AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Korruption - Bundeszentrale für politische ...

 
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71. Jahrgang, 19–20/2021, 10. Mai 2021

    AUS POLITIK
UND ZEITGESCHICHTE
     Korruption
        Jens Ivo Engels                          Dominik H. Enste
  KLEINE GESCHICHTE DER                 FOLGEN VON KORRUPTION
       KORRUPTION                      FÜR WIRTSCHAFT, STAAT UND
                                             GESELLSCHAFT
        Monika Oberle
     KORRUPTION ALS                               Anne van Aaken
     GEGENSTAND DER                           ENTWICKLUNG,
   POLITISCHEN BILDUNG                   WIRTSCHAFT(SWACHSTUM)
                                          UND INTERNATIONALE
         Peter Graeff
                                        KORRUPTIONSBEKÄMPFUNG
  GRAUZONEN MODERNER
      KORRUPTION                          Freya Gassmann · Michael Koch
                                           KORRUPTION IM SPORT
        Sebastian Wolf
     KORRUPTION UND
 ANTIKORRUPTION IN POLITIK
     UND VERWALTUNG

                  ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE
                       FÜR POLITISCHE BILDUNG
              Beilage zur Wochenzeitung
Korruption
                                      APuZ 19–20/2021
JENS IVO ENGELS                                      DOMINIK H. ENSTE
KLEINE GESCHICHTE DER KORRUPTION                     FOLGEN VON KORRUPTION FÜR
Der Beitrag beleuchtet die Entstehung der            WIRTSCHAFT, STAAT UND GESELLSCHAFT
modernen Auffassung von Korruption seit der          Die Folgen von Korruption lassen sich im Län-
Zeit um 1800. Anhand des Amtsbegriffs, der           dervergleich ermitteln. Zu ihnen zählen Armut,
Trennung von öffentlichem und privatem Nutzen        geringeres Wachstum, weniger Wohlbefinden,
sowie historischer Korruptionsdebatten führt er      mehr Ungleichheit, größere Schattenwirtschaft
Probleme vor Augen, die bis heute bestehen.          sowie ein Vertrauensverlust in die Politik.
Seite 04–09                                          Hierunter leiden langfristig alle Akteure.
                                                     Seite 28–33
MONIKA OBERLE
KORRUPTION ALS GEGENSTAND                            ANNE VAN AAKEN
DER POLITISCHEN BILDUNG                              ENTWICKLUNG, WIRTSCHAFT(SWACHSTUM)
Korruption schadet der Demokratie und                UND INTERNATIONALE
verursacht materielle und immaterielle Kosten.       KORRUPTIONSBEKÄMPFUNG
Ziel politischer Bildung ist ein differenzierterer   Korruption ist ein komplexes Phänomen, dessen
Umgang mit diesem vielschichtigen Phänomen           Ursachen und Wirkungen eng verwoben sind.
und eine Stärkung der Urteils- und Handlungs-        Korruptionsbekämpfung in der Entwicklungs-
fähigkeit der Lernenden.                             zusammenarbeit erfordert internationalen
Seite 10–15                                          Konsens und eine Stärkung ökonomischer,
                                                     politischer und rechtlicher Institutionen.
                                                     Seite 34–39
PETER GRAEFF
GRAUZONEN MODERNER KORRUPTION
Dass Korruption positive Effekte haben kann,         FREYA GASSMANN · MICHAEL KOCH
entspricht weder dem Stand der empirischen           KORRUPTION IM SPORT
Forschung noch den allgemeinen sozialen              Auch der Sport ist gegen Korruption nicht
Erwartungen. Gleichwohl lohnt es sich, mehr          gefeit. Zwar ist er, entgegen der öffentlichen
über die Grauzonen korrupten Verhaltens              Wahrnehmung, keineswegs besonders korrup-
nachzudenken.                                        tionsanfällig, allerdings hat der Sport wegen
Seite 16–20                                          der mit ihm verbundenen hohen normativen
                                                     Prinzipien besonders viel zu verlieren.
                                                     Seite 40–45
SEBASTIAN WOLF
KORRUPTION UND ANTIKORRUPTION
IN POLITIK UND VERWALTUNG
Politische Korruption als Missbrauch öffentli-
cher Macht zum privaten Vorteil kann verschie-
dene Formen annehmen und unterschiedliche
Folgen haben. Korruptionsbekämpfung ist eine
Daueraufgabe demokratischer Rechtsstaaten und
mitunter ein umkämpftes Politikfeld.
Seite 21–27
EDITORIAL
Korruption ist ein ebenso altes wie vielschichtiges Phänomen. Gemeinhin wird
darunter der Missbrauch eines öffentlichen Amtes, einer Funktion in der Wirt-
schaft oder eines politischen Mandats zur Erlangung eines Vorteils für sich oder
einen Dritten verstanden. Ausweislich des „Bundeslagebilds Korruption“ des
Bundeskriminalamts verursachte Korruption in den vergangenen fünf Jahren
einen durchschnittlichen Gesamtschaden von 161 Millionen Euro jährlich, bei
mehr als 5800 erfassten Korruptionsstraftaten pro Jahr – und dies sind nur die
aufgedeckten Fälle. Während die öffentliche Verwaltung, die Wirtschaft und die
Strafverfolgungs- und Justizbehörden bevorzugte Ziele versuchter oder vollen-
deter Korruptionshandlungen waren, spielte die Bestechlichkeit und Bestechung
von Mandatsträgern nur eine untergeordnete Rolle.
   Allerdings zeigen die jüngsten Vorkommnisse um die mutmaßliche Vorteils-
nahme bei der Vermittlung von Corona-Schutzmasken („Masken-Affäre“), dass
Korruption nicht nur strafrechtliche oder ökonomische Folgen hat, sondern
auch ernste Auswirkungen auf die wahrgenommene Legitimität eines politi-
schen Systems und seiner Handelnden. Vertrauen in staatliches und politisches
Handeln ist nicht nur in Pandemiezeiten eine wichtige Ressource, die durch
vermeintliche oder tatsächliche Korruption Schaden zu nehmen droht.
   Wie bei allen sozialen Phänomenen lohnt sich aber auch hier ein Blick auf die
Grauzonen und Ambivalenzen. Wann etwa legitimer Lobbyismus in korruptes
Handeln umschlägt, ist in der Praxis mitunter ebenso schwer zu beurteilen
wie die Frage, wann aus Vertrauensbeziehungen, gegenseitiger Hilfeleistung
oder Solidarität zwischen Personen gesellschaftlich schädliche, illegitime und
korrupte Handlungen zum Schaden der Allgemeinheit werden. „Korruption ist
Klüngeln ohne Charakter“, meinen Kölnerinnen und Kölner seit jeher zu wis-
sen. Möglicherweise machen sie es sich damit aber dann doch zu leicht.

                                                      Sascha Kneip

                                                                              03
APuZ 19–20/2021

     KLEINE GESCHICHTE DER KORRUPTION
                                         Jens Ivo Engels

Über Korruption gibt es die Alltagsweisheit, dass          VON WÖRTERN UND BEGRIFFEN
sie das zweitälteste Gewerbe der Welt sei. Das ist
bemerkenswert. Denn zum einen deutet dies auf        Spricht man über Korruption, so stehen vielfache
die moralische Anrüchigkeit der Korruption, ganz     Annahmen im Raum, die oft nicht klar benannt
so wie beim „ältesten Gewerbe“. Zum anderen          sind. Entscheidend sind die Wörter und Begrif-
unterstellt diese Aussage, Korruption begleite die   fe, mit denen man ein Problem beschreibt. Hier
Menschheit von Beginn an. Die Botschaft lautet       gilt es zu unterscheiden. Heutzutage ist das Wort
also: Zu den Schwächen des Menschen gehört die       „Korruption“ (corruption, corruzione, corrupción,
Korrumpierbarkeit. Das kann mit fatalistischem       коррупция, etc.) in vielen Sprachen mit ähnlicher
Unterton versehen sein, der auf die Unausrott-       Bedeutung verbreitet. Man kann sich also leicht
barkeit des Übels verweist. Es kann aber auch die    verständigen. Das war nicht immer so. Der aus
dringende Aufforderung motivieren, sich nun aber     dem Lateinischen entlehnte Wortstamm corruptio/
endlich von dieser Geißel zu befreien.               corruptus ist in der europäischen (Rechts-)Kultur
    Beides sollte Interesse und Widerspruch von      seit der Antike tradiert worden. Aber in einigen
Historikerinnen und Historikern provozieren.         Sprachen fand er erst spät Verwendung. In deut-
Behauptungen, dass etwas überall oder seit jeher     schen Wörterbüchern setzte sich die Vokabel erst
vorkomme, sind noch immer widerlegt worden.          allmählich im Verlauf des 19. Jahrhunderts durch,
Auch spielt die angebliche Natur des Menschen        ganz anders als in englischen Nachschlagewerken,
keine Rolle in der seriösen Geschichtswissen-        in denen das Wort schon sehr früh verbreitet war.01
schaft. Selbst zur moralischen Erbauung trägt        Dennoch war das dahinterstehende Problem auch
Historie nur noch selten bei. Andererseits ist die   in Deutschland bekannt, wurde aber anders be-
Beobachtung hinter der Alltagsweisheit nicht         nannt. In der Frühen Neuzeit bezeichnete man an-
völlig aus der Luft gegriffen: Über Korruption       stößige Einflussnahme auf Amtsträger durch Ge-
und Bestechung diskutieren die europäischen Ge-      schenke als „miet“ (im Gegensatz zum erlaubten
meinwesen seit der griechischen und römischen        „schenk“).02 Bereits im 14. Jahrhundert kritisierte
Antike – bis hin zur Verurteilung des ehemaligen     der englische Philosoph und Theologe John Wy-
französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy we-        clif in einer lateinischen Schrift den Ämterkauf –
gen Bestechung oder zur sogenannten Masken-          allerdings nannte auch er das Wort „Korruption“
Affäre im Deutschen Bundestag im März 2021.          nicht, sondern schrieb „De Simonia“, also über die
Es handelt sich also gewiss um einen Dauerbren-      Simonie, den Kauf kirchlicher Ämter.03
ner politischer und gesellschaftlicher Auseinan-          Umgekehrt bedeutet der jahrhundertelange
dersetzung in unserem Kulturkreis. Außerdem          Gebrauch dieses Wortes nicht, dass jeweils das-
kommt es für eine realistische Einschätzung ak-      selbe gemeint ist. Die lateinische „corruptio“
tueller Korruption und ihrer Bekämpfung darauf       etwa bezeichnete beim Kirchenvater Augustinus
an, ihre Geschichte zu kennen. Der historische       und im frühen Mittelalter noch etwas ganz ande-
Blick ermöglicht es, ein wenig zurückzutreten        res, als wir heute damit verbinden. Gemeint war
und jenseits praktischer Anforderungen, juristi-     der Unterschied zwischen dem perfekten Wesen
scher Sachverhalte oder politischer Aufgeregthei-    Gottes und dem moralisch fehlerhaften Men-
ten über Grundstrukturen des Problems nachzu-        schen. Korruption verwies also unspezifisch auf
denken. Einige Dinge, so meine These, lassen sich    die Sündhaftigkeit der Erdenbewohner im Kon-
niemals lösen – allerdings nicht, weil es sich um    trast zur untadeligen Herrlichkeit Gottes.04
eine Fatalität der menschlichen Natur handelte.           Hinter den unterschiedlichen Vokabeln steht
Andere Gründe sind entscheidend. Auch davon          der Begriff, also der Sachverhalt, um den es geht.
wird im Folgenden die Rede sein.                     Wie bereits angedeutet, bestehen heutzutage kaum

04
Korruption APuZ

noch sprachliche Abweichungen. Dafür herrscht                        stehen für verkrustete Machtstrukturen, während
bei der Definition des Begriffs eine erhebliche                      letztere als Abhilfe dagegen angesehen werden.07
Bandbreite. So gibt es etwa eine Art Standardde-                         In der Masken-Affäre der Unionsabgeordneten
finition von Korruption: Nach dieser handelt es                      Nikolas Löbel (CDU) und Georg Nüßlein (CSU)
sich bei Korruption um einen Missbrauch von an-                      geht es eher um Vorteilsnahme als um Bestechung.
vertrauter Macht (oder: eines öffentlichen Amtes)                    Manipuliert ist nach derzeitigem Stand der Be-
zum privaten Nutzen. Allerdings gibt es daneben                      richterstattung nicht die Sachentscheidung selbst,
eine Vielzahl unterschiedlicher Spezifikationen.                     also der Kauf von Atemschutzmasken durch den
So wird in einem Teil der Literatur zwischen pet-                    Bund. Kritikwürdig ist, dass die Beschuldigten
ty corruption und grand corruption unterschieden,                    sich dabei Einnahmen verschafften, die ihnen nach
also zwischen einer Art Alltagskorruption mit Be-                    allgemeiner Auffassung nicht zustanden, also ein
stechlichkeit in der öffentlichen Verwaltung und                     ungerechtfertigter persönlicher Vorteil.
der strukturellen Käuflichkeit ganzer politischer
Systeme. Noch allgemeiner wird mit Korruption                               MODERNITÄT VON KORRUPTION
auch der Niedergang ganzer Gesellschaften, ih-
rer Moral und Sitten beschrieben. Das sind fun-                      Korruption ist modern. Wie wir sie heute kennen,
damentale Unterschiede, die aber oft nur unzurei-                    entstand sie erst um 1800. Diese Aussage über-
chend reflektiert1234 werden.05                                      rascht auf den ersten Blick. Üblicherweise sehen
    Auch der Begriff der „Käuflichkeit“ ist verhält-                 wir Korruption als das Gegenteil von Modernität
nismäßig unbestimmt. Liegt Korruption nur dann                       an, nämlich als ein Überbleibsel aus dunklen Zei-
vor, wenn die Entscheidung eines Akteurs mit klin-                   ten der Vormoderne. Aber hier liegt ein Paradox
gender Münze bezahlt wird (das wäre eine Form                        vor: Die Auffassung, Korruption sei etwas Un-
direkter Bestechung)? Können auch weitere Per-                       modernes, konnte erst mit dem Aufkommen der
sonen einbezogen sein, bis hin zu Vergünstigungen                    Moderne entstehen. Nicht die Korruption, son-
für Dritte oder Vierte? Solche Strukturen finden                     dern unsere Auffassung von Korruption ist also
sich in Klüngelnetzwerken.06 Auch hier ist die Lage                  modern. Und das hat zwei Aspekte.
nicht eindeutig: Sind Begünstigungssysteme im-                           Dazu gehört zunächst einmal eine politische
mer auch korrupt? Heute stehen neben den negativ                     Strategie. Erst in der Epoche der Aufklärung gegen
konnotierten Seilschaften und old boys’ networks                     Mitte/Ende des 18. Jahrhunderts entstand eine Vor-
die positiv bewerteten Frauennetzwerke – erstere                     stellung davon, dass es so etwas wie gesellschaftli-
                                                                     chen Fortschritt geben könne. Zuvor dominierte
01 Vgl. Jens Ivo Engels, Politische Korruption in der Moderne.       die Ansicht, Geschichte wiederhole sich in Zyk-
Debatten und Praktiken in Großbritannien und Deutschland im          len von Aufstieg und Verfall.08 Der Glaube an den
19. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 1/2006, S. 313–350,
                                                                     Fortschritt ließ es sinnvoll erscheinen, neue Ideen
hier S. 327 ff.
02 Vgl. Valentin Groebner, Gefährliche Geschenke. Ritual, Politik
                                                                     radikal von der Vergangenheit abzugrenzen – so
und die Sprache der Korruption in der Eidgenossenschaft im spä-      wie beispielsweise in der Französischen Revoluti-
ten Mittelalter und am Beginn der Neuzeit, Konstanz 2000, S. 235.    on durch die Zerstörung der alten Ordnung. In den
03 Vgl. Gunda Steffen-Gaus, Gute Patrone als Korrektoren der         Jahrzehnten um 1800 kam es in nahezu allen euro-
Simonie. Das Korruptionsmodell in John Wycliffs „De Simonia“,
                                                                     päischen Staaten zu tiefgreifenden Reformprozes-
in: Niels Grüne/Simona Slanička (Hrsg.), Korruption. Historische
Annäherungen, Göttingen 2010, S. 79–98.
                                                                     sen von Staat und Verwaltung. Die alten, oft über
04 Vgl. Bruce Buchan/Lisa Hill, An Intellectual History of Politi-   lange Zeiträume gewachsenen und vielfach schwer
cal Corruption, Basingstoke 2014, Kap. 2.                            verständlichen, extrem komplizierten Rechtssys-
05 Zum Definitionsproblem gibt es eine reichhaltige Debatte.         teme wurden durch systematisch gedachte und
Vgl. etwa Ronald Kroeze/André Vitória/Guy Geltner, Introduc-
                                                                     schlankere Regelungen ersetzt. Öffentliche Ämter
tion. Debating Corruption and Anticorruption in History, in: dies
(Hrsg.), Anticorruption in History. From Antiquity to the Modern
                                                                     erhielten eine eindeutige Zweckbestimmung: Sie
Era, Oxford 2018, S. 1–17; Arnold J. Heidenheimer/Michael
Johnston/Victor T. LeVine, Terms, Concepts, and Definitions.
Introduction, in: dies. (Hrsg.), Political Corruption. A Handbook,   07 Vgl. Arne Karsten/Hillard von Thiessen, Einleitung, in: dies.
New Brunswick 1990, S. 3–14.                                         (Hrsg.), Nützliche Netzwerke und korrupte Seilschaften, Göttin-
06 Vgl. Erwin K. Scheuch, Die Mechanismen der Korruption in          gen 2006, S. 7–17, hier S. 9.
Politik und Verwaltung, in: Hans Herbert von Arnim (Hrsg.), Kor-     08 Vgl. dazu den Klassiker Reinhart Koselleck, Kritik und Krise.
ruption. Netzwerke in Politik, Ämtern und Wirtschaft, München        Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Frank­furt/M.
2003, S. 31–75, hier S. 53.                                          201814.

                                                                                                                                  05
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sollten ausschließlich dem öffentlichen Interesse                    Man kann diese Grenze nur verletzen, wenn es sie
dienen. Anders, als es häufig in der Frühen Neuzeit                  gibt. Und hier finden wir um 1800 eine fundamen-
der Fall war, sollten diese Ämter den Inhabern nun                   tale Änderung. Zwar gab es auch in der Frühen
nicht mehr zusätzlich zum Aufbau eines Vermö-                        Neuzeit ein Bewusstsein dafür, dass hohe Amtsträ-
gens oder einer Gruppe von Gefolgsleuten dienen.                     ger das Wohl des Ganzen beachten mussten. Aller-
Kurz gesagt entstand um diese Zeit die im Kern bis                   dings basierte diese Vorstellung nicht auf der abs-
heute gültige Vorstellung von Staat und Bürokratie.                  trakten Trennung zwischen dem Eigenen und dem
An diesem Punkt kam die vormoderne Korrupti-                         Fremden. Vor allem gab es sozusagen mehrere For-
on ins Spiel: In nahezu allen Ländern nutzten die                    men von Gemeinwohl, die allesamt legitim erschei-
Reformer das Korruptionsargument für ihre Zwe-                       nen konnten. Unterschiedliche Normen standen in
cke. Sie bezeichneten die bestehende, aus dem An-                    offener und unauflösbarer Konkurrenz.10 Es war
cien Régime stammende Rechtsordnung als kor-                         nicht von vornherein ausgeschlossen, dass die sys-
rupt und verbanden dies mit Kritik am Verhalten                      tematische Begünstigung der eigenen Familie oder
vieler Amtsträger. In der englischen Debatte kur-                    einer politischen Klientel nicht doch eine Form von
sierte der sprechende Begriff der old corruption:                    Dienst an der Gemeinschaft war. Und ganz prak-
Gemeint war die alte Staatsordnung, gegen die die                    tisch: Bereicherung im öffentlichen Amt war häufig
Fortschrittsorientierten kämpfen müssten.09                          notwendig, um das Amt überhaupt ausführen zu
    In den Augen der neuen Staatseliten und zu-                      können, da es in vielen Fällen keine Gehälter gab.
nehmend auch der Öffentlichkeit verfestigte sich                     Umgekehrt war Ämterkauf ein verbreitetes, völ-
das Bild von der korrupten vormodernen Gesell-                       lig legales, wenn auch nicht immer gelobtes Phäno-
schaft, die ein moderner, reformorientierter Staat                   men. Typisch für die Frühe Neuzeit blieb, dass die
überwinden müsse und könne. Nun erscheint                            Regeln nie besonders trennscharf waren – was im
diese Darstellung des Alten als Propaganda einer                     einen Fall als Menschenfreundlichkeit gelten moch-
aufsteigenden Elite. Ein Vorwurf, der scheinbar                      te, konnte im anderen Fall als Korruption gebrand-
in jeder Reformära erhoben werden kann. Dies                         markt werden. Die Grenze war nicht klar, sondern
wird dem Kampf gegen old corruption aber nicht                       sie verlief im Ungefähren. Meist wurden Übertrei-
ganz gerecht. Es stand noch eine andere Verände-                     bungen in die eine oder andere Richtung kritisiert.
rung dahinter, die bis heute unser Korruptions-                           Das änderte sich fundamental mit dem Beginn
verständnis prägt. Und damit sind wir beim zwei-                     der Moderne. Erst das moderne politische Denken
ten fundamentalen Wandel.                                            schuf eine harte und eindeutige Grenze zwischen
                                                                     dem Gemeinwohl und dem Privatinteresse. Der
                KORRUPTION ALS                                       Staat wird spätestens seit dem 18. Jahrhundert als
             GRENZÜBERSCHREITUNG                                     etwas Abstraktes verstanden und der Staatszweck
                                                                     endgültig abgetrennt vom Interesse des Herr-
Die oben erwähnte Standarddefinition von Kor-                        schers und seiner Beamten. Der Staatsdienst löste
ruption beruht auf dem Gegensatz zwischen öf-                        den Fürstendienst ab. Auch das Lebensgefühl, vor
fentlichem Interesse oder Gemeinwohl auf der ei-                     allem des Bürgertums, schuf eine Demarkations-
nen Seite und dem individuellen Interesse oder                       linie zwischen dem Handeln in der Öffentlichkeit
Privatnutzen auf der anderen. Diese Gegenüber-                       und dem Rückzugsort des Privaten. Für Inhaber
stellung setzt voraus, dass beide Sphären, nämlich                   öffentlicher Ämter bedeutet dies bis heute, dass
Gemeinwohl und Privates, systematisch voneinan-                      sie ihr Amt nicht nutzen dürfen, um einen Vorteil
der getrennt und als Gegensatz aufgefasst werden.                    für ihr privates Ich zu erwerben oder Verwandte
                                                                     und Freunde zu begünstigen. Die Beachtung die-
                                                                     ses Grundsatzes wird in der Öffentlichkeit strikt
09 Hierzu gibt es mittlerweile Studien zu verschiedenen Län-
dern, vgl. z. B. Robert Bernsee, Moralische Erneuerung. Korruption
                                                                     eingefordert. Anders als in der Vormoderne lässt
und bürokratische Reformen in Bayern und Preußen, 1780–1820,         sich dessen Übertretung nicht mehr rechtfertigen.
Göttingen 2017; Toon Kerkhoff/Ronald Kroeze/Pieter Wagenaar,
Corruption and the Rise of Modern Politics in Europe in the
Eighteenth and Nineteenth Centuries: A Comparison between            10 Vgl. Hillard von Thiessen, Normenkonkurrenz. Handlungs-
France, the Netherlands, Germany and England – Introduction,         spielräume, Rollen, normativer Wandel und normative Kontinu-
in: Journal of Modern European History 1/2013, S. 19–30; Philip      ität vom späten Mittelalter bis zum Übergang zur Moderne, in:
Harling, The Waning of „Old Corruption“. The Politics of Economi-    Arne Karsten/ders. (Hrsg.), Normenkonkurrenz in historischer
cal Reform in Britain, 1779–1846, Oxford 1996.                       Perspektive, Berlin 2015, S. 241–286.

06
Korruption APuZ

Man kann lediglich versuchen nachzuweisen, dass                  dass Amtsinhaber ähnlich abstrakt wie die Staats-
keine Übertretung vorlag – oder eine solche leug-                idee seien, der sie dienen. Das funktioniert als Ide-
nen. Legitimieren kann man sie nicht mehr.                       al, geht aber oft an der Lebenswirklichkeit vorbei.
    Später, im 20. Jahrhundert, wurde die Tren-                  Oder, um es anders zu formulieren: Es kommt sehr
nung zunehmend auch auf Privatunternehmen                        auf die gesellschaftlichen und politischen Kontexte
übertragen. Das öffentliche Interesse entspricht                 an, ob das Verhalten von Amtsträgern, Politikern
hier dem Unternehmensziel: Wer eine Firma zum                    und zunehmend auch von Unternehmensangehö-
eigenen Nutzen schädigt, begeht Untreue.                         rigen akzeptabel oder problematisch erscheint.
                                                                      Hierzu ein paar Beispiele: In den 1840er Jah-
               UNLÖSBARKEIT DES                                  ren entzündete sich in Frankreich eine Debatte da-
             KORRUPTIONSPROBLEMS                                 rüber, ob König Louis-Philippe den Erwerb von
                                                                 Kolonien im heutigen Algerien im Dienst des Lan-
Die geschilderte Trennung zwischen öffentlichem                  des (Gemeinwohl) oder zur Mehrung des Ruhms
Interesse und Privatperson führte dazu, dass ab dem              seiner Dynastie (Privatnutzen) betrieben habe. Es
frühen 19. Jahrhundert zunächst zögerlich, dann                  liegt auf der Hand, dass diese Frage nicht beant-
immer flächendeckender Gesetze erlassen wurden,                  wortet werden kann, selbst von Louis-Philippe
die das Verhalten in öffentlichen Ämtern regulier-               persönlich nicht.13 In unterschiedlichen Dienstwa-
ten. Hier standen zunächst Beamte im Zentrum,                    genaffären, die die Bundespolitik seit den 1950er
später auch Inhaber politischer Funktionen. Bereits              Jahren gesehen hat, ging es stets um die Frage,
im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts gab sich das             ob eine Politikerin oder ein Politiker staatlich fi-
britische Unterhaus Regeln zur Abwehr von Kor-                   nanzierte Autos mit Chauffeur jeweils für priva-
ruption und Vorteilsnahme bei den Abgeordneten,                  te, parteipolitische oder amtsbezogene Zwecke
insbesondere im Kontakt mit der Privatwirtschaft.                nutzte. Eine Antwort war auch hier häufig nicht
Der mit der Industrialisierung beginnende Lobby-                 möglich, etwa wenn eine Ministerin wie die dama-
ismus galt von Anfang an als Treiber von Korrup-                 lige Gesundheitsministerin Ulla Schmidt im Aus-
tionsgefahren.11 Heute ist das juristische Regelwerk             land den privaten Urlaub unterbrach, um vor Ort
stark ausdifferenziert, zumal seit den 1990er Jahren             dienstliche Termine wahrzunehmen. Zur Verwir-
sogenannte Compliance-Regeln im Bereich der Pri-                 rung trug in den 1990er Jahren bei, dass anstelle
vatwirtschaft hinzugekommen sind.12 Außerdem                     des Chauffeurs der Ehemann der Bundestagsprä-
sind Korruptionskritik, Korruptionsskandale und                  sidentin Rita Süssmuth die Staatskarosse lenkte,
Antikorruptionsmaßnahmen ein wiederkehrendes                     die im Übrigen völlig bestimmungsgemäß genutzt
Thema in der öffentlichen politischen Debatte.                   wurde: War das nun Kostenersparnis zugunsten
     Allerdings scheint das Problem trotz zweier                 der Staatskasse oder ein Privatvergnügen?14
Jahrhunderte intensiver und konsequenter Aus-                         „Vergebliche[s] Streben nach Eindeutigkeit“
einandersetzung weiter von einer Lösung entfernt                 beherrscht all diese Debatten.15 Dabei handelt es
als zuvor. Wie ist das zu erklären? Grund hierfür                sich bei der Korruption nicht um ein isoliertes
ist zum einen die seit etwa 1990 wieder gewachsene               Phänomen, sondern um eine in der Erkenntnis-
Sensibilität für das Thema, nachdem Korruption                   theorie moderner Gesellschaften tief verwurzelte
in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wenig                 Problematik. Die Stärke des modernen Denkens,
Aufmerksamkeit erhielt. Der eigentliche Grund                    in der Beschreibung von Natur und Gesellschaft
liegt jedoch in der Problembeschreibung selbst.                  klare und unzweideutige Kategorien zu entwi-
Denn die Trennung zwischen öffentlichem und                      ckeln, erweist sich im Fall der Korruption jeden-
privatem Interesse ist in der Praxis oft nicht klar zu           falls als Stoff für nicht enden wollende Debatten.
bestimmen, gelegentlich unmöglich. Es entstand
im 19. Jahrhundert die bis heute gültige Fiktion,                13 Zur Korruptionskritik an der Juli-Monarchie vgl. William Fortes-
                                                                 cue, Morality and Monarchy. Corruption and the Fall of the Regime
                                                                 of Louis-Philippe in 1848, in: French History 1/2002, S. 83–100.
11 Vgl. Christian Ebhardt, Interessenpolitik und Korruption.     14 Diese und weitere Beispiele in Jens Ivo Engels, Alles nur
Personale Netzwerke und Korruptionsdebatten am Beispiel          gekauft? Korruption in der Bundesrepublik seit 1949, Darmstadt
der Eisenbahnbranche in Großbritannien und Frankreich,           2019, insbesondere S. 300–344.
1830–1870, Göttingen 2015.                                       15 Vgl. ders., Vom vergeblichen Streben nach Eindeutigkeit.
12 Vgl. die umfassende juristische Darstellung in Markus Busch   Normenkonkurrenz in der europäischen Moderne, in: Karsten/​
et al. (Hrsg.), Antikorruptions-Compliance, Heidelberg 2020.     von Thiessen (Anm. 10), S. 217–237.

                                                                                                                                 07
APuZ 19–20/2021

    Die Dehnbarkeit des Korruptionsbegriffs führ-       dem Adel mit dem Ziel, alteuropäische Rechts-
te um die Jahrtausendwende Peter Eigen vor, der         und Moralvorstellungen zu modernisieren.
damalige Vorsitzende der Antikorruptionsorgani-              Die zweite Hochphase der Korruptionsde-
sation Transparency International. Er äußerte sich      batten fällt zeitlich mit der Entstehung des po-
damals zur Parteispendenaffäre um Helmut Kohl.          litischen Massenmarktes im letzten Drittel des
Kohl sah sich dem von ihm selbst nicht bestrit-         19. Jahrhunderts zusammen und zog sich bis in
tenen Vorwurf ausgesetzt, er habe illegale Par­tei­     die 1930er Jahre. Beherrschende Themen dieser
spen­den angenommen. Allerdings unterstrich der         Debatten, die in nahezu allen europäischen Staa-
Altkanzler, dies sei keine Korruption, denn er habe     ten geführt wurden, bezogen sich auf den Parla-
das Geld nicht zum Privatnutzen, sondern zum            mentarismus und die in dieser Zeit aufkommende
Aufbau seiner Partei in den neuen Bundesländern         Figur des Berufspolitikers. Auch der Stimmen-
eingesetzt. Peter Eigen widersprach: Kohl habe das      kauf bei politischen Wahlen fand damals große
Geld zur Festigung seiner persönlichen Rolle in-        Aufmerksamkeit, jedenfalls bevor die geheime
nerhalb der Partei genutzt, damit habe er das eigen-    Stimmabgabe Anfang des 20. Jahrhunderts zur
nützige und quasi private Ziel der Machtabsiche-        Regel wurde. In der Kritik standen wahlweise
rung verfolgt, es habe sich folglich um Korruption      käufliche Volksvertreter oder käufliche Wähler.
gehandelt.16 Dieses Argument besitzt in der Tat              Ein europaweit diskutiertes Fanal bildete der
eine gewisse Logik, allerdings bedeutet es in der       sogenannte Panamaskandal in Frankreich Anfang
Konsequenz: Jeder Politiker und jede Politike-          der 1890er Jahre. Hier hatten sich Hunderte Ab-
rin ist korrupt, da Politik ohne das Anstreben von      geordnete und Journalisten von einem Unterneh-
Ämtern und Machtausübung nun einmal nicht               men dafür bezahlen lassen, positiv über die Finan-
funktioniert. Wenn man kein Geld dafür einsetzt,        zierung des Baus des Panamakanals zu berichten
dann doch Absprachen, Verbindungen, Begünsti-           und ein vorteilhaftes Gesetz hierzu zu verabschie-
gung auf Gegenseitigkeit. So scharf der moderne         den. Leidtragende waren Tausende Kleinanleger, die
Korruptionsbegriff also ist, in der politischen Le-     durch die eigentlich schon längst absehbare Insol-
benswirklichkeit ist er oft untauglich. Das rechtfer-   venz der Finanzierungsgesellschaft ihr Vermögen
tigt nicht den Gesetzesbruch durch Helmut Kohl –        verloren.17 Der politische Tenor in dieser zweiten
doch ist fraglich, ob der Korruptionsvorwurf hier       Phase europäischer Korruptionskritik wurde wie-
ins Schwarze traf. In der öffentlichen Debatte des      der von der Opposition gesetzt. Vor allem sozia-
Jahres 2000 klang er gleichwohl stark durch.            listische Stimmen waren zunächst daran beteiligt.
                                                        Doch in dem Maße, wie rechte und rechtsnationa-
           WER KRITISIERT POLITISCHE                    listische Bewegungen aufkamen – in Frankreich be-
                KORRUPTION?                             reits in den 1890er Jahren, in anderen Ländern nach
                                                        der Jahrhundertwende –, griffen diese die Korrup-
Wie Debatten über Korruption politisch ausge-           tionsvorwürfe auf und verbanden sie zunehmend
hen, hängt weniger vom Sachverhalt als von po-          mit Antisemitismus, rechtem Antikapitalismus und
litischen Machtverhältnissen ab. Das lässt sich         dem Vorwurf, die parlamentarischen Systeme sei-
im Verlauf der vergangenen zweihundert Jah-             en in erster Linie Bereicherungsmaschinen. Seit den
re nachverfolgen. Kritik an Korruption und das          1920er Jahren avancierte der Korruptionsvorwurf
Bemühen um Antikorruptionsmaßnahmen ver-                zu einem Standardargument all jener, die sich au-
schwanden in dieser Zeit nie ganz. Allerdings           toritäre Regierungsmodelle wünschten. Das Ver-
lösten sich Phasen intensiverer und weniger in-         sprechen, endlich die politische Korruption aus-
tensiver Debatten ab. Insgesamt sind drei Pe-           zuradieren, gehörte zum Kernprogramm späterer
rioden mit starker Fokussierung auf das Kor-            Diktatoren wie Mussolini, Franco und Hitler.18
ruptionsproblem festzustellen. Die erste Phase
deckt sich mit der Kritik an old corruption und         17 Vgl. Jean-Yves Mollier, Le scandale de Panama, Paris 1991;
dem Ancien Régime an der Wende vom 18. zum              Christophe Portalez/Anna Rothfuss, Panama and the Oppo-
19. Jahrhundert. Wie bereits geschildert, en-           sition. The Perception of French and German Socialists of the
                                                        Panama Scandal, in: Frédéric Monier et al. (Hrsg.), Scandales et
gagierten sich hier vor allem reformorientierte
                                                        corruption à l’époque contemporaine, Paris 2014, S. 181–194.
Kräfte des aufstrebenden Bürgertums und aus             18 Vgl. zu den beiden ersten Phasen die ausführliche Darstellung
                                                        in Jens Ivo Engels, Die Geschichte der Korruption. Von der Frühen
16 Vgl. Engels (Anm. 14), S. 320.                       Neuzeit bis ins 20. Jahrhundert, Frank­furt/M. 2014, Kap. 7–9.

08
Korruption APuZ

    Nach dem Zweiten Weltkrieg spielte Korrup-               ge verdeutlichen. Zum einen ist Korruption ein
tion als beherrschende Zeitdiagnose des Politi-              sehr formbarer Begriff. Die damit verbundenen
schen zunächst keine Rolle mehr. Das änderte sich            Vergehen unterscheiden sich erheblich je nach
nach 1990, als die dritte und bis heute anhaltende           Epoche und Gesellschaft. Daher ist Korruption
Hochphase der modernen Korruptionsdebatte                    selbstverständlich keine Fatalität. Vielmehr ist das
begann. Auch diese Debatte weist einige Beson-               Unbehagen an Korruption ein Ausdruck verän-
derheiten auf. Von Beginn an gab es einen globa-             derlicher Normen und Werte in sich wandelnden
len Bezug. Zum ersten Mal ging es um weltweite               Gesellschaften.
Entwicklungen, beispielsweise mit Blick auf die                   Zum anderen ist die moderne Auffassung von
Schwellenländer und die postsozialistischen Län-             Korruption seit zweihundert Jahren vergleichs-
der des ehemaligen Ostblocks, und erstmals wa-               weise stabil. Sie beruht auf einer rigorosen Tren-
ren internationale Organisationen wie die UNO,               nung des privaten vom öffentlichen Interesse. Das
die OECD und die Weltbank Treiber der Diskus-                ist einerseits ein Fortschritt an Klarheit im Ver-
sion. Im scharfen Kontrast zur zweiten Hoch-                 gleich zur Vormoderne. Andererseits stößt diese
phase der Korruptionskritik war der Kapitalis-               Trennung an die Grenzen der Realität. Wenn das
mus nun nicht Teil des Problems, sondern eher                Verbot der Vermischung öffentlicher mit privaten
Teil der Lösung. Zwar spielte auch in dieser Pha-            Interessen allzu expansiv postuliert wird, droht
se Kritik am Lobbyismus eine ganz zentrale Rol-              eine Tendenz zur Generalverdächtigung nahezu
le, doch ebenso häufig sollte Korruptionsbe-                 all jener, die ein öffentliches Amt ausüben.
kämpfung auch der Öffnung von abgeschotteten                      Korruptionskritik wird häufig von Gruppen
Märkten im Globalen Süden dienen, sollte der                 oder Strömungen vorgetragen, die die herrschen-
Abbau von Staatlichkeit im Globalen Norden das               den Verhältnisse verändern oder umdeuten wol-
Korruptionsproblem lösen. Regulierung wur-                   len. Sie kann Reformen legitimieren, kann aber
de gleichgesetzt mit Korruption, Korruptions-                auch dazu beitragen, politische Akteure zu dele-
bekämpfung befreie dagegen die Wirtschaft von                gitimieren. Die antidemokratische Stoßrichtung
sachfremden Einflüssen. Dieser neoliberale Zun-              in der zweiten und der oft staatlichen Eliten ge-
genschlag ist mittlerweile verklungen.                       genüber verächtliche Zungenschlag der dritten
    Ein anderes Motiv der 1990er Jahre aber                  Debatte sollten zu denken geben.
blieb: das Staatsmisstrauen. Neben der neolibe-                   Angesichts der aktuellen „Masken-Affäre“
ralen Agenda grundierte zunächst eine antiauto-              sollte sich jede Bürgerin und jeder Bürger fra-
ritäre, von den Neuen Sozialen Bewegungen ge-                gen, ob sie oder er dem Impuls nachgeben will,
prägte Politiker-, Parteien- und Staatskritik die            das Fehlverhalten der beiden Abgeordneten für
neue Korruptionsdebatte. Ab den 2000er Jahren                „die Spitze des Eisbergs“ einer moralisch ver-
erklang die bis heute aktuelle Forderung nach                rotteten Politikerkaste zu halten, oder ob es sich
Transparenz als Antikorruptionsstrategie, beglei-            lohnt, ein Grundvertrauen in die Institutionen zu
tet von einem fast grenzenlosen Misstrauen ge-               bewahren. Ähnliches gilt für Vertreterinnen und
genüber der moralischen Integrität der politischen           Vertreter der Medien. Die politischen Mitbewer-
und ökonomischen Eliten. Dieses Misstrauen lässt             berinnen und -bewerber der Unionsparteien wie-
sich an den immer sensibler anschlagenden Kor-               derum müssen einen schmalen Grat beschreiten:
ruptionsskandalen beobachten. Außerdem, das ist              ihre Funktion als Kritikerinnen und Kritiker zu
ebenfalls neu, etablierten sich ab den 1990er Jah-           erfüllen, ohne zugleich das Kind mit dem Bade
ren private Organisationen, die als Kämpfer ge-              auszuschütten. Der Unionsführung hingegen
gen die Korruption sowie verbundene Probleme                 bleibt nichts anderes, als die zutage getretenen
wie Lobbyismus auftreten und schon aus diesem                Probleme sehr ernst zu nehmen und Handlungs-
Grund der Debatte weitere Kapitel hinzufügen.19              fähigkeit zu beweisen.

        LEHREN AUS DER GESCHICHTE?                           JENS IVO ENGELS
                                                             ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an
Dieser Parforceritt durch die Geschichte der mo-             der Technischen Universität Darmstadt. Er forscht
dernen Korruptionsdebatten kann ein paar Din-                unter anderem zur Geschichte der Korruption in
                                                             Europa.
19 Vgl. zur dritten Hochphase Engels (Anm. 14), S. 143 ff.   jens_ivo.engels@tu-​darmstadt.de

                                                                                                              09
APuZ 19–20/2021

                      POLITIK,
             EIN SCHMUTZIGES GESCHÄFT?
                             Korruption als Gegenstand
                               der politischen Bildung
                                          Monika Oberle

„Mehr Putzfrauen in die Politik! Sie sind an          auch ihren Bestand gefährden kann. Auch eig-
schmutzige Geschäfte gewöhnt.“ In zwei meta-          net sich der Gegenstand politische Korruption,
phernbasierten Studien zu Politikbildern von Ju-      um Politikverdrossenheit gezielt zu begegnen. So
gendlichen trifft diese Aussage bei zahlreichen       kann politische Bildung an bereits vorhandene
Befragten auf Zustimmung.01 Und auch eine Er-         Vorstellungen der jeweiligen Zielgruppe anknüp-
hebungsreihe des Eurobarometers offenbart, dass       fen, gängige Vorurteile gegenüber der Politik auf-
ein erheblicher Anteil der Bevölkerung politische     greifen und die Fähigkeit und Bereitschaft zur de-
Parteien und die „Gruppe der Politiker“ mit Be-       mokratischen politischen Teilhabe stärken.
stechung beinhaltendem Machtmissbrauch kon-               Im Folgenden wird zunächst kurz auf das
notiert.02 Skandalträchtige Ereignisse wie die        Phänomen der (politischen) Korruption einge-
„Ibiza-Affäre“ oder die „Masken-Affäre“ bestä-        gangen, um anschließend Ziele, Prinzipien und
tigen immer wieder einprägsam dieses Bild. Die        vielversprechende Ansätze einer Auseinanderset-
Wahrnehmung von Po­li­ti­ker*­innen und Partei-       zung mit Korruption in der politischen Bildung
en als korrupt trägt zu Politik- und politischer      vorzustellen.
„Prozessverdrossenheit“03 bei, lässt die für De-
mokratien so wichtige Ressource des politischen               POLITISCHE KORRUPTION –
Vertrauens erodieren und unterminiert die Be-               EIN SCHILLERNDES PHÄNOMEN
reitschaft der Bevölkerung zur politischen Be-
teiligung, indem ihr politisches Responsivitäts-      Der Begriff „Korruption“ ist den meisten
gefühl – also die Wahrnehmung, dass Politik auf       Bürger*­innen geläufig und wird auch in der All-
Interessen der Bürger*­innen reagiert – vermin-       tagssprache verwendet. Zugleich dürften viele
dert wird. Wer davon ausgeht, dass politische         Menschen Schwierigkeiten haben, Korruption
Entscheidungen käuflich sind, hat wenig Anreiz,       präzise zu definieren, und Aussagen zu Kor-
sich an demokratischen Mitbestimmungsprozes-          ruption liegen oft unterschiedliche Begriffsver-
sen zu beteiligen.                                    ständnisse zugrunde. Auch in der Wissenschaft
     Dass Korruption ein geeigneter und bedeut-       gibt es keine einheitlich verwendete Definition,
samer Gegenstand der politischen Bildung ist,         es existiert vielmehr eine große Vielfalt von Kor-
lässt sich aus mehreren Perspektiven argumen-         ruptionsbegriffen, die sich auch zwischen und
tieren. Zum einen ist Korruption eine politische,     innerhalb von Disziplinen unterscheiden.04 Der
ökonomische und gesellschaftliche Realität, die       Begriff geht auf das lateinische Wort corrum-
politische Bildung in Auseinandersetzung mit          pere („verderben“) zurück und hat eine aktive
dieser Realität aufgreifen sollte. Es gibt sie seit   und eine passive Bedeutung, sodass man andere
Menschengedenken und in allen Gesellschaften          korrumpieren, aber eben auch selbst verderben
und politischen Systemen; Politik, Wirtschaft         kann.05 Während sich klassische Konzeptionen
und Gesellschaft gänzlich ohne Korruptionsfälle       von Korruption auf einen degenerierten Zustand
sind wohl utopisch. Zum anderen ist Korrupti-         der gesamten Gesellschaft oder politischen Ord-
on eine Herausforderung für die Demokratie, die       nung bezogen, bezeichnen neuzeitliche Begriffs-
ihre Funktionsfähigkeit, Legitimität und letztlich    konzepte spezifische Handlungen spezifischer

10
Korruption APuZ

Akteure.06 Dabei reicht das Spektrum von wei-                         che Person“ dem Ganzen gegenüber loyal zu sein
ten Definitionen wie „Missbrauch anvertrauter                         hat.10 Nur so lässt sich davon abweichendes Ver-
Macht zum privaten Vorteil“07 bis zu konkre-                          halten identifizieren und problematisieren. De-
teren Begriffsbestimmungen politischer Kor-                           finiert man Korruption nicht nur als illegitimes,
ruption wie „Missbrauch anvertrauter öffentli-                        sondern auch als illegales Verhalten, so hängt die
cher Entscheidungsgewalt zum privaten Nutzen                          Einordnung von Handlungen als korrupt wiede-
durch geheime Transaktion, die in der Demo-                           rum vollständig von der jeweils geltenden Rechts-
kratie vorausgesetzte Verhaltensstandards ver-                        lage und Rechtsprechung ab.
letzt“.08 Was unter „privatem Nutzen“ verstan-                            Dem Phänomen sind Graubereiche inhärent.
den wird – nur materielle oder auch immaterielle                      Eine Definition beseitigt nicht die Schwierigkeit,
Vorteile, nur der eigene persönliche Nutzen oder                      reale Vorfälle als Korruption zu klassifizieren
auch der Nutzen für Dritte, seien es Verwandte                        oder eben nicht. Ein Grund hierfür ist, dass Moti-
oder die eigene Partei – ist wiederum eine De-                        ve von Entscheidungen und unmittelbare Tausch-
finitionsfrage. Ebenso unbestimmt ist die Frage,                      beziehungen zwischen Handlungen involvierter
wann genau hier von „Missbrauch“ der anver-                           Partner oft schwer nachweisbar sind. Doch hel-
trauten Macht zu sprechen ist.1234                                    fen eine differenzierte Auseinandersetzung und
    Korruption gilt als Wahrnehmungsdelikt. In                        eine reflektierte Begriffsbestimmung,5678910 bestimmte
diesem Sinne hat der Politikwissenschaftler Ar-                       Ereignisse und Strukturen, ihre Ursachen, Wirk-
nold Heidenheimer eine Typologie entworfen,                           und Verbreitungsmechanismen sowie (materielle
die Korruption nicht allein am Ereignis selbst                        und immaterielle) Kosten klarer zu analysieren
festmacht, sondern sie nach dem Grad der gesell-                      und so auch Maßnahmen zur Vermeidung und
schaftlichen Wahrnehmung unterscheidet (black,                        Bekämpfung von Korruption identifizieren und
grey and white corruption):09 Ein und derselbe                        herbeiführen zu können. Gegen ein unbestimm-
Vorfall kann demnach in verschiedenen Ländern                         tes Phänomen einer „verdorbenen Politik“ lässt
oder zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich                          sich wenig ausrichten, man wendet sich angewi-
klassifiziert werden – je nach vorherrschender                        dert und enttäuscht von Politik ab oder man geht
Wahrnehmung in der jeweiligen Bevölkerung.                            vermeintlichen Heilsbringern auf den Leim, die
Korruption im öffentlichen Dienst setzt grund-                        populistisch eine Ablösung der verteufelten Eli-
sätzlich die Idee voraus, dass der Staatsdiener be-                   te versprechen, oft ohne konkrete und geeignete
ziehungsweise die Staatsdienerin als „unpersönli-                     Maßnahmen zur Verhinderung von Korruption
                                                                      vorzuschlagen.
01 Vgl. Monika Oberle/Valentin Eck/Georg Weißeno, Meta-                   Gerade Lobbyismus und Korruption wer-
phern der Politik. Eine Studie zu Politikbildern bei Schülerinnen     den im öffentlichen Diskurs gerne gleichgesetzt.
und Schülern, in: Politische Bildung 4/2008, S. 126–136; Monika
                                                                      Lobbyismus ist für viele negativ konnotiert, man
Oberle/Johanna Leunig, Politikverdrossenheit von Schülerinnen
und Schülern – Ein metaphernbasierter Forschungszugang, in:
                                                                      denkt zunächst an große finanzstarke Konzerne,
Monika Oberle/Märthe M. Stamer (Hrsg.), Politische Bildung in
internationaler Perspektive, Frankfurt/​M . 2021 (i. E.).
02 So stimmten in der repräsentativen Erhebung 2019 gut               05 Vgl. Ulrich von Alemann, Politische Korruption. Ein Weg-
40 Prozent der Befragten in Deutschland der Aussage zu, dass          weiser zum Stand der Forschung, in: ders. (Hrsg.), Dimensionen
„das Zahlen und Annehmen von Bestechungsgeldern sowie                 politischer Korruption. Beiträge zum Stand der internationalen
Machtmissbrauch mit dem Ziel persönlicher Bereicherung“               Forschung, Wiesbaden 2005, S. 13–49.
in politischen Parteien beziehungsweise in der „Gruppe der            06 Vgl. Michael Johnston, The Definitions Debate. Old Conflicts
Politiker auf nationaler, regionaler oder kommunaler Ebene“           in New Guises, in: Arvind K. Jain (Hrsg.), The Political Economy
weit verbreitet ist. Vgl. Eurobarometer 502, Juni 2020, https://      of Corruption, London–New York 2001, S. 12–33.
ec.europa.eu/germany/news/​20200610-​eurobarometer-​kor-              07 Transparency International, Was ist Korruption?, www.
ruption_de.                                                           transparency.de/ueber-​uns/was-​ist-​korruption.
03 Vgl. Helmar Schöne, Politikwissenschaftliche Mikroanalyse          08 Monika Oberle, Politische Korruption in Italien – Ursachen
und Politische Bildung, in: Monika Oberle/Georg Weißeno               und Systematik der Korruption, der Skandal Tangentopoli und
(Hrsg.), Politikwissenschaft und Politikdidaktik. Theorie und Empi-   das Ende der Ersten Republik, Saarbrücken 2008, S. 12.
rie, Wiesbaden 2017, S. 87–101.                                       09 Vgl. Arnold J. Heidenheimer, Terms, Concepts, and Defini-
04 Vgl. Peter Graeff, Begriffsverwendungen und Korruptions-           tions: An Introduction, in: ders./Michael Johnston (Hrsg.), Political
verständnisse in der Forschung: ein Vergleich von Definitionen        Corruption: Concepts & Contexts, New Brunswick–London
und Ansätzen, in: ders./Jürgen Grieger (Hrsg.), Was ist Korrup-       2002, S. 3–14.
tion? Begriffe, Grundlagen und Perspektiven gesellschaftlicher        10 Vgl. Erhard Stölting, Vertrauen und Korruption oder die
Korruptionsforschung, Baden-Baden 2012, S. 207–230.                   politische Kraft des Zwielichts, in: Zibaldone 18/1994, S. 21–31.

                                                                                                                                        11
APuZ 19–20/2021

nicht an gemeinnützige Umwelt-NGOs oder In-                        nenden.13 Korruption ist ein stark emotional
teressenverbände benachteiligter Minderheiten.                     besetztes Thema, das durch politische Bildung
Dabei wird übersehen, dass Lobbying durchaus                       einer kognitiven Analyse zugänglich gemacht
auch eine positive Funktion in der pluralistischen                 werden kann. Erst dadurch wird eine Reflexion
Demokratie hat: Lobbytätigkeiten sind ein Weg                      und Beurteilung geeigneter Problemlösungsan-
der Interessensartikulation, sie bringen politi-                   sätze ermöglicht und zu entsprechendem poli-
schen Ent­schei­dungs­trä­ger*­innen wichtige Infor-               tischem und sozialem Handeln befähigt. Dabei
mationen über gesellschaftliche und wirtschaft-                    ist es wichtig zu verdeutlichen, dass es hier keine
liche Problemlagen sowie Lösungsideen. Die                         pauschalen Lösungen gibt, sondern Antikorrup-
Übergänge sind hier fließend und müssen aus-                       tionsmaßnahmen so vielfältig sind wie Korrupti-
geleuchtet werden, um geeignete Vorkehrungen                       onsarten und ihre Eignung von der jeweils vor-
treffen zu können, die demokratieschädigendem                      liegenden Problematik abhängt.14
Lobbyismus und Korruption entgegenwirken.11                             Zu den Zielen politischer Bildung gehört
                                                                   auch die Förderung politischer Motivationen,
      ZIELE DER AUSEINANDERSETZUNG                                 wie Interesse und Selbstwirksamkeitsüberzeu-
              MIT KORRUPTION                                       gungen, sowie demokratischer Einstellungen.15
        IN DER POLITISCHEN BILDUNG                                 Indem Politik in Bildungsveranstaltungen nicht
                                                                   mit Korruption gleichgesetzt, sondern das Phä-
Ziel der Behandlung von Korruption in der po-                      nomen differenziert behandelt wird, wird einer
litischen Bildung ist folglich ein differenzierterer               pauschalen Politik(er)verdrossenheit und einem
Umgang mit diesem vielschichtigen Phänomen.                        stark negativen Responsivitätsgefühl begegnet.
Hierfür erforderlich ist die Fähigkeit zur Analyse                 Indem Lösungsansätze zur Verhinderung und
von Fällen und Strukturen, Ursachen und Folgen                     Bekämpfung von Korruption aufgezeigt wer-
von Korruption. Dazu ist auch eine sorgfältige                     den, kann einem verbreiteten Gefühl der Ohn-
Auseinandersetzung mit Begriffen und Konzep-                       macht entgegengewirkt und können politische
ten, Modellen und Theorien notwendig. Anhand                       Selbstwirksamkeitserwartungen der Teilneh-
der Korruptionsthematik kann so auch ganz                          menden gestärkt werden. Politische Bildung hat
grundsätzlich die Bedeutung von Definitionen in                    in der Auseinandersetzung mit Korruption in
den Sozialwissenschaften12 und die Relevanz von                    zweifacher Hinsicht auch präventiven Charak-
Begriffsverständnissen für den demokratischen                      ter: Einerseits werden Einstellungen gefördert,
Diskurs vermittelt und eine exemplarische An-                      die einer Mitwirkung an oder Tolerierung von
wendung von Arbeitsdefinitionen und theoreti-                      korrupten Handlungen entgegenwirken, indem
schen Modellen geübt werden.                                       Einsichten in die Schädlichkeit von Korruption
     Politische Bildung zielt außerdem auf die                     für Demokratie, gesellschaftlichen Zusammen-
Förderung der politischen Urteilsfähigkeit, ins-                   halt und ökonomische Entwicklung vermittelt
besondere bezüglich der Eignung von Maßnah-                        werden. Andererseits stärkt politische Bildung
men zur Verhinderung und Bekämpfung von
Korruption, sowie der politischen Handlungs-
                                                                   13 Vgl. hierzu auch das Modell der Politikkompetenz in Joa-
fähigkeiten, Maßnahmen einer wirksamen An-
                                                                   chim Detjen et al., Politikkompetenz – ein Modell, Wiesbaden
tikorruptionspolitik herbeizuführen. Es geht                       2012.
ihr bei der Auseinandersetzung mit Korrupti-                       14 Vgl. Sabine Fütterer, Korruption und Antikorruption in
on also nicht nur um Wissensvermittlung (die                       der Wissensvermittlung – Unschärfen und Abhängigkeiten, in:
in anderen Kontexten von Bildungsmaßnahmen                         Sebastian Wolf/Peter Graeff (Hrsg.), Korruptionsbekämpfung
                                                                   vermitteln. Didaktische, ethische und inhaltliche Aspekte in Leh-
zu Korruption oftmals fokussiert wird), sondern
                                                                   re, Unterricht und Weiterbildung, Wiesbaden 2018, S. 25–47.
ganz zentral auch um die Förderung der politi-                     15 Vgl. Detjen et al. (Anm. 13). Zum Wertebezug des Beutels-
schen Urteils- und Handlungsfähigkeit der Ler-                     bacher Konsenses, der die Förderung prodemokratischer Einstel-
                                                                   lungen rechtfertigt, vgl. Monika Oberle, Beutelsbacher Konsens,
                                                                   in: Sabine Achour et al. (Hrsg.), Wörterbuch Politikunterricht,
11 Vgl. Florian Eckert, Lobbyismus zwischen legitimem              Frankfurt/M. 2020, S. 30–32. Zum Verhältnis von Korruptions-
politischem Einfluss und Korruption, in: von Alemann (Anm. 5),     vermittlung und Beutelsbacher Konsens vgl. auch Andreas Lutter,
S. 267–285.                                                        Zwischen Kontroversität und Multiperspektivität – Herausfor-
12 Vgl. Karl-Dieter Opp, Definitionen und ihre Bedeutung für       derungen für Unterricht und Weiterbildung aus Perspektive des
die Sozialwissenschaften, in: Graeff/Grieger (Anm. 4), S. 13–28.   „Beutelsbacher Konsenses“, in: Wolf/Graeff (Anm. 14), S. 13–23.

12
Korruption APuZ

 zu Korruption die Resilienz der Lernenden ge-                   politischen Bildung,19 wie Teilnehmenden- und
 genüber simplen populistischen Narrativen und                   Problemorientierung, Fall- und Konfliktorien-
 Heilsversprechen, welche die Regierenden pau-                   tierung, Handlungs- und Diversitätsorientierung,
 schal als korrupte Elite disqualifizieren und sich              Forschungs- und Kompetenzorientierung so-
 selbst als rettendes, vermeintlich sauberes Ge-                 wie die im „Beutelsbacher Konsens“ skizzierten
 genmodell anpreisen.                                            Prinzipien Überwältigungsverbot und Kontro-
      Bei der Auseinandersetzung mit Korrupti-                   versitätsgebot.
 on in der politischen Bildung geht es außerdem                      Bildungsansätze sollten entsprechend den Le-
 um die Förderung von Medienkompetenz.16                         bensweltbezug für die Lernenden greifbar ma-
 Eine Voraussetzung für die angemessene Beur-                    chen und allgemeine Erkenntnisse zu Korruption
 teilung von Korruption und ihrer Bekämpfung                     exemplarisch vermitteln. Dies gelingt beispiels-
 ist es nämlich auch, die Selektions- und Dar-                   weise über die Auseinandersetzung mit bekann-
 stellungslogik des Mediensystems17 zu durch-                    ten Fällen politischer Korruption, anhand derer
 blicken. Nachrichtenfaktoren wie Aktuali-                       die Teilnehmenden sich dem Phänomen annä-
 tät, Personalisierung, Bekanntheit involvierter                 hern und seine Ursachen, Folgen und Kosten so-
 Akteure oder Schaden für Dritte machen den                      wie Gegenmaßnahmen erarbeiten können. Durch
 „Nachrichtenwert“ eines Geschehnisses aus. In                   Konkretisierung, anschließende Abstraktion und
 die Schlagzeilen gelangen daher skandalisierbare                Re-Konkretisierung beziehungsweise Transfer
 Einzelereignisse, die je nach Medium nicht ana-                 auf einen anderen Korruptionsfall20 erfolgt die
 lytisch durchleuchtet, sondern vor allem mora-                  Auseinandersetzung anwendungs- und praxis-
 lisierend bewertet werden und bald wieder aus                   orientiert und kann so nachhaltig Analyse-, Ur-
 der Berichterstattung verschwinden.18 Korrup-                   teils- und Problemlösefähigkeiten anstatt trägen
 tionsproblemen zugrunde liegende strukturel-                    Wissens fördern.
 le Bedingungen und präventive Lösungsansätze                        Die Fokussierung auf bestimmte Korrupti-
 erhalten dagegen deutlich weniger Aufmerksam-                   onsfälle birgt allerdings auch Tücken, insbeson-
 keit. Mündige Bürger*­innen sollten jedoch nicht                dere den Fallstrick einer unangemessenen Ge-
 nur skandalisierte Einzelfälle wahrnehmen, son-                 neralisierung.21 Bei der Auseinandersetzung mit
 dern Anreizstrukturen und Gelegenheiten sowie                   Korruption in der politischen Bildung gilt es zu
 Ansätze für Antikorruptionsmaßnahmen erken-                     vermeiden, dass aus Einzelfällen der Schluss ge-
 nen lernen. Politische Medienkompetenz ist da-                  zogen wird, alle Po­li­ti­ker*­innen oder die gesamte
 her eine wichtige Grundlage, um Korruptions-                    Parteienlandschaft seien korrupt. Vielmehr muss
 meldungen einer Quellenkritik zu unterziehen,                   eine differenzierte Auseinandersetzung verdeutli-
 auf Basis der eigenen Vorkenntnisse zu bewer-                   chen, dass dem nicht so ist, und Wege strukturel-
 ten und mit einer ergänzenden Recherche zu                      ler Veränderung aufzeigen, um künftig ähnliche
­flankieren.                                                     Fälle von Korruption zu verhindern.
                                                                     Hilfreich für Verständnis und Analyse, so-
              DIDAKTISCHE ANSÄTZE                                wohl der Motive und Funktionsweisen als auch
                 UND METHODEN                                    der Kosten und Bekämpfungsansätze, sind Prin-
                                                                 zipal-Agenten-Modelle von Korruption.22 Die-
Grundsätzlich gelten für die Auseinandersetzung
mit Korruption die anerkannten Prinzipien der                    19 Vgl. z. B. Wolfgang Sander, Handbuch politische Bildung,
                                                                 Schwalbach/Ts. 2014; Peter Massing, Politikdidaktik als Wissen-
                                                                 schaft. Studienbuch, Schwalbach/Ts. 2011.
16 Vgl. Monika Oberle, Medienkompetenz als Herausfor-            20 Vgl. hierzu auch Hilligens „Pulsschlagtheorem“: Wolfgang
derung für die politische Bildung, in: Harald Gapski/dies./      Hilligen, Zur Didaktik des politischen Unterrichts, Wiesbaden
Walter Staufer (Hrsg.), Medienkompetenz – Herausforderung        1985, S. 39.
für Politik, politische Bildung und Medienbildung, Bonn 2017,    21 Vgl. Karsten Mause, Korruption. Zur Notwendigkeit und Ge-
S. 187–196.                                                      fahr der Einzelfall-Analyse, in: Wolf/Graeff (Anm. 14), S. 49–77.
17 Vgl. Thomas Meyer, Was ist Politik? Wiesbaden 20103,          22 Vgl. Peter Graeff, Prinzipal-Agent-Klient-Modelle als
S. 199 ff.                                                       Zugangsmöglichkeit zur Korruptionsforschung. Eine integra-
18 Vgl. Frank Marcinkowski/Barbara Pfetsch, Die Öffentlichkeit   tive und interdisziplinäre Perspektive, in: Niels Grüne/Simona
der Korruption. Zur Rolle der Massenmedien zwischen Wäch-        Slamička (Hrsg.), Korruption. Historische Annäherungen an
teramt, Skandalisierung und Instrumentalisierbarkeit, in: von    eine Grundfigur politischer Kommunikation, Göttingen 2010,
Alemann (Anm. 5), S. 287–310.                                    S. 55–75.

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