102 BREXIT UND GREXIT - Argumente und Materialien zum Zeitgeschehen - Hanns-Seidel-Stiftung

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Kea-Sophie Stieber (Hrsg.)

BREXIT UND GREXIT
Voraussetzungen eines Austritts

102              Argumente und Materialien
                 zum Zeitgeschehen

   www.hss.de
Kea-Sophie Stieber (Hrsg.)

BREXIT UND GREXIT
Voraussetzungen eines Austritts
Impressum

ISBN                             978-3-88795-499-4
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Politik und Zeitgeschehen
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Redaktion                        Prof. Dr. Reinhard Meier-Walser (Chefredakteur, V.i.S.d.P.)
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                                 Marion Steib (Redaktionsassistentin)
Druck                            Hanns-Seidel-Stiftung e.V., Hausdruckerei, München

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INHALT

 5   EINFÜHRUNG
     Kea-Sophie Stieber

 7   RECHTLICHE RAHMENBEDINGUNGEN DER KRISE
     Rudolf Streinz

15   UNSCHLÜSSIGE AUSTRITTSSZENARIEN AUS DER EU UND
     DEREN KONSEQUENZEN
     Austritt aus der EU, Austritt aus der Euro-Zone, Ausschluss?
     Waldemar Hummer

27   GLAUBWÜRDIGKEIT DER AKTEURE UND LANGFRISTIGE
     STABILISIERUNG DER EU UND WWU
     Wim Kösters

33   IST DER GREXIT EIN WEGWEISER FÜR AUSTRITTSSZENARIEN?
     Jens Bastian

43   DIE NOTWENDIGKEIT EINER STAATSINSOLVENZORDNUNG
     Hubert Mayer

53   GREXIT, BREXIT – QUO VADIS EUROPA?
     Christian M. Stiefmüller

           ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 102          3
EINFÜHRUNG
KEA-SOPHIE STIEBER || Es ist ruhiger geworden um Griechenland. Ob dies an den neuen Heraus-
forderungen liegt, die die Europäische Union (EU) dieser Tage zu meistern hat, oder daran, dass die
größte Gefahr erst einmal gebannt scheint? Brüssel hat sich – zumindest für den Moment – gegen
einen Austritt Griechenlands aus der Europäischen Union beziehungsweise der Währungsunion
entschieden. Jedoch auch Großbritannien und die allgemeinen Entwicklungen in der EU geben An-
lass, sich einmal mehr mit der Thematik um Austrittsszenarien zu beschäftigen. Dies aber, ohne den
Integrationsprozess Europas in Frage zu stellen oder gar dessen Scheitern prognostizieren zu wollen.

    Es ist ein Thema, das einer multiperspekti-       Europäischen Zentralbank (EZB) eingeführt,
vischen Beleuchtung bedarf. Eine Kooperation          ohne eine europäische Finanz- oder Wirtschafts-
zwischen Juristen, Ökonomen und Politologen           regierung zu etablieren. Das Prinzip der staat-
eröffnet die Chance, eine differenzierte und          lichen Eigenverantwortlichkeit, auch für die
problemorientierte Betrachtung und Bewertung          finanzielle Situation, wird gemäß Art. 123 ff.
der Sachlage darzulegen. Nicht nur wirtschaft-        AEUV (Vertrag über die Arbeitsweise der Euro-
lich ist der Austritt eines Mitgliedstaates, sei es   päischen Union) ausdrücklich zu Grunde gelegt.
aus der EU oder lediglich der Wirtschafts- und            Begünstigt durch die internationale Finanz-
Währungsunion (WWU), ein schwer kalkulier-            krise, begann 2009 die Eurokrise in Europa, aus-
bares Risiko. Auch europapolitisch und -rechtlich     gelöst durch die hohe Verschuldung einzelner
steht die EU in einem solchen Fall vor enorm          Staaten. Zahlreiche Länder hatten kontinuier-
diffizilen Entscheidungen. In den Verträgen ist       lich gegen die Konvergenzkriterien des mit der
der Euro als unwiderruflich (Art. 140 EUV) an-        Einführung des Euro festgelegten Stabilitätspakts
gelegt. Einmal beigetreten, dürfen EU-Mitglied-       verstoßen, Deutschland nicht ausgenommen.
staaten die Eurozone nicht mehr verlassen.            Geahndet hat dies die Europäische Kommis-
    Ein erster Anlauf zu einer gemeinsamen            sion kaum. Während es den meisten krisenbe-
Wirtschafts- und Währungsunion wurde bereits          hafteten Ländern wie Irland, Spanien oder auch
in den 1970er-Jahren von Helmut Schmidt und           Portugal gelang, mittels konsequenter Sparpro-
Valéry Giscard d’Estaing unternommen. Tat-            gramme und der Hilfe des Europäischen Stabili-
sächlichen Aufwind erhielt das Projekt jedoch         tätsmechanismus (ESM) ihre Defizite zu senken,
erst mit dem Fall der Mauer. Kritische Stimmen        verebbte die Krise um Griechenland nicht.
mahnten bereits damals an, eine Gemeinschafts-            Hieraus entstand eine Debatte, der sich eine
währung erst dann einzuführen, wenn die EU-           interdisziplinäre Expertenrunde der Hanns-Sei-
Staaten sich ausreichend wirtschaftlich ange-         del-Stiftung annahm. Welche Möglichkeiten ei-
glichen hätten. Bedenken von fachlicher Seite         nes Austritts aus der Europäischen Union und /
wurden jedoch beiseite geschoben. Es war ein          oder Währungsunion bestehen und wie kann
politisches Projekt. Der Euro sollte als Instru-      ein solcher verhindert werden? Die Autoren
ment der Balance in Europa eingesetzt werden.         dieses Bandes betrachten diese Fragen aus ver-
    Die gemeinsame Währung wurde schließ-             schiedenen Blickwinkeln und zeigen Ursachen
lich zum 1. Januar 1999 unter der Aufsicht der        sowie Ausblicke auf.

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KEA-SOPHIE STIEBER

     Die Grundlagen einer Rechtsgemeinschaft,        auch der WWU findet ebenfalls keine rechtliche
wie sie die Europäische Union zu sein bean-          Grundlage.
sprucht, sind die rechtlichen Rahmenbedingun-            Nicht nur aufgrund der Situation Griechen-
gen. Eines der großen Probleme aktueller Krisen      lands, durch diese jedoch erneut in den Fokus
jedoch ist der Trend zur Aussetzung rechtlicher      gerückt, werden die Forderungen nach Regelun-
Vorgaben, wenn es der politischen Strategie zu-      gen für eine geordnete Staatsinsolvenz wieder
träglich ist. Unmittelbar daran knüpft sich eine     lauter. Die Schwierigkeit liegt darin, dass eine
allgemeine Verunsicherung, nach welchen Re-          solche Insolvenzordnung weltweite Geltungs-
geln die Entscheidungsträger agieren. Was wie-       anwendung finden müsste, da von der Insol-
derum einen damit einhergehenden Vertrauens-         venz eines Staates Interessen verschiedenster
verlust auslöst. Ohne Vertrauen und der Über-        Banken und anderer Länder tangiert sind, die
zeugung von dem Projekt Europa verliert dieses       sich nicht auf eine bestimmte Region beschrän-
den Rückhalt in der Bevölkerung.                     ken lassen.
     Die zuvor angesprochene Nichtahndung von            Unabhängig vom Zustandekommen einer
Verstößen gegen Konvergenzkriterien ist ein          internationalen Staateninsolvenzordnung obliegt
gutes Beispiel hierfür. Insbesondere auch die        es der Europäischen Union in ihrer Einheit und
Einführung des ESM erachten viele Kritiker als       Eigenheit, Regelungen zu schaffen, die Klarheit
Verstoß gegen die „No-Bail-out“-Klausel des          und Voraussehbarkeit hinsichtlich einer Staats-
Art. 125 AEUV. Sieht man diese als Absiche-          insolvenz bringen.
rung der Vorgaben (wie beispielsweise der Kon-           Die Auswirkungen eines Austritts oder einer
vergenzkriterien), nach denen es von vorne-          Insolvenz auf das wirtschaftliche und politische
herein gar nicht zu einem Szenario wie dem in        Geschehen in der Europäischen Union sind auch
Griechenland hätte kommen können, legt dies          mit einem umfassenden Regelungswerk nicht
eine strikte Anwendung des Art. 125 AEUV             abschließend voraus- und absehbar. Jedoch
ohne Einschränkungen nahe. Dem stimmt der            lassen sich solche Prozesse auch nicht einfach
Europäische Gerichtshof (EuGH) grundsätzlich         verhindern, indem man sich ihnen verschließt.
zu, allerdings hält er die „Anwendung des ESM        Die Basis aller Regelungen ist das Vertrauen in
dann mit Art. 125 AEUV vereinbar, wenn sie für       der Bevölkerung, welches nur zurückgewonnen
die Wahrung des gesamten Euro-Währungs-              werden kann, wenn Regelungen bestehen, an
gebietes unabdingbar ist und strengen Auflagen       die sich auch die Politik hält. Auch Angst vor
unterliegt“.                                         Unbekanntem kann durch einen rechtlichen
     Regeln und Vorgaben für ein Austrittsproze-     Leitfaden gemindert werden. Die nachfolgenden
dere finden sich in den europäischen Vertrags-       Artikel bieten hierzu entsprechende Bausteine.
werken nur sehr zurückhaltend. Dies ist darauf
zurückzuführen, dass ein desintegrativer Prozess     ||   KEA-SOPHIE STIEBER
nicht vorgesehen, vor allem aber nicht gewollt            Referentin für Europäische Integration, Europa-
ist. Die Europäische Union ist einzig auf weiteres        und Völkerrecht, Bürgerrechte und Verfassungs-
Zusammenwachsen ausgelegt und sieht in den                staat der Akademie für Politik und Zeitgeschehen,
                                                          Hanns-Seidel-Stiftung, München
Verträgen lediglich zwei Austrittsoptionen vor:
im Konsens mit den anderen Mitgliedstaaten
durch Vertrag oder durch einseitige Austrittser-
klärung und Verstreichen einer entsprechenden
Frist (Art. 50 AEUV). Ein Austritt Großbritan-
niens aufgrund des von Premierminister David
Cameron angestrebten Referendums wäre durch
Art. 50 AEUV gedeckt. Ein isolierter Austritt aus
der Währungsunion, dauerhaft oder temporär,
wie es zuletzt im Falle Griechenlands thema-
tisiert wurde, ist juristisch nicht geregelt. Der
erzwungene Ausschluss sowohl aus der EU als

6    ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 102
RECHTLICHE RAHMENBEDINGUNGEN DER KRISE
RUDOLF STREINZ || Der ambivalente Zusammenhang zwischen Recht und Politik und die begrenzte
Leistungsfähigkeit des Rechts zeigen sich leider gerade in mehreren Bereichen der Europäischen
Union (EU), die eine Rechtsgemeinschaft sein soll und, will sie dauerhaft bestehen, auch sein
muss. Einer dieser Bereiche ist die Wirtschafts- und Währungsunion (WWU), die insoweit in jüngster
Zeit durch die faktische Aussetzung der europäischen Regeln über das Asylrecht1 mit noch nicht ab-
sehbaren Folgen übertroffen wird und in der politischen Aktualität in den Hintergrund getreten ist,
ohne dass – wie die Entwicklung in Griechenland zeigt – von einer Lösung gesprochen werden kann.

PROBLEMSTELLUNG                                     UNIONSRECHTLICHE RAHMENBEDINGUNGEN
   Wenn im Folgenden die wirtschaftlichen
Rahmenbedingungen der Krise, die letztlich eine     Europa mehrerer Geschwindigkeiten
auch durch Fehlentwicklungen der Währungs-          (differenzierte Integration)
union ausgelöste Staatsschuldenkrise insbeson-          Die WWU ist ein Beispiel für die differenzier-
dere Griechenlands ist, knapp dargestellt wer-      te Integration eines Europa mehrerer Geschwin-
den, dürfen die politischen Implikationen nicht     digkeiten. Wie die verstärkte Zusammenarbeit
außer Acht gelassen werden, will man zu einer       (VZ) durch Sekundärrecht mit mindestens
realistischen Betrachtung der in Art. 3 EUV an-     neun Mitgliedstaaten (Art. 20 EUV, Art. 326-
gestrebten Wirtschaftsverfassung der EU („in        334 AEUV) ist sie auch darauf angelegt, dass
hohem Maß wettbewerbsfähige soziale Markt-          zunächst im Kreis der dazu bereiten Staaten be-
wirtschaft“; „Solidarität zwischen den Mitglied-    gonnen wird, bei Erfüllung der Voraussetzungen
staaten“; „Wirtschafts- und Währungsunion“)         aber alle Mitgliedstaaten den Euro als gemein-
kommen. Wenn man die Trennung zwischen              same Währung haben sollen. „Bereit“ heißt hier
der für die Mitgliedstaaten, deren Währung der      aber allein, anders als bei der VZ, die anderen
Euro ist (sog. Eurozone), „vergemeinschafte-        Mitgliedstaaten nur offen stehen muss, dass die
ten“ Währungspolitik und der auch insoweit in       Aufnahmekriterien erfüllt sind bzw. dies von
der Kompetenz der Mitgliedstaaten verbliebe-        den zuständigen Organen – im Fall Griechen-
nen Wirtschaftspolitik als „Geburtsfehler“ der      land aufgrund falscher Daten unzutreffend –
WWU betrachtet und eine Vergemeinschaf-             bestätigt wird. Dann erfolgt die Aufnahme an
tung der Wirtschaftspolitik, eine europäische       sich automatisch. Dieser Ansatz wird auch da-
„Wirtschaftsregierung“ fordert, muss man sich       rin sichtbar, dass für die anderen Mitgliedstaa-
zum einen über deren Inhalt und zum anderen         ten eine „Ausnahmeregelung“ besteht (Art. 139
über deren Folgen bewusst sein, um die Chan-        AEUV), die nach Erfüllung der Konvergenzkrite-
cen politischer Realisierung richtig einzuschät-    rien „aufgehoben“ wird (Art. 140 AEUV). Aller-
zen – ganz abgesehen von den erheblichen und        dings haben sich (mit unterschiedlicher Tragwei-
grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Impli-       te) das Vereinigte Königreich2 und Dänemark3
kationen.                                           durch Protokolle mit primärrechtlicher Wirkung

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RUDOLF STREINZ

eine Befreiung von der Mitwirkung an der           hängigkeit ein grundsätzlicher Systemwechsel,
Währungsunion gesichert, während das Fern-         dessen politische Akzeptanz nach wie vor Prob-
bleiben Schwedens, politisch unterstützt durch     leme bereitet. Die Wirtschaftspolitik verbleibt
ein unionsrechtlich irrelevantes Referendum,       dagegen, auch in der Eurozone, in der Kompe-
durch die fehlende Erfüllung des Wechselkurs-      tenz der Mitgliedstaaten (Art. 120 AEUV: „ihre
kriteriums durch die mangelnde Bereitschaft,       Wirtschaftspolitik“). Diese sind zu einer „engen
am Wechselkurmechanismus teilzunehmen,             Koordinierung“ (Art. 119 Abs. 1 AEUV) ver-
herbeigeführt wird.4 Derzeit haben 19 Mitglied-    pflichtet. Während dies auch auf die Mitglied-
staaten den Euro als gemeinsame Währung,           staaten mit Ausnahmeregelung zutrifft, gelten
nämlich nach den ursprünglichen elf Mitglie-       die für die Einhaltung der für eine „Stabilitäts-
dern Belgien, Deutschland, Finnland, Frankreich,   gemeinschaft“ (Art. 119 Abs. 2 AEUV: „vor-
Irland, Italien, Luxemburg, Niederlande, Öster-    rangiges Ziel der Preisstabilität“) erforderlichen
reich, Portugal und Spanien, später Griechenland   Kriterien vorgesehenen Kontrollmöglichkeiten
(2001), Slowenien (2007), Malta und Zypern         von Kommission und Rat (vgl. Art. 121, Art. 126
(2008), Slowakei (2009), Estland (2011), Lett-     AEUV) nur für die Staaten der Eurozone (vgl.
land (2014) und Litauen (2015). Die Staaten        Art. 139 Abs. 2 lit. a und b AEUV). Deren Rea-
mit Ausnahmeregelung sind zwar in die WWU          lisierung bereitet erhebliche Probleme, was die
eingebunden, z. B. gehören ihre Zentralbanken      Frage nach den Grenzen einer „Vergemeinschaf-
dem Europäischen System der Zentralbanken          tung“ der Fiskalpolitik aufwirft.
(ESZB) an (Art. 282 Abs. 1 S. 1 AEUV) und
müssen auch deshalb – mit Ausnahme der             Eintrittsvoraussetzungen zur Währungsunion
Bank von England5 – Unabhängigkeit erhalten            Rechtliche Voraussetzung ist zunächst die
(Art. 130 AEUV).6 Sie behalten aber ihre bishe-    Anpassung des nationalen Rechts, insbesondere
rigen währungspolitischen Befugnisse nach ih-      die rechtliche Absicherung der Unabhängigkeit
rem innerstaatlichen Recht. Sie sind auch nicht    der nationalen Zentralbank (Art. 140 Abs. 1
am Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM)       UAbs. 1 S. 2 AEUV). Die materiellen Vorausset-
beteiligt und müssen sich nicht an sonstigen       zungen der Aufnahme in die Eurozone werden
Stützungsmaßnahmen beteiligen.                     mindestens alle zwei Jahre oder auf Antrag eines
                                                   ihr noch nicht angehörenden Mitgliedstaats ge-
Kompetenzverteilung                                mäß der vier materiellen „Konvergenzkriterien“
   Die Mitgliedstaaten der Eurozone haben die      (Art. 140 Abs. 1 S. 3 AEUV) geprüft, die in ei-
Währungshoheit und damit ein wesentliches          nem Protokoll „näher festgelegt“ werden.8 Das
Element staatlicher Souveränität auf die EU        Kriterium der anhaltenden Preisstabilität for-
und dort auf die Europäische Zentralbank (EZB)     dert, dass die Inflationsrate der drei besten Mit-
übertragen. Diese hat dafür die ausschließliche    gliedstaaten während des letzten Jahres vor der
Kompetenz (Art. 3 Abs. 1 lit. c bzw. Art. 282      Prüfung nicht um mehr als 1,5 % überschritten
Abs. 3 AEUV). Um insbesondere das vorran-          wurde. Zur Finanzlage der öffentlichen Hand
gige Ziel der Preisstabilität (Art. 119 Abs. 2,    darf zum Zeitpunkt der Prüfung kein Beschluss
Art. 282 Abs. 2 S. 3 AEUV) erfüllen zu können,     des Rates nach Art. 126 Abs. 6 AEUV vorlie-
besitzt die EZB primärrechtlich gesicherte Un-     gen. Dieses Kriterium ist als einziges dauerhaft
abhängigkeit, woran sich nach ihrer Einord-        relevant und wird gemäß dem Stabilitäts- und
nung als Organ der EU nichts geändert hat          Wachstumspakt, der auch Sanktionen vorsieht,
(Art. 13 Abs. 1 UAbs. 2, Abs. 3 EUV, Art. 130,     überwacht. Ein übermäßiges Defizit i. S. v.
Art. 282 Abs. 3 S. 3 AEUV). Dies entspricht der    Art. 126 Abs. 2 AEUV liegt bei Überschreitung
Stellung der Deutschen Bundesbank, deren Un-       des geplanten oder tatsächlichen öffentlichen
abhängigkeit allerdings vor der Einfügung von      Defizits von 3 % oder einem öffentlichen Ge-
Art. 88 S. 2 GG weder verfassungsrechtlich noch    samtschuldenstand von über 60 % des Brutto-
einfachgesetzlich garantiert war.7 Für andere      inlandsprodukts (BIP) zu Marktpreisen vor.9
Mitgliedstaaten war die wegen der Erfordernis-     Der Staat muss zwei Jahre vor der Prüfung am
se des ESZB gebotene Einräumung der Unab-          Wechselkursmechanismus des EWS „ohne star-

8    ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 102
RECHTLICHE RAHMENBEDINGUNGEN DER KRISE

ke Spannungen“, und ohne selbst gegenüber              sog. „Six-Pack“, das 2013 durch zwei weitere
dem Euro abgewertet zu haben, teilgenommen             Verordnungen des Europäischen Parlaments und
haben. Die Konvergenz der Zinssätze fordert,           des Rates, dem sog. „Two-Pack“ ergänzt wurde.
dass im Verlauf von einem Jahr vor der Prüfung         Das sog. „Europäische Semester“ soll der Si-
der durchschnittliche langfristige Nominalzins-        cherung einer engeren Koordinierung der Wirt-
satz um nicht mehr als 2 % über den drei Mit-          schaftspolitik und einer dauerhaften Konvergenz
gliedstaaten mit dem besten Ergebnis lag. Die          der Wirtschaftsleistung der Mitgliedstaaten durch
Prüfberichte der Kommission und der EZB be-            Vorverlagerung der haushaltspolitischen Über-
rücksichtigen als weitere Gesichtspunkte auch          wachung mittels Vorabmeldung durch die Mit-
die Ergebnisse bei der Integration der Märkte          gliedstaaten und Überprüfung der Kommission
und die Entwicklung der Leistungsbilanzen und          mit entsprechenden Stellungnahmen dienen.
der Lohnstückkosten sowie andere Preisindi-            Eine „Genehmigungspflicht“ der Haushalte der
zes.10 Die Aufnahme erfolgt durch Beschluss            Mitgliedstaaten ist damit nicht verbunden.
des Rates, wobei nur die Staaten der Eurozone          Immerhin führt dies aber zu einer verstärkten
stimmberechtigt sind, mit der entsprechenden           Überwachung der Empfänger von Hilfen aus
qualifizierten Mehrheit (Art. 140 Abs. 2 UAbs. 2       dem „Euro-Rettungsschirm“, jetzt dem ESM.12
und 3 AEUV).                                               Die Wirksamkeit des Stabilitäts- und Wachs-
    Die Kriterien sind rechtlich verbindlich, aber     tumspakts ist sehr umstritten.13 Noch mehr gilt
keine Bedingungen und lassen Beurteilungs- und         dies für den sog. Fiskalpakt (VSKS),14 der den
Entscheidungsspielräume, die sich allerdings im        Stabilitäts-und Wachstumspakt durch weitere
Rahmen der durch die Kriterien vorgegebenen            Schärfungen unterstützen soll. Dazu gehört ins-
Ziele halten müssen. Ob dies bei der Aufnahme          besondere die Verpflichtung zur Einführung sog.
Belgiens und Italiens, die das Schuldenstands-         „Schuldenbremsen“ (Art. 3 VSKS). Da dies ein
kriterium weit verfehlten, eingehalten wurde,          wegen der fehlenden Mitwirkung des Vereinig-
wird unterschiedlich beurteilt.11 Problematisch        ten Königreichs und Tschechiens zwischen den
ist, dass es sich um eine, durch entsprechende         (damals) 25 anderen Mitgliedstaaten geschlos-
punktuelle Anstrengungen gestaltbare und wie           sener völkerrechtlicher Vertrag ist, der Bereiche
der Fall Griechenland zeigt, manipulierbare            der WWU betrifft, muss er mit dem bestehen-
Momentaufnahme handelt. Zumindest die Er-              den Unionsrecht, das durch dieses „Ersatzuni-
stellung und Überprüfung der Grundlagen soll-          onsrecht“15 bzw. Ergänzungs- oder Verbin-
te daher sorgfältig gehandhabt werden, wobei           dungsrecht16 nicht geändert wird, vereinbar sein
soweit möglich auch deren Dauerhaftigkeit be-          bzw. entsprechend restriktiv ausgelegt werden
rücksichtigt werden müsste.                            (vgl. Art. 2 VSKS). Staaten, die Hilfen aus dem
                                                       ESM in Anspruch nehmen wollen, müssen den
Stabilitäts- und Wachstumspakt – Fiskalpakt            Fiskalpakt ratifiziert haben (Art. 12 VSKS), was
    Zur Sicherung der Stabilitätskriterien nach        durch alle 25 Vertragsstaaten geschehen ist.
dem Beitritt zur Eurozone wurde 1997 nach              Die Einschätzung, der Fiskalpakt habe „wohl
einer Entschließung des Rates durch zwei Ver-          eher eine symbolische Bedeutung“,17 hat sich
ordnungen der sog. Stabilitäts- und Wachs-             bislang bestätigt.
tumspakt erlassen, der das Frühwarnsystem
des Art. 126 AEUV präzisieren und verschärfen
sollte. 2002/2003 verstießen Deutschland und           Maßnahmen und Reformen im Rahmen der
Frankreich gegen das Defizitkriterium, was von         Staatsschuldenkrise
der Kommission beanstandet, vom Rat aber nicht
sanktioniert wurde, was der EuGH nur teilwei-          Ursachen der Staatsschuldenkrise allgemein
se beanstandete. Daraufhin wurde der Stabili-          und speziell in Griechenland
täts- und Wachstumspakt durch eine „Reform“               Allgemeine Ursache der Finanzkrise 2008
aufgeweicht. Angesichts der Schuldenkrise er-          waren Fehlentwicklungen insbesondere in den
folgte Ende 2011 eine Verschärfung durch fünf          USA, die durch den Zusammenbruch der Leh-
Verordnungen und eine Richtlinie des Rates, dem        man-Bank offensichtlich wurden. Durch ent-

                                 ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 102                      9
RUDOLF STREINZ

sprechende Fehlspekulationen in den USA, aber        Auslösungs-Klausel) oder jedenfalls eine Verei-
auch in Europa (z. B. in Island und Irland, aber     telung seines Zwecks.20
auch, wie z. B. der Kauf der Hypo Alpe Adria
durch die Bayerischen Landesbank zeigt, in Ös-       Der sog. Euro-„Rettungsschirm“ – EFSF
terreich) gerieten europäische und auch deutsche         Um auf solche Krisen wie der griechischen
Banken in eine Schieflage. Wegen der behaup-         besser vorbereitet zu sein und angesichts sich
teten und in gewisser Hinsicht (insbesondere         abzeichnender Finanzierungsprobleme in Irland,
Gefährdung von Pensionsfonds) tatsächlichen          Portugal und Spanien wurde durch die auf
„Systemrelevanz“ großer Banken entschlossen          Art. 122 Abs. 2 S. 1 AEUV gestützte Verord-
sich die Staaten zu Rettungsmaßnahmen, die in        nung Nr. 407/2010 des Rates zur Einführung
unterschiedlichem Ausmaß die jeweiligen Staats-      eines europäischen Finanzstabilisierungsme-
haushalte belasteten. Diese allgemeine Ursache       chanismus (EFSM)21 ein sog. „Euro-Rettungs-
machte zugleich eine spezielle Fehlentwicklung       schirm“ geschaffen, der zunächst bis 30. Juni
innerhalb des Eurosystems deutlich, nämlich die      2013 befristet war. Er sah von der Kommission
Überschuldung von Euro-Staaten wegen durch           gewährte Kredite der EU, eine Kreditlinie des
die gemeinsame Währung eröffneter günstiger          IWF sowie Kredite der Mitgliedstaaten vor, die
Konditionen über deren Leistungsfähigkeit hin-       mit 440 Milliarden Euro den Hauptanteil der
aus. Speziell bei Griechenland kommt hinzu,          insgesamt 750 Milliarden Euro tragen. Dadurch
dass sein Beitritt zur Euro-Zone aufgrund fal-       sollten Kredite an Mitgliedstaaten vergeben
scher Daten erfolgte, die u. a. mit Unterstützung    werden, die sich am Kapitalmarkt nicht mehr
durch dubiose SWAP-Geschäfte der US Bank             zu vertretbaren Konditionen refinanzieren kön-
Goldman Sachs erstellt wurden.18 Es gab durch-       nen. Die Vergabe der Kredite wurde an wirt-
aus begründete Warnhinweise, die aber von            schaftspolitische Bedingungen geknüpft, die zur
den damals verantwortlichen Politikern ignoriert     „Resolvenz“, d. h. zur Erlangung der eigenstän-
wurden.19 Hinzu kommt eine jahrelange Miss-          digen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der be-
wirtschaft in Griechenland mit generellen Defi-      treffenden Staaten, führen sollen. Zuständig für
ziten in der Verwaltung, insbesondere der Steu-      die Vergabe der mitgliedstaatlichen Kredite war
erverwaltung, verbreiteter Steuerhinterziehung,      die European Financial Stability Facility (EFSF),
Korruption und Klientelwirtschaft.                   eine Zweckgesellschaft nach luxemburgischem
                                                     Recht, die durch die (damals) 16 Euro-Staaten
Erste Maßnahme:                                      gegründet wurde. Unionsrechtlich problema-
Sog. „Griechenland-Soforthilfe“                      tisch ist bereits die Tragweite der Rechtsgrund-
    Da in der Zahlungsunfähigkeit Griechenlands      lage des Art. 122 Abs. 2 S. 1 AEUV, die für
aus unterschiedlichen Gründen („Ansteckungs-         „Naturkatastrophen“ und ähnliche Fälle, somit
gefahr“ für andere gefährdete Staaten und er-        Einzelfälle, gedacht war, angesichts der beson-
hebliches Ausfallrisiko für die Gläubigerban-        deren Umstände aber wohl auch eine befristete
ken, damals insbesondere auch in Frankreich          allgemeine Rahmenregelung umfasst.22 Schließ-
und Deutschland) eine Gefährdung der Euro-           lich stellt sich auch hier die Frage der Umge-
zone und damit der Währungsunion insgesamt           hung des Zwecks der No-bail-out-Klausel des
gesehen wurde, entschlossen sich die anderen         Art. 125 AEUV, ferner, ob der mittelbare Er-
Mitgliedstaaten der Eurozone (mit Ausnahme           werb von Staatsanleihen mit mehr oder weni-
der Slowakei) unter Beteiligung des Internatio-      ger faktischer Ankaufgarantie den Marktfaktor
nalen Währungsfonds im April 2010 zu einer           ausschaltet und dadurch einer gemäß Art. 123
sog. „Griechenland-Soforthilfe“. Durch bilate-       AEUV unzulässigen Staatsfinanzierung nahe-
rale Vereinbarungen mit Griechenland gewähr-         kommt. Gut vertretbar erscheint der Ansatz ei-
ten sie „freiwillige“ Hilfen (sog. Solidaritätsme-   ner teleologischen Reduktion der Bestimmungen
chanismus). Darin liegt zumindest formal keine       dahingehend, dass bei Gefährdung des Euro als
Haftungsübernahme, die Art. 125 Abs. 1 S. 2          gemeinsamer Währung gemeinsame „Rettungs-
AEUV verbietet. Kritiker sahen darin aber eine       maßnahmen“ zulässig sein müssen, solange
Umgehung des Verbots des No-bail-out (Nicht-         diese an Bedingungen geknüpft sind, die kon-

10     ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 102
RECHTLICHE RAHMENBEDINGUNGEN DER KRISE

traproduktiven Effekten wie einer Schulden-           Beistand für überschuldete Eurozonen-Staaten
aufnahme im Vertrauen auf die letztendliche           verstetigt, so dass sich die Frage der Vereinbar-
Übernahme durch Dritte (sog. „moral hazard“)          keit mit der No-bail-out-Klausel des Art. 125
entgegenwirken.23 Die mit der „Rettungspolitik“       AEUV verstärkt stellte. Daher wurde (jedenfalls
verbundenen politischen Probleme liegen auf           zur Klarstellung)26 Art. 136 Abs. 3 AEUV ein-
der Hand: unbeliebte Reformen wie Sparmaß-            gefügt, was im vereinfachten Änderungsverfah-
nahmen und Steuererhöhungen und die Ein-              ren (Art. 48 Abs. 6 EUV) möglich war. Der
schränkung der politischen Gestaltungsfreiheit.24     EuGH hat im Urteil Pringle dies und auch die
Entscheidend ist, dass diese Maßnahmen effek-         Vereinbarkeit des ESM-Vertrages mit dem Uni-
tiv sind (die Erhöhung von Steuern hilft nichts,      onsrecht im Übrigen bestätigt. Das vereinfachte
wenn diese mangels funktionierender Steuer-           Änderungsverfahren ist zulässig, weil es um ei-
verwaltung oder wegen Rücksichtnahme auf              ne Änderung des Dritten Teils des AEUV geht
die jeweilige Klientel nicht eingetrieben werden,     und keine neue Kompetenz der EU begründet
insbesondere wenn Fälle von Steuerhinterzie-          wird. Gegen die Kompetenzordnung der EU
hung durch die Kooperation der „Fluchtstaa-           wird nicht verstoßen, weil die Materie die in
ten“ bekannt sind) und die Belastungen sozial         der Kompetenz der Mitgliedstaaten verbliebene
akzeptabel verteilt werden (z. B. Berücksichti-       Wirtschaftspolitik betrifft und somit allein zu-
gung der unterschiedlichen Belastungswirkung          lässiges Handeln der Mitgliedstaaten bestätigt
von Einkommens- und Mehrwertsteuer), schließ-         wird. Gegen die No-bail-out-Klausel des Art. 125
lich die Verbindung von Haushaltskonsolidie-          Abs. 1 AEUV werde nicht verstoßen, da die
rung mit Wachstumsförderung, ohne die eine            Mitgliedstaaten bei der Verschuldung der Markt-
dauerhafte Stabilisierung nicht möglich ist.          logik unterworfen blieben und die in Art. 136
Demokratische Legitimation und Akzeptanz ist          Abs. 3 AEUV ausdrücklich angeordnete Verknüp-
sowohl in den unterstützten als auch in den un-       fung mit strengen Auflagen Anreiz für solide
terstützenden Staaten erforderlich. Die Bilanz        Haushaltspolitik sei.27 Das Stammkapital von
des EFSM fällt unterschiedlich aus: Während           700 Milliarden Euro wird durch Einzahlungen
Irland, Portugal und Spanien den „Rettungs-           der Mitgliedstaaten (Deutschland 21,72 Mil-
schirm“ wieder verlassen konnten, laufen die          liarden Euro) und Bürgschaften (Deutschland
Stützungsmaßnahmen für Zypern noch und ist            190,02 Milliarden Euro) aufgebracht. Gewährt
hinsichtlich Griechenland, für das die EFSM-          werden können Stabilitätshilfen, vorsorgliche Fi-
Maßnahmen ausgelaufen sind, ein Ende nicht            nanzhilfen, Finanzhilfen zur Rekapitalisierung
absehbar.                                             von Finanzinstituten eines ESM-Mitglieds und
                                                      Darlehen, Primärmarkt- und Sekundärmarkt-
Der Europäische Stabilitätsmechanismus                Unterstützungsfazilitäten (vgl. Art. 13-18 ESM).
(ESM) – Art. 136 Abs. 3 AEUV
    Der EFSM war zeitlich befristet. Um für           Folgen des Wechsel des „Rettungsprogramms“
„Rettungsmaßnahmen“ eine dauerhafte Ein-              von EFSF/EFSM zu ESM
richtung zu haben, beschloss der Europäische             Die Verordnung zur Einführung des EFSF
Rat bereits am 16./17. Dezember 2010 die Ein-         war eine Maßnahme der Union, bezog sich
führung eines Europäischen Stabilitätsmecha-          somit auf alle Mitgliedstaaten. Parteien des
nismus (ESM). Da dafür im Unionsrecht keine           ESM-Vertrags sind allein die Mitgliedstaaten der
hinreichende Rechtsgrundlage gesehen wurde            Eurozone. Grundlage des ESM ist ein völker-
und eine so weitreichende Vertragsänderung das        rechtlicher Vertrag zwischen diesen. Während
ordentliche Vertragsänderungsverfahren (Art. 48       Finanzhilfen des EFSM auch aus EU-Haushalts-
Abs. 2-5 EUV) erfordert hätte, das – wie der          mitteln gewährt wurden, kommen die Hilfen
Vertrag von Lissabon gezeigt hat – langwierig         des ESM allein aus dem durch Einzahlungen
und mit Unsicherheiten hinsichtlich der Ratifi-       und Garantien der Vertragsparteien gebildeten
kation behaftet ist, erfolgte dies durch einen        Stammkapital. Voraussetzung für die Gewäh-
völkerrechtlichen Vertrag zwischen den Mitglied-      rung von Hilfen ist zum einen, dass dies zur
staaten der Eurozone.25 Dadurch wurde der             Wahrung der Finanzstabilität des Euro-Wäh-

                               ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 102                      11
RUDOLF STREINZ

rungsgebiets insgesamt und seiner Mitglied-        Grenzen der Übertragung von Hoheitsrechten
staaten unabdingbar ist, und die Verbindung        gewahrt sind (Grundrechtskontrolle, Identi-
mit strengen, dem gewählten Finanzhilfeinstru-     tätskontrolle) und ob sich Akte der EU im
ment angemessene Auflagen (Art. 12 ESM-Ver-        Rahmen des Übertragenen halten (sog. Ultra-
trag). Vor allem die Frage der Gefährdung der      vires-Kontrolle). Im Maastricht-Urteil hielt das
Stabilität der Eurozone insgesamt, aber auch       BVerfG auch die Übertragung der Währungs-
die Festlegung der Aufgaben lässt erhebliche       hoheit für verfassungskonform, wenn deren
Beurteilungsspielräume, was sich jetzt im Fall     Folgen berechenbar und die WWU als „Stabili-
Griechenland gezeigt hat.                          tätsgemeinschaft“ konzipiert ist und eine sol-
                                                   che bleibt.32 Die Urteile zum „Rettungsschirm“
Weitere Reformvorschläge                           betonen zum einen, dass das Budgetrecht des
   Auf weitere Reformvorschläge wie Euro-          Bundestages durch dessen Beteiligung an den
bonds, der Vereinbarung eines Staateninsol-        getroffenen Maßnahmen gewahrt bleiben muss,
venzrechts bzw. Staatenresolvenzrechts sowie       zum anderen aber auch die Verantwortung der
Collective Action Clauses kann hier nur hin-       politischen Entscheidungsträger mit entspre-
gewiesen werden.28                                 chendem Entscheidungsspielraum.33

                                                   DIE LÖSUNG DER „GRIECHENLANDKRISE“
VERFASSUNGSRECHTLICHE RAHMEN-                          Nach dem Regierungswechsel in Griechen-
BEDINGUNGEN, PROBLEME UND GRENZEN                  land, dem Wahlsieg von SYRIZA und dem
IN DEUTSCHLAND                                     wechselhaften und kaum berechenbaren Ver-
                                                   halten der Regierung Tsipras und seines dama-
Ansatz verfassungsgerichtlicher Überprüfung        ligen Finanzministers Varoufakis, letztlich nach
   Seit dem Maastricht-Urteil des Bundesverfas-    der Ablehnung des noch im Rahmen des dann
sungsgerichts (BVerfG) können Zustimmungs-         auslaufenden EFSF beschlossenen Programms
gesetze zu Verträgen, die Hoheitsrechte auf die    durch die griechische Regierung, stellte sich die
Europäische Union übertragen, von jedermann        Frage, ob die „Rettungspolitik“ (eventuell modi-
durch Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1        fiziert) fortgesetzt werden oder ob Griechenland
Nr. 4 a GG) mit der Begründung angefochten         (vorübergehend) aus der Eurozone ausscheiden
werden, dass dadurch dem Bundestag nicht           soll – ein Gedanke, der nicht nur vom deut-
mehr hinreichend eigene Befugnisse verbleiben      schen Finanzminister Schäuble, sondern auch
und so das Wahlrecht des Einzelnen (Art. 38        von Teilen der griechischen Politik erwogen
GG) entwertet wird.29 Im Lissabon-Urteil be-       wurde. Alternativen aufzuzeigen und Vorteile
gründete das BVerfG die Pflicht des Bundes-        und Risiken abzuwägen sollte in der Politik
tages, seiner Integrationsverantwortung durch      selbstverständlich sein. Letztlich entschied man
Wahrung seiner Rechte zu genügen.30 Die Pflicht    sich für die Fortsetzung der sog. „Rettungspoli-
des Bundestags zur Wahrung seiner Rechte           tik“ im Rahmen des ESM. Dafür spricht zum
wurde durch mehrere Urteile hinsichtlich der       einen, dass für ein Ausscheiden Griechenlands
Eingehung finanzieller Verpflichtungen im Rah-     aus der Eurozone derzeit keine Regelung be-
men des sog. „Rettungsschirms“ konkretisiert.31    steht,34 was einem einvernehmlich vereinbarten
Da es dabei auch um die Rechte von Minder-         Ausscheiden angesichts der beschränkten Wir-
heiten geht, kommt neben der Verfassungsbe-        kung rechtlicher Regeln im Bereich der WWU
schwerde der Organstreit (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1     aber kaum entgegenstehen dürfte, zum anderen
GG) in Betracht.                                   aber, dass die diversen Risiken und Nebenwir-
                                                   kungen eines solchen Ausscheidens höher be-
Prüfungsmaßstäbe und                               wertet wurden. Es kommt nach den Wahlen in
Prüfungsintensität des BVerfG                      Griechenland, aus denen nach Abspaltung des
   Prüfungsmaßstab des BVerfG ist, ob die 1992     ganz linken Flügels, der den Einzug ins Parla-
in Art. 23 GG auf der Basis der bis dahin ergan-   ment verfehlte, erneut SYRIZA als Sieger her-
genen Rechtsprechung des BVerfG genannten          vorging, darauf an, im Rahmen des ESM, der in

12    ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 102
RECHTLICHE RAHMENBEDINGUNGEN DER KRISE

                                                                14
Art. 12 ESM-Vertrag Solidarität der Unterstützer                     Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steue-
deutlich an Solidität des Unterstützten knüpft,                      rung in der Wirtschafts- und Währungsunion vom
                                                                     2.3.2012.
eine sinnvolle und dauerhaft tragbare Lösung                    15
                                                                     Lorz, Alexander / Sauer, Heiko: Ersatzunionsrecht
zu finden.
                                                                     und Grundgesetz. Verfassungsrechtliche Zustim-
                                                                     mungsfragen für den Fiskalpakt, den ESM-Vertrag
||   PROF. DR. RUDOLF STREINZ                                        und die Änderung des AEUV, in: Die Öffentliche
     Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Europarecht,               Verwaltung (DÖV) 2012, S. 573-582 (575).
                                                                16
     Ludwig-Maximilians-Universität München                          Lenaerts, Koen: Europas Wirtschaftsverfassung und
                                                                     die Finanzkrise: Eine neue konstitutionelle Gewich-
                                                                     tung?, in: Deutsches Verwaltungsblatt (DVBl.) 2014,
                                                                     S. 1417-1422 (1417): „semi-intergouvernmentalism“.
                                                                17
ANMERKUNGEN                                                          Calliess, Christian / Schoenfleisch, Christopher:
1                                                                    Auf dem Weg in die europäische „Fiskalunion“? –
     Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen
                                                                     Europa- und verfassungsrechtliche Fragen einer
     Parlaments und des Rates zur Festlegung der Krite-
                                                                     Reform der Wirtschafts- und Währungsunion im
     rien und Verfahren zur Bestimmung des Mitglied-
                                                                     Kontext des Fiskalvertrages, in: JuristenZeitung (JZ)
     staats, der für die Prüfung des von einem Drittstaats-
                                                                     2012, S. 477-487 (485).
     angehörigen oder Staatenlosen in einem Mitglied-           18
     staat gestellten Antrags auf internationalen Schutz             Dadurch wurde die gemeldete Schuldenlast um ca.
     zuständig ist (Dublin III-VO) vom 26.6.2013, Amts-              2 % gedrückt, vgl. dazu Wirtschaftswoche 30/2015,
     blatt der EU (ABl.) 2013 L 180/31.                              S. 78; vgl. Häde: EUV/AEUV-Kommentar, Art. 140
2                                                                    AEUV, Rn. 41.
     Nr. 1 des Protokolls (Nr. 15) zum Vertrag von              19
     Maastricht, ABl. 1992 C 191/87 (zum Vertrag von                 Vgl. zu den Bedenken im Konvergenzbericht 2000
     Lissabon ABl. 2012 C 326/284).                                  der EZB Häde: EUV/AEUV-Kommentar, Art. 140
3                                                                    AEUV, Rn. 40.
     Nr. 1 des Protokolls (Nr. 16) zum Vertrag von              20
     Maastricht, ABl. 1992 C 191/89 (zum Vertrag von                 Vgl. Hentschelmann, Kai: Finanzhilfen im Lichte
     Lissabon ABl. 2012 C 326/287). Nach einem nega-                 der No Bailout-Klausel – Eigenverantwortung und
     tiven Referendum vom September 2000 behält Dä-                  Solidarität in der Währungsunion, in: Europarecht
     nemark diesen Status bei. Vgl. dazu Häde, Ulrich:               (EuR) 2011, S. 282-312 (289-301); Kempen, Bern-
     EUV/AEUV-Kommentar, Art. 139 AEUV, Rn. 14,                      hard, in: EUV/AEUV-Kommentar, hrsg. von Rudolf
     hrsg. von Christian Calliess und Matthias Ruffert,              Streinz, München, 2. Aufl., 2012, Art. 125 AEUV,
     München, 4. Aufl., 2011.                                        Rn. 4-6. Vgl. zu den kontroversen Ansichten Net-
4                                                                    tesheim, Martin: „Euro-Rettung“ und Grundgesetz.
     Ebd., Art. 140 AEUV, Rn. 31.
                                                                     Verfassungsrechtliche Vorgaben für den Umbau der
5
     Ebd., Art. 139 AEUV, Rn. 22.                                    Währungsunion, in: EuR 6/2011, S. 765-783 (765-
6
     Ebd., Art. 130 AEUV, Rn. 20.                                    766).
7                                                               21
     Vgl. Siekmann, Helmut: Grundgesetz-Kommentar,                   ABl. 2010 L 118/1, berichtigt ABl. 2012 L 188/19.
     hrsg. von Michael Sachs, München, 7. Aufl., 2014,          22
                                                                     Smulders, Bernardus / Keppenne, Jean-Paul: Art. 122
     Art. 88, Rn. 4 f.                                               AEUV, Rn. 25, in: Europäisches Unionsrecht. Kom-
8
     Art. 140 Abs. 1 UAbs. 2 S. 1 AEUV; Protokoll über               mentar, hrsg. von Hans von der Groeben, Jürgen
     die Konvergenzkriterien zum Vertrag von Maastricht              Schwarze und Armin Hatje, Baden-Baden, 7. Aufl.,
     (ABl. 1992 C 191/85), jetzt Protokoll (Nr. 13) zum              2015.
     Vertrag von Lissabon (ABl. 2012 C 326/281).                23
                                                                     Vgl. Streinz: Europarecht, Rn. 1041.
9
     Protokoll über das Verfahren bei einem übermäßi-           24
                                                                     Vgl. dazu die von der Legitimation zweifelhafte, in-
     gen Defizit zum Vertrag von Maastricht (ABl. 1992               haltlich zumindest teilweise durchaus bedenkenswerte
     C 191/84), jetzt Protokoll (Nr. 12) zum Vertrag von             Kritik in Resolution 1884 (2012) der Parlamentari-
     Lissabon (ABl. 2012 C 326/279).                                 schen Versammlung des Europarats, wiedergegeben
10
     Art. 140 Abs. 1 UAbs. 2 S. 2 AEUV.                              bei Herdegen: Europarecht, S. 407 f.
11                                                              25
     Für Verstoß des Aufnahmebeschlusses des Rates                   Vertrag zur Einrichtung des Europäischen Stabili-
     gegen das Unionsrecht z. B. Häde: EUV/AEUV-                     tätsmechanismus vom 2.2.2012, Bundesgesetzblatt
     Kommentar, Art. 140 AEUV, Rn. 39 m. w. N. auch                  (BGBl.) 2012 II S. 983.
     zur Gegenmeinung.                                          26
                                                                     Strittig ist, ob Art. 136 Abs. 3 EUV konstitutiv,
12
     Vgl. Streinz, Rudolf: Europarecht, Heidelberg,                  d. h. die Rechtslage ändernd (so offenbar das BVerfG)
     10. Aufl., 2016, Rn. 1122 ff. m. w. N.                          oder rein deklaratorisch (so der EuGH) ist.
13                                                              27
     Vgl. Herdegen, Matthias: Europarecht, München,                  EuGH, Rs. C-370/12, Pringle, ECLI:EU:C:2012:756,
     17. Aufl., 2015, § 23, Rn. 19 ff.                               Rn. 70, 71 ff., 135 f.

                                      ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 102                                 13
RUDOLF STREINZ

28
     Vgl. dazu Streinz: Europarecht, Rn 1142 m. w. N.
29
     BVerfGE 89, 155 (Leitsätze 4 und 5).
30
     BVerfGE 123, 267 (Leitsatz 2).
31
     Grundlegend BVerfGE 129, 124 (Leitsatz 2 b). Vgl.
     dazu Streinz, Rudolf: Was bleibt vom Budgetrecht
     des Bundestages in der „Fiskalunion“? Anmerkun-
     gen zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsge-
     richts, in: Freiheit, Gleichheit, Eigentum – Öffentli-
     che Finanzen und Abgaben, Festschrift für Rudolf
     Wendt, hrsg. von Heike Jochum, Michael Elicker,
     Steffen Lampert und Roberto Bertone, Berlin 2015,
     S. 677-692 (681-688).
32
     BVerfGE 89, S. 155 (199 ff.).
33
     Vgl. dazu Streinz: Budgetrecht, S. 689-690 m. w. N.
34
     Vgl. dazu Anne Schilmöller / Ralf Tutsch: Art. 140
     AEUV, Rn. 34, in: Europäisches Unionsrecht. Kom-
     mentar, hrsg. von Hans von der Groeben, Jürgen
     Schwarze und Armin Hatje, Baden-Baden, 7. Aufl.,
     2015.

14       ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 102
UNSCHLÜSSIGE AUSTRITTSSZENARIEN AUS DER
EU UND DEREN KONSEQUENZEN
Austritt aus der EU, Austritt aus der Euro-Zone, Ausschluss?

WALDEMAR HUMMER || Die gegenwärtig so intensiv diskutierten Szenarien eines Brexit und eines
Grexit bzw. auch eines „Grexit auf Zeit“ werfen eine Fülle komplexer rechtsdogmatischer Probleme
auf, die durch die primärrechtlichen Vorgaben in der Austrittsbestimmung des Art. 50 EUV nicht
abschließend geklärt werden. Dieser Artikel sieht zwar zwei mögliche Formen für einen Austritt ei-
nes Mitgliedstaates aus der EU vor, trifft aber vor allem keine Vorkehrungen für einen isolierten
Austritt aus der Währungsunion, wie dies aber gerade im Falle eines Grexit angedacht wird. Auch
regelt er nicht die Probleme eines Euro-Krisenstaates, der permanent Obstruktion betreibt und
demgemäß ausgeschlossen werden sollte.

EINFÜHRUNG                                         und zur Vermeidung von Abstimmungsblocka-
    Bis zu den Beratungen im Schoß des „Kon-       den – wie z. B. das Instrument der „verstärkten
vents über eine Verfassung für Europa“ (2002-      Zusammenarbeit“6 – abgeschwächt, aber nie
2003) war die Zielsetzung der Gründungsväter       grundsätzlich in Frage gestellt. Man vertraute
der Europäischen Gemeinschaften bzw. der Eu-       sich einem irreversiblen Prozess fortschreiten-
ropäischen Union im Sinne der „step-by-step“-      der Integration an und dachte einfach nicht
Methode Jean Monnets ausschließlich auf die        daran, diesen u. U. auch einmal wieder verlas-
„Schaffung einer immer engeren Union der           sen zu müssen. Vor allem wollte man aber
Völker Europas“1 hin ausgerichtet. Dement-         auch deswegen kein Ausstiegsszenario vorse-
sprechend galten die Gründungsverträge auch        hen, um damit keine „self-fulfilling-prophecy“
auf unbestimmte Zeit2 und sahen kein wie im-       zu provozieren7 bzw. eine Signalwirkung aus-
mer geartetes Austrittsrecht vor. Erstmals ver-    zuüben.
ankerten die „Herren der Verträge“ in Art. I-60        Mit der Einführung der Möglichkeit eines
des Verfassungsvertrages (2004)3 aber eine Aus-    Austritts aus der EU in Art. 50 EUV – der AEUV
trittsklausel, die nach dem Scheitern des Ver-     enthält keine diesbezügliche Bestimmung – nahm
fassungsvertrages Mitte 2005 mit geringfügigen     der Vertrag von Lissabon diesbezüglich aber
Änderungen in den Vertrag von Lissabon (2007)4     einen veritablen Paradigmenwechsel vor und
übernommen wurde.                                  ließ erstmals ausdrücklich ein desintegratives
    Bis zum Inkrafttreten des Vertrags von Lis-    Element zu, das in der einschlägigen Literatur
sabon am 1. Dezember 2009 wurde die integra-       sehr anschaulich wie folgt beschrieben wurde:
tive Vorgabe der Herbeiführung „einer immer        „EU membership is thus no longer a marriage
engeren Union“ zwar durch „Opt-out“-Proto-         for life, but rather a Lebensabschnittspartner-
kolle für eine Reihe von Mitgliedstaaten5 sowie    schaft.“8 Indirekt ist damit aber auch die Frage
einige vertraglich vorgesehene Elemente zur        verneint, ob die EU nicht schon unter Umstän-
elastischeren Erreichung der Organisationsziele    den den „point of no return“ erreicht hat.

                              ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 102                   15
WALDEMAR HUMMER

    Damit stellt sich aber sofort die Frage, ob die       Da auf diese beiden einschlägigen Szenarien
EU mit dieser Austrittsoption überhaupt noch          eines Grexit bzw. Brexit in anderen Beiträgen
dasselbe Gebilde ist, das sie früher einmal war,      dieses Sammelbandes schwerpunktmäßig ein-
oder ob sie nicht vielmehr zu einer Institution       gegangen wird, kann an dieser Stelle grundle-
des Übergangs geworden ist, aus der man be-           gend darauf verwiesen werden. Die nachfolgen-
liebig austreten und dann unter Umständen             den Ausführungen beschränken sich daher auf
wieder eintreten kann. Im Falle eines Grexit aus      die Darstellung aller möglichen Austrittsszena-
der EU wurde ein solcher Austritt mit einem           rien aus der EU selbst bzw. aus der Euro-Zone
unter Umständen später erfolgenden Neubei-            sowie der Währungsunion und deren rechtliche
tritt bereits konkret angedacht und modellhaft        Zulässigkeit sowie realpolitische Machbarkeit,
durchgespielt.                                        wobei bei den zitierten Autoren die Grenze zwi-
    Vor allem durch seine spezielle Ausgestal-        schen rechtsdogmatischen Aussagen „de lege
tung in Form von zwei diametral entgegenge-           lata“ und solchen „de lege ferenda“ nicht immer
setzten Alternativen zur Bewerkstelligung eines       eindeutig ersichtlich ist.
Austritts sowie der Nichtunterscheidung der
Austrittswerber in Mitgliedstaaten, die dem
„Euro-Raum“ angehören, und solchen, für die           DIE BEIDEN AUSTRITTSOPTIONEN AUS DER
dies nicht zutrifft, wirft Art. 50 EUV eine Fülle     EUROPÄISCHEN UNION
offener Fragen auf, die noch nicht eindeutig ge-          Art. 50 EUV10 sieht die Möglichkeit eines
löst sind.                                            Austritts aus der EU unter zwei Szenarien vor,
    Dazu kommt in der gegenwärtigen einschlä-         nämlich einerseits konsensual durch Vertrag mit
gigen Diskussion die undifferenzierte Wortwahl        der EU sowie andererseits durch einseitige Aus-
eines Austritts („Exit“) Griechenlands („Grexit“),    trittserklärung und Verstreichen einer entspre-
bei der es sich begrifflich zum einen um den          chenden Fallfrist.
bloßen Austritt aus der Euro-Zone, zum ande-              Jeder Mitgliedstaat kann im Einklang mit
ren aber auch um einen Austritt aus der EU            seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften be-
selbst handeln kann, der dann an sich auch das        schließen, aus der Union auszutreten. Ein aus-
Verlassen der Euro-Zone implizieren würde.            trittswilliger Mitgliedstaat hat diese Absicht dem
Auch im Falle des neuerdings kolportierten            Europäischen Rat mitzuteilen, der daraufhin
„Grexit auf Zeit“ besteht diese semantische Un-       entsprechende (verbindliche) Leitlinien zu er-
schärfe, wird aber dadurch noch verschärft, dass      stellen hat, auf deren Grundlage die Union in
(zu Unrecht) angenommen wird, dass Grie-              der Folge ein Abkommen über die Einzelheiten
chenland nach seinem Austritt aus der Euro-           des Austritts mit diesem schließt, „wobei der
Zone dieser wieder beitreten kann.                    Rahmen für die künftigen Beziehungen dieses
    Diese Unschärfe fällt allerdings bei dem wei-     Staates zur EU berücksichtigt wird“. Das Ab-
teren Szenario eines Brexit – einem Kunstwort         kommen wird nach Art. 218 Abs. 3 AEUV von
aus „Britain“ und „Exit“ – begrifflich weg, da        der Kommission ausgehandelt und danach vom
Großbritannien ja die gemeinsame Währung              Rat im Namen der EU mit qualifizierter Mehr-
Euro nicht übernommen hat, sodass sich der            heit und nach Zustimmung des Europäischen
Brexit nur auf das Ausscheiden aus der EU be-         Parlaments abgeschlossen (Art. 50 Abs. 2 EUV).
ziehen kann. Andererseits ist die Abkürzung           Ab dem Tag des Inkrafttretens des Austrittsab-
„Brexit“ aber insofern irreführend, als dass nicht    kommens finden die Verträge auf den betroffe-
Großbritannien (Great Britain Exit = „Brexit“),       nen Staat keine Anwendung mehr.
sondern das Vereinigte Königreich (United King-           Derselbe Effekt stellt sich aber auch dann
dom, UK) – zu dem neben England, Schottland           ein, wenn nach der Mitteilung des Austritts-
und Wales auch Nordirland gehört und das              wunsches an den Europäischen Rat – ohne dass
gem. Art. 52 Abs. 1 EUV als „Vereinigtes Kö-          es in der Folge zum Abschluss eines Austritts-
nigreich Großbritannien und Nordirland“ auch          abkommens gekommen ist – eine Frist von zwei
Vertragspartner der Gründungsverträge der EU          Jahren verstrichen ist (sog. „sunset clause“), es
ist – aus der EU austreten würde.9                    sei denn, der Europäische Rat beschließt im

16     ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 102
UNSCHLÜSSIGE AUSTRITTSSZENARIEN AUS DER EU UND DEREN KONSEQUENZEN

Einvernehmen mit dem betroffenen Mitglied-          OFFENE FRAGEN DER BEIDEN
staat einstimmig, diese Frist zu verlängern         AUSTRITTSOPTIONEN
(Art. 50 Abs. 3 EUV). Der Austritt muss nicht           Mit den beiden Optionen wollte man neben
begründet werden.                                   dem konsentierten und vertraglich geregelten
    Für die Zwecke der Absätze 2 und 3 nimmt        Austrittsszenario auch eine einseitige Loslösung
das Mitglied des Europäischen Rates und des         eines Mitgliedstaates ermöglichen, regelte beide
Rates, das den austretenden Mitgliedstaat ver-      Szenarien aber nur idealtypisch und sehr kur-
tritt, weder an den diesen Mitgliedstaat betref-    sorisch, sodass sich in concreto eine Reihe von
fenden Beratungen noch an der entsprechen-          offenen Fragen stellt. In der Literatur wird dies-
den Beschlussfassung des Europäischen Rates         bezüglich sogar davon gesprochen, dass die Aus-
oder des Rates teil. Die qualifizierte Mehrheit     trittsklausel „is one of the major faults of the
bestimmt sich dabei nach Art. 238 Abs. 3 lit. b     Constitution“ (and, by extension, also of the
AEUV (Art. 50 Abs. 4 EUV).                          Lisbon Treaty).12
    Ein Staat, der aus der Union ausgetreten ist        Zum einen ist dabei wohl nur an den Aus-
und erneut Mitglied der EU werden möchte,           tritt eines oder einiger weniger Mitgliedstaaten
muss dies formell nach dem offiziellen Beitritts-   gedacht, für den Fall eines massenhaften Aus-
verfahren gem. Art. 49 EUV beantragen (Art. 50      tritts aus der EU – der aber durchaus möglich
Abs. 5 EUV) und genießt diesbezüglich keine         und zulässig wäre – sind die Bestimmungen
Sonderbehandlung.                                   nicht geeignet, da gem. Art. 50 Abs. 4 EUV alle
    Konsequenterweise ist das Austrittsabkom-       austrittswilligen Mitgliedstaaten sowohl im Eu-
men gem. Art. 50 Abs. 2 EUV nicht als „con-         ropäischen Rat als auch im Rat nicht mitwirken
trarius actus“ zum Beitritt eines Mitgliedstaates   dürfen und damit nach dem „first-come-first-
zur EU gem. Art. 49 Abs. 2 EUV in dem Sinn          served“-Prinzip mit keinem der austretenden
ausgestaltet, als dass die aufnehmenden Mit-        Mitgliedstaaten entsprechend zu verhandeln
gliedstaaten den austrittswilligen Mitgliedstaat    begonnen werden könnte.13
wieder „entlassen“, sondern der Austrittsver-           Zum anderen wird auch keine Unterschei-
trag wird von der EU selbst abgeschlossen. Der      dung hinsichtlich der ausscheidenswilligen Mit-
Grund dafür liegt vor allem darin, dass im Aus-     gliedstaaten getroffen, ob sie nämlich der Euro-
trittsvertrag ja die Rechte aus der Mitglied-       Zone angehören oder nicht. Obwohl ein Austritt
schaft in der EU reszindiert und die Konse-         aus der EU automatisch auch zu einem Verlas-
quenzen des Ausscheidens aus dieser geregelt        sen der Währungsunion und zu einem Aus-
werden müssen, was ja nur durch das eigene          scheiden aus der Euro-Zone führen würde, kann
Rechtssubjekt der EU – und nicht durch die          ein ausscheidender Mitgliedstaat nicht daran ge-
Summe ihrer Mitgliedstaaten – bilateral erfolgen    hindert werden, den Euro einfach „mitzuneh-
kann.                                               men“ und ihn im Sinne einer „Euroisierung“
    Interessanterweise ist für den Austrittsver-    als Landeswährung beizubehalten.14
trag – im Gegensatz zum Beitrittsvertrag gem.           Viel schwerwiegender ist in diesem Zusam-
Art. 49 Abs. 2 EUV, aber auch zur formalen          menhang aber das Schweigen des Art. 50 EUV
Vertragsrevision gem. Art. 48 EUV – weder           darüber, ob es nicht auch ein eigenes Recht auf
Einstimmigkeit im Rat noch eine nachträgliche       Austritt aus der Euro-Zone und der Währungs-
Ratifikation des Abkommens durch die Mit-           union gibt, das unabhängig von einem generel-
gliedstaaten erforderlich, was damit u. a. be-      len Austrittsrecht aus der EU besteht. Parallel
gründet wird, dass man für den austrittswilligen    dazu wäre zu prüfen, ob nicht aufgrund der
Staat nicht allzu große Hürden errichten woll-      „Unwiderruflichkeit“ der verpflichtenden Über-
te.11 Würde nämlich gegebenenfalls ein einziger     nahme des Euro für einen einseitig ausschei-
Mitgliedstaat den Austrittsvertrag nicht ratifi-    denswilligen Mitgliedstaat der Euro-Zone die
zieren, wäre damit ein vertraglicher Austritt ja    Verpflichtung besteht, zunächst seinen Ausstieg
unmöglich.                                          aus dieser zu verhandeln und erst dann seinen
                                                    Austritt aus der EU anzukündigen und die Fall-
                                                    frist abzuwarten.

                               ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 102                     17
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