AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Korruption - Bundeszentrale für politische ...
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71. Jahrgang, 19–20/2021, 10. Mai 2021 AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE Korruption Jens Ivo Engels Dominik H. Enste KLEINE GESCHICHTE DER FOLGEN VON KORRUPTION KORRUPTION FÜR WIRTSCHAFT, STAAT UND GESELLSCHAFT Monika Oberle KORRUPTION ALS Anne van Aaken GEGENSTAND DER ENTWICKLUNG, POLITISCHEN BILDUNG WIRTSCHAFT(SWACHSTUM) UND INTERNATIONALE Peter Graeff KORRUPTIONSBEKÄMPFUNG GRAUZONEN MODERNER KORRUPTION Freya Gassmann · Michael Koch KORRUPTION IM SPORT Sebastian Wolf KORRUPTION UND ANTIKORRUPTION IN POLITIK UND VERWALTUNG ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Beilage zur Wochenzeitung
Korruption APuZ 19–20/2021 JENS IVO ENGELS DOMINIK H. ENSTE KLEINE GESCHICHTE DER KORRUPTION FOLGEN VON KORRUPTION FÜR Der Beitrag beleuchtet die Entstehung der WIRTSCHAFT, STAAT UND GESELLSCHAFT modernen Auffassung von Korruption seit der Die Folgen von Korruption lassen sich im Län- Zeit um 1800. Anhand des Amtsbegriffs, der dervergleich ermitteln. Zu ihnen zählen Armut, Trennung von öffentlichem und privatem Nutzen geringeres Wachstum, weniger Wohlbefinden, sowie historischer Korruptionsdebatten führt er mehr Ungleichheit, größere Schattenwirtschaft Probleme vor Augen, die bis heute bestehen. sowie ein Vertrauensverlust in die Politik. Seite 04–09 Hierunter leiden langfristig alle Akteure. Seite 28–33 MONIKA OBERLE KORRUPTION ALS GEGENSTAND ANNE VAN AAKEN DER POLITISCHEN BILDUNG ENTWICKLUNG, WIRTSCHAFT(SWACHSTUM) Korruption schadet der Demokratie und UND INTERNATIONALE verursacht materielle und immaterielle Kosten. KORRUPTIONSBEKÄMPFUNG Ziel politischer Bildung ist ein differenzierterer Korruption ist ein komplexes Phänomen, dessen Umgang mit diesem vielschichtigen Phänomen Ursachen und Wirkungen eng verwoben sind. und eine Stärkung der Urteils- und Handlungs- Korruptionsbekämpfung in der Entwicklungs- fähigkeit der Lernenden. zusammenarbeit erfordert internationalen Seite 10–15 Konsens und eine Stärkung ökonomischer, politischer und rechtlicher Institutionen. Seite 34–39 PETER GRAEFF GRAUZONEN MODERNER KORRUPTION Dass Korruption positive Effekte haben kann, FREYA GASSMANN · MICHAEL KOCH entspricht weder dem Stand der empirischen KORRUPTION IM SPORT Forschung noch den allgemeinen sozialen Auch der Sport ist gegen Korruption nicht Erwartungen. Gleichwohl lohnt es sich, mehr gefeit. Zwar ist er, entgegen der öffentlichen über die Grauzonen korrupten Verhaltens Wahrnehmung, keineswegs besonders korrup- nachzudenken. tionsanfällig, allerdings hat der Sport wegen Seite 16–20 der mit ihm verbundenen hohen normativen Prinzipien besonders viel zu verlieren. Seite 40–45 SEBASTIAN WOLF KORRUPTION UND ANTIKORRUPTION IN POLITIK UND VERWALTUNG Politische Korruption als Missbrauch öffentli- cher Macht zum privaten Vorteil kann verschie- dene Formen annehmen und unterschiedliche Folgen haben. Korruptionsbekämpfung ist eine Daueraufgabe demokratischer Rechtsstaaten und mitunter ein umkämpftes Politikfeld. Seite 21–27
EDITORIAL Korruption ist ein ebenso altes wie vielschichtiges Phänomen. Gemeinhin wird darunter der Missbrauch eines öffentlichen Amtes, einer Funktion in der Wirt- schaft oder eines politischen Mandats zur Erlangung eines Vorteils für sich oder einen Dritten verstanden. Ausweislich des „Bundeslagebilds Korruption“ des Bundeskriminalamts verursachte Korruption in den vergangenen fünf Jahren einen durchschnittlichen Gesamtschaden von 161 Millionen Euro jährlich, bei mehr als 5800 erfassten Korruptionsstraftaten pro Jahr – und dies sind nur die aufgedeckten Fälle. Während die öffentliche Verwaltung, die Wirtschaft und die Strafverfolgungs- und Justizbehörden bevorzugte Ziele versuchter oder vollen- deter Korruptionshandlungen waren, spielte die Bestechlichkeit und Bestechung von Mandatsträgern nur eine untergeordnete Rolle. Allerdings zeigen die jüngsten Vorkommnisse um die mutmaßliche Vorteils- nahme bei der Vermittlung von Corona-Schutzmasken („Masken-Affäre“), dass Korruption nicht nur strafrechtliche oder ökonomische Folgen hat, sondern auch ernste Auswirkungen auf die wahrgenommene Legitimität eines politi- schen Systems und seiner Handelnden. Vertrauen in staatliches und politisches Handeln ist nicht nur in Pandemiezeiten eine wichtige Ressource, die durch vermeintliche oder tatsächliche Korruption Schaden zu nehmen droht. Wie bei allen sozialen Phänomenen lohnt sich aber auch hier ein Blick auf die Grauzonen und Ambivalenzen. Wann etwa legitimer Lobbyismus in korruptes Handeln umschlägt, ist in der Praxis mitunter ebenso schwer zu beurteilen wie die Frage, wann aus Vertrauensbeziehungen, gegenseitiger Hilfeleistung oder Solidarität zwischen Personen gesellschaftlich schädliche, illegitime und korrupte Handlungen zum Schaden der Allgemeinheit werden. „Korruption ist Klüngeln ohne Charakter“, meinen Kölnerinnen und Kölner seit jeher zu wis- sen. Möglicherweise machen sie es sich damit aber dann doch zu leicht. Sascha Kneip 03
APuZ 19–20/2021 KLEINE GESCHICHTE DER KORRUPTION Jens Ivo Engels Über Korruption gibt es die Alltagsweisheit, dass VON WÖRTERN UND BEGRIFFEN sie das zweitälteste Gewerbe der Welt sei. Das ist bemerkenswert. Denn zum einen deutet dies auf Spricht man über Korruption, so stehen vielfache die moralische Anrüchigkeit der Korruption, ganz Annahmen im Raum, die oft nicht klar benannt so wie beim „ältesten Gewerbe“. Zum anderen sind. Entscheidend sind die Wörter und Begrif- unterstellt diese Aussage, Korruption begleite die fe, mit denen man ein Problem beschreibt. Hier Menschheit von Beginn an. Die Botschaft lautet gilt es zu unterscheiden. Heutzutage ist das Wort also: Zu den Schwächen des Menschen gehört die „Korruption“ (corruption, corruzione, corrupción, Korrumpierbarkeit. Das kann mit fatalistischem коррупция, etc.) in vielen Sprachen mit ähnlicher Unterton versehen sein, der auf die Unausrott- Bedeutung verbreitet. Man kann sich also leicht barkeit des Übels verweist. Es kann aber auch die verständigen. Das war nicht immer so. Der aus dringende Aufforderung motivieren, sich nun aber dem Lateinischen entlehnte Wortstamm corruptio/ endlich von dieser Geißel zu befreien. corruptus ist in der europäischen (Rechts-)Kultur Beides sollte Interesse und Widerspruch von seit der Antike tradiert worden. Aber in einigen Historikerinnen und Historikern provozieren. Sprachen fand er erst spät Verwendung. In deut- Behauptungen, dass etwas überall oder seit jeher schen Wörterbüchern setzte sich die Vokabel erst vorkomme, sind noch immer widerlegt worden. allmählich im Verlauf des 19. Jahrhunderts durch, Auch spielt die angebliche Natur des Menschen ganz anders als in englischen Nachschlagewerken, keine Rolle in der seriösen Geschichtswissen- in denen das Wort schon sehr früh verbreitet war.01 schaft. Selbst zur moralischen Erbauung trägt Dennoch war das dahinterstehende Problem auch Historie nur noch selten bei. Andererseits ist die in Deutschland bekannt, wurde aber anders be- Beobachtung hinter der Alltagsweisheit nicht nannt. In der Frühen Neuzeit bezeichnete man an- völlig aus der Luft gegriffen: Über Korruption stößige Einflussnahme auf Amtsträger durch Ge- und Bestechung diskutieren die europäischen Ge- schenke als „miet“ (im Gegensatz zum erlaubten meinwesen seit der griechischen und römischen „schenk“).02 Bereits im 14. Jahrhundert kritisierte Antike – bis hin zur Verurteilung des ehemaligen der englische Philosoph und Theologe John Wy- französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy we- clif in einer lateinischen Schrift den Ämterkauf – gen Bestechung oder zur sogenannten Masken- allerdings nannte auch er das Wort „Korruption“ Affäre im Deutschen Bundestag im März 2021. nicht, sondern schrieb „De Simonia“, also über die Es handelt sich also gewiss um einen Dauerbren- Simonie, den Kauf kirchlicher Ämter.03 ner politischer und gesellschaftlicher Auseinan- Umgekehrt bedeutet der jahrhundertelange dersetzung in unserem Kulturkreis. Außerdem Gebrauch dieses Wortes nicht, dass jeweils das- kommt es für eine realistische Einschätzung ak- selbe gemeint ist. Die lateinische „corruptio“ tueller Korruption und ihrer Bekämpfung darauf etwa bezeichnete beim Kirchenvater Augustinus an, ihre Geschichte zu kennen. Der historische und im frühen Mittelalter noch etwas ganz ande- Blick ermöglicht es, ein wenig zurückzutreten res, als wir heute damit verbinden. Gemeint war und jenseits praktischer Anforderungen, juristi- der Unterschied zwischen dem perfekten Wesen scher Sachverhalte oder politischer Aufgeregthei- Gottes und dem moralisch fehlerhaften Men- ten über Grundstrukturen des Problems nachzu- schen. Korruption verwies also unspezifisch auf denken. Einige Dinge, so meine These, lassen sich die Sündhaftigkeit der Erdenbewohner im Kon- niemals lösen – allerdings nicht, weil es sich um trast zur untadeligen Herrlichkeit Gottes.04 eine Fatalität der menschlichen Natur handelte. Hinter den unterschiedlichen Vokabeln steht Andere Gründe sind entscheidend. Auch davon der Begriff, also der Sachverhalt, um den es geht. wird im Folgenden die Rede sein. Wie bereits angedeutet, bestehen heutzutage kaum 04
Korruption APuZ noch sprachliche Abweichungen. Dafür herrscht stehen für verkrustete Machtstrukturen, während bei der Definition des Begriffs eine erhebliche letztere als Abhilfe dagegen angesehen werden.07 Bandbreite. So gibt es etwa eine Art Standardde- In der Masken-Affäre der Unionsabgeordneten finition von Korruption: Nach dieser handelt es Nikolas Löbel (CDU) und Georg Nüßlein (CSU) sich bei Korruption um einen Missbrauch von an- geht es eher um Vorteilsnahme als um Bestechung. vertrauter Macht (oder: eines öffentlichen Amtes) Manipuliert ist nach derzeitigem Stand der Be- zum privaten Nutzen. Allerdings gibt es daneben richterstattung nicht die Sachentscheidung selbst, eine Vielzahl unterschiedlicher Spezifikationen. also der Kauf von Atemschutzmasken durch den So wird in einem Teil der Literatur zwischen pet- Bund. Kritikwürdig ist, dass die Beschuldigten ty corruption und grand corruption unterschieden, sich dabei Einnahmen verschafften, die ihnen nach also zwischen einer Art Alltagskorruption mit Be- allgemeiner Auffassung nicht zustanden, also ein stechlichkeit in der öffentlichen Verwaltung und ungerechtfertigter persönlicher Vorteil. der strukturellen Käuflichkeit ganzer politischer Systeme. Noch allgemeiner wird mit Korruption MODERNITÄT VON KORRUPTION auch der Niedergang ganzer Gesellschaften, ih- rer Moral und Sitten beschrieben. Das sind fun- Korruption ist modern. Wie wir sie heute kennen, damentale Unterschiede, die aber oft nur unzurei- entstand sie erst um 1800. Diese Aussage über- chend reflektiert1234 werden.05 rascht auf den ersten Blick. Üblicherweise sehen Auch der Begriff der „Käuflichkeit“ ist verhält- wir Korruption als das Gegenteil von Modernität nismäßig unbestimmt. Liegt Korruption nur dann an, nämlich als ein Überbleibsel aus dunklen Zei- vor, wenn die Entscheidung eines Akteurs mit klin- ten der Vormoderne. Aber hier liegt ein Paradox gender Münze bezahlt wird (das wäre eine Form vor: Die Auffassung, Korruption sei etwas Un- direkter Bestechung)? Können auch weitere Per- modernes, konnte erst mit dem Aufkommen der sonen einbezogen sein, bis hin zu Vergünstigungen Moderne entstehen. Nicht die Korruption, son- für Dritte oder Vierte? Solche Strukturen finden dern unsere Auffassung von Korruption ist also sich in Klüngelnetzwerken.06 Auch hier ist die Lage modern. Und das hat zwei Aspekte. nicht eindeutig: Sind Begünstigungssysteme im- Dazu gehört zunächst einmal eine politische mer auch korrupt? Heute stehen neben den negativ Strategie. Erst in der Epoche der Aufklärung gegen konnotierten Seilschaften und old boys’ networks Mitte/Ende des 18. Jahrhunderts entstand eine Vor- die positiv bewerteten Frauennetzwerke – erstere stellung davon, dass es so etwas wie gesellschaftli- chen Fortschritt geben könne. Zuvor dominierte 01 Vgl. Jens Ivo Engels, Politische Korruption in der Moderne. die Ansicht, Geschichte wiederhole sich in Zyk- Debatten und Praktiken in Großbritannien und Deutschland im len von Aufstieg und Verfall.08 Der Glaube an den 19. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 1/2006, S. 313–350, Fortschritt ließ es sinnvoll erscheinen, neue Ideen hier S. 327 ff. 02 Vgl. Valentin Groebner, Gefährliche Geschenke. Ritual, Politik radikal von der Vergangenheit abzugrenzen – so und die Sprache der Korruption in der Eidgenossenschaft im spä- wie beispielsweise in der Französischen Revoluti- ten Mittelalter und am Beginn der Neuzeit, Konstanz 2000, S. 235. on durch die Zerstörung der alten Ordnung. In den 03 Vgl. Gunda Steffen-Gaus, Gute Patrone als Korrektoren der Jahrzehnten um 1800 kam es in nahezu allen euro- Simonie. Das Korruptionsmodell in John Wycliffs „De Simonia“, päischen Staaten zu tiefgreifenden Reformprozes- in: Niels Grüne/Simona Slanička (Hrsg.), Korruption. Historische Annäherungen, Göttingen 2010, S. 79–98. sen von Staat und Verwaltung. Die alten, oft über 04 Vgl. Bruce Buchan/Lisa Hill, An Intellectual History of Politi- lange Zeiträume gewachsenen und vielfach schwer cal Corruption, Basingstoke 2014, Kap. 2. verständlichen, extrem komplizierten Rechtssys- 05 Zum Definitionsproblem gibt es eine reichhaltige Debatte. teme wurden durch systematisch gedachte und Vgl. etwa Ronald Kroeze/André Vitória/Guy Geltner, Introduc- schlankere Regelungen ersetzt. Öffentliche Ämter tion. Debating Corruption and Anticorruption in History, in: dies (Hrsg.), Anticorruption in History. From Antiquity to the Modern erhielten eine eindeutige Zweckbestimmung: Sie Era, Oxford 2018, S. 1–17; Arnold J. Heidenheimer/Michael Johnston/Victor T. LeVine, Terms, Concepts, and Definitions. Introduction, in: dies. (Hrsg.), Political Corruption. A Handbook, 07 Vgl. Arne Karsten/Hillard von Thiessen, Einleitung, in: dies. New Brunswick 1990, S. 3–14. (Hrsg.), Nützliche Netzwerke und korrupte Seilschaften, Göttin- 06 Vgl. Erwin K. Scheuch, Die Mechanismen der Korruption in gen 2006, S. 7–17, hier S. 9. Politik und Verwaltung, in: Hans Herbert von Arnim (Hrsg.), Kor- 08 Vgl. dazu den Klassiker Reinhart Koselleck, Kritik und Krise. ruption. Netzwerke in Politik, Ämtern und Wirtschaft, München Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Frankfurt/M. 2003, S. 31–75, hier S. 53. 201814. 05
APuZ 19–20/2021 sollten ausschließlich dem öffentlichen Interesse Man kann diese Grenze nur verletzen, wenn es sie dienen. Anders, als es häufig in der Frühen Neuzeit gibt. Und hier finden wir um 1800 eine fundamen- der Fall war, sollten diese Ämter den Inhabern nun tale Änderung. Zwar gab es auch in der Frühen nicht mehr zusätzlich zum Aufbau eines Vermö- Neuzeit ein Bewusstsein dafür, dass hohe Amtsträ- gens oder einer Gruppe von Gefolgsleuten dienen. ger das Wohl des Ganzen beachten mussten. Aller- Kurz gesagt entstand um diese Zeit die im Kern bis dings basierte diese Vorstellung nicht auf der abs- heute gültige Vorstellung von Staat und Bürokratie. trakten Trennung zwischen dem Eigenen und dem An diesem Punkt kam die vormoderne Korrupti- Fremden. Vor allem gab es sozusagen mehrere For- on ins Spiel: In nahezu allen Ländern nutzten die men von Gemeinwohl, die allesamt legitim erschei- Reformer das Korruptionsargument für ihre Zwe- nen konnten. Unterschiedliche Normen standen in cke. Sie bezeichneten die bestehende, aus dem An- offener und unauflösbarer Konkurrenz.10 Es war cien Régime stammende Rechtsordnung als kor- nicht von vornherein ausgeschlossen, dass die sys- rupt und verbanden dies mit Kritik am Verhalten tematische Begünstigung der eigenen Familie oder vieler Amtsträger. In der englischen Debatte kur- einer politischen Klientel nicht doch eine Form von sierte der sprechende Begriff der old corruption: Dienst an der Gemeinschaft war. Und ganz prak- Gemeint war die alte Staatsordnung, gegen die die tisch: Bereicherung im öffentlichen Amt war häufig Fortschrittsorientierten kämpfen müssten.09 notwendig, um das Amt überhaupt ausführen zu In den Augen der neuen Staatseliten und zu- können, da es in vielen Fällen keine Gehälter gab. nehmend auch der Öffentlichkeit verfestigte sich Umgekehrt war Ämterkauf ein verbreitetes, völ- das Bild von der korrupten vormodernen Gesell- lig legales, wenn auch nicht immer gelobtes Phäno- schaft, die ein moderner, reformorientierter Staat men. Typisch für die Frühe Neuzeit blieb, dass die überwinden müsse und könne. Nun erscheint Regeln nie besonders trennscharf waren – was im diese Darstellung des Alten als Propaganda einer einen Fall als Menschenfreundlichkeit gelten moch- aufsteigenden Elite. Ein Vorwurf, der scheinbar te, konnte im anderen Fall als Korruption gebrand- in jeder Reformära erhoben werden kann. Dies markt werden. Die Grenze war nicht klar, sondern wird dem Kampf gegen old corruption aber nicht sie verlief im Ungefähren. Meist wurden Übertrei- ganz gerecht. Es stand noch eine andere Verände- bungen in die eine oder andere Richtung kritisiert. rung dahinter, die bis heute unser Korruptions- Das änderte sich fundamental mit dem Beginn verständnis prägt. Und damit sind wir beim zwei- der Moderne. Erst das moderne politische Denken ten fundamentalen Wandel. schuf eine harte und eindeutige Grenze zwischen dem Gemeinwohl und dem Privatinteresse. Der KORRUPTION ALS Staat wird spätestens seit dem 18. Jahrhundert als GRENZÜBERSCHREITUNG etwas Abstraktes verstanden und der Staatszweck endgültig abgetrennt vom Interesse des Herr- Die oben erwähnte Standarddefinition von Kor- schers und seiner Beamten. Der Staatsdienst löste ruption beruht auf dem Gegensatz zwischen öf- den Fürstendienst ab. Auch das Lebensgefühl, vor fentlichem Interesse oder Gemeinwohl auf der ei- allem des Bürgertums, schuf eine Demarkations- nen Seite und dem individuellen Interesse oder linie zwischen dem Handeln in der Öffentlichkeit Privatnutzen auf der anderen. Diese Gegenüber- und dem Rückzugsort des Privaten. Für Inhaber stellung setzt voraus, dass beide Sphären, nämlich öffentlicher Ämter bedeutet dies bis heute, dass Gemeinwohl und Privates, systematisch voneinan- sie ihr Amt nicht nutzen dürfen, um einen Vorteil der getrennt und als Gegensatz aufgefasst werden. für ihr privates Ich zu erwerben oder Verwandte und Freunde zu begünstigen. Die Beachtung die- ses Grundsatzes wird in der Öffentlichkeit strikt 09 Hierzu gibt es mittlerweile Studien zu verschiedenen Län- dern, vgl. z. B. Robert Bernsee, Moralische Erneuerung. Korruption eingefordert. Anders als in der Vormoderne lässt und bürokratische Reformen in Bayern und Preußen, 1780–1820, sich dessen Übertretung nicht mehr rechtfertigen. Göttingen 2017; Toon Kerkhoff/Ronald Kroeze/Pieter Wagenaar, Corruption and the Rise of Modern Politics in Europe in the Eighteenth and Nineteenth Centuries: A Comparison between 10 Vgl. Hillard von Thiessen, Normenkonkurrenz. Handlungs- France, the Netherlands, Germany and England – Introduction, spielräume, Rollen, normativer Wandel und normative Kontinu- in: Journal of Modern European History 1/2013, S. 19–30; Philip ität vom späten Mittelalter bis zum Übergang zur Moderne, in: Harling, The Waning of „Old Corruption“. The Politics of Economi- Arne Karsten/ders. (Hrsg.), Normenkonkurrenz in historischer cal Reform in Britain, 1779–1846, Oxford 1996. Perspektive, Berlin 2015, S. 241–286. 06
Korruption APuZ Man kann lediglich versuchen nachzuweisen, dass dass Amtsinhaber ähnlich abstrakt wie die Staats- keine Übertretung vorlag – oder eine solche leug- idee seien, der sie dienen. Das funktioniert als Ide- nen. Legitimieren kann man sie nicht mehr. al, geht aber oft an der Lebenswirklichkeit vorbei. Später, im 20. Jahrhundert, wurde die Tren- Oder, um es anders zu formulieren: Es kommt sehr nung zunehmend auch auf Privatunternehmen auf die gesellschaftlichen und politischen Kontexte übertragen. Das öffentliche Interesse entspricht an, ob das Verhalten von Amtsträgern, Politikern hier dem Unternehmensziel: Wer eine Firma zum und zunehmend auch von Unternehmensangehö- eigenen Nutzen schädigt, begeht Untreue. rigen akzeptabel oder problematisch erscheint. Hierzu ein paar Beispiele: In den 1840er Jah- UNLÖSBARKEIT DES ren entzündete sich in Frankreich eine Debatte da- KORRUPTIONSPROBLEMS rüber, ob König Louis-Philippe den Erwerb von Kolonien im heutigen Algerien im Dienst des Lan- Die geschilderte Trennung zwischen öffentlichem des (Gemeinwohl) oder zur Mehrung des Ruhms Interesse und Privatperson führte dazu, dass ab dem seiner Dynastie (Privatnutzen) betrieben habe. Es frühen 19. Jahrhundert zunächst zögerlich, dann liegt auf der Hand, dass diese Frage nicht beant- immer flächendeckender Gesetze erlassen wurden, wortet werden kann, selbst von Louis-Philippe die das Verhalten in öffentlichen Ämtern regulier- persönlich nicht.13 In unterschiedlichen Dienstwa- ten. Hier standen zunächst Beamte im Zentrum, genaffären, die die Bundespolitik seit den 1950er später auch Inhaber politischer Funktionen. Bereits Jahren gesehen hat, ging es stets um die Frage, im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts gab sich das ob eine Politikerin oder ein Politiker staatlich fi- britische Unterhaus Regeln zur Abwehr von Kor- nanzierte Autos mit Chauffeur jeweils für priva- ruption und Vorteilsnahme bei den Abgeordneten, te, parteipolitische oder amtsbezogene Zwecke insbesondere im Kontakt mit der Privatwirtschaft. nutzte. Eine Antwort war auch hier häufig nicht Der mit der Industrialisierung beginnende Lobby- möglich, etwa wenn eine Ministerin wie die dama- ismus galt von Anfang an als Treiber von Korrup- lige Gesundheitsministerin Ulla Schmidt im Aus- tionsgefahren.11 Heute ist das juristische Regelwerk land den privaten Urlaub unterbrach, um vor Ort stark ausdifferenziert, zumal seit den 1990er Jahren dienstliche Termine wahrzunehmen. Zur Verwir- sogenannte Compliance-Regeln im Bereich der Pri- rung trug in den 1990er Jahren bei, dass anstelle vatwirtschaft hinzugekommen sind.12 Außerdem des Chauffeurs der Ehemann der Bundestagsprä- sind Korruptionskritik, Korruptionsskandale und sidentin Rita Süssmuth die Staatskarosse lenkte, Antikorruptionsmaßnahmen ein wiederkehrendes die im Übrigen völlig bestimmungsgemäß genutzt Thema in der öffentlichen politischen Debatte. wurde: War das nun Kostenersparnis zugunsten Allerdings scheint das Problem trotz zweier der Staatskasse oder ein Privatvergnügen?14 Jahrhunderte intensiver und konsequenter Aus- „Vergebliche[s] Streben nach Eindeutigkeit“ einandersetzung weiter von einer Lösung entfernt beherrscht all diese Debatten.15 Dabei handelt es als zuvor. Wie ist das zu erklären? Grund hierfür sich bei der Korruption nicht um ein isoliertes ist zum einen die seit etwa 1990 wieder gewachsene Phänomen, sondern um eine in der Erkenntnis- Sensibilität für das Thema, nachdem Korruption theorie moderner Gesellschaften tief verwurzelte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wenig Problematik. Die Stärke des modernen Denkens, Aufmerksamkeit erhielt. Der eigentliche Grund in der Beschreibung von Natur und Gesellschaft liegt jedoch in der Problembeschreibung selbst. klare und unzweideutige Kategorien zu entwi- Denn die Trennung zwischen öffentlichem und ckeln, erweist sich im Fall der Korruption jeden- privatem Interesse ist in der Praxis oft nicht klar zu falls als Stoff für nicht enden wollende Debatten. bestimmen, gelegentlich unmöglich. Es entstand im 19. Jahrhundert die bis heute gültige Fiktion, 13 Zur Korruptionskritik an der Juli-Monarchie vgl. William Fortes- cue, Morality and Monarchy. Corruption and the Fall of the Regime of Louis-Philippe in 1848, in: French History 1/2002, S. 83–100. 11 Vgl. Christian Ebhardt, Interessenpolitik und Korruption. 14 Diese und weitere Beispiele in Jens Ivo Engels, Alles nur Personale Netzwerke und Korruptionsdebatten am Beispiel gekauft? Korruption in der Bundesrepublik seit 1949, Darmstadt der Eisenbahnbranche in Großbritannien und Frankreich, 2019, insbesondere S. 300–344. 1830–1870, Göttingen 2015. 15 Vgl. ders., Vom vergeblichen Streben nach Eindeutigkeit. 12 Vgl. die umfassende juristische Darstellung in Markus Busch Normenkonkurrenz in der europäischen Moderne, in: Karsten/ et al. (Hrsg.), Antikorruptions-Compliance, Heidelberg 2020. von Thiessen (Anm. 10), S. 217–237. 07
APuZ 19–20/2021 Die Dehnbarkeit des Korruptionsbegriffs führ- dem Adel mit dem Ziel, alteuropäische Rechts- te um die Jahrtausendwende Peter Eigen vor, der und Moralvorstellungen zu modernisieren. damalige Vorsitzende der Antikorruptionsorgani- Die zweite Hochphase der Korruptionsde- sation Transparency International. Er äußerte sich batten fällt zeitlich mit der Entstehung des po- damals zur Parteispendenaffäre um Helmut Kohl. litischen Massenmarktes im letzten Drittel des Kohl sah sich dem von ihm selbst nicht bestrit- 19. Jahrhunderts zusammen und zog sich bis in tenen Vorwurf ausgesetzt, er habe illegale Partei die 1930er Jahre. Beherrschende Themen dieser spenden angenommen. Allerdings unterstrich der Debatten, die in nahezu allen europäischen Staa- Altkanzler, dies sei keine Korruption, denn er habe ten geführt wurden, bezogen sich auf den Parla- das Geld nicht zum Privatnutzen, sondern zum mentarismus und die in dieser Zeit aufkommende Aufbau seiner Partei in den neuen Bundesländern Figur des Berufspolitikers. Auch der Stimmen- eingesetzt. Peter Eigen widersprach: Kohl habe das kauf bei politischen Wahlen fand damals große Geld zur Festigung seiner persönlichen Rolle in- Aufmerksamkeit, jedenfalls bevor die geheime nerhalb der Partei genutzt, damit habe er das eigen- Stimmabgabe Anfang des 20. Jahrhunderts zur nützige und quasi private Ziel der Machtabsiche- Regel wurde. In der Kritik standen wahlweise rung verfolgt, es habe sich folglich um Korruption käufliche Volksvertreter oder käufliche Wähler. gehandelt.16 Dieses Argument besitzt in der Tat Ein europaweit diskutiertes Fanal bildete der eine gewisse Logik, allerdings bedeutet es in der sogenannte Panamaskandal in Frankreich Anfang Konsequenz: Jeder Politiker und jede Politike- der 1890er Jahre. Hier hatten sich Hunderte Ab- rin ist korrupt, da Politik ohne das Anstreben von geordnete und Journalisten von einem Unterneh- Ämtern und Machtausübung nun einmal nicht men dafür bezahlen lassen, positiv über die Finan- funktioniert. Wenn man kein Geld dafür einsetzt, zierung des Baus des Panamakanals zu berichten dann doch Absprachen, Verbindungen, Begünsti- und ein vorteilhaftes Gesetz hierzu zu verabschie- gung auf Gegenseitigkeit. So scharf der moderne den. Leidtragende waren Tausende Kleinanleger, die Korruptionsbegriff also ist, in der politischen Le- durch die eigentlich schon längst absehbare Insol- benswirklichkeit ist er oft untauglich. Das rechtfer- venz der Finanzierungsgesellschaft ihr Vermögen tigt nicht den Gesetzesbruch durch Helmut Kohl – verloren.17 Der politische Tenor in dieser zweiten doch ist fraglich, ob der Korruptionsvorwurf hier Phase europäischer Korruptionskritik wurde wie- ins Schwarze traf. In der öffentlichen Debatte des der von der Opposition gesetzt. Vor allem sozia- Jahres 2000 klang er gleichwohl stark durch. listische Stimmen waren zunächst daran beteiligt. Doch in dem Maße, wie rechte und rechtsnationa- WER KRITISIERT POLITISCHE listische Bewegungen aufkamen – in Frankreich be- KORRUPTION? reits in den 1890er Jahren, in anderen Ländern nach der Jahrhundertwende –, griffen diese die Korrup- Wie Debatten über Korruption politisch ausge- tionsvorwürfe auf und verbanden sie zunehmend hen, hängt weniger vom Sachverhalt als von po- mit Antisemitismus, rechtem Antikapitalismus und litischen Machtverhältnissen ab. Das lässt sich dem Vorwurf, die parlamentarischen Systeme sei- im Verlauf der vergangenen zweihundert Jah- en in erster Linie Bereicherungsmaschinen. Seit den re nachverfolgen. Kritik an Korruption und das 1920er Jahren avancierte der Korruptionsvorwurf Bemühen um Antikorruptionsmaßnahmen ver- zu einem Standardargument all jener, die sich au- schwanden in dieser Zeit nie ganz. Allerdings toritäre Regierungsmodelle wünschten. Das Ver- lösten sich Phasen intensiverer und weniger in- sprechen, endlich die politische Korruption aus- tensiver Debatten ab. Insgesamt sind drei Pe- zuradieren, gehörte zum Kernprogramm späterer rioden mit starker Fokussierung auf das Kor- Diktatoren wie Mussolini, Franco und Hitler.18 ruptionsproblem festzustellen. Die erste Phase deckt sich mit der Kritik an old corruption und 17 Vgl. Jean-Yves Mollier, Le scandale de Panama, Paris 1991; dem Ancien Régime an der Wende vom 18. zum Christophe Portalez/Anna Rothfuss, Panama and the Oppo- 19. Jahrhundert. Wie bereits geschildert, en- sition. The Perception of French and German Socialists of the Panama Scandal, in: Frédéric Monier et al. (Hrsg.), Scandales et gagierten sich hier vor allem reformorientierte corruption à l’époque contemporaine, Paris 2014, S. 181–194. Kräfte des aufstrebenden Bürgertums und aus 18 Vgl. zu den beiden ersten Phasen die ausführliche Darstellung in Jens Ivo Engels, Die Geschichte der Korruption. Von der Frühen 16 Vgl. Engels (Anm. 14), S. 320. Neuzeit bis ins 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. 2014, Kap. 7–9. 08
Korruption APuZ Nach dem Zweiten Weltkrieg spielte Korrup- ge verdeutlichen. Zum einen ist Korruption ein tion als beherrschende Zeitdiagnose des Politi- sehr formbarer Begriff. Die damit verbundenen schen zunächst keine Rolle mehr. Das änderte sich Vergehen unterscheiden sich erheblich je nach nach 1990, als die dritte und bis heute anhaltende Epoche und Gesellschaft. Daher ist Korruption Hochphase der modernen Korruptionsdebatte selbstverständlich keine Fatalität. Vielmehr ist das begann. Auch diese Debatte weist einige Beson- Unbehagen an Korruption ein Ausdruck verän- derheiten auf. Von Beginn an gab es einen globa- derlicher Normen und Werte in sich wandelnden len Bezug. Zum ersten Mal ging es um weltweite Gesellschaften. Entwicklungen, beispielsweise mit Blick auf die Zum anderen ist die moderne Auffassung von Schwellenländer und die postsozialistischen Län- Korruption seit zweihundert Jahren vergleichs- der des ehemaligen Ostblocks, und erstmals wa- weise stabil. Sie beruht auf einer rigorosen Tren- ren internationale Organisationen wie die UNO, nung des privaten vom öffentlichen Interesse. Das die OECD und die Weltbank Treiber der Diskus- ist einerseits ein Fortschritt an Klarheit im Ver- sion. Im scharfen Kontrast zur zweiten Hoch- gleich zur Vormoderne. Andererseits stößt diese phase der Korruptionskritik war der Kapitalis- Trennung an die Grenzen der Realität. Wenn das mus nun nicht Teil des Problems, sondern eher Verbot der Vermischung öffentlicher mit privaten Teil der Lösung. Zwar spielte auch in dieser Pha- Interessen allzu expansiv postuliert wird, droht se Kritik am Lobbyismus eine ganz zentrale Rol- eine Tendenz zur Generalverdächtigung nahezu le, doch ebenso häufig sollte Korruptionsbe- all jener, die ein öffentliches Amt ausüben. kämpfung auch der Öffnung von abgeschotteten Korruptionskritik wird häufig von Gruppen Märkten im Globalen Süden dienen, sollte der oder Strömungen vorgetragen, die die herrschen- Abbau von Staatlichkeit im Globalen Norden das den Verhältnisse verändern oder umdeuten wol- Korruptionsproblem lösen. Regulierung wur- len. Sie kann Reformen legitimieren, kann aber de gleichgesetzt mit Korruption, Korruptions- auch dazu beitragen, politische Akteure zu dele- bekämpfung befreie dagegen die Wirtschaft von gitimieren. Die antidemokratische Stoßrichtung sachfremden Einflüssen. Dieser neoliberale Zun- in der zweiten und der oft staatlichen Eliten ge- genschlag ist mittlerweile verklungen. genüber verächtliche Zungenschlag der dritten Ein anderes Motiv der 1990er Jahre aber Debatte sollten zu denken geben. blieb: das Staatsmisstrauen. Neben der neolibe- Angesichts der aktuellen „Masken-Affäre“ ralen Agenda grundierte zunächst eine antiauto- sollte sich jede Bürgerin und jeder Bürger fra- ritäre, von den Neuen Sozialen Bewegungen ge- gen, ob sie oder er dem Impuls nachgeben will, prägte Politiker-, Parteien- und Staatskritik die das Fehlverhalten der beiden Abgeordneten für neue Korruptionsdebatte. Ab den 2000er Jahren „die Spitze des Eisbergs“ einer moralisch ver- erklang die bis heute aktuelle Forderung nach rotteten Politikerkaste zu halten, oder ob es sich Transparenz als Antikorruptionsstrategie, beglei- lohnt, ein Grundvertrauen in die Institutionen zu tet von einem fast grenzenlosen Misstrauen ge- bewahren. Ähnliches gilt für Vertreterinnen und genüber der moralischen Integrität der politischen Vertreter der Medien. Die politischen Mitbewer- und ökonomischen Eliten. Dieses Misstrauen lässt berinnen und -bewerber der Unionsparteien wie- sich an den immer sensibler anschlagenden Kor- derum müssen einen schmalen Grat beschreiten: ruptionsskandalen beobachten. Außerdem, das ist ihre Funktion als Kritikerinnen und Kritiker zu ebenfalls neu, etablierten sich ab den 1990er Jah- erfüllen, ohne zugleich das Kind mit dem Bade ren private Organisationen, die als Kämpfer ge- auszuschütten. Der Unionsführung hingegen gen die Korruption sowie verbundene Probleme bleibt nichts anderes, als die zutage getretenen wie Lobbyismus auftreten und schon aus diesem Probleme sehr ernst zu nehmen und Handlungs- Grund der Debatte weitere Kapitel hinzufügen.19 fähigkeit zu beweisen. LEHREN AUS DER GESCHICHTE? JENS IVO ENGELS ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an Dieser Parforceritt durch die Geschichte der mo- der Technischen Universität Darmstadt. Er forscht dernen Korruptionsdebatten kann ein paar Din- unter anderem zur Geschichte der Korruption in Europa. 19 Vgl. zur dritten Hochphase Engels (Anm. 14), S. 143 ff. jens_ivo.engels@tu-darmstadt.de 09
APuZ 19–20/2021 POLITIK, EIN SCHMUTZIGES GESCHÄFT? Korruption als Gegenstand der politischen Bildung Monika Oberle „Mehr Putzfrauen in die Politik! Sie sind an auch ihren Bestand gefährden kann. Auch eig- schmutzige Geschäfte gewöhnt.“ In zwei meta- net sich der Gegenstand politische Korruption, phernbasierten Studien zu Politikbildern von Ju- um Politikverdrossenheit gezielt zu begegnen. So gendlichen trifft diese Aussage bei zahlreichen kann politische Bildung an bereits vorhandene Befragten auf Zustimmung.01 Und auch eine Er- Vorstellungen der jeweiligen Zielgruppe anknüp- hebungsreihe des Eurobarometers offenbart, dass fen, gängige Vorurteile gegenüber der Politik auf- ein erheblicher Anteil der Bevölkerung politische greifen und die Fähigkeit und Bereitschaft zur de- Parteien und die „Gruppe der Politiker“ mit Be- mokratischen politischen Teilhabe stärken. stechung beinhaltendem Machtmissbrauch kon- Im Folgenden wird zunächst kurz auf das notiert.02 Skandalträchtige Ereignisse wie die Phänomen der (politischen) Korruption einge- „Ibiza-Affäre“ oder die „Masken-Affäre“ bestä- gangen, um anschließend Ziele, Prinzipien und tigen immer wieder einprägsam dieses Bild. Die vielversprechende Ansätze einer Auseinanderset- Wahrnehmung von Politiker*innen und Partei- zung mit Korruption in der politischen Bildung en als korrupt trägt zu Politik- und politischer vorzustellen. „Prozessverdrossenheit“03 bei, lässt die für De- mokratien so wichtige Ressource des politischen POLITISCHE KORRUPTION – Vertrauens erodieren und unterminiert die Be- EIN SCHILLERNDES PHÄNOMEN reitschaft der Bevölkerung zur politischen Be- teiligung, indem ihr politisches Responsivitäts- Der Begriff „Korruption“ ist den meisten gefühl – also die Wahrnehmung, dass Politik auf Bürger*innen geläufig und wird auch in der All- Interessen der Bürger*innen reagiert – vermin- tagssprache verwendet. Zugleich dürften viele dert wird. Wer davon ausgeht, dass politische Menschen Schwierigkeiten haben, Korruption Entscheidungen käuflich sind, hat wenig Anreiz, präzise zu definieren, und Aussagen zu Kor- sich an demokratischen Mitbestimmungsprozes- ruption liegen oft unterschiedliche Begriffsver- sen zu beteiligen. ständnisse zugrunde. Auch in der Wissenschaft Dass Korruption ein geeigneter und bedeut- gibt es keine einheitlich verwendete Definition, samer Gegenstand der politischen Bildung ist, es existiert vielmehr eine große Vielfalt von Kor- lässt sich aus mehreren Perspektiven argumen- ruptionsbegriffen, die sich auch zwischen und tieren. Zum einen ist Korruption eine politische, innerhalb von Disziplinen unterscheiden.04 Der ökonomische und gesellschaftliche Realität, die Begriff geht auf das lateinische Wort corrum- politische Bildung in Auseinandersetzung mit pere („verderben“) zurück und hat eine aktive dieser Realität aufgreifen sollte. Es gibt sie seit und eine passive Bedeutung, sodass man andere Menschengedenken und in allen Gesellschaften korrumpieren, aber eben auch selbst verderben und politischen Systemen; Politik, Wirtschaft kann.05 Während sich klassische Konzeptionen und Gesellschaft gänzlich ohne Korruptionsfälle von Korruption auf einen degenerierten Zustand sind wohl utopisch. Zum anderen ist Korrupti- der gesamten Gesellschaft oder politischen Ord- on eine Herausforderung für die Demokratie, die nung bezogen, bezeichnen neuzeitliche Begriffs- ihre Funktionsfähigkeit, Legitimität und letztlich konzepte spezifische Handlungen spezifischer 10
Korruption APuZ Akteure.06 Dabei reicht das Spektrum von wei- che Person“ dem Ganzen gegenüber loyal zu sein ten Definitionen wie „Missbrauch anvertrauter hat.10 Nur so lässt sich davon abweichendes Ver- Macht zum privaten Vorteil“07 bis zu konkre- halten identifizieren und problematisieren. De- teren Begriffsbestimmungen politischer Kor- finiert man Korruption nicht nur als illegitimes, ruption wie „Missbrauch anvertrauter öffentli- sondern auch als illegales Verhalten, so hängt die cher Entscheidungsgewalt zum privaten Nutzen Einordnung von Handlungen als korrupt wiede- durch geheime Transaktion, die in der Demo- rum vollständig von der jeweils geltenden Rechts- kratie vorausgesetzte Verhaltensstandards ver- lage und Rechtsprechung ab. letzt“.08 Was unter „privatem Nutzen“ verstan- Dem Phänomen sind Graubereiche inhärent. den wird – nur materielle oder auch immaterielle Eine Definition beseitigt nicht die Schwierigkeit, Vorteile, nur der eigene persönliche Nutzen oder reale Vorfälle als Korruption zu klassifizieren auch der Nutzen für Dritte, seien es Verwandte oder eben nicht. Ein Grund hierfür ist, dass Moti- oder die eigene Partei – ist wiederum eine De- ve von Entscheidungen und unmittelbare Tausch- finitionsfrage. Ebenso unbestimmt ist die Frage, beziehungen zwischen Handlungen involvierter wann genau hier von „Missbrauch“ der anver- Partner oft schwer nachweisbar sind. Doch hel- trauten Macht zu sprechen ist.1234 fen eine differenzierte Auseinandersetzung und Korruption gilt als Wahrnehmungsdelikt. In eine reflektierte Begriffsbestimmung,5678910 bestimmte diesem Sinne hat der Politikwissenschaftler Ar- Ereignisse und Strukturen, ihre Ursachen, Wirk- nold Heidenheimer eine Typologie entworfen, und Verbreitungsmechanismen sowie (materielle die Korruption nicht allein am Ereignis selbst und immaterielle) Kosten klarer zu analysieren festmacht, sondern sie nach dem Grad der gesell- und so auch Maßnahmen zur Vermeidung und schaftlichen Wahrnehmung unterscheidet (black, Bekämpfung von Korruption identifizieren und grey and white corruption):09 Ein und derselbe herbeiführen zu können. Gegen ein unbestimm- Vorfall kann demnach in verschiedenen Ländern tes Phänomen einer „verdorbenen Politik“ lässt oder zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich sich wenig ausrichten, man wendet sich angewi- klassifiziert werden – je nach vorherrschender dert und enttäuscht von Politik ab oder man geht Wahrnehmung in der jeweiligen Bevölkerung. vermeintlichen Heilsbringern auf den Leim, die Korruption im öffentlichen Dienst setzt grund- populistisch eine Ablösung der verteufelten Eli- sätzlich die Idee voraus, dass der Staatsdiener be- te versprechen, oft ohne konkrete und geeignete ziehungsweise die Staatsdienerin als „unpersönli- Maßnahmen zur Verhinderung von Korruption vorzuschlagen. 01 Vgl. Monika Oberle/Valentin Eck/Georg Weißeno, Meta- Gerade Lobbyismus und Korruption wer- phern der Politik. Eine Studie zu Politikbildern bei Schülerinnen den im öffentlichen Diskurs gerne gleichgesetzt. und Schülern, in: Politische Bildung 4/2008, S. 126–136; Monika Lobbyismus ist für viele negativ konnotiert, man Oberle/Johanna Leunig, Politikverdrossenheit von Schülerinnen und Schülern – Ein metaphernbasierter Forschungszugang, in: denkt zunächst an große finanzstarke Konzerne, Monika Oberle/Märthe M. Stamer (Hrsg.), Politische Bildung in internationaler Perspektive, Frankfurt/M . 2021 (i. E.). 02 So stimmten in der repräsentativen Erhebung 2019 gut 05 Vgl. Ulrich von Alemann, Politische Korruption. Ein Weg- 40 Prozent der Befragten in Deutschland der Aussage zu, dass weiser zum Stand der Forschung, in: ders. (Hrsg.), Dimensionen „das Zahlen und Annehmen von Bestechungsgeldern sowie politischer Korruption. Beiträge zum Stand der internationalen Machtmissbrauch mit dem Ziel persönlicher Bereicherung“ Forschung, Wiesbaden 2005, S. 13–49. in politischen Parteien beziehungsweise in der „Gruppe der 06 Vgl. Michael Johnston, The Definitions Debate. Old Conflicts Politiker auf nationaler, regionaler oder kommunaler Ebene“ in New Guises, in: Arvind K. Jain (Hrsg.), The Political Economy weit verbreitet ist. Vgl. Eurobarometer 502, Juni 2020, https:// of Corruption, London–New York 2001, S. 12–33. ec.europa.eu/germany/news/20200610-eurobarometer-kor- 07 Transparency International, Was ist Korruption?, www. ruption_de. transparency.de/ueber-uns/was-ist-korruption. 03 Vgl. Helmar Schöne, Politikwissenschaftliche Mikroanalyse 08 Monika Oberle, Politische Korruption in Italien – Ursachen und Politische Bildung, in: Monika Oberle/Georg Weißeno und Systematik der Korruption, der Skandal Tangentopoli und (Hrsg.), Politikwissenschaft und Politikdidaktik. Theorie und Empi- das Ende der Ersten Republik, Saarbrücken 2008, S. 12. rie, Wiesbaden 2017, S. 87–101. 09 Vgl. Arnold J. Heidenheimer, Terms, Concepts, and Defini- 04 Vgl. Peter Graeff, Begriffsverwendungen und Korruptions- tions: An Introduction, in: ders./Michael Johnston (Hrsg.), Political verständnisse in der Forschung: ein Vergleich von Definitionen Corruption: Concepts & Contexts, New Brunswick–London und Ansätzen, in: ders./Jürgen Grieger (Hrsg.), Was ist Korrup- 2002, S. 3–14. tion? Begriffe, Grundlagen und Perspektiven gesellschaftlicher 10 Vgl. Erhard Stölting, Vertrauen und Korruption oder die Korruptionsforschung, Baden-Baden 2012, S. 207–230. politische Kraft des Zwielichts, in: Zibaldone 18/1994, S. 21–31. 11
APuZ 19–20/2021 nicht an gemeinnützige Umwelt-NGOs oder In- nenden.13 Korruption ist ein stark emotional teressenverbände benachteiligter Minderheiten. besetztes Thema, das durch politische Bildung Dabei wird übersehen, dass Lobbying durchaus einer kognitiven Analyse zugänglich gemacht auch eine positive Funktion in der pluralistischen werden kann. Erst dadurch wird eine Reflexion Demokratie hat: Lobbytätigkeiten sind ein Weg und Beurteilung geeigneter Problemlösungsan- der Interessensartikulation, sie bringen politi- sätze ermöglicht und zu entsprechendem poli- schen Entscheidungsträger*innen wichtige Infor- tischem und sozialem Handeln befähigt. Dabei mationen über gesellschaftliche und wirtschaft- ist es wichtig zu verdeutlichen, dass es hier keine liche Problemlagen sowie Lösungsideen. Die pauschalen Lösungen gibt, sondern Antikorrup- Übergänge sind hier fließend und müssen aus- tionsmaßnahmen so vielfältig sind wie Korrupti- geleuchtet werden, um geeignete Vorkehrungen onsarten und ihre Eignung von der jeweils vor- treffen zu können, die demokratieschädigendem liegenden Problematik abhängt.14 Lobbyismus und Korruption entgegenwirken.11 Zu den Zielen politischer Bildung gehört auch die Förderung politischer Motivationen, ZIELE DER AUSEINANDERSETZUNG wie Interesse und Selbstwirksamkeitsüberzeu- MIT KORRUPTION gungen, sowie demokratischer Einstellungen.15 IN DER POLITISCHEN BILDUNG Indem Politik in Bildungsveranstaltungen nicht mit Korruption gleichgesetzt, sondern das Phä- Ziel der Behandlung von Korruption in der po- nomen differenziert behandelt wird, wird einer litischen Bildung ist folglich ein differenzierterer pauschalen Politik(er)verdrossenheit und einem Umgang mit diesem vielschichtigen Phänomen. stark negativen Responsivitätsgefühl begegnet. Hierfür erforderlich ist die Fähigkeit zur Analyse Indem Lösungsansätze zur Verhinderung und von Fällen und Strukturen, Ursachen und Folgen Bekämpfung von Korruption aufgezeigt wer- von Korruption. Dazu ist auch eine sorgfältige den, kann einem verbreiteten Gefühl der Ohn- Auseinandersetzung mit Begriffen und Konzep- macht entgegengewirkt und können politische ten, Modellen und Theorien notwendig. Anhand Selbstwirksamkeitserwartungen der Teilneh- der Korruptionsthematik kann so auch ganz menden gestärkt werden. Politische Bildung hat grundsätzlich die Bedeutung von Definitionen in in der Auseinandersetzung mit Korruption in den Sozialwissenschaften12 und die Relevanz von zweifacher Hinsicht auch präventiven Charak- Begriffsverständnissen für den demokratischen ter: Einerseits werden Einstellungen gefördert, Diskurs vermittelt und eine exemplarische An- die einer Mitwirkung an oder Tolerierung von wendung von Arbeitsdefinitionen und theoreti- korrupten Handlungen entgegenwirken, indem schen Modellen geübt werden. Einsichten in die Schädlichkeit von Korruption Politische Bildung zielt außerdem auf die für Demokratie, gesellschaftlichen Zusammen- Förderung der politischen Urteilsfähigkeit, ins- halt und ökonomische Entwicklung vermittelt besondere bezüglich der Eignung von Maßnah- werden. Andererseits stärkt politische Bildung men zur Verhinderung und Bekämpfung von Korruption, sowie der politischen Handlungs- 13 Vgl. hierzu auch das Modell der Politikkompetenz in Joa- fähigkeiten, Maßnahmen einer wirksamen An- chim Detjen et al., Politikkompetenz – ein Modell, Wiesbaden tikorruptionspolitik herbeizuführen. Es geht 2012. ihr bei der Auseinandersetzung mit Korrupti- 14 Vgl. Sabine Fütterer, Korruption und Antikorruption in on also nicht nur um Wissensvermittlung (die der Wissensvermittlung – Unschärfen und Abhängigkeiten, in: in anderen Kontexten von Bildungsmaßnahmen Sebastian Wolf/Peter Graeff (Hrsg.), Korruptionsbekämpfung vermitteln. Didaktische, ethische und inhaltliche Aspekte in Leh- zu Korruption oftmals fokussiert wird), sondern re, Unterricht und Weiterbildung, Wiesbaden 2018, S. 25–47. ganz zentral auch um die Förderung der politi- 15 Vgl. Detjen et al. (Anm. 13). Zum Wertebezug des Beutels- schen Urteils- und Handlungsfähigkeit der Ler- bacher Konsenses, der die Förderung prodemokratischer Einstel- lungen rechtfertigt, vgl. Monika Oberle, Beutelsbacher Konsens, in: Sabine Achour et al. (Hrsg.), Wörterbuch Politikunterricht, 11 Vgl. Florian Eckert, Lobbyismus zwischen legitimem Frankfurt/M. 2020, S. 30–32. Zum Verhältnis von Korruptions- politischem Einfluss und Korruption, in: von Alemann (Anm. 5), vermittlung und Beutelsbacher Konsens vgl. auch Andreas Lutter, S. 267–285. Zwischen Kontroversität und Multiperspektivität – Herausfor- 12 Vgl. Karl-Dieter Opp, Definitionen und ihre Bedeutung für derungen für Unterricht und Weiterbildung aus Perspektive des die Sozialwissenschaften, in: Graeff/Grieger (Anm. 4), S. 13–28. „Beutelsbacher Konsenses“, in: Wolf/Graeff (Anm. 14), S. 13–23. 12
Korruption APuZ zu Korruption die Resilienz der Lernenden ge- politischen Bildung,19 wie Teilnehmenden- und genüber simplen populistischen Narrativen und Problemorientierung, Fall- und Konfliktorien- Heilsversprechen, welche die Regierenden pau- tierung, Handlungs- und Diversitätsorientierung, schal als korrupte Elite disqualifizieren und sich Forschungs- und Kompetenzorientierung so- selbst als rettendes, vermeintlich sauberes Ge- wie die im „Beutelsbacher Konsens“ skizzierten genmodell anpreisen. Prinzipien Überwältigungsverbot und Kontro- Bei der Auseinandersetzung mit Korrupti- versitätsgebot. on in der politischen Bildung geht es außerdem Bildungsansätze sollten entsprechend den Le- um die Förderung von Medienkompetenz.16 bensweltbezug für die Lernenden greifbar ma- Eine Voraussetzung für die angemessene Beur- chen und allgemeine Erkenntnisse zu Korruption teilung von Korruption und ihrer Bekämpfung exemplarisch vermitteln. Dies gelingt beispiels- ist es nämlich auch, die Selektions- und Dar- weise über die Auseinandersetzung mit bekann- stellungslogik des Mediensystems17 zu durch- ten Fällen politischer Korruption, anhand derer blicken. Nachrichtenfaktoren wie Aktuali- die Teilnehmenden sich dem Phänomen annä- tät, Personalisierung, Bekanntheit involvierter hern und seine Ursachen, Folgen und Kosten so- Akteure oder Schaden für Dritte machen den wie Gegenmaßnahmen erarbeiten können. Durch „Nachrichtenwert“ eines Geschehnisses aus. In Konkretisierung, anschließende Abstraktion und die Schlagzeilen gelangen daher skandalisierbare Re-Konkretisierung beziehungsweise Transfer Einzelereignisse, die je nach Medium nicht ana- auf einen anderen Korruptionsfall20 erfolgt die lytisch durchleuchtet, sondern vor allem mora- Auseinandersetzung anwendungs- und praxis- lisierend bewertet werden und bald wieder aus orientiert und kann so nachhaltig Analyse-, Ur- der Berichterstattung verschwinden.18 Korrup- teils- und Problemlösefähigkeiten anstatt trägen tionsproblemen zugrunde liegende strukturel- Wissens fördern. le Bedingungen und präventive Lösungsansätze Die Fokussierung auf bestimmte Korrupti- erhalten dagegen deutlich weniger Aufmerksam- onsfälle birgt allerdings auch Tücken, insbeson- keit. Mündige Bürger*innen sollten jedoch nicht dere den Fallstrick einer unangemessenen Ge- nur skandalisierte Einzelfälle wahrnehmen, son- neralisierung.21 Bei der Auseinandersetzung mit dern Anreizstrukturen und Gelegenheiten sowie Korruption in der politischen Bildung gilt es zu Ansätze für Antikorruptionsmaßnahmen erken- vermeiden, dass aus Einzelfällen der Schluss ge- nen lernen. Politische Medienkompetenz ist da- zogen wird, alle Politiker*innen oder die gesamte her eine wichtige Grundlage, um Korruptions- Parteienlandschaft seien korrupt. Vielmehr muss meldungen einer Quellenkritik zu unterziehen, eine differenzierte Auseinandersetzung verdeutli- auf Basis der eigenen Vorkenntnisse zu bewer- chen, dass dem nicht so ist, und Wege strukturel- ten und mit einer ergänzenden Recherche zu ler Veränderung aufzeigen, um künftig ähnliche flankieren. Fälle von Korruption zu verhindern. Hilfreich für Verständnis und Analyse, so- DIDAKTISCHE ANSÄTZE wohl der Motive und Funktionsweisen als auch UND METHODEN der Kosten und Bekämpfungsansätze, sind Prin- zipal-Agenten-Modelle von Korruption.22 Die- Grundsätzlich gelten für die Auseinandersetzung mit Korruption die anerkannten Prinzipien der 19 Vgl. z. B. Wolfgang Sander, Handbuch politische Bildung, Schwalbach/Ts. 2014; Peter Massing, Politikdidaktik als Wissen- schaft. Studienbuch, Schwalbach/Ts. 2011. 16 Vgl. Monika Oberle, Medienkompetenz als Herausfor- 20 Vgl. hierzu auch Hilligens „Pulsschlagtheorem“: Wolfgang derung für die politische Bildung, in: Harald Gapski/dies./ Hilligen, Zur Didaktik des politischen Unterrichts, Wiesbaden Walter Staufer (Hrsg.), Medienkompetenz – Herausforderung 1985, S. 39. für Politik, politische Bildung und Medienbildung, Bonn 2017, 21 Vgl. Karsten Mause, Korruption. Zur Notwendigkeit und Ge- S. 187–196. fahr der Einzelfall-Analyse, in: Wolf/Graeff (Anm. 14), S. 49–77. 17 Vgl. Thomas Meyer, Was ist Politik? Wiesbaden 20103, 22 Vgl. Peter Graeff, Prinzipal-Agent-Klient-Modelle als S. 199 ff. Zugangsmöglichkeit zur Korruptionsforschung. Eine integra- 18 Vgl. Frank Marcinkowski/Barbara Pfetsch, Die Öffentlichkeit tive und interdisziplinäre Perspektive, in: Niels Grüne/Simona der Korruption. Zur Rolle der Massenmedien zwischen Wäch- Slamička (Hrsg.), Korruption. Historische Annäherungen an teramt, Skandalisierung und Instrumentalisierbarkeit, in: von eine Grundfigur politischer Kommunikation, Göttingen 2010, Alemann (Anm. 5), S. 287–310. S. 55–75. 13
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