- und nung als Organ der EU nichts geändert hat Wachstumspakt, der auch Sanktionen vorsieht, (Art. 13 Abs. 1 UAbs. 2, Abs. 3 EUV, Art. 130, überwacht. Ein übermäßiges Defizit i. S. v. Art. 282 Abs. 3 S. 3 AEUV). Dies entspricht der Art. 126 Abs. 2 AEUV liegt bei Überschreitung Stellung der Deutschen Bundesbank, deren Un- des geplanten oder tatsächlichen öffentlichen abhängigkeit allerdings vor der Einfügung von Defizits von 3 % oder einem öffentlichen Ge- Art. 88 S. 2 GG weder verfassungsrechtlich noch samtschuldenstand von über 60 % des Brutto- einfachgesetzlich garantiert war.7 Für andere inlandsprodukts (BIP) zu Marktpreisen vor.9 Mitgliedstaaten war die wegen der Erfordernis- Der Staat muss zwei Jahre vor der Prüfung am se des ESZB gebotene Einräumung der Unab- Wechselkursmechanismus des EWS „ohne star- 8 ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 102
RECHTLICHE RAHMENBEDINGUNGEN DER KRISE ke Spannungen“, und ohne selbst gegenüber sog. „Six-Pack“, das 2013 durch zwei weitere dem Euro abgewertet zu haben, teilgenommen Verordnungen des Europäischen Parlaments und haben. Die Konvergenz der Zinssätze fordert, des Rates, dem sog. „Two-Pack“ ergänzt wurde. dass im Verlauf von einem Jahr vor der Prüfung Das sog. „Europäische Semester“ soll der Si- der durchschnittliche langfristige Nominalzins- cherung einer engeren Koordinierung der Wirt- satz um nicht mehr als 2 % über den drei Mit- schaftspolitik und einer dauerhaften Konvergenz gliedstaaten mit dem besten Ergebnis lag. Die der Wirtschaftsleistung der Mitgliedstaaten durch Prüfberichte der Kommission und der EZB be- Vorverlagerung der haushaltspolitischen Über- rücksichtigen als weitere Gesichtspunkte auch wachung mittels Vorabmeldung durch die Mit- die Ergebnisse bei der Integration der Märkte gliedstaaten und Überprüfung der Kommission und die Entwicklung der Leistungsbilanzen und mit entsprechenden Stellungnahmen dienen. der Lohnstückkosten sowie andere Preisindi- Eine „Genehmigungspflicht“ der Haushalte der zes.10 Die Aufnahme erfolgt durch Beschluss Mitgliedstaaten ist damit nicht verbunden. des Rates, wobei nur die Staaten der Eurozone Immerhin führt dies aber zu einer verstärkten stimmberechtigt sind, mit der entsprechenden Überwachung der Empfänger von Hilfen aus qualifizierten Mehrheit (Art. 140 Abs. 2 UAbs. 2 dem „Euro-Rettungsschirm“, jetzt dem ESM.12 und 3 AEUV). Die Wirksamkeit des Stabilitäts- und Wachs- Die Kriterien sind rechtlich verbindlich, aber tumspakts ist sehr umstritten.13 Noch mehr gilt keine Bedingungen und lassen Beurteilungs- und dies für den sog. Fiskalpakt (VSKS),14 der den Entscheidungsspielräume, die sich allerdings im Stabilitäts-und Wachstumspakt durch weitere Rahmen der durch die Kriterien vorgegebenen Schärfungen unterstützen soll. Dazu gehört ins- Ziele halten müssen. Ob dies bei der Aufnahme besondere die Verpflichtung zur Einführung sog. Belgiens und Italiens, die das Schuldenstands- „Schuldenbremsen“ (Art. 3 VSKS). Da dies ein kriterium weit verfehlten, eingehalten wurde, wegen der fehlenden Mitwirkung des Vereinig- wird unterschiedlich beurteilt.11 Problematisch ten Königreichs und Tschechiens zwischen den ist, dass es sich um eine, durch entsprechende (damals) 25 anderen Mitgliedstaaten geschlos- punktuelle Anstrengungen gestaltbare und wie sener völkerrechtlicher Vertrag ist, der Bereiche der Fall Griechenland zeigt, manipulierbare der WWU betrifft, muss er mit dem bestehen- Momentaufnahme handelt. Zumindest die Er- den Unionsrecht, das durch dieses „Ersatzuni- stellung und Überprüfung der Grundlagen soll- onsrecht“15 bzw. Ergänzungs- oder Verbin- te daher sorgfältig gehandhabt werden, wobei dungsrecht16 nicht geändert wird, vereinbar sein soweit möglich auch deren Dauerhaftigkeit be- bzw. entsprechend restriktiv ausgelegt werden rücksichtigt werden müsste. (vgl. Art. 2 VSKS). Staaten, die Hilfen aus dem ESM in Anspruch nehmen wollen, müssen den Stabilitäts- und Wachstumspakt – Fiskalpakt Fiskalpakt ratifiziert haben (Art. 12 VSKS), was Zur Sicherung der Stabilitätskriterien nach durch alle 25 Vertragsstaaten geschehen ist. dem Beitritt zur Eurozone wurde 1997 nach Die Einschätzung, der Fiskalpakt habe „wohl einer Entschließung des Rates durch zwei Ver- eher eine symbolische Bedeutung“,17 hat sich ordnungen der sog. Stabilitäts- und Wachs- bislang bestätigt. tumspakt erlassen, der das Frühwarnsystem des Art. 126 AEUV präzisieren und verschärfen sollte. 2002/2003 verstießen Deutschland und Maßnahmen und Reformen im Rahmen der Frankreich gegen das Defizitkriterium, was von Staatsschuldenkrise der Kommission beanstandet, vom Rat aber nicht sanktioniert wurde, was der EuGH nur teilwei- Ursachen der Staatsschuldenkrise allgemein se beanstandete. Daraufhin wurde der Stabili- und speziell in Griechenland täts- und Wachstumspakt durch eine „Reform“ Allgemeine Ursache der Finanzkrise 2008 aufgeweicht. Angesichts der Schuldenkrise er- waren Fehlentwicklungen insbesondere in den folgte Ende 2011 eine Verschärfung durch fünf USA, die durch den Zusammenbruch der Leh- Verordnungen und eine Richtlinie des Rates, dem man-Bank offensichtlich wurden. Durch ent- ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 102 9
RUDOLF STREINZ sprechende Fehlspekulationen in den USA, aber Auslösungs-Klausel) oder jedenfalls eine Verei- auch in Europa (z. B. in Island und Irland, aber telung seines Zwecks.20 auch, wie z. B. der Kauf der Hypo Alpe Adria durch die Bayerischen Landesbank zeigt, in Ös- Der sog. Euro-„Rettungsschirm“ – EFSF terreich) gerieten europäische und auch deutsche Um auf solche Krisen wie der griechischen Banken in eine Schieflage. Wegen der behaup- besser vorbereitet zu sein und angesichts sich teten und in gewisser Hinsicht (insbesondere abzeichnender Finanzierungsprobleme in Irland, Gefährdung von Pensionsfonds) tatsächlichen Portugal und Spanien wurde durch die auf „Systemrelevanz“ großer Banken entschlossen Art. 122 Abs. 2 S. 1 AEUV gestützte Verord- sich die Staaten zu Rettungsmaßnahmen, die in nung Nr. 407/2010 des Rates zur Einführung unterschiedlichem Ausmaß die jeweiligen Staats- eines europäischen Finanzstabilisierungsme- haushalte belasteten. Diese allgemeine Ursache chanismus (EFSM)21 ein sog. „Euro-Rettungs- machte zugleich eine spezielle Fehlentwicklung schirm“ geschaffen, der zunächst bis 30. Juni innerhalb des Eurosystems deutlich, nämlich die 2013 befristet war. Er sah von der Kommission Überschuldung von Euro-Staaten wegen durch gewährte Kredite der EU, eine Kreditlinie des die gemeinsame Währung eröffneter günstiger IWF sowie Kredite der Mitgliedstaaten vor, die Konditionen über deren Leistungsfähigkeit hin- mit 440 Milliarden Euro den Hauptanteil der aus. Speziell bei Griechenland kommt hinzu, insgesamt 750 Milliarden Euro tragen. Dadurch dass sein Beitritt zur Euro-Zone aufgrund fal- sollten Kredite an Mitgliedstaaten vergeben scher Daten erfolgte, die u. a. mit Unterstützung werden, die sich am Kapitalmarkt nicht mehr durch dubiose SWAP-Geschäfte der US Bank zu vertretbaren Konditionen refinanzieren kön- Goldman Sachs erstellt wurden.18 Es gab durch- nen. Die Vergabe der Kredite wurde an wirt- aus begründete Warnhinweise, die aber von schaftspolitische Bedingungen geknüpft, die zur den damals verantwortlichen Politikern ignoriert „Resolvenz“, d. h. zur Erlangung der eigenstän- wurden.19 Hinzu kommt eine jahrelange Miss- digen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der be- wirtschaft in Griechenland mit generellen Defi- treffenden Staaten, führen sollen. Zuständig für ziten in der Verwaltung, insbesondere der Steu- die Vergabe der mitgliedstaatlichen Kredite war erverwaltung, verbreiteter Steuerhinterziehung, die European Financial Stability Facility (EFSF), Korruption und Klientelwirtschaft. eine Zweckgesellschaft nach luxemburgischem Recht, die durch die (damals) 16 Euro-Staaten Erste Maßnahme: gegründet wurde. Unionsrechtlich problema- Sog. „Griechenland-Soforthilfe“ tisch ist bereits die Tragweite der Rechtsgrund- Da in der Zahlungsunfähigkeit Griechenlands lage des Art. 122 Abs. 2 S. 1 AEUV, die für aus unterschiedlichen Gründen („Ansteckungs- „Naturkatastrophen“ und ähnliche Fälle, somit gefahr“ für andere gefährdete Staaten und er- Einzelfälle, gedacht war, angesichts der beson- hebliches Ausfallrisiko für die Gläubigerban- deren Umstände aber wohl auch eine befristete ken, damals insbesondere auch in Frankreich allgemeine Rahmenregelung umfasst.22 Schließ- und Deutschland) eine Gefährdung der Euro- lich stellt sich auch hier die Frage der Umge- zone und damit der Währungsunion insgesamt hung des Zwecks der No-bail-out-Klausel des gesehen wurde, entschlossen sich die anderen Art. 125 AEUV, ferner, ob der mittelbare Er- Mitgliedstaaten der Eurozone (mit Ausnahme werb von Staatsanleihen mit mehr oder weni- der Slowakei) unter Beteiligung des Internatio- ger faktischer Ankaufgarantie den Marktfaktor nalen Währungsfonds im April 2010 zu einer ausschaltet und dadurch einer gemäß Art. 123 sog. „Griechenland-Soforthilfe“. Durch bilate- AEUV unzulässigen Staatsfinanzierung nahe- rale Vereinbarungen mit Griechenland gewähr- kommt. Gut vertretbar erscheint der Ansatz ei- ten sie „freiwillige“ Hilfen (sog. Solidaritätsme- ner teleologischen Reduktion der Bestimmungen chanismus). Darin liegt zumindest formal keine dahingehend, dass bei Gefährdung des Euro als Haftungsübernahme, die Art. 125 Abs. 1 S. 2 gemeinsamer Währung gemeinsame „Rettungs- AEUV verbietet. Kritiker sahen darin aber eine maßnahmen“ zulässig sein müssen, solange Umgehung des Verbots des No-bail-out (Nicht- diese an Bedingungen geknüpft sind, die kon- 10 ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 102
RECHTLICHE RAHMENBEDINGUNGEN DER KRISE traproduktiven Effekten wie einer Schulden- Beistand für überschuldete Eurozonen-Staaten aufnahme im Vertrauen auf die letztendliche verstetigt, so dass sich die Frage der Vereinbar- Übernahme durch Dritte (sog. „moral hazard“) keit mit der No-bail-out-Klausel des Art. 125 entgegenwirken.23 Die mit der „Rettungspolitik“ AEUV verstärkt stellte. Daher wurde (jedenfalls verbundenen politischen Probleme liegen auf zur Klarstellung)26 Art. 136 Abs. 3 AEUV ein- der Hand: unbeliebte Reformen wie Sparmaß- gefügt, was im vereinfachten Änderungsverfah- nahmen und Steuererhöhungen und die Ein- ren (Art. 48 Abs. 6 EUV) möglich war. Der schränkung der politischen Gestaltungsfreiheit.24 EuGH hat im Urteil Pringle dies und auch die Entscheidend ist, dass diese Maßnahmen effek- Vereinbarkeit des ESM-Vertrages mit dem Uni- tiv sind (die Erhöhung von Steuern hilft nichts, onsrecht im Übrigen bestätigt. Das vereinfachte wenn diese mangels funktionierender Steuer- Änderungsverfahren ist zulässig, weil es um ei- verwaltung oder wegen Rücksichtnahme auf ne Änderung des Dritten Teils des AEUV geht die jeweilige Klientel nicht eingetrieben werden, und keine neue Kompetenz der EU begründet insbesondere wenn Fälle von Steuerhinterzie- wird. Gegen die Kompetenzordnung der EU hung durch die Kooperation der „Fluchtstaa- wird nicht verstoßen, weil die Materie die in ten“ bekannt sind) und die Belastungen sozial der Kompetenz der Mitgliedstaaten verbliebene akzeptabel verteilt werden (z. B. Berücksichti- Wirtschaftspolitik betrifft und somit allein zu- gung der unterschiedlichen Belastungswirkung lässiges Handeln der Mitgliedstaaten bestätigt von Einkommens- und Mehrwertsteuer), schließ- wird. Gegen die No-bail-out-Klausel des Art. 125 lich die Verbindung von Haushaltskonsolidie- Abs. 1 AEUV werde nicht verstoßen, da die rung mit Wachstumsförderung, ohne die eine Mitgliedstaaten bei der Verschuldung der Markt- dauerhafte Stabilisierung nicht möglich ist. logik unterworfen blieben und die in Art. 136 Demokratische Legitimation und Akzeptanz ist Abs. 3 AEUV ausdrücklich angeordnete Verknüp- sowohl in den unterstützten als auch in den un- fung mit strengen Auflagen Anreiz für solide terstützenden Staaten erforderlich. Die Bilanz Haushaltspolitik sei.27 Das Stammkapital von des EFSM fällt unterschiedlich aus: Während 700 Milliarden Euro wird durch Einzahlungen Irland, Portugal und Spanien den „Rettungs- der Mitgliedstaaten (Deutschland 21,72 Mil- schirm“ wieder verlassen konnten, laufen die liarden Euro) und Bürgschaften (Deutschland Stützungsmaßnahmen für Zypern noch und ist 190,02 Milliarden Euro) aufgebracht. Gewährt hinsichtlich Griechenland, für das die EFSM- werden können Stabilitätshilfen, vorsorgliche Fi- Maßnahmen ausgelaufen sind, ein Ende nicht nanzhilfen, Finanzhilfen zur Rekapitalisierung absehbar. von Finanzinstituten eines ESM-Mitglieds und Darlehen, Primärmarkt- und Sekundärmarkt- Der Europäische Stabilitätsmechanismus Unterstützungsfazilitäten (vgl. Art. 13-18 ESM). (ESM) – Art. 136 Abs. 3 AEUV Der EFSM war zeitlich befristet. Um für Folgen des Wechsel des „Rettungsprogramms“ „Rettungsmaßnahmen“ eine dauerhafte Ein- von EFSF/EFSM zu ESM richtung zu haben, beschloss der Europäische Die Verordnung zur Einführung des EFSF Rat bereits am 16./17. Dezember 2010 die Ein- war eine Maßnahme der Union, bezog sich führung eines Europäischen Stabilitätsmecha- somit auf alle Mitgliedstaaten. Parteien des nismus (ESM). Da dafür im Unionsrecht keine ESM-Vertrags sind allein die Mitgliedstaaten der hinreichende Rechtsgrundlage gesehen wurde Eurozone. Grundlage des ESM ist ein völker- und eine so weitreichende Vertragsänderung das rechtlicher Vertrag zwischen diesen. Während ordentliche Vertragsänderungsverfahren (Art. 48 Finanzhilfen des EFSM auch aus EU-Haushalts- Abs. 2-5 EUV) erfordert hätte, das – wie der mitteln gewährt wurden, kommen die Hilfen Vertrag von Lissabon gezeigt hat – langwierig des ESM allein aus dem durch Einzahlungen und mit Unsicherheiten hinsichtlich der Ratifi- und Garantien der Vertragsparteien gebildeten kation behaftet ist, erfolgte dies durch einen Stammkapital. Voraussetzung für die Gewäh- völkerrechtlichen Vertrag zwischen den Mitglied- rung von Hilfen ist zum einen, dass dies zur staaten der Eurozone.25 Dadurch wurde der Wahrung der Finanzstabilität des Euro-Wäh- ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 102 11
RUDOLF STREINZ rungsgebiets insgesamt und seiner Mitglied- Grenzen der Übertragung von Hoheitsrechten staaten unabdingbar ist, und die Verbindung gewahrt sind (Grundrechtskontrolle, Identi- mit strengen, dem gewählten Finanzhilfeinstru- tätskontrolle) und ob sich Akte der EU im ment angemessene Auflagen (Art. 12 ESM-Ver- Rahmen des Übertragenen halten (sog. Ultra- trag). Vor allem die Frage der Gefährdung der vires-Kontrolle). Im Maastricht-Urteil hielt das Stabilität der Eurozone insgesamt, aber auch BVerfG auch die Übertragung der Währungs- die Festlegung der Aufgaben lässt erhebliche hoheit für verfassungskonform, wenn deren Beurteilungsspielräume, was sich jetzt im Fall Folgen berechenbar und die WWU als „Stabili- Griechenland gezeigt hat. tätsgemeinschaft“ konzipiert ist und eine sol- che bleibt.32 Die Urteile zum „Rettungsschirm“ Weitere Reformvorschläge betonen zum einen, dass das Budgetrecht des Auf weitere Reformvorschläge wie Euro- Bundestages durch dessen Beteiligung an den bonds, der Vereinbarung eines Staateninsol- getroffenen Maßnahmen gewahrt bleiben muss, venzrechts bzw. Staatenresolvenzrechts sowie zum anderen aber auch die Verantwortung der Collective Action Clauses kann hier nur hin- politischen Entscheidungsträger mit entspre- gewiesen werden.28 chendem Entscheidungsspielraum.33 DIE LÖSUNG DER „GRIECHENLANDKRISE“ VERFASSUNGSRECHTLICHE RAHMEN- Nach dem Regierungswechsel in Griechen- BEDINGUNGEN, PROBLEME UND GRENZEN land, dem Wahlsieg von SYRIZA und dem IN DEUTSCHLAND wechselhaften und kaum berechenbaren Ver- halten der Regierung Tsipras und seines dama- Ansatz verfassungsgerichtlicher Überprüfung ligen Finanzministers Varoufakis, letztlich nach Seit dem Maastricht-Urteil des Bundesverfas- der Ablehnung des noch im Rahmen des dann sungsgerichts (BVerfG) können Zustimmungs- auslaufenden EFSF beschlossenen Programms gesetze zu Verträgen, die Hoheitsrechte auf die durch die griechische Regierung, stellte sich die Europäische Union übertragen, von jedermann Frage, ob die „Rettungspolitik“ (eventuell modi- durch Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 fiziert) fortgesetzt werden oder ob Griechenland Nr. 4 a GG) mit der Begründung angefochten (vorübergehend) aus der Eurozone ausscheiden werden, dass dadurch dem Bundestag nicht soll – ein Gedanke, der nicht nur vom deut- mehr hinreichend eigene Befugnisse verbleiben schen Finanzminister Schäuble, sondern auch und so das Wahlrecht des Einzelnen (Art. 38 von Teilen der griechischen Politik erwogen GG) entwertet wird.29 Im Lissabon-Urteil be- wurde. Alternativen aufzuzeigen und Vorteile gründete das BVerfG die Pflicht des Bundes- und Risiken abzuwägen sollte in der Politik tages, seiner Integrationsverantwortung durch selbstverständlich sein. Letztlich entschied man Wahrung seiner Rechte zu genügen.30 Die Pflicht sich für die Fortsetzung der sog. „Rettungspoli- des Bundestags zur Wahrung seiner Rechte tik“ im Rahmen des ESM. Dafür spricht zum wurde durch mehrere Urteile hinsichtlich der einen, dass für ein Ausscheiden Griechenlands Eingehung finanzieller Verpflichtungen im Rah- aus der Eurozone derzeit keine Regelung be- men des sog. „Rettungsschirms“ konkretisiert.31 steht,34 was einem einvernehmlich vereinbarten Da es dabei auch um die Rechte von Minder- Ausscheiden angesichts der beschränkten Wir- heiten geht, kommt neben der Verfassungsbe- kung rechtlicher Regeln im Bereich der WWU schwerde der Organstreit (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 aber kaum entgegenstehen dürfte, zum anderen GG) in Betracht. aber, dass die diversen Risiken und Nebenwir- kungen eines solchen Ausscheidens höher be- Prüfungsmaßstäbe und wertet wurden. Es kommt nach den Wahlen in Prüfungsintensität des BVerfG Griechenland, aus denen nach Abspaltung des Prüfungsmaßstab des BVerfG ist, ob die 1992 ganz linken Flügels, der den Einzug ins Parla- in Art. 23 GG auf der Basis der bis dahin ergan- ment verfehlte, erneut SYRIZA als Sieger her- genen Rechtsprechung des BVerfG genannten vorging, darauf an, im Rahmen des ESM, der in 12 ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 102
RECHTLICHE RAHMENBEDINGUNGEN DER KRISE 14 Art. 12 ESM-Vertrag Solidarität der Unterstützer Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steue- deutlich an Solidität des Unterstützten knüpft, rung in der Wirtschafts- und Währungsunion vom 2.3.2012. eine sinnvolle und dauerhaft tragbare Lösung 15 Lorz, Alexander / Sauer, Heiko: Ersatzunionsrecht zu finden. und Grundgesetz. Verfassungsrechtliche Zustim- mungsfragen für den Fiskalpakt, den ESM-Vertrag || PROF. DR. RUDOLF STREINZ und die Änderung des AEUV, in: Die Öffentliche Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Europarecht, Verwaltung (DÖV) 2012, S. 573-582 (575). 16 Ludwig-Maximilians-Universität München Lenaerts, Koen: Europas Wirtschaftsverfassung und die Finanzkrise: Eine neue konstitutionelle Gewich- tung?, in: Deutsches Verwaltungsblatt (DVBl.) 2014, S. 1417-1422 (1417): „semi-intergouvernmentalism“. 17 ANMERKUNGEN Calliess, Christian / Schoenfleisch, Christopher: 1 Auf dem Weg in die europäische „Fiskalunion“? – Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Europa- und verfassungsrechtliche Fragen einer Parlaments und des Rates zur Festlegung der Krite- Reform der Wirtschafts- und Währungsunion im rien und Verfahren zur Bestimmung des Mitglied- Kontext des Fiskalvertrages, in: JuristenZeitung (JZ) staats, der für die Prüfung des von einem Drittstaats- 2012, S. 477-487 (485). angehörigen oder Staatenlosen in einem Mitglied- 18 staat gestellten Antrags auf internationalen Schutz Dadurch wurde die gemeldete Schuldenlast um ca. zuständig ist (Dublin III-VO) vom 26.6.2013, Amts- 2 % gedrückt, vgl. dazu Wirtschaftswoche 30/2015, blatt der EU (ABl.) 2013 L 180/31. S. 78; vgl. Häde: EUV/AEUV-Kommentar, Art. 140 2 AEUV, Rn. 41. Nr. 1 des Protokolls (Nr. 15) zum Vertrag von 19 Maastricht, ABl. 1992 C 191/87 (zum Vertrag von Vgl. zu den Bedenken im Konvergenzbericht 2000 Lissabon ABl. 2012 C 326/284). der EZB Häde: EUV/AEUV-Kommentar, Art. 140 3 AEUV, Rn. 40. Nr. 1 des Protokolls (Nr. 16) zum Vertrag von 20 Maastricht, ABl. 1992 C 191/89 (zum Vertrag von Vgl. Hentschelmann, Kai: Finanzhilfen im Lichte Lissabon ABl. 2012 C 326/287). Nach einem nega- der No Bailout-Klausel – Eigenverantwortung und tiven Referendum vom September 2000 behält Dä- Solidarität in der Währungsunion, in: Europarecht nemark diesen Status bei. Vgl. dazu Häde, Ulrich: (EuR) 2011, S. 282-312 (289-301); Kempen, Bern- EUV/AEUV-Kommentar, Art. 139 AEUV, Rn. 14, hard, in: EUV/AEUV-Kommentar, hrsg. von Rudolf hrsg. von Christian Calliess und Matthias Ruffert, Streinz, München, 2. Aufl., 2012, Art. 125 AEUV, München, 4. Aufl., 2011. Rn. 4-6. Vgl. zu den kontroversen Ansichten Net- 4 tesheim, Martin: „Euro-Rettung“ und Grundgesetz. Ebd., Art. 140 AEUV, Rn. 31. Verfassungsrechtliche Vorgaben für den Umbau der 5 Ebd., Art. 139 AEUV, Rn. 22. Währungsunion, in: EuR 6/2011, S. 765-783 (765- 6 Ebd., Art. 130 AEUV, Rn. 20. 766). 7 21 Vgl. Siekmann, Helmut: Grundgesetz-Kommentar, ABl. 2010 L 118/1, berichtigt ABl. 2012 L 188/19. hrsg. von Michael Sachs, München, 7. Aufl., 2014, 22 Smulders, Bernardus / Keppenne, Jean-Paul: Art. 122 Art. 88, Rn. 4 f. AEUV, Rn. 25, in: Europäisches Unionsrecht. Kom- 8 Art. 140 Abs. 1 UAbs. 2 S. 1 AEUV; Protokoll über mentar, hrsg. von Hans von der Groeben, Jürgen die Konvergenzkriterien zum Vertrag von Maastricht Schwarze und Armin Hatje, Baden-Baden, 7. Aufl., (ABl. 1992 C 191/85), jetzt Protokoll (Nr. 13) zum 2015. Vertrag von Lissabon (ABl. 2012 C 326/281). 23 Vgl. Streinz: Europarecht, Rn. 1041. 9 Protokoll über das Verfahren bei einem übermäßi- 24 Vgl. dazu die von der Legitimation zweifelhafte, in- gen Defizit zum Vertrag von Maastricht (ABl. 1992 haltlich zumindest teilweise durchaus bedenkenswerte C 191/84), jetzt Protokoll (Nr. 12) zum Vertrag von Kritik in Resolution 1884 (2012) der Parlamentari- Lissabon (ABl. 2012 C 326/279). schen Versammlung des Europarats, wiedergegeben 10 Art. 140 Abs. 1 UAbs. 2 S. 2 AEUV. bei Herdegen: Europarecht, S. 407 f. 11 25 Für Verstoß des Aufnahmebeschlusses des Rates Vertrag zur Einrichtung des Europäischen Stabili- gegen das Unionsrecht z. B. Häde: EUV/AEUV- tätsmechanismus vom 2.2.2012, Bundesgesetzblatt Kommentar, Art. 140 AEUV, Rn. 39 m. w. N. auch (BGBl.) 2012 II S. 983. zur Gegenmeinung. 26 Strittig ist, ob Art. 136 Abs. 3 EUV konstitutiv, 12 Vgl. Streinz, Rudolf: Europarecht, Heidelberg, d. h. die Rechtslage ändernd (so offenbar das BVerfG) 10. Aufl., 2016, Rn. 1122 ff. m. w. N. oder rein deklaratorisch (so der EuGH) ist. 13 27 Vgl. Herdegen, Matthias: Europarecht, München, EuGH, Rs. C-370/12, Pringle, ECLI:EU:C:2012:756, 17. Aufl., 2015, § 23, Rn. 19 ff. Rn. 70, 71 ff., 135 f. ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 102 13
RUDOLF STREINZ 28 Vgl. dazu Streinz: Europarecht, Rn 1142 m. w. N. 29 BVerfGE 89, 155 (Leitsätze 4 und 5). 30 BVerfGE 123, 267 (Leitsatz 2). 31 Grundlegend BVerfGE 129, 124 (Leitsatz 2 b). Vgl. dazu Streinz, Rudolf: Was bleibt vom Budgetrecht des Bundestages in der „Fiskalunion“? Anmerkun- gen zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsge- richts, in: Freiheit, Gleichheit, Eigentum – Öffentli- che Finanzen und Abgaben, Festschrift für Rudolf Wendt, hrsg. von Heike Jochum, Michael Elicker, Steffen Lampert und Roberto Bertone, Berlin 2015, S. 677-692 (681-688). 32 BVerfGE 89, S. 155 (199 ff.). 33 Vgl. dazu Streinz: Budgetrecht, S. 689-690 m. w. N. 34 Vgl. dazu Anne Schilmöller / Ralf Tutsch: Art. 140 AEUV, Rn. 34, in: Europäisches Unionsrecht. Kom- mentar, hrsg. von Hans von der Groeben, Jürgen Schwarze und Armin Hatje, Baden-Baden, 7. Aufl., 2015. 14 ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 102
UNSCHLÜSSIGE AUSTRITTSSZENARIEN AUS DER EU UND DEREN KONSEQUENZEN Austritt aus der EU, Austritt aus der Euro-Zone, Ausschluss? WALDEMAR HUMMER || Die gegenwärtig so intensiv diskutierten Szenarien eines Brexit und eines Grexit bzw. auch eines „Grexit auf Zeit“ werfen eine Fülle komplexer rechtsdogmatischer Probleme auf, die durch die primärrechtlichen Vorgaben in der Austrittsbestimmung des Art. 50 EUV nicht abschließend geklärt werden. Dieser Artikel sieht zwar zwei mögliche Formen für einen Austritt ei- nes Mitgliedstaates aus der EU vor, trifft aber vor allem keine Vorkehrungen für einen isolierten Austritt aus der Währungsunion, wie dies aber gerade im Falle eines Grexit angedacht wird. Auch regelt er nicht die Probleme eines Euro-Krisenstaates, der permanent Obstruktion betreibt und demgemäß ausgeschlossen werden sollte. EINFÜHRUNG und zur Vermeidung von Abstimmungsblocka- Bis zu den Beratungen im Schoß des „Kon- den – wie z. B. das Instrument der „verstärkten vents über eine Verfassung für Europa“ (2002- Zusammenarbeit“6 – abgeschwächt, aber nie 2003) war die Zielsetzung der Gründungsväter grundsätzlich in Frage gestellt. Man vertraute der Europäischen Gemeinschaften bzw. der Eu- sich einem irreversiblen Prozess fortschreiten- ropäischen Union im Sinne der „step-by-step“- der Integration an und dachte einfach nicht Methode Jean Monnets ausschließlich auf die daran, diesen u. U. auch einmal wieder verlas- „Schaffung einer immer engeren Union der sen zu müssen. Vor allem wollte man aber Völker Europas“1 hin ausgerichtet. Dement- auch deswegen kein Ausstiegsszenario vorse- sprechend galten die Gründungsverträge auch hen, um damit keine „self-fulfilling-prophecy“ auf unbestimmte Zeit2 und sahen kein wie im- zu provozieren7 bzw. eine Signalwirkung aus- mer geartetes Austrittsrecht vor. Erstmals ver- zuüben. ankerten die „Herren der Verträge“ in Art. I-60 Mit der Einführung der Möglichkeit eines des Verfassungsvertrages (2004)3 aber eine Aus- Austritts aus der EU in Art. 50 EUV – der AEUV trittsklausel, die nach dem Scheitern des Ver- enthält keine diesbezügliche Bestimmung – nahm fassungsvertrages Mitte 2005 mit geringfügigen der Vertrag von Lissabon diesbezüglich aber Änderungen in den Vertrag von Lissabon (2007)4 einen veritablen Paradigmenwechsel vor und übernommen wurde. ließ erstmals ausdrücklich ein desintegratives Bis zum Inkrafttreten des Vertrags von Lis- Element zu, das in der einschlägigen Literatur sabon am 1. Dezember 2009 wurde die integra- sehr anschaulich wie folgt beschrieben wurde: tive Vorgabe der Herbeiführung „einer immer „EU membership is thus no longer a marriage engeren Union“ zwar durch „Opt-out“-Proto- for life, but rather a Lebensabschnittspartner- kolle für eine Reihe von Mitgliedstaaten5 sowie schaft.“8 Indirekt ist damit aber auch die Frage einige vertraglich vorgesehene Elemente zur verneint, ob die EU nicht schon unter Umstän- elastischeren Erreichung der Organisationsziele den den „point of no return“ erreicht hat. ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 102 15
WALDEMAR HUMMER Damit stellt sich aber sofort die Frage, ob die Da auf diese beiden einschlägigen Szenarien EU mit dieser Austrittsoption überhaupt noch eines Grexit bzw. Brexit in anderen Beiträgen dasselbe Gebilde ist, das sie früher einmal war, dieses Sammelbandes schwerpunktmäßig ein- oder ob sie nicht vielmehr zu einer Institution gegangen wird, kann an dieser Stelle grundle- des Übergangs geworden ist, aus der man be- gend darauf verwiesen werden. Die nachfolgen- liebig austreten und dann unter Umständen den Ausführungen beschränken sich daher auf wieder eintreten kann. Im Falle eines Grexit aus die Darstellung aller möglichen Austrittsszena- der EU wurde ein solcher Austritt mit einem rien aus der EU selbst bzw. aus der Euro-Zone unter Umständen später erfolgenden Neubei- sowie der Währungsunion und deren rechtliche tritt bereits konkret angedacht und modellhaft Zulässigkeit sowie realpolitische Machbarkeit, durchgespielt. wobei bei den zitierten Autoren die Grenze zwi- Vor allem durch seine spezielle Ausgestal- schen rechtsdogmatischen Aussagen „de lege tung in Form von zwei diametral entgegenge- lata“ und solchen „de lege ferenda“ nicht immer setzten Alternativen zur Bewerkstelligung eines eindeutig ersichtlich ist. Austritts sowie der Nichtunterscheidung der Austrittswerber in Mitgliedstaaten, die dem „Euro-Raum“ angehören, und solchen, für die DIE BEIDEN AUSTRITTSOPTIONEN AUS DER dies nicht zutrifft, wirft Art. 50 EUV eine Fülle EUROPÄISCHEN UNION offener Fragen auf, die noch nicht eindeutig ge- Art. 50 EUV10 sieht die Möglichkeit eines löst sind. Austritts aus der EU unter zwei Szenarien vor, Dazu kommt in der gegenwärtigen einschlä- nämlich einerseits konsensual durch Vertrag mit gigen Diskussion die undifferenzierte Wortwahl der EU sowie andererseits durch einseitige Aus- eines Austritts („Exit“) Griechenlands („Grexit“), trittserklärung und Verstreichen einer entspre- bei der es sich begrifflich zum einen um den chenden Fallfrist. bloßen Austritt aus der Euro-Zone, zum ande- Jeder Mitgliedstaat kann im Einklang mit ren aber auch um einen Austritt aus der EU seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften be- selbst handeln kann, der dann an sich auch das schließen, aus der Union auszutreten. Ein aus- Verlassen der Euro-Zone implizieren würde. trittswilliger Mitgliedstaat hat diese Absicht dem Auch im Falle des neuerdings kolportierten Europäischen Rat mitzuteilen, der daraufhin „Grexit auf Zeit“ besteht diese semantische Un- entsprechende (verbindliche) Leitlinien zu er- schärfe, wird aber dadurch noch verschärft, dass stellen hat, auf deren Grundlage die Union in (zu Unrecht) angenommen wird, dass Grie- der Folge ein Abkommen über die Einzelheiten chenland nach seinem Austritt aus der Euro- des Austritts mit diesem schließt, „wobei der Zone dieser wieder beitreten kann. Rahmen für die künftigen Beziehungen dieses Diese Unschärfe fällt allerdings bei dem wei- Staates zur EU berücksichtigt wird“. Das Ab- teren Szenario eines Brexit – einem Kunstwort kommen wird nach Art. 218 Abs. 3 AEUV von aus „Britain“ und „Exit“ – begrifflich weg, da der Kommission ausgehandelt und danach vom Großbritannien ja die gemeinsame Währung Rat im Namen der EU mit qualifizierter Mehr- Euro nicht übernommen hat, sodass sich der heit und nach Zustimmung des Europäischen Brexit nur auf das Ausscheiden aus der EU be- Parlaments abgeschlossen (Art. 50 Abs. 2 EUV). ziehen kann. Andererseits ist die Abkürzung Ab dem Tag des Inkrafttretens des Austrittsab- „Brexit“ aber insofern irreführend, als dass nicht kommens finden die Verträge auf den betroffe- Großbritannien (Great Britain Exit = „Brexit“), nen Staat keine Anwendung mehr. sondern das Vereinigte Königreich (United King- Derselbe Effekt stellt sich aber auch dann dom, UK) – zu dem neben England, Schottland ein, wenn nach der Mitteilung des Austritts- und Wales auch Nordirland gehört und das wunsches an den Europäischen Rat – ohne dass gem. Art. 52 Abs. 1 EUV als „Vereinigtes Kö- es in der Folge zum Abschluss eines Austritts- nigreich Großbritannien und Nordirland“ auch abkommens gekommen ist – eine Frist von zwei Vertragspartner der Gründungsverträge der EU Jahren verstrichen ist (sog. „sunset clause“), es ist – aus der EU austreten würde.9 sei denn, der Europäische Rat beschließt im 16 ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 102
UNSCHLÜSSIGE AUSTRITTSSZENARIEN AUS DER EU UND DEREN KONSEQUENZEN Einvernehmen mit dem betroffenen Mitglied- OFFENE FRAGEN DER BEIDEN staat einstimmig, diese Frist zu verlängern AUSTRITTSOPTIONEN (Art. 50 Abs. 3 EUV). Der Austritt muss nicht Mit den beiden Optionen wollte man neben begründet werden. dem konsentierten und vertraglich geregelten Für die Zwecke der Absätze 2 und 3 nimmt Austrittsszenario auch eine einseitige Loslösung das Mitglied des Europäischen Rates und des eines Mitgliedstaates ermöglichen, regelte beide Rates, das den austretenden Mitgliedstaat ver- Szenarien aber nur idealtypisch und sehr kur- tritt, weder an den diesen Mitgliedstaat betref- sorisch, sodass sich in concreto eine Reihe von fenden Beratungen noch an der entsprechen- offenen Fragen stellt. In der Literatur wird dies- den Beschlussfassung des Europäischen Rates bezüglich sogar davon gesprochen, dass die Aus- oder des Rates teil. Die qualifizierte Mehrheit trittsklausel „is one of the major faults of the bestimmt sich dabei nach Art. 238 Abs. 3 lit. b Constitution“ (and, by extension, also of the AEUV (Art. 50 Abs. 4 EUV). Lisbon Treaty).12 Ein Staat, der aus der Union ausgetreten ist Zum einen ist dabei wohl nur an den Aus- und erneut Mitglied der EU werden möchte, tritt eines oder einiger weniger Mitgliedstaaten muss dies formell nach dem offiziellen Beitritts- gedacht, für den Fall eines massenhaften Aus- verfahren gem. Art. 49 EUV beantragen (Art. 50 tritts aus der EU – der aber durchaus möglich Abs. 5 EUV) und genießt diesbezüglich keine und zulässig wäre – sind die Bestimmungen Sonderbehandlung. nicht geeignet, da gem. Art. 50 Abs. 4 EUV alle Konsequenterweise ist das Austrittsabkom- austrittswilligen Mitgliedstaaten sowohl im Eu- men gem. Art. 50 Abs. 2 EUV nicht als „con- ropäischen Rat als auch im Rat nicht mitwirken trarius actus“ zum Beitritt eines Mitgliedstaates dürfen und damit nach dem „first-come-first- zur EU gem. Art. 49 Abs. 2 EUV in dem Sinn served“-Prinzip mit keinem der austretenden ausgestaltet, als dass die aufnehmenden Mit- Mitgliedstaaten entsprechend zu verhandeln gliedstaaten den austrittswilligen Mitgliedstaat begonnen werden könnte.13 wieder „entlassen“, sondern der Austrittsver- Zum anderen wird auch keine Unterschei- trag wird von der EU selbst abgeschlossen. Der dung hinsichtlich der ausscheidenswilligen Mit- Grund dafür liegt vor allem darin, dass im Aus- gliedstaaten getroffen, ob sie nämlich der Euro- trittsvertrag ja die Rechte aus der Mitglied- Zone angehören oder nicht. Obwohl ein Austritt schaft in der EU reszindiert und die Konse- aus der EU automatisch auch zu einem Verlas- quenzen des Ausscheidens aus dieser geregelt sen der Währungsunion und zu einem Aus- werden müssen, was ja nur durch das eigene scheiden aus der Euro-Zone führen würde, kann Rechtssubjekt der EU – und nicht durch die ein ausscheidender Mitgliedstaat nicht daran ge- Summe ihrer Mitgliedstaaten – bilateral erfolgen hindert werden, den Euro einfach „mitzuneh- kann. men“ und ihn im Sinne einer „Euroisierung“ Interessanterweise ist für den Austrittsver- als Landeswährung beizubehalten.14 trag – im Gegensatz zum Beitrittsvertrag gem. Viel schwerwiegender ist in diesem Zusam- Art. 49 Abs. 2 EUV, aber auch zur formalen menhang aber das Schweigen des Art. 50 EUV Vertragsrevision gem. Art. 48 EUV – weder darüber, ob es nicht auch ein eigenes Recht auf Einstimmigkeit im Rat noch eine nachträgliche Austritt aus der Euro-Zone und der Währungs- Ratifikation des Abkommens durch die Mit- union gibt, das unabhängig von einem generel- gliedstaaten erforderlich, was damit u. a. be- len Austrittsrecht aus der EU besteht. Parallel gründet wird, dass man für den austrittswilligen dazu wäre zu prüfen, ob nicht aufgrund der Staat nicht allzu große Hürden errichten woll- „Unwiderruflichkeit“ der verpflichtenden Über- te.11 Würde nämlich gegebenenfalls ein einziger nahme des Euro für einen einseitig ausschei- Mitgliedstaat den Austrittsvertrag nicht ratifi- denswilligen Mitgliedstaat der Euro-Zone die zieren, wäre damit ein vertraglicher Austritt ja Verpflichtung besteht, zunächst seinen Ausstieg unmöglich. aus dieser zu verhandeln und erst dann seinen Austritt aus der EU anzukündigen und die Fall- frist abzuwarten. ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 102 17
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