Innere Führung und soldatisches Ethos in der Diskussion - Werte leben, Werten dienen
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KONTROVERSEN I N M I LI TÄ R E T H I K U N D SICHERHEITSPOLITIK AUSGABE 02/2021 Innere Führung und soldatisches Ethos in der Diskussion SPECIAL Werte leben, Werten dienen
INHALT INNERE FÜHRUNG UND SOLDATISCHES ETHOS IN DER DISKUSSION Editorial SPECIAL: Veronika Bock Seite 3 WERTE LEBEN, Tribal cultures und Innere Führung – WERTEN DIENEN ein Widerspruch? Sönke Neitzel Seite 4 Zivilcourage im Militär – kein Widerspruch! „Staatsbürger in Uniform“ oder Eva Högl Seite 50 „Deutsche Krieger“: Die Innere Führung auf dem Prüfstand? Geben wir dem Staatsbürger seine Reinhold Janke Seite 12 Uniform zurück! Ein persönlicher Essay Die Innere Führung als Matthias Schwarzbauer Seite 54 Antwortversuch auf die Frage der (militärischen) Gewalt. Zuverlässig, rechtschaffen und Theologisch-ethische Anmerkungen engagiert im Dienste Luxemburgs zur gegenwärtigen Debatte und seiner Verbündeten: Markus Patenge Seite 20 Die Entwicklung eines Werte- Rasters bei der Luxemburger Armee Militärische Tugenden für Steve Thull/Erny Gillen Seite 62 die heutige Zeit Peter Olsthoorn Seite 26 „Wir müssen auch die Seele erreichen“ Interview mit dem Theologen, „God, how I hate the 20th century“: Historiker und Erwachsenenpädagogen Zur Ritterlichkeit als Mythos und Heinrich Dickerhoff Seite 68 als ethische Tugend Bernhard Koch Seite 34 Impressum/Alle Ausgaben Seite 71 Mannbarkeitsriten: Gewaltrituale, sexuelle Übergriffe und Rechts extremismus in der Bundeswehr Rolf Pohl Seite 42 2 ETHIKUNDMILITAER.DE ETHIK UND MILITÄR 02/21
EDITORIAL Zwischen Anspruch und Wirklichkeit – Wo steht geblendet. Selbst Politiker sehen Soldatinnen die Innere Führung? Kann das vertraute Leitbild und Soldaten häufig lieber als „Streetworker in vom „Staatsbürger in Uniform“ seinen Gültig- Uniform“ denn als ausgebildete Kämpfer, die im keitsanspruch weiterhin behaupten, oder bedarf äußersten Fall ihr Leben für die Grundwerte unse- es einer Nachjustierung oder gar Neubewertung res Staates aufs Spiel setzen. und Veränderung? Das war die Ausgangsfrage Vor diesem Hintergrund hat Professor Dr. einer Podiumsdiskussion, zu der die Deutsche Sönke Neitzel mit seinem provozierenden Buch Kommission Justitia et Pax und das zebis am „Deutsche Krieger“ die Diskussion um die Innere 19. Oktober 2021 in die Katholische Akademie Führung der Bundeswehr neu entfacht. Nach sei- Berlin eingeladen hatten. ner These wird die Identifikation der Soldatinnen Mit der neuen Ausgabe von „Ethik und Militär“ und Soldaten mit dem politischen System über- wollen wir diese Debatte vertiefen. Denn es hat schätzt; stattdessen müsse die Motivation durch sich gezeigt, dass nach dem Abzug aus Afghanis- militärische Professionalität, entsprechende tan nicht nur innerhalb der Bundeswehr, sondern Werte und „tribal cultures“ der Truppengattungen auch in der breiteren Öffentlichkeit ein erheb- mehr Berücksichtigung finden. Kein Geringerer licher Diskussionsbedarf über die Rolle unserer als Wolfgang Schäuble hat das Buch vorgestellt Streitkräfte und ihrer Führungsprinzipien besteht. und dabei eine „unbequeme“ und „unpopuläre“ Im Grunde kann Deutschland stolz sein auf gesellschaftliche Debatte über das Verhältnis der die Führungskultur der Bundeswehr, die seit Deutschen zum Militär gefordert. Gründung des Zentrums Innere Führung vor Dem wollen wir hiermit nachkommen und 65 Jahren organisatorisch fest verankert ist. Als freuen uns sehr, dass Sönke Neitzel hier in einem Bildungszentrum trägt es Sorge dafür, das Leit- Essay seine Gedanken weiter ausführt. Wie not- bild vom „Staatsbürger in Uniform“ zu vermitteln, wendig und fruchtbar die aktuelle Auseinander- das soldatische Entscheidungen und Handlun- setzung mit der Inneren Führung, dem Selbstbild gen an die Werte und Prinzipien unseres Grund- von Soldatinnen und Soldaten und prägenden gesetzes bindet: Menschenwürde, Gerechtigkeit, Werten ist, zeigen auch die hochinteressanten Freiheit, Frieden, Solidarität und Demokratie. Das Beiträge der anderen Autorinnen und Autoren Besondere im Unterschied zu vielen anderen Ar- dieser Ausgabe. Sie beschäftigen sich mit wich- meen auf der Welt: Verpflichtend für die einzelne tigen Aspekten wie Zivilcourage, Ritterlichkeit, Soldatin, den einzelnen Soldaten ist in letzter In- Männlichkeit und Macht bis hin zu der Frage, was stanz nicht das Ordnungsprinzip von Befehl und Militärseelsorge in die Diskussion um Innere Füh- Gehorsam, sondern das eigene Gewissen. Damit rung und ein soldatisches Ethos einbringen kann. tragen sie auch individuelle Verantwortung für Die Aussage des Erwachsenenpädagogen ihr militärisches Handeln. Innere Führung dient Heinrich Dickerhoff (Seite 68) hat mir gefallen: dazu, die Entwicklung eines soldatischen Selbst- „Man muss nicht nur den Kopf ansprechen, son- verständnisses zu fördern, das diesem Anspruch dern auch die Seele erreichen.“ gerecht wird. Dennoch stellt sich die Frage, ob das aus den Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre! 1950er-Jahren stammende Konzept trotz ständi- ger Anpassungen noch zeitgemäß ist. Denn die Bundeswehr hat sich stark verändert: Aus einer Dr. Veronika Bock territorialen Verteidigungsarmee ist eine inter- Direktorin des zebis nationale Einsatztruppe geworden; sie hat sich von einer Wehrpflicht- zu einer Freiwilligen- und Berufsarmee gewandelt. Zudem steht seit über zwanzig Jahren auch Frauen die militärische Laufbahn offen – ein Novum in den zuvor rein männlich geprägten Streitkräften. Gleichzeitig wird der militärische Auftrag der Bundeswehr je- doch in der öffentlichen Wahrnehmung oft aus- ETHIK UND MILITÄR 02/21 ETHIKUNDMILITAER.DE 3
TRIBAL CULTURES UND INNERE FÜHRUNG – Autor: Sönke Neitzel EIN WIDERSPRUCH? Auf Umwegen wirksam: Die Innere Führung Zu keinem Aspekt der Bundeswehr ist so viel Papier bedruckt worden wie zur Inneren Führung (IF). Die Diskussionen darüber sind so alt wie die Institution selbst, und ein Ende der Debatte ist nicht absehbar. Aber warum ist das eigentlich so? Kontrovers ist gewiss nicht Abstract der Kern ihres Inhalts: Gegen gute Menschen- führung kann niemand etwas haben, und die Werte und Normen des Grundgesetzes auf die An der Sinnhaftigkeit der Inneren Führung kann mit Blick auf Streitkräfte der Republik zu übertragen bedarf die deutsche Militärgeschichte kein Zweifel bestehen – genauso eigentlich keiner weiteren Begründung. Wie wenig wie an der konkreten Ausformulierung ihrer Kernideen, sollte es auch anders sein, zumal nach den Er- etwa im Beschwerdewesen oder im Parlamentsvorbehalt. Kritisch ist fahrungen mit der Reichswehr und der Wehr- jedoch ihre Überfrachtung als Theoriegebäude zu sehen. Hier wird macht. die These aufgestellt, dass dem von Beginn an kontroversen Konzept Diskutiert wird vielmehr, was diese Prinzi für die Motivation vieler Bundeswehrsoldatinnen und -soldaten – pien in der Praxis konkret bedeuten sollen. genauso wie für die Entwicklung von Demokratiebewusstsein und In der Gründungszeit der Bundeswehr wurde Rechtsverständnis in den Streitkräften – eine geringere Bedeutung darüber besonders heftig gestritten. Zwischen zukommt, als viele seiner Verfechter wahrhaben wollen. Wolf Graf von Baudissin und seinem ehema- Der Beitrag rückt vor allem den Begriff des „tribes“ in den Fokus. ligen Mitarbeiter Heinz Karst entbrannte ein Er wurde in der Militärsoziologie in Analogie zu kriegerischen auch in der Öffentlichkeit ausgetragener Dis- put. Und dies obwohl alle Protagonisten der Stammeskulturen für wirkmächtige kulturelle Entitäten in den frühen Debatten die Grundprinzipien der IF Streitkräften geprägt. In der Bundeswehr lässt sich dieser auf die befürworteten, auf dem Boden des Grundge- Truppengattungen anwenden; speziell in den Kampftruppen gren- setzes standen und etwa auch den 20. Juli als zen sich diese durch spezifische Merkmale und Verhaltensweisen Referenzpunkt für die Tradition akzeptierten. ab, die durch ihren je eigenen Auftrag geprägt werden und idealer- Im Kern drehte sich der Streit darum, wie viel weise horizontale und vertikale Kohäsion verknüpfen. Ausrichtung auf den Krieg es in der neuen Ar- Solche auch durch einen Kämpferhabitus gekennzeichneten mee geben dürfe. Wie weit musste der Habitus „tribal cultures“ stehen zu Unrecht in Teilen der politischen und der neuen Streitkräfte zivilisiert werden, um militärischen Führung im Generalverdacht, ein staats- und ver junge Soldaten zum Dienst an der Waffe zu fassungsfernes Sonderethos zu fördern und zu festigen. Dass sie im motivieren und ihnen im Systemkonflikt mit Zusammenwirken mit anderen Faktoren zu einer zunehmenden dem Ostblock Orientierung zu geben? Vielen Abgrenzung von der Gesellschaft und der Bundeswehr als überge gingen Baudissins Forderungen zu weit, so ordneter Institution führen können – bis hin zum Rückzug in auch dem ersten Kommandeur des Zentrums für Innere Führung, Arthur Weber, der sich vordemokratische oder rechtsextreme Haltungen, wie etwa in Teilen 1969 mit zehn offenen Briefen demonstrativ des KSK geschehen –, muss natürlich ernst genommen werden. Um gegen seinen einstigen Förderer stellte.1 Aber dieser Gefahr zu begegnen, bräuchte es unter anderem eine ehrliche- auch die prägenden Figuren der Gründerge- re Auseinandersetzung über verbreitete Traditions- und Vorbilder. neration wie etwa Adolf Heusinger, Johann Mit Vorstellungen eines eher mediatorisch agierenden „Vorzeige- Adolph von Kielmansegg, Hans Speidel oder militärs“ mögen „tribal cultures“ in Teilen schlecht zu vereinbaren auch Ulrich de Maizière hielten die reine Lehre sein. Wer sie jedoch pauschal als Gegenbild zu den Idealen der Baudissins nicht für praxistauglich. Da jeder Inneren Führung verteufelt, verkennt ihren insgesamt stabilisieren- die Akzente etwas anders setzte, kam schließ- den und bindungsfördernden Effekt. lich ein Kompromiss heraus. Die Vorschriften 4 ETHIKUNDMILITAER.DE ETHIK UND MILITÄR 02/21
zur IF waren typische Produkte eines minis- erat demonstrandum. Das Hauptproblem der teriellen Apparats, in dem kein Entwurf so IF ist nicht der Kern ihres Inhalts, sondern zurückkommt, wie er den Schreibtisch des offensichtlich die Vermittlung und die Über- Referatsleiters verlässt. Das Ergebnis ist gut frachtung. im Handbuch für Innere Führung aus dem Tendenziell wurde in der Geschichte der Jahr 1957 nachzulesen.2 Dieses ging Baudis- Bundeswehr von der IF zu viel für die Motiva- sin gewiss nicht weit genug, anderen war es tion der Soldaten erwartet. Gewiss: Im Unter- schon zu viel des Guten. Im Ringen um die schied zu den Vorgängerarmeen konnte man Mitte folgten mehrere Überarbeitungen, spä- in der Bundeswehr einen Befehl verweigern, ter dann Zentrale Dienstvorschriften, die sich man konnte sich beschweren, es gab einen stets an den aktuellen Diskurs in Gesellschaft Wehrbeauftragten, ein Kontrollrecht des Par- und Streitkräften anzupassen suchten. Frei- laments. Dies waren alles außerordentlich lich ist das Handbuch bis heute das offizielle wichtige Errungenschaften, die einen anderen Dokument, in dem sich die Bundeswehr am Rahmen schufen als in der Wehrmacht oder gründlichsten und intensivsten mit der Inne- ren Führung auseinandergesetzt hat – wes- halb die Lektüre noch immer lohnt.3 Zu allen Zeiten ist die Bedeutung Von Anfang an war die Innere Führung zen der Identifikation der Soldaten mit dem jeweiligen politischen System für traler Bestandteil des institutionellen Refe- renzrahmens der Bundeswehr. Als solche war sie nicht nur auf die Wirkung nach innen aus- gerichtet. Sie diente auch als Argumentations- ihre Motivation wohl überschätzt worden hilfe nach außen, als Beleg für die Integration der Streitkräfte in Staat und Gesellschaft, dafür, der Reichswehr. Ob dies aber zur Motivation dass man Konsequenzen aus der Geschichte der Masse der Soldaten beitrug, weil die De- gezogen hatte und sich von Reichswehr und mokratie damit auch in der Armee erfahrbar Wehrmacht abhob. Bei Skandalen und Krisen wurde, erscheint mehr als fraglich. Der Verfas- war die IF ein gerne gebrauchtes Argument ge- sungspatriotismus, auf den die reine Lehre der gen allzu pauschale Verurteilungen. Ihre Bedeu- IF zielt, setzt einen politisch bewussten Sol- tung ging also weit über die kurzen Statements daten voraus. So etwas gab es bei den Berufs- etwa im Army Leadership Code hinaus, mit dem soldaten, vor allem bei den Stabsoffizieren, das britische Heer auskommt.4 die in der Anfangszeit der Bundeswehr ja auch Die Vorschriften zur IF wurden in den vergan- noch selbst den Nationalsozialismus erlebt genen 60 Jahren immer wieder angepasst, zu- hatten und den Wert der neuen Gesetze und letzt 2017. Vielen Soldaten blieben die Hand- Verordnungen beurteilen konnten. Aber ganz bücher und Vorschriften indes zu abstrakt. sicher gab es das nicht bei der großen Masse Schnell war vom „Inneren Gewürge“ die Rede, der Wehrpflichtigen, die den Dienst zumindest von purer „Theologie“, von „Beschwörungs- seit Ende der 1960er-Jahre zu einem nicht un- formeln“, von reinen Lippenbekenntnissen5. erheblichen Teil als sinnfreien Zwangsdienst Wenngleich vielfach unreflektiert, sind solche empfanden – allen demokratischen Errungen- harschen Urteile doch nachvollziehbar. Eine schaften der Bundesrepublik und ihrer Armee einfache, konkrete, allgemein verständliche zum Trotz. Definition für die soldatische Praxis ist bislang Zu allen Zeiten ist die Bedeutung der Iden- nicht vorgelegt worden. Stattdessen erlebt tifikation der Soldaten mit dem jeweiligen der teilnehmende Beobachter Vorgesetzte, politischen System für ihre Motivation wohl die mit vorgefertigten Sprechteilen über die überschätzt worden. Weder waren 1914 alle IF reden, oder er liest in wissenschaftlichen Soldaten kaisertreu, noch waren 1939 alle Na- Arbeiten aus der Feder von Offizieren, in de- tionalsozialisten. Und in der Bundesrepublik nen am Ende stets der Beweis erbracht wird, war die Haltung der Mehrheit der Wehrpflich- dass die IF gut sei. Getreu dem Motto: Quod tigen zum Grundgesetz wohl eher indifferent. ETHIK UND MILITÄR 02/21 ETHIKUNDMILITAER.DE 5
INNERE FÜHRUNG UND SOLDATISCHES ETHOS IN DER DISKUSSION Dies bedeutet freilich nicht, dass der politi- Tribal cultures als Elemente sche Rahmen und damit auch die darauf be- der Kohäsion zogene IF gar keine Wirkung entfaltet hätten. Das Demokratiebewusstsein entwickelte sich Der erfreuliche Befund ist also, dass die al- allerdings weniger durch politischen Unter- lermeisten Bundeswehrsoldaten nach den richt und staubtrockene Vorschriften als durch Grundprinzipien der Inneren Führung han- die normative Kraft des gesellschaftlichen Le- delten, wenngleich ihnen das so gar nicht be- bens. Für die Bundesrepublik hieß dies, dass wusst gewesen sein dürfte. Dies bedeutet aber Schule, Beruf, Elternhaus und Freizeit den auch, dass in ihrer sozialen Praxis noch ande- Soldaten ein Verständnis von Werten und Nor- re Referenzpunkte existiert haben müssen. Die men vermittelten, die sie sich wohl nur selten Militärsoziologie hat die Quellen für die Moti- bewusst machten, die aber gleichwohl vor- vation von Soldaten überzeugend herausge- handen gewesen sind. Die allermeisten Sol- arbeitet. Auf einer vertikalen Ebene ist neben daten hatten eine klare Vorstellung von Recht dem Bezug zu Staat und Gesellschaft auch die und Unrecht, davon, was man tut und was Perzeption der Streitkräfte als Institution von Relevanz. Wird etwa die politische und militä- Das Demokratiebewusstsein in der rische Führung als kompetent, fair und wahr- haftig wahrgenommen? Sodann sind Anlass, Bundeswehr entwickelte sich weniger durch Ziel und Erfolgsaussichten eines Einsatzes politischen Unterricht und staubtrockene von Bedeutung. Daneben wurde schon früh Vorschriften als durch die normative Kraft auf der horizontalen Ebene auf die Relevanz der Primärgruppen hingewiesen, also jener des gesellschaftlichen Lebens Personenverbünde, zu denen der engste so- ziale Kontakt bestand und der im Militär Ver- man nicht tut, und zwar jenseits ermüdender bände bis zur Kompaniestärke umfasste.6 Belehrungen. Und dieser Referenzrahmen In der Verbindung der horizontalen und ver- hat sich gewiss von früheren Zeiten und wohl tikalen Ebene spielen die Truppengattungen auch von anderen Armeen unterschieden. eine erhebliche Rolle für den Zusammenhalt 2010 gab es Kompaniechefs, die in Char Darah der Streitkräfte. Diese bilden innerhalb der im Feuergefecht standen und keine klare Vor- Bundeswehr spezifische Gemeinschaften, for- stellung vom Inhalt der IF hatten. Und trotz- men einen eigenen Habitus, schufen eigene dem wussten sie ihre Soldaten zu motivieren Traditionsbilder und Riten, wodurch die Kul- und wirkungsvoll gegen eine Verwilderung der tur der Streitkräfte zusätzlich ausdifferenziert Sitten und Gebräuche einzutreten. Der demo- wurde. kratische footprint fand in allererster Linie auf Das weithin sichtbare Merkmal der Truppen- dem indirekten Weg über die gesellschaftliche gattung ist die Waffenfarbe, die zur Abgrenzung Prägung Eingang in die Bundeswehr. Und: und damit zur Identitätsstiftung seither von be- Wahrscheinlich wäre das Gesamtergebnis, sonderer Bedeutung ist. Mit der Einführung der so meine These, kein wesentlich anderes ge- feldgrauen Uniform 1909 waren die Waffengat- wesen, wenn die vielen Handbücher und Vor- tungen in Deutschenland nur noch durch farb- schriften zur IF nie geschrieben worden wären, lich unterschiedlich gestaltete Schulterstücke, sondern die Bundeswehr ähnlich wie andere Kragenspiegel und Rangabzeichen zu erken- Streitkräfte lediglich in knappen Worten an die nen. Bis heute ist in der Bundeswehr der Be- Werte der Republik erinnert hätte. griff der „Fehlfarbe“ jedem geläufig. Daneben sind mittlerweile auch die Abzeichen und die Farben der seit 1971 eingeführten Barette von besonderer Bedeutung, die in der Regel nicht mit der Waffenfarbe identisch sind. Ich habe die Kulturen der Truppengattun- gen unlängst als „tribal cultures“ bezeichnet, 6 ETHIKUNDMILITAER.DE ETHIK UND MILITÄR 02/21
weil sie in gewisser Hinsicht unterschiedlichen konnten so eine Art Transmissionsriemen zwi- Stämmen gleichkommen, die gleichwohl alle schen „oben“ und „unten“ bilden. Teile einer Gesamtorganisation sind. Der Be- Alle Truppengattungen und Dienstbereiche griff tribe wird in der Anthropologie und Eth- der Bundeswehr haben eine tribal culture, nologie zur Beschreibung der Kulturen etwa allerdings ist diese unterschiedlich stark aus- von amerikanischen First Nations verwendet. geprägt. In der Luftwaffe vielleicht ein Stück Nun wird man die Fallschirmjäger, Panzer- weniger, weil hier die Idee des die Dienstbe- grenadiere oder Artilleristen der Bundeswehr reiche übergreifenden „Teams“ eine größere nicht mit den Stammesgruppen nordamerika- Bedeutung hat. Bei der Marine und vor allem nischer Indianer gleichsetzen können, zumal beim Heer sind die tribal cultures wohl deutlich deren soziale Binnenorganisation sehr unter- konturierter, wobei vergleichende Studien bis- schiedlich war und die Begriffe nation, tribe, lang fehlen. band oder clans nicht trennscharf verwendet Je näher sich der Auftrag einer Truppen- werden. Parallelen gibt es aber insofern, als gattung am scharfen Ende des militärischen manche indigene Völker sich in Untergruppen Berufes befindet, desto ausgeprägter schei- aufteilten, die sich in Lebensweise, Dialekt, nen die tribal cultures zu sein. Besonders gut sozialer Zusammensetzung abgrenzten und lassen sie sich etwa bei den Heeresaufklärern, auch äußerlich voneinander zu unterscheiden der Jägertruppe oder auch den Fallschirm- waren. Gleichwohl unternahmen sie zusam- jägern studieren. Gerade Letztere sind für men Kriegszüge, wechselten zuweilen gar die gewöhnlich schon an ihrem äußeren Habi- Gruppen, die sich in freundschaftlicher Rivali- tus zu erkennen, der durch Haarschnitt und tät verbunden waren. Sie hatten aber alle das körperliche Fitness markiert wird. Kulturprä- Bewusstsein, zur selben Gemeinschaft – na- gend ist für sie die Luftlandung und die da- tion – zu gehören. durch erzeugte besondere Gefechtssituation. Der Begriff tribal cultures ist zuerst zur Be- schreibung der Kulturen britischer Regimenter Die tribal cultures in der Bundeswehr verwendet worden, die in den Landstreitkräf- ten des Vereinigten Königreichs eine prägen- spannten sich von den kleinsten Verbänden dere Rolle spielen als die Truppengattungen. bis weit in die Führungsspitze und Fasst man den Begriff tribe als Bezeichnung konnten so eine Art Transmissionsriemen für wirkmächtige kulturelle Entitäten in Streit- kräften auf, versteht man im internationa- zwischen „oben“ und „unten“ bilden len Vergleich darunter also durchaus unter- schiedliche Dinge. Im Kontext der deutschen Überraschung, Improvisation, aber auch der Militärgeschichte bildeten die Truppengat- Zwang, einen einmal begonnenen Kampf ge- tungen ein eigenes Deutungssystem. In ihrer winnen zu müssen, weil es in der Regel keine Wirkmächtigkeit sind sie nicht zu unterschät- Rückzugsmöglichkeit gibt, prägen die Kultur zen, und ihre Bedeutung sollte auch für das dieser Truppe. Das Fallschirmspringen hat- Gesamtsystem Bundeswehr ernst genom- te in der Bundeswehr zwar noch nie einen men werden. Sie verbanden die Kohäsion wirklichen operativen Wert. Gleichwohl ist es der Kompanien und Züge – der sogenannten für diese Truppengattung – wie auch für die Primärgruppen – auf einer vertikalen Ebene Spezialkräfte – kulturprägend. „Nichtspringer“ mit der Gesamtorganisation. Auch die Gene- können nur bedingt Teil der Gemeinschaft rale und Admirale als die Spitzenvertreter der werden, und jeder neu versetzte Komman- Streitkräfte ordneten sich – zuweilen geradezu deur tut gut daran, sich baldmöglichst nach demonstrativ – einer Truppengattung zu und seinem Amtsantritt aus dem Flugzeug zu waren damit von Soldaten der verschiede- stürzen, wenn er die Achtung seiner Soldaten nen tribes als die Ihren zu erkennen. Die tribal gewinnen will. Dabei kommt es nicht auf die cultures spannten sich also von den kleinsten militärische Bedeutung dieses Aktes an. Denn Verbänden bis weit in die Führungsspitze und in der militärischen Praxis ist es vollkommen ETHIK UND MILITÄR 02/21 ETHIKUNDMILITAER.DE 7
INNERE FÜHRUNG UND SOLDATISCHES ETHOS IN DER DISKUSSION unbedeutend, ob ein Kommandeur mit dem Bindungs- und Fallschirm abspringen kann oder nicht. Selbst Entkoppelungstendenzen in für den höchst unwahrscheinlichen Fall, dass der Bundeswehr heute er dies im Ernstfall einmal wirklich tun müss- te, gäbe es heutzutage sogar die Möglichkeit Steht der in manchen Truppengattungen ge- eines Tandemsprunges. Die kulturelle Bedeu- pflegte Habitus des Kämpfers im Gegensatz tung überragt die praktische Bedeutung bei zur Inneren Führung? Etliche Beamte und Weitem. Offiziere der Bundeswehr vertreten diese Die Fallschirmjäger haben sich seit ihrer Auf- Meinung. Sie sehen insbesondere in der Ge- stellung 1955 ein Elitebewusstsein bewahrt neration Afghanistan die Tendenz zur Redu- und pflegten ihre tribal culture mit besonderer zierung der Streitkräfte auf den Willen zum Hingabe. Erleichtert wird dies dadurch, dass Kampf und auf ein überzeitliches Kämpfer- diese Truppengattung zahlenmäßig immer tum. Es werde einem Tugendfundament das überschaubar war. Innerhalb der Bundeswehr Wort geredet, das mit dem demokratischen wurde diese Kultur durchaus kritisch gesehen, und zivilgesellschaftlichen Wertekanon nicht zumal mancher Beobachter den militärischen vereinbar sei. Den miles bellicus würden vom Wert der Luftlandebrigaden im Kalten Krieg Staatsbürger in Uniform Welten trennen, da als denkbar begrenzt erachtete und meinte, Letzterer von der tiefen Überzeugung geleitet dass zu irgendeinem Elitegebaren kein An- werde, als Soldat für demokratische Werte wie lass bestünde. Manche verspotteten die Fall- Menschenwürde, Freiheit und Gerechtigkeit schirmjäger als „Aufklatscher“ oder „Fallobst“. einzustehen. Je mehr sich ein militärisches Gleichwohl scheint der Ruf, eine besondere Sonderethos herausbilde, desto mehr werde Truppe zu sein, dann doch eine Wirkung ge- sich die Bundeswehr von der postheroischen habt zu haben. Bemerkenswert ist nämlich, Mehrheitsgesellschaft entfernen. Politik und dass die Luftlandetruppe selbst zu Zeiten militärische Führung müssten daher verhin- großen gesellschaftlichen Protests gegen das dern, dass vorgestrige Kriegskonzepte größere Militär – etwa 1968 oder während des NATO- Bedeutung für die Konstruktion soldatischer Doppelbeschlusses – nie Nachwuchssorgen Berufsidentitäten gewännen.7 hatte. Und mancher General trägt heute stolz Gewiss haben all jene, die in Soldaten vor allem Mediatoren, Kulturmittler und social Etliche Beamte und Offiziere der Bundes- worker erblicken, für die die Bundeswehr vor allem ein innenpolitisches Projekt ist, mit dem wehr sind der Meinung, der mancherorts Habitus der Kampftruppen ein Problem. Man- gepflegte Habitus des Kämpfers stehe im cher sieht aktuell ein Netzwerk finsterer Reak- tionäre am Werk, da im Heer und neuerdings Gegensatz zur Inneren Führung sogar in der Marine vermehrt von Kriegstaug- lichkeit und Siegeswillen die Rede ist. und demonstrativ das bordeauxrote Barett, Gleichwohl schließen sich Innere Führung obwohl er erst im fortgeschrittenen Alter ge- und die tribal cultures selbst der Kampftrup- wissermaßen als Artfremder zu dieser Trup- pen nicht aus. Deren Vertreter würden das pengattung hinzugestoßen ist. Nur wenige auch vehement zurückweisen. Die gute Men- grenzen sich so deutlich sichtbar ab wie etwa schenführung ist ohnehin konstituierend für Generalleutnant Jörg Vollmer. Er trug als Ins- einen Zusammenhalt der Truppengattung. pekteur des Heeres demonstrativ wieder sein Niemand ist stolz auf sein Barett, wenn er grünes Panzergrenadierbarett und gab damit damit nur Schikane verbindet. Und für diese ein klares Signal, welcher tribal culture er sich Republik zu kämpfen, sich ihren Werten und zugehörig fühlt. Normen zugehörig zu fühlen und sie als prä- gend für die Streitkräfte anzusehen, schließt auch einen rustikalen Habitus, wie er zuweilen in der Kampftruppe gepflegt wird, nicht aus. 8 ETHIKUNDMILITAER.DE ETHIK UND MILITÄR 02/21
Dieser ergibt sich nicht aus einem Gegensatz schirmjägertruppe, so ist auffällig, wie schwer zur Inneren Führung, sondern aus dem Auftrag sie sich in den 1990ern mit der gesellschaftli- des Kämpfens. Die IF ist von ihren Gründervä- chen Debatte um die Wehrmacht tat und dass tern nicht als weiche Welle, sondern als kons- sie auch nicht wirklich daran interessiert war, titutiver Bestandteil kampffähiger und kampf- ihr Traditionsbild weiterzuentwickeln. Hier ließ williger Streitkräfte gedacht worden. Wer die es vor allem das höhere Offizierskorps an einer Bundeswehr freilich nur als innenpolitisches angemessenen Führung und Erziehung fehlen. Projekt begreift, dessen Hauptaufgabe der Be- Im übergeordneten Sinne ist es gewiss pro- weis von Demokratietauglichkeit des Militärs blematisch, wenn zur Identifikation der Sol- ist, wer meint, dass Kampf eine „vorgestrige“ daten nur noch die tribal culture übrig bleibt, Aufgaben ist, führt den Zweck von Kampftrup- in der im schlimmsten Fall weder die Verfas- pen ab absurdum. sungsorgane, ja vielleicht nicht einmal die Zweifellos fördern tribal cultures Eigendy- Bundeswehr als übergeordnete Institution namiken, weil es – wo sie intensiv ausgeprägt noch eine wichtige Rolle spielen. Glaubt man sind – geschützte Räume für alternative Deu- tungen und Praktiken gibt. In solchen Räumen können Rituale gedeihen, die die Menschen- Die Innere Führung ist von ihren Gründer- würde verletzen, oder es kann ein Geschichts- vätern nicht als weiche Welle, sondern als konstitutiver Bestandteil kampffähiger bild bewahrt werden, das im Gegensatz zu einer sich verändernden Republik steht. Die Bundeswehr als strukturkonservative Organisation hinkte gesellschaftlichen Ent- und -williger Streitkräfte gedacht worden wicklungen stets hinterher. Sie war noch nie ein Vorkämpfer gesellschaftlicher Reformen den offiziellen Untersuchungsberichten, gab und stand daher oft in der Kritik der gesell- es solche Tendenzen in Teilen des KSK. Des- schaftlichen Avantgarde. Allerdings tat sich sen Kultur wird heute im öffentlichen Diskurs die Bundeswehr vielfach auch schwer, einen zuweilen mit Rechtsradikalismus verbunden. überzeugenden Mittelweg zwischen Bewah- Dies ist gewiss heillos verkürzt. Unstrittig ist rung und Veränderung zu finden. Die Debatte freilich, dass – nach allem, was zu erfahren ist – um die Traditionswürdigkeit der Wehrmacht die Kombination der tribal culture der Spezial- war im Wesentlichen ein Rückzugsgefecht, das kräfte mit den außerordentlich fest gefügten von den Streitkräften und dem Verteidigungs- Primärgruppen zu Fehlentwicklungen führte, ministerium ohne die notwendige intellek- die zu lange toleriert wurden. tuelle Tiefe geführt wurde. So benannte man Inwieweit die Spezialkräfte, aber auch die zwar Kasernen um, die in die öffentliche Kritik Fallschirmjäger mehr Rechtsradikale anzogen geraten waren, stellte sich dem Problem aber als andere Truppengattungen, ist bislang nicht nicht grundlegend. Eine ehrliche Bestandsauf- sicher zu beantworten. Die öffentlich verfüg- nahme, wie viele Bundeswehrsoldaten sich baren Informationen geben dazu keine Aus- Vorbilder aus der Zeit vor 1945 suchen und vor kunft, und auch in internen Runden mit dem allem warum sie dies tun und welche Schluss- MAD war darüber nichts zu erfahren. Aufgrund folgerungen daraus zu ziehen sind, hat es bis der ausgeprägten Kameradschaft, einem rusti- heute nicht gegeben. Etliche Verbote gingen kalen Kämpferhabitus und einer bis weit in die den Kritikern von außen zumeist nicht weit 1990er-Jahr reichenden Verklärung der Wehr- genug und bewirkten intern, dass sich viele macht scheint eine Nähe gleichwohl plausibel. Soldaten trotzig in die Welt der tribal cultures Oberst Friedrich Jeschonnek, der damalige oder noch weiter in die Primärgruppen zurück- Kommandeur der Luftlande- und Lufttrans- zogen, um ihren lieb gewonnenen Narrativen portschule in Altenstadt, sah dies zumindest zu frönen. Hier waren sie für die offiziellen Tra- so und meinte 1998, dass die Fallschirmjäger- ditionsangebote zuweilen nur noch schwer er- truppe anscheinend rechtsradikale Kräfte an- reichbar. Bleibt man bei dem Beispiel der Fall- ziehe.8 ETHIK UND MILITÄR 02/21 ETHIKUNDMILITAER.DE 9
INNERE FÜHRUNG UND SOLDATISCHES ETHOS IN DER DISKUSSION Tribal cultures bergen also die Gefahr einer oder Entwicklungshelfer, sondern in letzter Art Isolationismus, sodass Soldaten im ärgs- Konsequenz Kämpfer waren. Nur so war es ten Fall nur noch die eigene Welt sehen und der Truppe überhaupt möglich, zwischen sich vom Rest der Streitkräfte, aber auch der 2009 und 2011 ihre Aufträge in Afghanistan zu Gesellschaft abgrenzen. Um solche Tenden- erfüllen. Wenn sich der Generalinspekteur all- zen im KSK zu durchbrechen, wurde mit Ans- zu kritische Lagemeldungen verbot, Minister gar Meyer bewusst ein Offizier zum neuen an einer Realitätsverweigerung festhielten, Kommandeur ausgewählt, der als Panzer- dann konnte der offizielle Diskurs nur noch mann, Personaler und Nichtspringer keinerlei wenig Bindungskraft entfalten. Viele Soldaten, Stallgeruch hat und der für eine stärkere Inte- die vor Ort mit unerfüllbaren Aufträgen kon- gration des Verbandes in das Gesamtsystem frontiert waren und keine Antworten auf ihre Bundeswehr sorgen soll. Fragen von der politischen oder militärischen Tribal cultures hatten einerseits das Poten Führung vernahmen, zogen sich in ihre eige- zial, durch ihre Gegendeutungen das institu- nen Welten zurück. Es war wichtig, dass mit den tribal cultures dann ein Rückzugsort vor- Tribal cultures bergen durchaus die handen war, der zumindest in den allermeis- ten Fällen mit der Institution verbunden blieb. Gefahr einer Art Isolationismus, sodass Soldaten Ob diese Abkopplung zugleich eine poli- im ärgsten Fall nur noch die eigene Welt tische Dimension hatte, die im Extremfall zu einer Radikalisierung führen konnte, hing sehen und sich vom Rest der Streitkräfte, aber auch sehr von den Vorgesetzten ab. Es lag zu- auch der Gesellschaft abgrenzen meist an ihnen, Grenzen zu setzen. Es gab in Afghanistan Patches, die mit den Werten und tionelle Gefüge von Streitkräften zu belasten. Normen des Grundgesetzes gewiss nicht in Andererseits konnten sie aber auch die vertika- Einklang standen, ebenso rustikale Diskurse le Kohäsion der Streitkräfte stabilisieren, weil über Land und Leute, die mit dem offiziellen sie Soldaten eine emotionale Heimat schufen, Sprech kaum zu vereinbaren waren. Etliche verständliche Deutungsangebote formulier- Offiziere duldeten dies, weil sie sich selbst ten, die eine der sicherheitspolitischen Reali- als Teil einer Gemeinschaft im Krieg wahr- tät zuweilen entrückte politische und militäri- nahmen, für die gefühlt andere Maßstäbe gal- sche Führung offenbar nicht anbieten konnte. ten als im Frieden. Zu fragen ist freilich, was Als in den 1990er-Jahren alle vom Frieden die Folgen dieser Entwicklung waren. Gewiss sprachen, sich mancher Lehrende an den hö- kommt einem die Totenkopfaffäre des Jahres heren Bildungseinrichtungen der Bundeswehr 2006 in den Sinn. Vorfälle aber, die auch nur in mit Entzückung daranmachte, Soldaten zu so- die Nähe von Kriegsverbrechen kommen, sind cial workern umzudefinieren, behielten Teile von der Bundeswehr nicht bekannt gewor- der Kampftruppen das Bewusstsein, dass sie den. Die Entfremdung vom Referenzrahmen nicht in erster Linie Kulturmittler, Mediatoren der Gesellschaft scheint also vorhanden, aber insgesamt doch begrenzt gewesen zu sein. Man akzeptierte ein gewisses Maß an „brauch- Der Autor barer Illegalität“ (Stefan Kühl), ließ diese aber nicht ausufern. Dies ging freilich nur, weil das Ausmaß der Kämpfe auch in den Jahren 2009 Sönke Neitzel ist seit 2015 Professor für Militärgeschichte/ Kulturgeschichte der Gewalt an der Universität Potsdam. bis 2011 begrenzt blieb und die Soldaten zwar Zuvor lehrte und forschte er an den Universitäten Mainz, Gefechte, aber keine Schlachten erlebten. Bern, Saarbrücken, Glasgow und der London School of Die tribal cultures der Truppengattungen Economics (LSE). Zuletzt erschien: „Deutsche Krieger. Vom waren in der langen Geschichte der Bundes- Kaiserreich zur Berliner Republik. Eine Militärgeschichte“ wehr trotz mancher Fehlentwicklung vor (2020) und zusammen mit Bastian Matteo Scianna: „Blutige allem ein stabilisierender Faktor im Kohä- Enthaltung. Deutschlands Rolle im Syrienkrieg“ (2021). sionsgeflecht der Streitkräfte. Im Sinne eines 10 ETHIKUNDMILITAER.DE ETHIK UND MILITÄR 02/21
subsidiären Systems bildeten sie die Spezifika der unterschiedlichsten soldatischen Kultu- ren ab, wozu die Gesamtorganisation kaum in der Lage war. Sie waren dadurch näher an der sozialen Praxis der Soldaten, stärkten durch besondere Sitten und Gebräuche, aber auch durch eine artgerechte Sprache die Bindung zur Bundeswehr. Es ist zu einem erheblichen Maße den tribal cultures zu verdanken, dass angesichts der permanenten Überforderung der Truppe, militärisch vielfach sinnfreier Ein- sätze und einer bemerkenswerten Dysfunk- tionalität der Organisationsstrukturen in den letzten 30 Jahren die Aufträge überhaupt er- füllt wurden. Dieser Befund trifft in besonde- rem Maße auf die viel gescholtenen Spezial- kräfte zu. 1 Überliefert in BArch-MA, N 666/72. 2 Ausführlich dargestellt bei Nägler, Frank (2010): Der gewollte Soldat und sein Wandel. Personelle Rüstung und Innere Führung in den Aufbaujahren der Bundes- wehr 1956 bis 1964/65. München. 3 Ausführlich dazu unlängst Holz, Nicolas (2021): Zurück in die Zukunft. Empfehlungen zur Wieder entdeckung und Weiterentwicklung der Inneren Führung, Berlin. 4 Die britische Armee benennt sechs Werte: Courage, Discipline, Respect for Others, Integrity, Loyalty, Selfless Commitment, die in den Leitdokumenten knapp beschrieben werden. https://www.army.mod.uk/ media/2698/ac72021_the_army_leadership_code_an_in- troductory_guide.pdf Vgl. auch https://www.army.mod.uk/me- dia/5219/20180910-values_standards_2018_final.pdf (Stand: 21.11.2021). 5 Belege aus Neitzel, Sönke (2020): Deutsche Krieger. Vom Kaiserreich zur Berliner Republik. Eine Militär geschichte. 5. Aufl. Berlin , S. 357. 6 Dazu Biehl, Heiko (2010): Kampfmoral und Kohäsion als Forschungsgegenstand. In: Apelt, Maja (Hg.): Forschungsthema: Militär. Militärische Organisationen im Spannungsfeld von Krieg, Gesellschaft und soldatischen Subjekten. Wiesbaden, S. 139−162; Neitzel (2020), S. 16 f. 7 Vgl. vor allem Wiesendahl, Elmar (2010): Athen oder Sparta – Bundeswehr quo vadis? Bremen. 8 Beobachtungsbesuch 28/98 bei Luftlande-/Lufttrans- portschule Altenstadt am 22./23.04.98, BArch-MA 2/31927. ETHIK UND MILITÄR 02/21 ETHIKUNDMILITAER.DE 11
„STAATSBÜRGER IN UNIFORM“ ODER Autor: Reinhold Janke „DEUTSCHE KRIEGER“ Innere Führung als Konsolidierungsbeitrag DIE INNERE FÜHRUNG AUF zum Krisenmodus DEM PRÜFSTAND? General a. D. Hans-Lothar Domröse, zuletzt Oberbefehlshaber des Allied Joint Force Command Brunssum und 2008 / 2009 Chef des Stabes der ISAF in Kabul, hat in einem Abstract Interview das Ende des Afghanistaneinsat- zes mit dem Eingeständnis charakterisiert „… wir stehen vor einem Scherbenhaufen.“ Der Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr hat nicht nur die Be- Domröse betonte, was an Zeit, Geld, Mate- deutung intrinsischer Motivation und eines übergeordneten Sinns, rial, Waffen, Personal, Beratung und Ausbil- kurz des „Wofür“, hervorgehoben. Die Erfahrungen der Solda- dung investiert worden war, benannte aber tinnen und Soldaten stellen Politik, Gesellschaft und militärische auch Gründe, die zum Scheitern führten: Führung auch Fragen nach dem soldatischen Selbstverständnis einerseits das Versagen und die Flucht der und der Aktualität der Inneren Führung, die sich notwendiger- afghanischen Staats- und Militärführung, an- weise als dynamische Konzeption begreift. dererseits der daraus resultierende Zusam- In einem breiteren historischen Rahmen setzt sich Sönke Neit- menbruch jeglicher Kampfmoral, Verteidi- zels jüngstes Buch Deutsche Krieger auf verschiedenen Ebenen gungsbereitschaft und Widerstandskraft der kritisch mit der Inneren Führung auseinander. Zuzustimmen ist afghanischen Streit- und Sicherheitskräfte. ihm beim Urteil, Politik und Militärführung seien die Vermitt- Domröse konstatierte selbstkritisch: „Es fehl- lung der Legitimation und Sinnhaftigkeit des Auftrags – ein te das ‚Wofür-man-kämpft‘, und das haben Kernziel der Inneren Führung – schuldig geblieben. Wo zu Recht wir offensichtlich nicht ausgebildet.“1 Trotz ambitionierter Ausbildung, Beratung und der Primat der Politik betont wird, muss diese auch ihrer Verant- Begleitung ist es nicht gelungen, Mentalitäts- wortung der Bundeswehr gegenüber gerecht werden. muster der ethnozentrierten, staatsfernen Neitzels Darstellung beruht auf der Gegenüberstellung zweier Stammeskultur aufzubrechen. Afghanistan Sphären, der militärischen und der zivilen. Der Soldatenberuf ist somit auch ein Lehrstück für die Bedeu- führt seiner Darstellung zufolge zur Ausprägung einer Welt mit tung von Legitimation, Sinnvermittlung und eigenen Werten und Normen, in der „tribal cultures“ der Trup- Führungskultur als wichtige Faktoren für pengattungen für die horizontale und vertikale Kohäsion wirk- systemische und individuelle Resilienzbil- mächtiger sind als ein Treue zu abstrakten Werten. Dieser Befund dung. Soldaten brauchen offenbar Vorbilder greift etwas zu kurz: Die Reduktion auf gelebte Kameradschaft und ein „Wofür“, für das es sich zu kämpfen und Mitmenschlichkeit im Ernst des Einsatzes und der Auftrags- lohnt. Die Innere Führung als Führungskultur erfüllung steht nicht per se im Widerspruch zum unverrückbaren der Bundeswehr kann auf diese Frage gute Wertefundament der Verfassung – die eine Ebene des „Wofür“ Antworten geben. Die besondere Rolle und darf die andere nicht aufheben. Für eine ernsthafte Diskussion Relevanz der Inneren Führung erweist sich bereits darin, dass sie oft fast reflexartig als mit Soldatinnen und Soldaten darf aber keine von beiden aus- Referenzrahmen und Rechtfertigungsratio- geblendet werden. nal für alle möglichen Krisen dienen muss. Abschließend werden für die weitere konzeptionelle und kon- Das kann man einerseits als Verkennung ih- krete Befassung mit der Inneren Führung fünf Punkte formuliert, res Geltungsbereichs und als Überschätzung darunter eine Rückbesinnung auf ihre Kerngedanken, die Bereit- ihrer Wirkungsreichweite beklagen. Anderer- schaft zur Aufnahme konstruktiver Kritik und eine konsequente seits zeigt diese Inanspruchnahme, dass in Persönlichkeitsbildung. Generell ist mehr Ernsthaftigkeit statt Zeiten von Dynamik und Unsicherheit die In- Bequemlichkeit im Umgang mit der so anspruchsvollen wie wert- nere Führung als Kompetenzadresse gesucht vollen Konzeption gefordert. wird: Sie dient als nützliches Erklärstück, als 12 ETHIKUNDMILITAER.DE ETHIK UND MILITÄR 02/21
konzeptionelles Korrektiv oder als strapazier- geben, die in Afghanistan und anderswo im fähiges Denkmodell, das auch auf komplexe Einsatz waren, dort gedient, gelitten und Fragestellungen diskussionsfähige Antwor- gekämpft haben, die Verletzungen und Ver- ten anbietet. wundungen an Seele, Geist und Körper da- Die Innere Führung wurde von Beginn an vongetragen und auch Kameraden verloren als eine dynamische Konzeption mit einem haben? Verändern solche eindrücklichen Er- relativ statischen Wertefundament gedacht lebnisse und Erfahrungen das eigene solda- und angelegt. Diese Kombination stellt kei- tische Selbstverständnis? Kann das vertraute nen Widerspruch dar, sondern sorgt vielmehr Leitbild vom Staatsbürger in Uniform seinen wie Baustahl im Beton für eine Armierung, Gültigkeitsanspruch weiterhin behaupten, die eine belastbare Verbindung von Stabilität oder bedarf es einer Nachjustierung oder gar und Flexibilität gewährleistet. Die Werteord- Neubewertung und Veränderung? nung des Grundgesetzes mit den daraus ab- geleiteten ethischen Grundlagen bildet den Vom „Staatsbürger in unveränderlichen Kernbestand der Inneren Uniform“ zurück Führung. Neben diesen Konstanten benötigt zum „Deutschen Krieger“? die Innere Führung aber auch notwendige Variablen, um auf Veränderungen reagie- Der Inhaber des in Deutschland singulären ren zu können. Die Konstanten bilden einen Lehrstuhls für Militärgeschichte und Kultur- festen Ruhepol, während die Variablen als geschichte der Gewalt in Potsdam, Professor flexible Wechselgrößen wirken, vergleichbar Dr. Sönke Neitzel, hat 2020 eine zu Recht viel dem ästhetischen Kompositionsprinzip des beachtete und in zahlreichen Rezensionen Kontraposts, wo Standbein und Spielbein intensiv, mitunter auch kontrovers bespro- für Spannung und Ausgleich sorgen. Denn chene deutsche Militärgeschichte verfasst, gerade geistige Standfestigkeit beruht nicht der er den programmatischen Titel Deutsche auf dogmatischer Starrheit, sondern entsteht Krieger2 gab. Neitzel richtet den Fokus seiner aus reflektierter Beweglichkeit. Diese Agilität historischen Darstellung auf das Heer, da es beugt zudem Erschöpfungstendenzen vor hinsichtlich seiner Rollenrelevanz und Tradi- und trägt damit zu der bereits genannten Re- tionskontinuität die Frage nach dem soldati- silienzbildung bei. Das bedeutet aber auch, schen Selbstverständnis insgesamt am deut- dass die Konzeption ständig einer Bedarfs- lichsten widerspiegelt: analyse und kritischen Bewertung bezüglich „So ist es nicht verwunderlich, dass die in der Notwendigkeit zur Weiterentwicklung, der Bundesrepublik geführten großen Debat- Aktualisierung und Anpassung an neue Ge- ten um Tradition und Identität der Streitkräf- gebenheiten und Erfordernisse bedarf. Dies te fast immer vom Heer ausgingen. Letztlich gilt gerade dann, wenn disruptive Verände- ging es stets um die Frage, wie es die Bundes- rungen und hybride Bedrohungsszenarien zu wehr mit dem Kämpfen, Töten und Sterben Verunsicherungen führen, die wiederum Ein- hielt – eine Frage, die die Landstreitkräfte im fallstore für Indoktrination, Manipulation und Besonderen betraf. Der Buchtitel ‚Deutsche kontrafaktische Meinungsmache darstellen. Krieger‘ beschreibt diese archaische Seite Wir stehen heute vor Herausforderungen, des Soldatenberufs.“3 deren Kontingenzsignaturen mit bisherigen Mit dem Stichwort „archaisch“ spielt Neit- Kontinuitätsgewissheiten nur noch unzurei- zel erkennbar auf den „archaischen Kämp- chend erklärbar und beherrschbar sind. Das fer“ an, den der damalige Heeresinspekteur Beispiel Afghanistan weist wie ein Menetekel Hans-Otto Budde 2004 als künftigen Solda- auf künftige Szenarien. Welche Antworten tentypus für die Bundeswehr gefordert hatte. können und wollen die Politik, die Gesell- Dieses robuste Anforderungsprofil wird bis schaft, die militärische Führung und auch die heute stark kritisiert, zumal das Attribut „ar- Innere Führung ihren Soldaten und Soldatin- chaisch“ eher Assoziationen weckt, die mit nen, vor allem aber denjenigen unter ihnen Kinobildern von menschlichen Kampfma- ETHIK UND MILITÄR 02/21 ETHIKUNDMILITAER.DE 13
INNERE FÜHRUNG UND SOLDATISCHES ETHOS IN DER DISKUSSION schinen aus der heroischen Mythologie ver- fangenheit des eigenen militärischen Mikro- knüpft sind. Allerdings formulierte Budde sei- kosmos den rahmenbildenden Makrokosmos ne Bedarfsforderung differenzierter, indem er von Staat und Gesellschaft mit ihren Relati- neben dem urwüchsigen Kämpfer auch dem vierungsmechanismen zumindest partiell modernen, technikaffinen Spezialisten das ausblendet: Wort redete: „Wir brauchen den archaischen „Verständlicher wird diese Haltung, wenn Kämpfer und den, der den High-Tech-Krieg man das Militär als eine Welt mit eigenen führen kann.“4 Mit dem lieb gewonnenen Bild Werten und Normen versteht, die zwar von vom braven „Staatsbürger in Uniform“ aus Gesellschaft und Politik mitgeprägt wird, den früheren Wehrpflichtzeiten in einer vor- aber doch einen besonderen sozialen Kos- rangig auf Landes- und Bündnisverteidigung mos bildet. Die reale oder potenzielle Er- ausgerichteten Ausbildungsarmee hatten fahrung vom Kämpfen, Töten und Sterben diese Zuschreibungen nicht mehr viel zu tun. unterscheidet die Streitkräfte fundamental Die Auslandseinsätze der Bundeswehr hatten von anderen gesellschaftlichen Gruppen. bereits neue Erfahrungshorizonte und Frage- (…) Wer das Kämpfen in den Mittelpunkt sei- stellungen eröffnet, die adäquate Antworten ner beruflichen Identität stellt, sucht sich be- erwarteten. Neitzels Buch verortet diese Fra- sondere Vorbilder.“5 gestellungen in einen weiten historischen Die Konzeption der Inneren Führung be- Vergleichsrahmen. Seine zentrale These ist, tont stets den Primat der Politik als „Vorrang dass die „Deutschen Krieger“ sozusagen in des demokratisch legitimierten politischen einem intergenerationellen Traditionsver- Willens“6 vor dem Militär. Diese Vorrang- bund stehen, der – trotz aller Abgrenzungs- stellung ist weniger ein politisches Privileg bemühungen durch Traditionserlasse mit als vielmehr eine besondere Verantwortung entsprechenden Ausschlussklauseln – den gegenüber der Bundeswehr als Exekutiv- Kombattanten der „Reichseinigungskriege“ organ der Bundesrepublik Deutschland, das (1864 bis 1871) mit dem Frontkämpfer des parlamentarisch mandatierte und damit be- Ersten Weltkriegs sowie den Reichswehran- sonders legitimierte Aufträge im Rahmen gehörigen und den Wehrmachtsoldaten bis einer gesamtstaatlichen Sicherheitsvorsorge zum heutigen Bundeswehrsoldaten (mit Ein- ausführt. Artikel 87 des Grundgesetzes be- satzerfahrung) auf eine gemeinsame Konti- gründet den verfassungsrechtlichen Auftrag der Bundeswehr. In diesem Verständnis wird Der Primat der Politik ist weniger die Bundeswehr auch als Parlamentsarmee bezeichnet. Die Legitimation dieser Auf- ein Privileg als vielmehr eine besondere tragserfüllung wird als ein Ziel der Inneren Verantwortung gegenüber der Führung mit der Absicht definiert, „die Frage nach der Sinnhaftigkeit des Dienens zu be- Bundeswehr als Parlamentsarmee antworten, d. h. ethische, rechtliche, politi- sche und gesellschaftliche Begründungen nuitätslinie reiht. Bei der Darstellung solda- für soldatisches Handeln zu vermitteln und tischer Identitäten im historischen Kontext dabei den Sinn des militärischen Auftrages, sind Neitzels Beobachtungen und kritischen insbesondere bei Auslandseinsätzen wie in Bewertungen zur Inneren Führung von be- Afghanistan einsichtig und verständlich zu sonderer Bedeutung. Zunächst konstatiert machen“7. Diesen ständigen Begründungs-, Neitzel auch für den Bundeswehrsoldaten Sinngebungs- und Vermittlungsauftrag er- einen Sui-generis-Anspruch, den er über den achtet Neitzel durch Politik und Militärfüh- ethisch-soziologischen Sonderstatus einer rung gerade für die Auslandseinsätze als nur Kämpferexistenz begründet, die nach seiner unzureichend erfüllt: Bewertung in der soldatischen Selbstwahr- „Die Praxis der Inneren Führung, auf die nehmung mehr oder weniger bewusst auch man sich so viel einbildete, erlitt massive auf Wehrmachtsvorbilder setzt und in der Be- Schäden, weil ein Dienen aus Einsicht kaum 14 ETHIKUNDMILITAER.DE ETHIK UND MILITÄR 02/21
möglich war, wenn Regierung, Bundestag vor allem die Stabsoffiziere. Die Masse der und Militärführung nicht willens waren, rea- Soldaten konnte mit ihnen wenig anfangen. listische Aufgaben und Ziele zu formulieren, Die Berge wohlmeinender Konzeptpapiere sich stattdessen in Worthülsen flüchteten über die Bundeswehr als demokratische In- und die Soldaten mit einem gefühlten Legiti- stitution konnten nichts daran ändern, dass mitätsdefizit in den Einsatz schickten. Vertei- immer weniger junge Männer gewillt waren, digte man am Hindukusch wirklich die Werte mit der Waffe in der Hand die Demokratie zu und Normen des Grundgesetzes, während verteidigen.“9 man zugleich eine korrupte Regierung unter- Dass Konzeption und Realität ebenso wie stützte, mit Kriminellen zusammenarbeitete Theorie und Praxis zu Divergenzen neigen, und deren Drogengeschäfte absicherte? Ka- ist eine Binsenweisheit, die für alle Lebens- binett und Parlament haben diese Fragen bereiche gilt. Und die Abgehobenheit und nicht beantwortet.“8 vermeintliche Unverständlichkeit der Kon- Das von Neitzel angesprochene „gefühlte zeption der Inneren Führung wird bis heu- Legitimitätsdefizit“ wird gerade von einsatz- erfahrenen Soldaten immer wieder bestätigt. Der Vorwurf der Abgehobenheit und So fragen offenbar selbst Bundestagsabge- ordnete, die das Einsatzgebiet besuchen, die vermeintlichen Unverständlichkeit der Konzeption Truppe vor Ort, wozu sie eigentlich da sei und kommt meist von denjenigen, die sich was ihr Auftrag sei. Wer würde wohl einen zuvor bestellten Handwerker fragen, warum mit der Inneren Führung offenkundig noch er im Badezimmer mit der Rohrzange unter gar nicht ernsthaft befasst haben dem Waschbecken liegt? Insider wissen, dass manche Abgeordnete inhaltlich nicht annä- te beklagt. Dieser Vorwurf kommt übrigens hernd erfasst haben, worüber sie manchmal meist von denjenigen, die sich mit der Inne- zu sehr später Stunde bei den Einsatzmanda- ren Führung offenkundig noch gar nicht ernst- ten mit abgestimmt haben. Wenn aber selbst haft befasst haben. Als konstruktive Frage politische Entscheidungsträger das jeweilige bleibt, wie viel Komplexitätsreduktion ohne Einsatzrational nicht erklären können oder noch hinnehmbaren Substanzverlust mög- wollen, müssen wieder die militärischen Füh- lich ist. Das Vermittlungs- und Akzeptanzpro- rer den ihnen anvertrauten Soldatinnen und blem bleibt somit bestehen, zumal sich die Soldaten Rede und Antwort stehen. Für das Aufmerksamkeitsfenster heutiger Rezipien- Vertrauen in die Politik, das Parlament und ten immer mehr zu Wahrnehmungsschieß- die Militärführung ist das kaum förderlich. scharten verengen. Neitzels Bewertung, dass Neitzel moniert zudem ein Vermittlungs- und die zunehmende Papierflut offi zieller Ver- Umsetzungsproblem der Inneren Führung, lautbarungen nichts an der abnehmenden das bereits in der Zeit der Wehrpflichtarmee Wehrwilligkeit hätte ändern können, geht an bestand. Seine Argumentationslinie zeigt je- der Sache vorbei, da angehende Rekruten doch Bruchstellen und wird in der pauscha- ohnehin erst in ihrer Grundausbildung erst- len Zuspitzung der komplexen Gemengelage mals mit dem Thema Innere Führung kon- nicht ganz gerecht: frontiert wurden. Die Verweigerungshaltung „Die Truppenrealität war mit dem nach au- gegenüber der Wehrpflicht ist ohnehin nicht ßen kommunizierten Bild keineswegs iden- monokausal erklärbar, sondern hatte Hinter- tisch. Zwar beschrieben die Konzepte des gründe, Motive und Aspekte, die in mehreren Staatsbürgers in Uniform und der Inneren Forschungssammelbänden aufgearbeitet Führung einen wünschenswerten Idealzu- sind.10 stand des politisch mündigen Soldaten und standen mitnichten im Gegensatz zu kampf- bereiten Streitkräften. Sie waren aber zu ver- kopft gedacht und beschäftigten im Alltag ETHIK UND MILITÄR 02/21 ETHIKUNDMILITAER.DE 15
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