Innere Führung und soldatisches Ethos in der Diskussion - Werte leben, Werten dienen

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Innere Führung und soldatisches Ethos in der Diskussion - Werte leben, Werten dienen
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I N M I LI TÄ R E T H I K U N D
SICHERHEITSPOLITIK

AUSGABE 02/2021

Innere Führung
und soldatisches Ethos
in der Diskussion
SPECIAL

Werte leben, Werten dienen
Innere Führung und soldatisches Ethos in der Diskussion - Werte leben, Werten dienen
INHALT

             INNERE FÜHRUNG
         UND SOLDATISCHES ETHOS
            IN DER DISKUSSION
         Editorial
                                                     SPECIAL:
         Veronika Bock                    Seite 3   WERTE LEBEN,
         Tribal cultures und Innere Führung –        WERTEN DIENEN
         ein Widerspruch?
         Sönke Neitzel                    Seite 4   Zivilcourage im Militär –
                                                     kein Widerspruch!
         „Staatsbürger in Uniform“ oder              Eva Högl                          Seite 50
         „Deutsche Krieger“: Die Innere
         ­Führung auf dem Prüfstand?                 Geben wir dem Staatsbürger seine
         Reinhold Janke                  Seite 12   Uniform zurück! Ein persönlicher
                                                     Essay
         Die Innere Führung als                      Matthias Schwarzbauer		           Seite 54
         Antwort­versuch auf die Frage
         der (militärischen) Gewalt.                 Zuverlässig, rechtschaffen und
         Theologisch-­ethische ­Anmerkungen          ­engagiert im Dienste Luxemburgs
         zur ­gegenwärtigen Debatte                   und seiner Verbündeten:
         Markus Patenge                  Seite 20    Die Entwicklung eines Werte-
                                                      Rasters bei der Luxemburger Armee
         Militärische Tugenden für                   Steve Thull/Erny Gillen           Seite 62
         die heutige Zeit
         Peter Olsthoorn                 Seite 26   „Wir müssen auch die Seele erreichen“
                                                     Interview mit dem Theologen,
         „God, how I hate the 20th century“:         Historiker und Erwachsenenpädagogen
         Zur Ritterlichkeit als ­Mythos und          ­Heinrich Dickerhoff              Seite 68
         als ethische Tugend
         Bernhard Koch                   Seite 34   Impressum/Alle Ausgaben           Seite 71

         Mannbarkeitsriten: Gewaltrituale,
         sexuelle Übergriffe und Rechts­
         extremismus in der Bundeswehr
         Rolf Pohl                       Seite 42

                      2                   ETHIKUNDMILITAER.DE                    ETHIK UND MILITÄR 02/21
Innere Führung und soldatisches Ethos in der Diskussion - Werte leben, Werten dienen
EDITORIAL
Zwischen Anspruch und Wirklichkeit – Wo steht         geblendet. Selbst Politiker sehen Soldatinnen
die Innere Führung? Kann das vertraute Leitbild       und Soldaten häufig lieber als „Streetworker in
vom „Staatsbürger in Uniform“ seinen Gültig-          Uniform“ denn als ausgebildete Kämpfer, die im
keitsanspruch weiterhin behaupten, oder bedarf        äußersten Fall ihr Leben für die Grundwerte unse-
es einer Nachjustierung oder gar Neubewertung         res Staates aufs Spiel setzen.
und Veränderung? Das war die Ausgangsfrage               Vor diesem Hintergrund hat Professor Dr.
einer Podiumsdiskussion, zu der die Deutsche          Sönke Neitzel mit seinem provozierenden Buch
Kommission Justitia et Pax und das zebis am           „Deutsche Krieger“ die Diskussion um die Innere
19. Oktober 2021 in die Katholische Akademie          Führung der Bundeswehr neu entfacht. Nach sei-
Berlin eingeladen hatten.                             ner These wird die Identifikation der Soldatinnen
   Mit der neuen Ausgabe von „Ethik und Militär“      und Soldaten mit dem politischen System über-
wollen wir diese Debatte vertiefen. Denn es hat       schätzt; stattdessen müsse die Motivation durch
sich gezeigt, dass nach dem Abzug aus Afghanis-       militärische Professionalität, entsprechende
tan nicht nur innerhalb der Bundeswehr, sondern       Werte und „tribal cultures“ der Truppengattungen
auch in der breiteren Öffentlichkeit ein erheb-       mehr Berücksichtigung finden. Kein Geringerer
licher Diskussionsbedarf über die Rolle unserer       als Wolfgang Schäuble hat das Buch vorgestellt
Streitkräfte und ihrer Führungsprinzipien besteht.    und dabei eine „unbequeme“ und „unpopuläre“
   Im Grunde kann Deutschland stolz sein auf          gesellschaftliche Debatte über das Verhältnis der
die Führungskultur der Bundeswehr, die seit           Deutschen zum Militär gefordert.
Gründung des Zentrums Innere Führung vor                 Dem wollen wir hiermit nachkommen und
65 Jahren organisatorisch fest verankert ist. Als     freuen uns sehr, dass Sönke Neitzel hier in einem
Bildungszentrum trägt es Sorge dafür, das Leit-       Essay seine Gedanken weiter ausführt. Wie not-
bild vom „Staatsbürger in Uniform“ zu vermitteln,     wendig und fruchtbar die aktuelle Auseinander-
das soldatische Entscheidungen und Handlun-           setzung mit der Inneren Führung, dem Selbstbild
gen an die Werte und Prinzipien unseres Grund-        von Soldatinnen und Soldaten und prägenden
gesetzes bindet: Menschenwürde, Gerechtigkeit,        Werten ist, zeigen auch die hochinteressanten
Freiheit, Frieden, Solidarität und Demokratie. Das    Beiträge der anderen Autorinnen und Autoren
Besondere im Unterschied zu vielen anderen Ar-        dieser Ausgabe. Sie beschäftigen sich mit wich-
meen auf der Welt: Verpflichtend für die einzelne     tigen Aspekten wie Zivilcourage, Ritterlichkeit,
Soldatin, den einzelnen Soldaten ist in letzter In-   Männlichkeit und Macht bis hin zu der Frage, was
stanz nicht das Ordnungsprinzip von Befehl und        Militärseelsorge in die Diskussion um Innere Füh-
Gehorsam, sondern das eigene Gewissen. Damit          rung und ein soldatisches Ethos einbringen kann.
tragen sie auch individuelle Verantwortung für           Die Aussage des Erwachsenenpädagogen
ihr militärisches Handeln. Innere Führung dient       Heinrich Dickerhoff (Seite 68) hat mir gefallen:
dazu, die Entwicklung eines soldatischen Selbst-      „Man muss nicht nur den Kopf ansprechen, son-
verständnisses zu fördern, das diesem Anspruch        dern auch die Seele erreichen.“
gerecht wird.
   Dennoch stellt sich die Frage, ob das aus den      Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre!
1950er-Jahren stammende Konzept trotz ständi-
ger Anpassungen noch zeitgemäß ist. Denn die
Bundeswehr hat sich stark verändert: Aus einer                                          Dr. Veronika Bock
territorialen Verteidigungsarmee ist eine inter-                                       Direktorin des zebis
nationale Einsatztruppe geworden; sie hat sich
von einer Wehrpflicht- zu einer Freiwilligen- und
Berufsarmee gewandelt. Zudem steht seit über
zwanzig Jahren auch Frauen die militärische
Laufbahn offen – ein Novum in den zuvor rein
männlich geprägten Streitkräften. Gleichzeitig
wird der militärische Auftrag der Bundeswehr je-
doch in der öffentlichen Wahrnehmung oft aus-

ETHIK UND MILITÄR 02/21                           ETHIKUNDMILITAER.DE                                  3
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TRIBAL CULTURES UND
   INNERE FÜHRUNG –                                                        Autor: Sönke Neitzel

   EIN WIDERSPRUCH?                                                        Auf Umwegen wirksam:
                                                                           Die Innere Führung

                                                                           Zu keinem Aspekt der Bundeswehr ist so
                                                                           viel Papier bedruckt worden wie zur Inneren
                                                                           Führung (IF). Die Diskussionen darüber sind
                                                                           so alt wie die Institution selbst, und ein Ende
                                                                           der Debatte ist nicht absehbar. Aber warum ist
                                                                           das eigentlich so? Kontrovers ist gewiss nicht
                                                          Abstract         der Kern ihres Inhalts: Gegen gute Menschen-
                                                                           führung kann niemand etwas haben, und die
                                                                           Werte und Normen des Grundgesetzes auf die
     An der Sinnhaftigkeit der Inneren Führung kann mit Blick auf
                                                                           Streitkräfte der Republik zu übertragen bedarf
      die deutsche Militärgeschichte kein Zweifel bestehen – genauso
                                                                           eigentlich keiner weiteren Begründung. Wie
     wenig wie an der konkreten Ausformulierung ihrer Kernideen,           sollte es auch anders sein, zumal nach den Er-
etwa im Beschwerdewesen oder im Parlamentsvorbehalt. Kritisch ist          fahrungen mit der Reichswehr und der Wehr-
  jedoch ihre Überfrachtung als Theoriegebäude zu sehen. Hier wird         macht.
die These aufgestellt, dass dem von Beginn an kontroversen Konzept            Diskutiert wird vielmehr, was diese Prinzi­
   für die Motivation vieler Bundeswehrsoldatinnen und -soldaten –         pien in der Praxis konkret bedeuten sollen.
  genauso wie für die Entwicklung von Demokratiebewusstsein und            In der Gründungszeit der Bundeswehr wurde
  Rechtsverständnis in den Streitkräften – eine geringere Bedeutung        darüber besonders heftig gestritten. Zwischen
              zukommt, als viele seiner Verfechter wahrhaben wollen.       Wolf Graf von Baudissin und seinem ehema-
   Der Beitrag rückt vor allem den Begriff des „tribes“ in den Fokus.      ligen Mitarbeiter Heinz Karst entbrannte ein
     Er wurde in der Militärsoziologie in Analogie zu kriegerischen        auch in der Öffentlichkeit ausgetragener Dis-
                                                                           put. Und dies obwohl alle Protagonisten der
      Stammeskulturen für wirkmächtige kulturelle Entitäten in den
                                                                           frühen Debatten die Grundprinzipien der IF
    Streitkräften geprägt. In der Bundeswehr lässt sich dieser auf die
                                                                           befürworteten, auf dem Boden des Grundge-
  Truppengattungen anwenden; speziell in den Kampftruppen gren-
                                                                           setzes standen und etwa auch den 20. Juli als
    zen sich diese durch spezifische Merkmale und Verhaltensweisen         Referenzpunkt für die Tradition akzeptierten.
 ab, die durch ihren je eigenen Auftrag geprägt werden und idealer-        Im Kern drehte sich der Streit darum, wie viel
                weise horizontale und vertikale Kohäsion verknüpfen.       Ausrichtung auf den Krieg es in der neuen Ar-
          Solche auch durch einen Kämpferhabitus gekennzeichneten          mee geben dürfe. Wie weit musste der Habitus
     „tribal cultures“ stehen zu Unrecht in Teilen der politischen und     der neuen Streitkräfte zivilisiert werden, um
     militärischen Führung im Generalverdacht, ein staats- und ver­        junge Soldaten zum Dienst an der Waffe zu
 fassungsfernes Sonderethos zu fördern und zu festigen. Dass sie im        motivieren und ihnen im Systemkonflikt mit
    Zusammenwirken mit anderen Faktoren zu einer zunehmenden               dem Ostblock Orientierung zu geben? Vielen
   Abgrenzung von der Gesellschaft und der Bundeswehr als überge­          gingen Baudissins Forderungen zu weit, so
        ordneter Institution führen können – bis hin zum Rückzug in        auch dem ersten Kommandeur des Zentrums
                                                                           für Innere Führung, Arthur Weber, der sich
vor­demokratische oder rechtsextreme Haltungen, wie etwa in Teilen
                                                                           1969 mit zehn offenen Briefen demonstrativ
 des KSK geschehen –, muss natürlich ernst genommen werden. Um
                                                                           gegen seinen einstigen Förderer stellte.1 Aber
dieser Gefahr zu begegnen, bräuchte es unter anderem eine ehrliche-
                                                                           auch die prägenden Figuren der Gründerge-
  re Auseinandersetzung über verbreitete Traditions- und Vorbilder.        neration wie etwa Adolf Heusinger, Johann
   Mit Vorstellungen eines eher mediatorisch agierenden „Vorzeige-         Adolph von Kielmansegg, Hans Speidel oder
   militärs“ mögen „tribal cultures“ in Teilen schlecht zu vereinbaren     auch Ulrich de Maizière hielten die reine Lehre
       sein. Wer sie jedoch pauschal als Gegenbild zu den Idealen der      Baudissins nicht für praxistauglich. Da jeder
 Inneren Führung verteufelt, verkennt ihren insgesamt stabilisieren-       die Akzente etwas anders setzte, kam schließ-
                                  den und bindungsfördernden Effekt.       lich ein Kompromiss heraus. Die Vorschriften

                           4                             ETHIKUNDMILITAER.DE                      ETHIK UND MILITÄR 02/21
Innere Führung und soldatisches Ethos in der Diskussion - Werte leben, Werten dienen
zur IF waren typische Produkte eines minis-          erat demonstrandum. Das Hauptproblem der
teriellen Apparats, in dem kein Entwurf so           IF ist nicht der Kern ihres Inhalts, sondern
zurückkommt, wie er den Schreibtisch des             offensichtlich die Vermittlung und die Über-
Referatsleiters verlässt. Das Ergebnis ist gut       frachtung.
im Handbuch für Innere Führung aus dem                  Tendenziell wurde in der Geschichte der
Jahr 1957 nachzulesen.2 Dieses ging Baudis-          Bundeswehr von der IF zu viel für die Motiva-
sin gewiss nicht weit genug, anderen war es          tion der Soldaten erwartet. Gewiss: Im Unter-
schon zu viel des Guten. Im Ringen um die            schied zu den Vorgängerarmeen konnte man
Mitte folgten mehrere Überarbeitungen, spä-          in der Bundeswehr einen Befehl verweigern,
ter dann Zentrale Dienstvorschriften, die sich       man konnte sich beschweren, es gab einen
stets an den aktuellen Diskurs in Gesellschaft       Wehrbeauftragten, ein Kontrollrecht des Par-
und Streitkräften anzupassen suchten. Frei-          laments. Dies waren alles außerordentlich
lich ist das Handbuch bis heute das offizielle       wichtige Errungenschaften, die einen anderen
Dokument, in dem sich die Bundeswehr am              Rahmen schufen als in der Wehrmacht oder
gründlichsten und intensivsten mit der Inne-
ren Führung auseinandergesetzt hat – wes-
halb die Lektüre noch immer lohnt.3
                                                                 Zu allen Zeiten ist die Bedeutung
   Von Anfang an war die Innere Führung zen­             der Identifikation der Soldaten mit dem
                                                                jeweiligen politischen System für
traler Bestandteil des institutionellen Refe-
renzrahmens der Bundeswehr. Als solche war
sie nicht nur auf die Wirkung nach innen aus-
gerichtet. Sie diente auch als Argumentations-
                                                       ihre Motivation wohl überschätzt worden
hilfe nach außen, als Beleg für die Integration
der Streitkräfte in Staat und Gesellschaft, dafür,   der Reichswehr. Ob dies aber zur Motivation
dass man Konsequenzen aus der Geschichte             der Masse der Soldaten beitrug, weil die De-
gezogen hatte und sich von Reichswehr und            mokratie damit auch in der Armee erfahrbar
Wehrmacht abhob. Bei Skandalen und Krisen            wurde, erscheint mehr als fraglich. Der Verfas-
war die IF ein gerne gebrauchtes Argument ge-        sungspatriotismus, auf den die reine Lehre der
gen allzu pauschale Verurteilungen. Ihre Bedeu-      IF zielt, setzt einen politisch bewussten Sol-
tung ging also weit über die kurzen Statements       daten voraus. So etwas gab es bei den Berufs-
etwa im Army Leadership Code hinaus, mit dem         soldaten, vor allem bei den Stabsoffizieren,
das britische Heer auskommt.4                        die in der Anfangszeit der Bundeswehr ja auch
   Die Vorschriften zur IF wurden in den vergan-     noch selbst den Nationalsozialismus erlebt
genen 60 Jahren immer wieder angepasst, zu-          hatten und den Wert der neuen Gesetze und
letzt 2017. Vielen Soldaten blieben die Hand-        Verordnungen beurteilen konnten. Aber ganz
bücher und Vorschriften indes zu ab­strakt.          sicher gab es das nicht bei der großen Masse
Schnell war vom „Inneren Gewürge“ die Rede,          der Wehrpflichtigen, die den Dienst zumindest
von purer „Theologie“, von „Beschwörungs-            seit Ende der 1960er-Jahre zu einem nicht un-
formeln“, von reinen Lippenbekenntnissen5.           erheblichen Teil als sinnfreien Zwangsdienst
Wenngleich vielfach unreflektiert, sind solche       empfanden – allen demokratischen Errungen-
harschen Urteile doch nachvollziehbar. Eine          schaften der Bundesrepublik und ihrer Armee
einfache, konkrete, allgemein verständliche          zum Trotz.
Definition für die soldatische Praxis ist bislang       Zu allen Zeiten ist die Bedeutung der Iden-
nicht vorgelegt worden. Stattdessen erlebt           tifikation der Soldaten mit dem jeweiligen
der teilnehmende Beobachter Vorgesetzte,             politischen System für ihre Motivation wohl
die mit vorgefertigten Sprechteilen über die         überschätzt worden. Weder waren 1914 alle
IF reden, oder er liest in wissenschaftlichen        Soldaten kaisertreu, noch waren 1939 alle Na-
Arbeiten aus der Feder von Offizieren, in de-        tionalsozialisten. Und in der Bundesrepublik
nen am Ende stets der Beweis erbracht wird,          war die Haltung der Mehrheit der Wehrpflich-
dass die IF gut sei. Getreu dem Motto: Quod          tigen zum Grundgesetz wohl eher indifferent.

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Innere Führung und soldatisches Ethos in der Diskussion - Werte leben, Werten dienen
INNERE FÜHRUNG UND SOLDATISCHES ETHOS IN DER DISKUSSION

                     Dies bedeutet freilich nicht, dass der politi-   Tribal cultures als Elemente
                  sche Rahmen und damit auch die darauf be-           der Kohäsion
                  zogene IF gar keine Wirkung entfaltet hätten.
                  Das Demokratiebewusstsein entwickelte sich          Der erfreuliche Befund ist also, dass die al-
                  allerdings weniger durch politischen Unter-         lermeisten Bundeswehrsoldaten nach den
                  richt und staubtrockene Vorschriften als durch      Grundprinzipien der Inneren Führung han-
                  die normative Kraft des gesellschaftlichen Le-      delten, wenngleich ihnen das so gar nicht be-
                  bens. Für die Bundesrepublik hieß dies, dass        wusst gewesen sein dürfte. Dies bedeutet aber
                  Schule, Beruf, Elternhaus und Freizeit den          auch, dass in ihrer sozialen Praxis noch ande-
                  Soldaten ein Verständnis von Werten und Nor-        re Referenzpunkte existiert haben müssen. Die
                  men vermittelten, die sie sich wohl nur selten      Militärsoziologie hat die Quellen für die Moti-
                  bewusst machten, die aber gleichwohl vor-           vation von Soldaten überzeugend herausge-
                  handen gewesen sind. Die allermeisten Sol-          arbeitet. Auf einer vertikalen Ebene ist neben
                  daten hatten eine klare Vorstellung von Recht       dem Bezug zu Staat und Gesellschaft auch die
                  und Unrecht, davon, was man tut und was             Perzeption der Streitkräfte als Institution von
                                                                      Relevanz. Wird etwa die politische und militä-
Das Demokratiebewusstsein in der                                      rische Führung als kompetent, fair und wahr-
                                                                      haftig wahrgenommen? Sodann sind Anlass,
Bundeswehr ­entwickelte sich weniger durch                            Ziel und Erfolgsaussichten eines Einsatzes
­politischen Unterricht und staubtrockene                             von Bedeutung. Daneben wurde schon früh
 ­Vorschriften als durch die normative Kraft                          auf der horizontalen Ebene auf die Relevanz
                                                                      der Primärgruppen hingewiesen, also jener
  des gesellschaftlichen Lebens                                       Personenverbünde, zu denen der engste so-
                                                                      ziale Kontakt bestand und der im Militär Ver-
                  man nicht tut, und zwar jenseits ermüdender         bände bis zur Kompaniestärke umfasste.6
                  Belehrungen. Und dieser Referenzrahmen                 In der Verbindung der horizontalen und ver-
                  hat sich gewiss von früheren Zeiten und wohl        tikalen Ebene spielen die Truppengattungen
                  auch von anderen Armeen unterschieden.              eine erhebliche Rolle für den Zusammenhalt
                  2010 gab es Kompaniechefs, die in Char Darah        der Streitkräfte. Diese bilden innerhalb der
                  im Feuergefecht standen und keine klare Vor-        Bundeswehr spezifische Gemeinschaften, for-
                  stellung vom Inhalt der IF hatten. Und trotz-       men einen eigenen Habitus, schufen eigene
                  dem wussten sie ihre Soldaten zu motivieren         Traditionsbilder und Riten, wodurch die Kul-
                  und wirkungsvoll gegen eine Verwilderung der        tur der Streitkräfte zusätzlich ausdifferenziert
                  Sitten und Gebräuche einzutreten. Der demo-         wurde.
                  kratische footprint fand in allererster Linie auf      Das weithin sichtbare Merkmal der Truppen-
                  dem indirekten Weg über die gesellschaftliche       gattung ist die Waffenfarbe, die zur Abgrenzung
                  Prägung Eingang in die Bundeswehr. Und:             und damit zur Identitätsstiftung seither von be-
                  Wahrscheinlich wäre das Gesamtergebnis,             sonderer Bedeutung ist. Mit der Einführung der
                  so meine These, kein wesentlich anderes ge-         feldgrauen Uniform 1909 waren die Waffengat-
                  wesen, wenn die vielen Handbücher und Vor-          tungen in Deutschenland nur noch durch farb-
                  schriften zur IF nie geschrieben worden wären,      lich unterschiedlich gestaltete Schulterstücke,
                  sondern die Bundeswehr ähnlich wie andere           Kragenspiegel und Rangabzeichen zu erken-
                  Streitkräfte lediglich in knappen Worten an die     nen. Bis heute ist in der Bundeswehr der Be-
                  Werte der Republik erinnert hätte.                  griff der „Fehlfarbe“ jedem geläufig. Daneben
                                                                      sind mittlerweile auch die Abzeichen und die
                                                                      Farben der seit 1971 eingeführten Barette von
                                                                      besonderer Bedeutung, die in der Regel nicht
                                                                      mit der Waffenfarbe identisch sind.
                                                                         Ich habe die Kulturen der Truppengattun-
                                                                      gen unlängst als „tribal cultures“ bezeichnet,

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Innere Führung und soldatisches Ethos in der Diskussion - Werte leben, Werten dienen
weil sie in gewisser Hinsicht unterschiedlichen     konnten so eine Art Transmissionsriemen zwi-
Stämmen gleichkommen, die gleichwohl alle           schen „oben“ und „unten“ bilden.
Teile einer Gesamtorganisation sind. Der Be-           Alle Truppengattungen und Dienstbereiche
griff tribe wird in der Anthropologie und Eth-      der Bundeswehr haben eine tribal culture,
nologie zur Beschreibung der Kulturen etwa          allerdings ist diese unterschiedlich stark aus-
von amerikanischen First Nations verwendet.         geprägt. In der Luftwaffe vielleicht ein Stück
Nun wird man die Fallschirmjäger, Panzer-           weniger, weil hier die Idee des die Dienstbe-
grenadiere oder Artilleristen der Bundeswehr        reiche übergreifenden „Teams“ eine größere
nicht mit den Stammesgruppen nordamerika-           Bedeutung hat. Bei der Marine und vor allem
nischer Indianer gleichsetzen können, zumal         beim Heer sind die tribal cultures wohl deutlich
deren soziale Binnenorganisation sehr unter-        konturierter, wobei vergleichende Studien bis-
schiedlich war und die Begriffe nation, tribe,      lang fehlen.
band oder clans nicht trennscharf verwendet            Je näher sich der Auftrag einer Truppen-
werden. Parallelen gibt es aber insofern, als       gattung am scharfen Ende des militärischen
manche indigene Völker sich in Untergruppen         Berufes befindet, desto ausgeprägter schei-
aufteilten, die sich in Lebensweise, Dialekt,       nen die tribal cultures zu sein. Besonders gut
sozialer Zusammensetzung abgrenzten und             lassen sie sich etwa bei den Heeresaufklärern,
auch äußerlich voneinander zu unterscheiden         der Jägertruppe oder auch den Fallschirm-
waren. Gleichwohl unternahmen sie zusam-            jägern studieren. Gerade Letztere sind für
men Kriegszüge, wechselten zuweilen gar die         gewöhnlich schon an ihrem äußeren Habi-
Gruppen, die sich in freundschaftlicher Rivali-     tus zu erkennen, der durch Haarschnitt und
tät verbunden waren. Sie hatten aber alle das       körperliche Fitness markiert wird. Kulturprä-
Bewusstsein, zur selben Gemeinschaft – na-          gend ist für sie die Luftlandung und die da-
tion – zu gehören.                                  durch erzeugte besondere Gefechtssituation.
   Der Begriff tribal cultures ist zuerst zur Be-
schreibung der Kulturen britischer Regimenter                       Die tribal cultures in der Bundeswehr
verwendet worden, die in den Landstreitkräf-
ten des Vereinigten Königreichs eine prägen-                    spannten sich von den kleinsten Verbänden
dere Rolle spielen als die Truppengattungen.                           bis weit in die Führungsspitze und
Fasst   man den Begriff tribe als Bezeichnung
                                                                 konnten so eine Art Trans­missionsriemen
für wirkmächtige kulturelle Entitäten in Streit-
kräften auf, versteht man im internationa-                            zwischen „oben“ und „unten“ bilden
len Vergleich darunter also durchaus unter-
schiedliche Dinge. Im Kontext der deutschen         Überraschung, Improvisation, aber auch der
Militärgeschichte bildeten die Truppengat-          Zwang, einen einmal begonnenen Kampf ge-
tungen ein eigenes Deutungssystem. In ihrer         winnen zu müssen, weil es in der Regel keine
Wirkmächtigkeit sind sie nicht zu unterschät-       Rückzugsmöglichkeit gibt, prägen die Kultur
zen, und ihre Bedeutung sollte auch für das         dieser Truppe. Das Fallschirmspringen hat-
Gesamtsystem Bundeswehr ernst genom-                te in der Bundeswehr zwar noch nie einen
men werden. Sie verbanden die Kohäsion              wirklichen operativen Wert. Gleichwohl ist es
der Kompanien und Züge – der sogenannten            für diese Truppengattung – wie auch für die
Primärgruppen – auf einer vertikalen Ebene          Spezialkräfte – kulturprägend. „Nichtspringer“
mit der Gesamtorganisation. Auch die Gene-          können nur bedingt Teil der Gemeinschaft
rale und Admirale als die Spitzenvertreter der      werden, und jeder neu versetzte Komman-
Streitkräfte ordneten sich – zuweilen geradezu      deur tut gut daran, sich baldmöglichst nach
demonstrativ – einer Truppengattung zu und          seinem Amtsantritt aus dem Flugzeug zu
waren damit von Soldaten der verschiede-            stürzen, wenn er die Achtung seiner Soldaten
nen tribes als die Ihren zu erkennen. Die tribal    gewinnen will. Dabei kommt es nicht auf die
cultures spannten sich also von den kleinsten       militärische Bedeutung dieses Aktes an. Denn
Verbänden bis weit in die Führungsspitze und        in der militärischen Praxis ist es vollkommen

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Innere Führung und soldatisches Ethos in der Diskussion - Werte leben, Werten dienen
INNERE FÜHRUNG UND SOLDATISCHES ETHOS IN DER DISKUSSION

                  unbedeutend, ob ein Kommandeur mit dem              Bindungs- und
                  Fallschirm abspringen kann oder nicht. Selbst       ­Entkoppelungstendenzen in
                  für den höchst unwahrscheinlichen Fall, dass         der Bundeswehr heute
                  er dies im Ernstfall einmal wirklich tun müss-
                  te, gäbe es heutzutage sogar die Möglichkeit        Steht der in manchen Truppengattungen ge-
                  eines Tandemsprunges. Die kulturelle Bedeu-         pflegte Habitus des Kämpfers im Gegensatz
                  tung überragt die praktische Bedeutung bei          zur Inneren Führung? Etliche Beamte und
                  Weitem.                                             Offiziere der Bundeswehr vertreten diese
                    Die Fallschirmjäger haben sich seit ihrer Auf-    Meinung. Sie sehen insbesondere in der Ge-
                  stellung 1955 ein Elitebewusstsein bewahrt          neration Afghanistan die Tendenz zur Redu-
                  und pflegten ihre tribal culture mit besonderer     zierung der Streitkräfte auf den Willen zum
                  Hingabe. Erleichtert wird dies dadurch, dass        Kampf und auf ein überzeitliches Kämpfer-
                  diese Truppengattung zahlenmäßig immer              tum. Es werde einem Tugendfundament das
                  überschaubar war. Innerhalb der Bundeswehr          Wort geredet, das mit dem demokratischen
                  wurde diese Kultur durchaus kritisch gesehen,       und zivilgesellschaftlichen Wertekanon nicht
                  zumal mancher Beobachter den militärischen          vereinbar sei. Den miles bellicus würden vom
                  Wert der Luftlandebrigaden im Kalten Krieg          Staatsbürger in Uniform Welten trennen, da
                  als denkbar begrenzt erachtete und meinte,          Letzterer von der tiefen Überzeugung geleitet
                  dass zu irgendeinem Elitegebaren kein An-           werde, als Soldat für demokratische Werte wie
                  lass bestünde. Manche verspotteten die Fall-        Menschenwürde, Freiheit und Gerechtigkeit
                  schirmjäger als „Aufklatscher“ oder „Fallobst“.     einzustehen. Je mehr sich ein militärisches
                  Gleichwohl scheint der Ruf, eine besondere          Sonderethos herausbilde, desto mehr werde
                  Truppe zu sein, dann doch eine Wirkung ge-          sich die Bundeswehr von der postheroischen
                  habt zu haben. Bemerkenswert ist nämlich,           Mehrheitsgesellschaft entfernen. Politik und
                  dass die Luftlandetruppe selbst zu Zeiten           militärische Führung müssten daher verhin-
                  großen gesellschaftlichen Protests gegen das        dern, dass vorgestrige Kriegskonzepte größere
                  Militär – etwa 1968 oder während des NATO-          Bedeutung für die Konstruktion soldatischer
                  Doppelbeschlusses – nie Nachwuchssorgen             Berufsidentitäten gewännen.7
                  hatte. Und mancher General trägt heute stolz           Gewiss haben all jene, die in Soldaten vor
                                                                      allem Mediatoren, Kulturmittler und social
Etliche Beamte und Offiziere der Bundes-                              worker erblicken, für die die Bundeswehr vor
                                                                      allem ein innenpolitisches Projekt ist, mit dem
wehr sind der Meinung, der mancherorts                                Habitus der Kampftruppen ein Problem. Man-

gepflegte Habitus des Kämpfers stehe im                               cher sieht aktuell ein Netzwerk finsterer Reak-
                                                                      tionäre am Werk, da im Heer und neuerdings
Gegensatz zur Inneren Führung                                         sogar in der Marine vermehrt von Kriegstaug-
                                                                      lichkeit und Siegeswillen die Rede ist.
                  und demonstrativ das bordeauxrote Barett,              Gleichwohl schließen sich Innere Führung
                  obwohl er erst im fortgeschrittenen Alter ge-       und die tribal cultures selbst der Kampftrup-
                  wissermaßen als Artfremder zu dieser Trup-          pen nicht aus. Deren Vertreter würden das
                  pengattung hinzugestoßen ist. Nur wenige            auch vehement zurückweisen. Die gute Men-
                  grenzen sich so deutlich sichtbar ab wie etwa       schenführung ist ohnehin konstituierend für
                  Generalleutnant Jörg Vollmer. Er trug als Ins-      einen Zusammenhalt der Truppengattung.
                  pekteur des Heeres demonstrativ wieder sein         Niemand ist stolz auf sein Barett, wenn er
                  grünes Panzergrenadierbarett und gab damit          damit nur Schikane verbindet. Und für diese
                  ein klares Signal, welcher tribal culture er sich   Republik zu kämpfen, sich ihren Werten und
                  zugehörig fühlt.                                    Normen zugehörig zu fühlen und sie als prä-
                                                                      gend für die Streitkräfte anzusehen, schließt
                                                                      auch einen rustikalen Habitus, wie er zuweilen
                                                                      in der Kampftruppe gepflegt wird, nicht aus.

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Innere Führung und soldatisches Ethos in der Diskussion - Werte leben, Werten dienen
Dieser ergibt sich nicht aus einem Gegensatz         schirmjägertruppe, so ist auffällig, wie schwer
zur Inneren Führung, sondern aus dem Auftrag         sie sich in den 1990ern mit der gesellschaftli-
des Kämpfens. Die IF ist von ihren Gründervä-        chen Debatte um die Wehrmacht tat und dass
tern nicht als weiche Welle, sondern als kons-       sie auch nicht wirklich daran interessiert war,
titutiver Bestandteil kampffähiger und kampf-        ihr Traditionsbild weiterzuentwickeln. Hier ließ
williger Streitkräfte gedacht worden. Wer die        es vor allem das höhere Offizierskorps an einer
Bundeswehr freilich nur als innenpolitisches         angemessenen Führung und Erziehung fehlen.
Projekt begreift, dessen Hauptaufgabe der Be-           Im übergeordneten Sinne ist es gewiss pro-
weis von Demokratietauglichkeit des Militärs         blematisch, wenn zur Identifikation der Sol-
ist, wer meint, dass Kampf eine „vorgestrige“        daten nur noch die tribal culture übrig bleibt,
Aufgaben ist, führt den Zweck von Kampftrup-         in der im schlimmsten Fall weder die Verfas-
pen ab absurdum.                                     sungsorgane, ja vielleicht nicht einmal die
   Zweifellos fördern tribal cultures Eigendy-       Bundeswehr als übergeordnete Institution
namiken, weil es – wo sie intensiv ausgeprägt        noch eine wichtige Rolle spielen. Glaubt man
sind – geschützte Räume für alternative Deu-
tungen und Praktiken gibt. In solchen Räumen
können Rituale gedeihen, die die Menschen-
                                                     Die Innere Führung ist von ihren Gründer-
würde verletzen, oder es kann ein Geschichts-          vätern nicht als weiche Welle, sondern als
                                                         konstitutiver Bestandteil kampffähiger
bild bewahrt werden, das im Gegensatz zu
einer sich verändernden Republik steht.
   Die Bundeswehr als strukturkonservative
Organisation hinkte gesellschaftlichen Ent-
                                                      und -williger Streitkräfte gedacht worden
wicklungen stets hinterher. Sie war noch nie
ein Vorkämpfer gesellschaftlicher Reformen           den offiziellen Untersuchungsberichten, gab
und stand daher oft in der Kritik der gesell-        es solche Tendenzen in Teilen des KSK. Des-
schaftlichen Avantgarde. Allerdings tat sich         sen Kultur wird heute im öffentlichen Diskurs
die Bundeswehr vielfach auch schwer, einen           zuweilen mit Rechtsradikalismus verbunden.
überzeugenden Mittelweg zwischen Bewah-              Dies ist gewiss heillos verkürzt. Unstrittig ist
rung und Veränderung zu finden. Die Debatte          freilich, dass – nach allem, was zu erfahren ist –
um die Traditionswürdigkeit der Wehrmacht            die Kombination der tribal culture der Spezial-
war im Wesentlichen ein Rückzugsgefecht, das         kräfte mit den außerordentlich fest gefügten
von den Streitkräften und dem Verteidigungs-         Primärgruppen zu Fehlentwicklungen führte,
ministerium ohne die notwendige intellek-            die zu lange toleriert wurden.
tuelle Tiefe geführt wurde. So benannte man             Inwieweit die Spezialkräfte, aber auch die
zwar Kasernen um, die in die öffentliche Kritik      Fallschirmjäger mehr Rechtsradikale anzogen
geraten waren, stellte sich dem Problem aber         als andere Truppengattungen, ist bislang nicht
nicht grundlegend. Eine ehrliche Bestandsauf-        sicher zu beantworten. Die öffentlich verfüg-
nahme, wie viele Bundeswehrsoldaten sich             baren Informationen geben dazu keine Aus-
Vorbilder aus der Zeit vor 1945 suchen und vor       kunft, und auch in internen Runden mit dem
allem warum sie dies tun und welche Schluss-         MAD war darüber nichts zu erfahren. Aufgrund
folgerungen daraus zu ziehen sind, hat es bis        der ausgeprägten Kameradschaft, einem rusti-
heute nicht gegeben. Etliche Verbote gingen          kalen Kämpferhabitus und einer bis weit in die
den Kritikern von außen zumeist nicht weit           1990er-Jahr reichenden Verklärung der Wehr-
genug und bewirkten intern, dass sich viele          macht scheint eine Nähe gleichwohl plausibel.
Soldaten trotzig in die Welt der tribal cultures     Oberst Friedrich Jeschonnek, der damalige
oder noch weiter in die Primärgruppen zurück-        Kommandeur der Luftlande- und Lufttrans-
zogen, um ihren lieb gewonnenen Narrativen           portschule in Altenstadt, sah dies zumindest
zu frönen. Hier waren sie für die offiziellen Tra-   so und meinte 1998, dass die Fallschirmjäger-
ditionsangebote zuweilen nur noch schwer er-         truppe anscheinend rechtsradikale Kräfte an-
reichbar. Bleibt man bei dem Beispiel der Fall-      ziehe.8

ETHIK UND MILITÄR 02/21                          ETHIKUNDMILITAER.DE                                 9
Innere Führung und soldatisches Ethos in der Diskussion - Werte leben, Werten dienen
INNERE FÜHRUNG UND SOLDATISCHES ETHOS IN DER DISKUSSION

                     Tribal cultures bergen also die Gefahr einer               oder Entwicklungshelfer, sondern in letzter
                  Art Isolationismus, sodass Soldaten im ärgs-                  Konsequenz Kämpfer waren. Nur so war es
                  ten Fall nur noch die eigene Welt sehen und                   der Truppe überhaupt möglich, zwischen
                  sich vom Rest der Streitkräfte, aber auch der                 2009 und 2011 ihre Aufträge in Afghanistan zu
                  Gesellschaft abgrenzen. Um solche Tenden-                     erfüllen. Wenn sich der Generalinspekteur all-
                  zen im KSK zu durchbrechen, wurde mit Ans-                    zu kritische Lagemeldungen verbot, Minister
                  gar Meyer bewusst ein Offizier zum neuen                      an einer Realitätsverweigerung festhielten,
                  Kommandeur ausgewählt, der als Panzer-                        dann konnte der offizielle Diskurs nur noch
                  mann, Personaler und Nichtspringer keinerlei                  wenig Bindungskraft entfalten. Viele Soldaten,
                  Stallgeruch hat und der für eine stärkere Inte-               die vor Ort mit unerfüllbaren Aufträgen kon-
                  gration des Verbandes in das Gesamtsystem                     frontiert waren und keine Antworten auf ihre
                  Bundeswehr sorgen soll.                                       Fragen von der politischen oder militärischen
                     Tribal cultures hatten einerseits das Poten­               Führung vernahmen, zogen sich in ihre eige-
                  zial, durch ihre Gegendeutungen das institu-                  nen Welten zurück. Es war wichtig, dass mit
                                                                                den tribal cultures dann ein Rückzugsort vor-
Tribal cultures bergen durchaus die                                             handen war, der zumindest in den allermeis-
                                                                                ten Fällen mit der Institution verbunden blieb.
Gefahr einer Art Isolationismus, sodass Soldaten                                   Ob diese Abkopplung zugleich eine poli-
im ­ärgsten Fall nur noch die eigene Welt                                       tische Dimension hatte, die im Extremfall zu
                                                                                einer Radikalisierung führen konnte, hing
sehen und sich vom Rest der Streitkräfte, aber                                  auch sehr von den Vorgesetzten ab. Es lag zu-
auch der Gesellschaft abgrenzen                                                 meist an ihnen, Grenzen zu setzen. Es gab in
                                                                                Afghanistan Patches, die mit den Werten und
                  tionelle Gefüge von Streitkräften zu belasten.                Normen des Grundgesetzes gewiss nicht in
                  Andererseits konnten sie aber auch die vertika-               Einklang standen, ebenso rustikale Diskurse
                  le Kohäsion der Streitkräfte stabilisieren, weil              über Land und Leute, die mit dem offiziellen
                  sie Soldaten eine emotionale Heimat schufen,                  Sprech kaum zu vereinbaren waren. Etliche
                  verständliche Deutungsangebote formulier-                     Offiziere duldeten dies, weil sie sich selbst
                  ten, die eine der sicherheitspolitischen Reali-               als Teil einer Gemeinschaft im Krieg wahr-
                  tät zuweilen entrückte politische und militäri-               nahmen, für die gefühlt andere Maßstäbe gal-
                  sche Führung offenbar nicht anbieten konnte.                  ten als im Frieden. Zu fragen ist freilich, was
                  Als in den 1990er-Jahren alle vom Frieden                     die Folgen dieser Entwicklung waren. Gewiss
                  sprachen, sich mancher Lehrende an den hö-                    kommt einem die Totenkopfaffäre des Jahres
                  heren Bildungseinrichtungen der Bundeswehr                    2006 in den Sinn. Vorfälle aber, die auch nur in
                  mit Entzückung daranmachte, Soldaten zu so-                   die Nähe von Kriegsverbrechen kommen, sind
                  cial workern umzudefinieren, behielten Teile                  von der Bundeswehr nicht bekannt gewor-
                  der Kampftruppen das Bewusstsein, dass sie                    den. Die Entfremdung vom Referenzrahmen
                  nicht in erster Linie Kulturmittler, Mediatoren               der Gesellschaft scheint also vorhanden, aber
                                                                                insgesamt doch begrenzt gewesen zu sein.
                                                                                Man akzeptierte ein gewisses Maß an „brauch-
Der Autor                                                                       barer Illegalität“ (Stefan Kühl), ließ diese aber
                                                                                nicht ausufern. Dies ging freilich nur, weil das
                                                                                Ausmaß der Kämpfe auch in den Jahren 2009
                 Sönke Neitzel ist seit 2015 Professor für Militärgeschichte/
                 Kulturgeschichte der Gewalt an der Universität Potsdam.        bis 2011 begrenzt blieb und die Soldaten zwar
                 Zuvor lehrte und forschte er an den Universitäten Mainz,       Gefechte, aber keine Schlachten erlebten.
                 Bern, Saarbrücken, Glasgow und der London School of               Die tribal cultures der Truppengattungen
                 Economics (LSE). Zuletzt erschien: „Deutsche Krieger. Vom      waren in der langen Geschichte der Bundes-
                 Kaiserreich zur Berliner Republik. Eine Militärgeschichte“     wehr trotz mancher Fehlentwicklung vor
                 (2020) und zusammen mit Bastian Matteo Scianna: „Blutige       allem ein stabilisierender Faktor im Kohä-
                 Enthaltung. Deutschlands Rolle im Syrienkrieg“ (2021).         sionsgeflecht der Streitkräfte. Im Sinne eines

                  10                                ETHIKUNDMILITAER.DE                              ETHIK UND MILITÄR 02/21
subsidiären Systems bildeten sie die Spezifika
der unterschiedlichsten soldatischen Kultu-
ren ab, wozu die Gesamtorganisation kaum in
der Lage war. Sie waren dadurch näher an der
sozialen Praxis der Soldaten, stärkten durch
besondere Sitten und Gebräuche, aber auch
durch eine artgerechte Sprache die Bindung
zur Bundeswehr. Es ist zu einem erheblichen
Maße den tribal cultures zu verdanken, dass
angesichts der permanenten Überforderung
der Truppe, militärisch vielfach sinnfreier Ein-
sätze und einer bemerkenswerten Dysfunk-
tionalität der Organisationsstrukturen in den
letzten 30 Jahren die Aufträge überhaupt er-
füllt wurden. Dieser Befund trifft in besonde-
rem Maße auf die viel gescholtenen Spezial-
kräfte zu.

1 Überliefert in BArch-MA, N 666/72.
2 Ausführlich dargestellt bei Nägler, Frank (2010): Der
gewollte Soldat und sein Wandel. Personelle Rüstung
und Innere Führung in den Aufbaujahren der Bundes-
wehr 1956 bis 1964/65. München.
3 Ausführlich dazu unlängst Holz, Nicolas (2021):
Zurück in die Zukunft. Empfehlungen zur Wieder­
entdeckung und Weiterentwicklung der Inneren
Führung, Berlin.
4 Die britische Armee benennt sechs Werte: Courage,
Discipline, Respect for Others, Integrity, Loyalty,
Selfless Commitment, die in den Leitdokumenten knapp
beschrieben werden. https://www.army.mod.uk/
media/2698/ac72021_the_army_leadership_code_an_in-
troductory_guide.pdf
Vgl. auch https://www.army.mod.uk/me-
dia/5219/20180910-values_standards_2018_final.pdf
(Stand: 21.11.2021).
5 Belege aus Neitzel, Sönke (2020): Deutsche Krieger.
Vom Kaiserreich zur Berliner Republik. Eine Militär­
geschichte. 5. Aufl. Berlin , S. 357.
6 Dazu Biehl, Heiko (2010): Kampfmoral und Kohäsion
als Forschungsgegenstand. In: Apelt, Maja (Hg.):
Forschungsthema: Militär. Militärische Organisationen
im Spannungsfeld von Krieg, Gesellschaft und
soldatischen Subjekten. Wiesbaden, S. 139−162; Neitzel
(2020), S. 16 f.
7 Vgl. vor allem Wiesendahl, Elmar (2010): Athen oder
Sparta – Bundeswehr quo vadis? Bremen.
8 Beobachtungsbesuch 28/98 bei Luftlande-/Lufttrans-
portschule Altenstadt am 22./23.04.98, BArch-MA
2/31927.

ETHIK UND MILITÄR 02/21                                   ETHIKUNDMILITAER.DE   11
„STAATSBÜRGER IN
    UNIFORM“ ODER                                                         Autor: Reinhold Janke

„DEUTSCHE KRIEGER“                                                        Innere Führung als
                                                                          Konsolidierungsbeitrag
               DIE INNERE FÜHRUNG AUF                                     zum Krisenmodus
                       DEM PRÜFSTAND?                                     General a. D. Hans-Lothar Domröse, zuletzt
                                                                          Oberbefehlshaber des Allied Joint Force
                                                                          Command Brunssum und 2008 / 2009 Chef
                                                                          des Stabes der ISAF in Kabul, hat in einem
                                                         Abstract         Interview das Ende des Afghanistaneinsat-
                                                                          zes mit dem Eingeständnis charakterisiert
                                                                          „… wir stehen vor einem Scherbenhaufen.“
    Der Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr hat nicht nur die Be-
                                                                          Domröse betonte, was an Zeit, Geld, Mate-
deutung intrinsischer Motivation und eines übergeordneten Sinns,
                                                                          rial, Waffen, Personal, Beratung und Ausbil-
     kurz des „Wofür“, hervorgehoben. Die Erfahrungen der Solda-
                                                                          dung investiert worden war, benannte aber
  tinnen und Soldaten stellen Politik, Gesellschaft und militärische      auch Gründe, die zum Scheitern führten:
     Führung auch Fragen nach dem soldatischen Selbstverständnis          einerseits das Versagen und die Flucht der
    und der Aktualität der Inneren Führung, die sich notwendiger-         afghanischen Staats- und Militärführung, an-
                          weise als dynamische Konzeption begreift.       dererseits der daraus resultierende Zusam-
      In einem breiteren historischen Rahmen setzt sich Sönke Neit-       menbruch jeglicher Kampfmoral, Verteidi-
     zels jüngstes Buch Deutsche Krieger auf verschiedenen Ebenen         gungsbereitschaft und Widerstandskraft der
  kritisch mit der Inneren Führung auseinander. Zuzustimmen ist           afghanischen Streit- und Sicherheitskräfte.
    ihm beim Urteil, Politik und Militärführung seien die Vermitt-        Domröse konstatierte selbstkritisch: „Es fehl-
       lung der Legitimation und Sinnhaftigkeit des Auftrags – ein        te das ‚Wofür-man-kämpft‘, und das haben
 Kernziel der Inneren Führung – schuldig geblieben. Wo zu Recht           wir offensichtlich nicht ausgebildet.“1 Trotz
                                                                          ambitionierter Ausbildung, Beratung und
 der Primat der Politik betont wird, muss diese auch ihrer Verant-
                                                                          Begleitung ist es nicht gelungen, Mentalitäts-
                wortung der Bundeswehr gegenüber gerecht werden.
                                                                          muster der ethnozentrierten, staatsfernen
      Neitzels Darstellung beruht auf der Gegenüberstellung zweier
                                                                          Stammeskultur aufzubrechen. Afghanistan
      Sphären, der militärischen und der zivilen. Der Soldatenberuf       ist somit auch ein Lehrstück für die Bedeu-
  führt seiner Darstellung zufolge zur Ausprägung einer Welt mit          tung von Legitimation, Sinnvermittlung und
    eigenen Werten und Normen, in der „tribal cultures“ der Trup-         Führungskultur als wichtige Faktoren für
   pengattungen für die horizontale und vertikale Kohäsion wirk-          systemische und individuelle Resilienzbil-
mächtiger sind als ein Treue zu abstrakten Werten. Dieser Befund          dung. Soldaten brauchen offenbar Vorbilder
    greift etwas zu kurz: Die Reduktion auf gelebte Kameradschaft         und ein „Wofür“, für das es sich zu kämpfen
  und Mitmenschlichkeit im Ernst des Einsatzes und der Auftrags-          lohnt. Die Innere Führung als Führungskultur
erfüllung steht nicht per se im Widerspruch zum unverrückbaren            der Bundeswehr kann auf diese Frage gute
     Wertefundament der Verfassung – die eine Ebene des „Wofür“           Antworten geben. Die besondere Rolle und
     darf die andere nicht aufheben. Für eine ernsthafte Diskussion       Relevanz der Inneren Führung erweist sich
                                                                          bereits darin, dass sie oft fast reflexartig als
      mit Soldatinnen und Soldaten darf aber keine von beiden aus-
                                                                          Referenzrahmen und Rechtfertigungsratio-
                                                  geblendet werden.
                                                                          nal für alle möglichen Krisen dienen muss.
       Abschließend werden für die weitere konzeptionelle und kon-
                                                                          Das kann man einerseits als Verkennung ih-
krete Befassung mit der Inneren Führung fünf Punkte formuliert,           res Geltungsbereichs und als Überschätzung
 darunter eine Rückbesinnung auf ihre Kerngedanken, die Bereit-           ihrer Wirkungsreichweite beklagen. Anderer-
  schaft zur Aufnahme konstruktiver Kritik und eine konsequente           seits zeigt diese Inanspruchnahme, dass in
      Persönlichkeitsbildung. Generell ist mehr Ernsthaftigkeit statt     Zeiten von Dynamik und Unsicherheit die In-
 Bequemlichkeit im Umgang mit der so anspruchsvollen wie wert-            nere Führung als Kompetenzadresse gesucht
                                        vollen Konzeption gefordert.      wird: Sie dient als nützliches Erklärstück, als

                           12                           ETHIKUNDMILITAER.DE                    ETHIK UND MILITÄR 02/21
konzeptionelles Korrektiv oder als strapazier-    geben, die in Afghanistan und anderswo im
fähiges Denkmodell, das auch auf komplexe         Einsatz waren, dort gedient, gelitten und
Fragestellungen diskussionsfähige Antwor-         gekämpft haben, die Verletzungen und Ver-
ten anbietet.                                     wundungen an Seele, Geist und Körper da-
   Die Innere Führung wurde von Beginn an         vongetragen und auch Kameraden verloren
als eine dynamische Konzeption mit einem          haben? Verändern solche eindrücklichen Er-
relativ statischen Wertefundament gedacht         lebnisse und Erfahrungen das eigene solda-
und angelegt. Diese Kombination stellt kei-       tische Selbstverständnis? Kann das vertraute
nen Widerspruch dar, sondern sorgt vielmehr       Leitbild vom Staatsbürger in Uniform seinen
wie Baustahl im Beton für eine Armierung,         Gültigkeitsanspruch weiterhin behaupten,
die eine belastbare Verbindung von Stabilität     oder bedarf es einer Nachjustierung oder gar
und Flexibilität gewährleistet. Die Werteord-     Neubewertung und Veränderung?
nung des Grundgesetzes mit den daraus ab-
geleiteten ethischen Grundlagen bildet den        Vom „Staatsbürger in
unveränderlichen Kernbestand der Inneren          Uniform“ zurück
Führung. Neben diesen Konstanten benötigt         zum „Deutschen Krieger“?
die Innere Führung aber auch notwendige
Variablen, um auf Veränderungen reagie-           Der Inhaber des in Deutschland singulären
ren zu können. Die Konstanten bilden einen        Lehrstuhls für Militärgeschichte und Kultur-
festen Ruhepol, während die Variablen als         geschichte der Gewalt in Potsdam, Professor
flexible Wechselgrößen wirken, vergleichbar       Dr. Sönke Neitzel, hat 2020 eine zu Recht viel
dem ästhetischen Kompositionsprinzip des          beachtete und in zahlreichen Rezensionen
Kontraposts, wo Standbein und Spielbein           intensiv, mit­unter auch kontrovers bespro-
für Spannung und Ausgleich sorgen. Denn           chene deutsche Militärgeschichte verfasst,
gerade geistige Standfestigkeit beruht nicht      der er den programmatischen Titel Deutsche
auf dogmatischer Starrheit, sondern entsteht      Krieger2 gab. Neitzel richtet den Fokus seiner
aus reflektierter Beweglichkeit. Diese Agilität   historischen Darstellung auf das Heer, da es
beugt zudem Erschöpfungstendenzen vor             hinsichtlich seiner Rollenrelevanz und Tradi-
und trägt damit zu der bereits genannten Re-      tionskontinuität die Frage nach dem soldati-
silienzbildung bei. Das bedeutet aber auch,       schen Selbstverständnis insgesamt am deut-
dass die Konzeption ständig einer Bedarfs-        lichsten widerspiegelt:
analyse und kritischen Bewertung bezüglich           „So ist es nicht verwunderlich, dass die in
der Notwendigkeit zur Weiterentwicklung,          der Bundesrepublik geführten großen Debat-
Aktualisierung und Anpassung an neue Ge-          ten um Tradition und Identität der Streitkräf-
gebenheiten und Erfordernisse bedarf. Dies        te fast immer vom Heer ausgingen. Letztlich
gilt gerade dann, wenn disruptive Verände-        ging es stets um die Frage, wie es die Bundes-
rungen und hybride Bedrohungsszenarien zu         wehr mit dem Kämpfen, Töten und Sterben
Verunsicherungen führen, die wiederum Ein-        hielt – eine Frage, die die Landstreitkräfte im
fallstore für Indoktrination, Manipulation und    Besonderen betraf. Der Buchtitel ‚Deutsche
kontrafaktische Meinungsmache darstellen.         Krieger‘ beschreibt diese archaische Seite
Wir stehen heute vor Herausforderungen,           des Soldatenberufs.“3
deren Kontingenzsignaturen mit bisherigen            Mit dem Stichwort „archaisch“ spielt Neit-
Kontinuitätsgewissheiten nur noch unzurei-        zel erkennbar auf den „archaischen Kämp-
chend erklärbar und beherrschbar sind. Das        fer“ an, den der damalige Heeresinspekteur
Beispiel Afghanistan weist wie ein Menetekel      Hans-Otto Budde 2004 als künftigen Solda-
auf künftige Szenarien. Welche Antworten          tentypus für die Bundeswehr gefordert hatte.
können und wollen die Politik, die Gesell-        Dieses robuste Anforderungsprofil wird bis
schaft, die militärische Führung und auch die     heute stark kritisiert, zumal das Attribut „ar-
Innere Führung ihren Soldaten und Soldatin-       chaisch“ eher Assoziationen weckt, die mit
nen, vor allem aber denjenigen unter ihnen        Kinobildern von menschlichen Kampfma-

ETHIK UND MILITÄR 02/21                       ETHIKUNDMILITAER.DE                             13
INNERE FÜHRUNG UND SOLDATISCHES ETHOS IN DER DISKUSSION

                  schinen aus der heroischen Mythologie ver-       fangenheit des eigenen militärischen Mikro-
                  knüpft sind. Allerdings formulierte Budde sei-   kosmos den rahmenbildenden Makrokosmos
                  ne Bedarfsforderung differenzierter, indem er    von Staat und Gesellschaft mit ihren Relati-
                  neben dem urwüchsigen Kämpfer auch dem           vierungsmechanismen zumindest partiell
                  modernen, technikaffinen Spezialisten das        ausblendet:
                  Wort redete: „Wir brauchen den archaischen         „Verständlicher wird diese Haltung, wenn
                  Kämpfer und den, der den High-Tech-Krieg         man das Militär als eine Welt mit eigenen
                  führen kann.“4 Mit dem lieb gewonnenen Bild      Werten und Normen versteht, die zwar von
                  vom braven „Staatsbürger in Uniform“ aus         Gesellschaft und Politik mitgeprägt wird,
                  den früheren Wehrpflichtzeiten in einer vor-     aber doch einen besonderen sozialen Kos-
                  rangig auf Landes- und Bündnisverteidigung       mos bildet. Die reale oder potenzielle Er-
                  ausgerichteten Ausbildungsarmee hatten           fahrung vom Kämpfen, Töten und Sterben
                  diese Zuschreibungen nicht mehr viel zu tun.     unterscheidet die Streitkräfte fundamental
                  Die Auslandseinsätze der Bundeswehr hatten       von anderen gesellschaftlichen Gruppen.
                  bereits neue Erfahrungshorizonte und Frage-      (…) Wer das Kämpfen in den Mittelpunkt sei-
                  stellungen eröffnet, die adäquate Antworten      ner beruflichen Identität stellt, sucht sich be-
                  erwarteten. Neitzels Buch verortet diese Fra-    sondere Vorbilder.“5
                  gestellungen in einen weiten historischen          Die Konzeption der Inneren Führung be-
                  Vergleichsrahmen. Seine zentrale These ist,      tont stets den Primat der Politik als „Vorrang
                  dass die „Deutschen Krieger“ sozusagen in        des demokratisch legitimierten politischen
                  einem intergenerationellen Traditionsver-        Willens“6 vor dem Militär. Diese Vorrang-
                  bund stehen, der – trotz aller Abgrenzungs-      stellung ist weniger ein politisches Privileg
                  bemühungen durch Traditionserlasse mit           als vielmehr eine besondere Verantwortung
                  entsprechenden Ausschlussklauseln – den          gegenüber der Bundeswehr als Exekutiv-
                  Kombattanten der „Reichseinigungskriege“         organ der Bundesrepublik Deutschland, das
                  (1864 bis 1871) mit dem Frontkämpfer des         parlamentarisch mandatierte und damit be-
                  Ersten Weltkriegs sowie den Reichswehran-        sonders legitimierte Aufträge im Rahmen
                  gehörigen und den Wehrmachtsoldaten bis          einer gesamtstaatlichen Sicherheitsvorsorge
                  zum heutigen Bundeswehrsoldaten (mit Ein-        ausführt. Artikel 87 des Grundgesetzes be-
                  satzerfahrung) auf eine gemeinsame Konti-        gründet den verfassungsrechtlichen Auftrag
                                                                   der Bundeswehr. In diesem Verständnis wird
Der Primat der Politik ist weniger                                 die Bundeswehr auch als Parlamentsarmee
                                                                   bezeichnet. Die Legitimation dieser Auf-
ein Privileg als vielmehr eine besondere                           tragserfüllung wird als ein Ziel der Inneren

­Verantwortung gegenüber der                                       Führung mit der Absicht definiert, „die Frage
                                                                   nach der Sinnhaftigkeit des Dienens zu be-
 Bundeswehr als Parlamentsarmee                                    antworten, d. h. ethische, rechtliche, politi-
                                                                   sche und gesellschaftliche Begründungen
                  nuitätslinie reiht. Bei der Darstellung solda-   für soldatisches Handeln zu vermitteln und
                  tischer Identitäten im historischen Kontext      dabei den Sinn des militärischen Auftrages,
                  sind Neitzels Beobachtungen und kritischen       insbesondere bei Auslandseinsätzen wie in
                  Bewertungen zur Inneren Führung von be-          Afghanistan einsichtig und verständlich zu
                  sonderer Bedeutung. Zunächst konstatiert         machen“7. Diesen ständigen Begründungs-,
                  Neitzel auch für den Bundeswehrsoldaten          Sinngebungs- und Vermittlungsauftrag er-
                  einen Sui-generis-Anspruch, den er über den      achtet Neitzel durch Politik und Militärfüh-
                  ethisch-soziologischen Sonderstatus einer        rung gerade für die Auslandseinsätze als nur
                  Kämpferexistenz begründet, die nach seiner       unzureichend erfüllt:
                  Bewertung in der soldatischen Selbstwahr-          „Die Praxis der Inneren Führung, auf die
                  nehmung mehr oder weniger bewusst auch           man sich so viel einbildete, erlitt massive
                  auf Wehrmachtsvorbilder setzt und in der Be-     Schäden, weil ein Dienen aus Einsicht kaum

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möglich war, wenn Regierung, Bundestag            vor allem die Stabsoffiziere. Die Masse der
und Militärführung nicht willens waren, rea-      Soldaten konnte mit ihnen wenig anfangen.
listische Aufgaben und Ziele zu formulieren,      Die Berge wohlmeinender Konzeptpapiere
sich stattdessen in Worthülsen flüchteten         über die Bundeswehr als demokratische In-
und die Soldaten mit einem gefühlten Legiti-      stitution konnten nichts daran ändern, dass
mitätsdefizit in den Einsatz schickten. Vertei-   immer weniger junge Männer gewillt waren,
digte man am Hindukusch wirklich die Werte        mit der Waffe in der Hand die Demokratie zu
und Normen des Grundgesetzes, während             verteidigen.“9
man zugleich eine korrupte Regierung unter-          Dass Konzeption und Realität ebenso wie
stützte, mit Kriminellen zusammenarbeitete        Theorie und Praxis zu Divergenzen neigen,
und deren Drogengeschäfte absicherte? Ka-         ist eine Binsenweisheit, die für alle Lebens-
binett und Parlament haben diese Fragen           bereiche gilt. Und die Abgehobenheit und
nicht beantwortet.“8                              vermeintliche Unverständlichkeit der Kon-
   Das von Neitzel angesprochene „gefühlte        zeption der Inneren Führung wird bis heu-
Legitimitätsdefizit“ wird gerade von einsatz-
erfahrenen Soldaten immer wieder bestätigt.                     Der Vorwurf der Abgehobenheit und
So fragen offenbar selbst Bundestagsabge-
ordnete, die das Einsatzgebiet besuchen, die      ­vermeintlichen Unverständlichkeit der Konzeption
Truppe vor Ort, wozu sie eigentlich da sei und                  kommt meist von ­denjenigen, die sich
was ihr Auftrag sei. Wer würde wohl einen
zuvor bestellten Handwerker fragen, warum
                                                         mit der Inneren Führung offenkundig noch
er im Badezimmer mit der Rohrzange unter                            gar nicht ernsthaft befasst haben
dem Waschbecken liegt? Insider wissen, dass
manche Abgeordnete inhaltlich nicht annä-         te beklagt. Dieser Vorwurf kommt übrigens
hernd erfasst haben, worüber sie manchmal         meist von denjenigen, die sich mit der Inne-
zu sehr später Stunde bei den Einsatzmanda-       ren Führung offenkundig noch gar nicht ernst-
ten mit abgestimmt haben. Wenn aber selbst        haft befasst haben. Als konstruktive Frage
politische Entscheidungsträger das jeweilige      bleibt, wie viel Komplexitätsreduktion ohne
Einsatzrational nicht erklären können oder        noch hinnehmbaren Substanzverlust mög-
wollen, müssen wieder die militärischen Füh-      lich ist. Das Vermittlungs- und Akzeptanzpro-
rer den ihnen anvertrauten Soldatinnen und        blem bleibt somit bestehen, zumal sich die
Soldaten Rede und Antwort stehen. Für das         Aufmerksamkeitsfenster heutiger Rezipien-
Vertrauen in die Politik, das Parlament und       ten immer mehr zu Wahrnehmungsschieß-
die Militärführung ist das kaum förderlich.       scharten verengen. Neitzels Bewer­tung, dass
Neitzel moniert zudem ein Vermittlungs- und       die zunehmende Papierflut offi­    zieller Ver-
Umsetzungsproblem der Inneren Führung,            lautbarungen nichts an der abnehmenden
das bereits in der Zeit der Wehrpflichtarmee      Wehrwilligkeit hätte ändern können, geht an
bestand. Seine Argumentationslinie zeigt je-      der Sache vorbei, da angehende Rekruten
doch Bruchstellen und wird in der pauscha-        ohnehin erst in ihrer Grundausbildung erst-
len Zuspitzung der komplexen Gemengelage          mals mit dem Thema Innere Führung kon-
nicht ganz gerecht:                               frontiert wurden. Die Verweigerungshaltung
   „Die Truppenrealität war mit dem nach au-      gegenüber der Wehrpflicht ist ohnehin nicht
ßen kommunizierten Bild keineswegs iden-          monokausal erklärbar, sondern hatte Hinter-
tisch. Zwar beschrieben die Konzepte des          gründe, Motive und Aspekte, die in mehreren
Staatsbürgers in Uniform und der Inneren          Forschungssammelbänden           aufgearbeitet
Führung einen wünschenswerten Idealzu-            sind.10
stand des politisch mündigen Soldaten und
standen mitnichten im Gegensatz zu kampf-
bereiten Streitkräften. Sie waren aber zu ver-
kopft gedacht und beschäftigten im Alltag

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