EAWAG news dtsch. Ausg - Das Magazin des Wasserforschungs-Instituts des ETH-Bereichs - ETH Zürich
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ETH Library EAWAG news [dtsch. Ausg.] Das Magazin des Wasserforschungs-Instituts des ETH-Bereichs Journal Issue Publication date: 1999 Permanent link: https://doi.org/10.3929/ethz-a-000916380 Rights / license: In Copyright - Non-Commercial Use Permitted Originally published in: EAWAG news [dtsch. Ausg.] This page was generated automatically upon download from the ETH Zurich Research Collection. For more information, please consult the Terms of use.
news EAWAG EAWAG 55d Oktober 2002 Eidgenössische Anstalt für Wasserversorgung, Abwasserreinigung und Gewässerschutz, eine Forschungsanstalt des ETH-Bereichs • CH-8600 Dübendorf Alpine Gewässer – Fragile Vielfalt in Bedrängnis Alpine Fliessgewässer: vielfältige und empfindliche Ökosysteme 9 Alpine Wasserkraftwerke und ihre «Fernwirkung» 18 Rhonekorrektion: Revitalisierung trotz Kraftwerksbetrieb? 21 1850 1850 Auswirkungen der Klimaveränderung auf alpine Gewässersysteme 24 1991 1997
EAWAG EAWAG news 55d • Okt. 2002 Die Alpen im Fluss Informationsbulletin der EAWAG Alpine Gewässer nisse in der Praxis umzusetzen, braucht es eine intensive Zusammenarbeit zwischen in Bedrängnis den Institutionen und über die Landes- 2 Editorial: Die Alpen im Fluss grenzen hinaus. Gerade weil die Alpen ein Bernhard Wehrli, wichtiges Hindernis im Nord-Süd-Verkehr Leiter der Abteilung Leitartikel «Oberflächengewässer» sind, hat sich schon früh ein intensiver 3 Alpiner Wasserreichtum im Visier kultureller Austausch zwischen den Alpen- Einsame Bergseen und wilde Gletscher- regionen ausgebildet. Aus dieser Zusam- Forschungsberichte bäche zieren viele Postkarten und Reise- menarbeit ist auf politischer Ebene die 7 Schützt die Alpenkonvention das Wasserschloss Alpen? prospekte. Dass der Mensch die alpinen Alpenkonvention entstanden. Ihr Hauptziel 9 Alpine Fliessgewässer: vielfältige und Lebensräume umgestaltet, passt meist ist eine nachhaltige Entwicklung dieser empfindliche Ökosysteme nicht in diese idyllischen Bilder. Bereits seit empfindlichen Region im Zentrum Europas. 12 Alpine Seen: Extremökosysteme unter 4000 Jahren werden Bergwälder gerodet Für die alpinen Gewässer stellt sich die dem Druck globaler Veränderungen und die frei gewordenen Flächen als Alp- Aufgabe, die Elektrizitätsproduktion, den 15 Archive in der Tiefe von weiden genutzt. Dies zeigen Blütenpollen, Hochwasserschutz und die touristische Hochgebirgsseen die in den Sedimenten alpiner Seen lagern. Nutzung so zu gestalten, dass die öko- 18 Alpine Wasserkraftwerke und ihre Mit der aktuellen Entwicklung der Alpentäler logische Funktionsfähigkeit dieser emp- «Fernwirkung» auf talwärts liegende Gewässer zu europäischen Transitkorridoren wird der findlichen Ökosysteme langfristig erhalten Schutz der Verkehrswege und Siedlungen bleibt. Seit ca. einem Jahr arbeiten deshalb 21 Dritte Rhonekorrektion: Revitalisierung trotz Kraftwerksbetrieb? vor Hochwasser und Murgängen immer EAWAG, die Eidgenössische Forschungs- 24 Auswirkungen der Klimaveränderung dringender. Schwellen, Wehre und seitliche anstalt für Wald, Schnee und Landschaft auf alpine Gewässersysteme Dämme bändigen heute die wilden Alpen- (WSL), das Bundesamt für Wasser und flüsse. Seit über 100 Jahren wird die Was- Geologie (BGW) und verschiedene Institute Diverses serkraft – das weisse Gold der Alpen – der ETH Zürich und Lausanne gemeinsam 27 Publikationen (3158 – 3192) genutzt. Bezogen auf die Landesfläche liegt am «Rhone-Thur»-Projekt. Darin sollen Me- 28 In Kürze die Schweiz in der Produktion von Hydro- thoden und Kriterien für eine Erfolgskon- elektrizität heute weltweit an der Spitze. trolle von Revitalisierungsprojekten erarbeit Viele Alpenflüsse werden auf etwa 2000 m werden. Höhe eingedolt und in Stauseen geleitet. Das vorliegende Heft wird ergänzt durch die Unten im Tal warnen Signaltafeln die Schwerpunktnummer 54 der EAWAG news Wanderer und Touristen vor plötzlichem zur Ökologie alpiner Fliessgewässer 1. Beide Anschwellen des Wasserpegels, wenn die Ausgaben bieten eher aktuelle Standort- Kraftwerkzentralen ihre Turbinen einschal- bestimmungen als endgültige Schluss- Herausgeberin Vertrieb und ©: ten. Auch die Nutzung fossiler Brennstoffe berichte. Analog zu den rasanten Umwelt- EAWAG, Postfach 611, CH-8600 Dübendorf Tel. +41-1-823 55 11 als Energiequelle beeinträchtigt die alpinen veränderungen im Alpenraum ist nämlich Fax +41-1-823 53 75 Gewässer: Durch die Klimaerwärmung wird auch die alpine Gewässerforschung im http://www.eawag.ch Redaktion Martina Bauchrowitz, EAWAG nicht nur der Gletscherrückgang beschleu- Fluss… Abbildungen Y. Lehnhard und L. Zweifel, EAWAG nigt, sondern auch die Niederschlags- und Copyright Nachdruck möglich nach Absprache mit der Abflussdynamik verändert. Redaktion. Die Uno hat das Jahr 2002 zum Jahr der Erscheinungsweise dreimal jährlich in Deutsch, Englisch und Französisch. Chinesische Ausgabe in Berge erklärt. Aus diesem Anlass führte Zusammenarbeit mit INFOTERRA China National Focal Point. die EAWAG ihren Infotag unter dem Titel Fotos Titelblatt R. Zah, EAWAG, A. Wüest, U. Uehlinger «Alpine Gewässer – Fragile Vielfalt in Konzept Inform, 8004 Zürich Bedrängnis» durch. Die Referate fassen Satz, Bild und Layout Peter Nadler, 8700 Küsnacht neueste Forschungsergebnisse zur Funk- Gedruckt auf rezykliertem Papier Abonnemente und Adressänderungen tionsweise der alpinen Gewässer und ihrer NeuabonnentInnen willkommen! Bewohner zusammen und liefern Fakten Bitte Bestelltalon in der Heftmitte beachten. über die Auswirkungen der anthropogenen 1 Eine Zusammenfassung des Referats von Michael ISSN 1420-3979 Veränderungen. Um die Forschungsergeb- Monaghan findet sich in der EAWAG news Nr. 54. EAWAG news 55 2
Alpiner Wasserreichtum im Visier Das Wasser spielt im Alpenraum eine prägende Rolle. Es steht Prozent aus. Je nach Höhenlage dominieren hier für urtümliche Natur, sensible Ökosysteme und eine vielfältig Obstkulturen, Ackerbau oder Gras- und nutzbare Ressource. Diese Natur- und Nutzungswerte werden Weidewirtschaft. In grossen Gebieten, spe- durch einseitige und intensive Nutzungen gefährdet oder zerstört. ziell im Tessin, Wallis und in Graubünden, bleiben immer mehr Flächen ungenutzt. Die alpinen Regionen sind daher gefordert, ihre Wasserressourcen Dagegen haben die Bereiche Tourismus und nachhaltig zu bewirtschaften. Unumgänglich ist aber auch eine Freizeitaktivitäten enorm zugenommen. Sie Koordination der Interessen über die Landesgrenzen hinaus. Denn stellen heute zwischen 10% und über 20% entlang der grossen europäischen Flüsse sind Millionen Menschen der Arbeitsplätze in den Gebirgsregionen. und die Wirtschaft auf die alpinen Wasserressourcen angewiesen. Im Hinblick auf die prognostizierte Klimaerwärmung wird eine Das Wasserschloss internationale Zusammenarbeit immer wichtiger. In den Schweizer Alpen entspringen die grossen Flüsse Rhein und Rhone sowie Der schweizerische Alpenraum ist reich an ren Zonen. Der mittlere Jahresniederschlag Inn und Ticino als wichtigste Zuflüsse der Gewässern und bildet das Wasserschloss variiert von 500 bis 4000 mm. Donau und des Po. Hier fallen jährlich für grosse Gebiete Westeuropas. Seine Die grosse Variabilität der natürlichen im Schnitt etwa 2000 mm Niederschlag. Wasserressourcen werden intensiv für die Bedingungen, aber auch die oft noch natur- 1175 mm davon oder rund 28 km3 bzw. Elektrizitätserzeugung genutzt. Zum Schutz nahen landwirtschaftlichen Bewirtschaf- 900 m3/s fliessen in die umliegenden Ge- vor Naturgefahren und zur Gewinnung nutz- tungsformen führen zu vielfältigen Lebens- biete ab. Beim Rhein stammen 24% des barer Flächen wurden viele Gewässer kor- räumen für die Tier- und Pflanzenwelt. Wassers, das er an seiner Mündung in die rigiert. Die Interessen an der Nutzung und Deshalb liegen Zonen mit hohem Arten- Nordsee führt, aus den Schweizer Alpen. der Gefahrenabwendung stehen teilweise reichtum, so genannte Hotspots, in der Bei den anderen Flüssen liegt dieser Anteil im scharfen Konflikt zu den Werten sensib- Schweiz mehrheitlich im Alpenraum. An- zwischen 1–10% (Tab. 1). Der Abfluss aus ler Gewässerökosysteme und naturnaher hand zahlreicher Reliktvorkommen lässt den Alpen spielt aber trotzdem auf langen Landschaftsbilder. Nötig ist ein ausgewoge- sich überdies die Entwicklungsgeschichte Flussstrecken eine quantitativ sehr wichtige ner Ausgleich zwischen den verschiedenen der Alpen seit der letzten Eiszeit nachver- Rolle. Interessen mit dem Ziel, sowohl wertvolle folgen. Die Alpen bilden zudem einen enormen Naturwerte zu sichern als auch wichtige Die Bevölkerungsdichte in den Alpen ist Wasserspeicher: So Iagern heute etwa Nutzungen zu gewährleisten. Dafür sind allgemein gering. Der gesamte alpine Raum 74 km3 Wasser in den Gletschern auf umfassende Bewirtschaftungsansätze er- wird von fast 14 Mio. Menschen besiedelt. Schweizer Gebiet. Im Jahr 1901 waren es forderlich, die auf verschiedenen Ebenen Von der Schweizer Bevölkerung leben nur noch über 95 km3 [2]. In den natürlichen greifen und wissenschaftlich unterstützt etwa 1,6 Mio. Menschen, das sind 22% der Seen, inklusive der Alpenrandseen (nur werden müssen. Gesamtzahl, im Alpenraum [1]. Im Kanton Schweizer Anteile bei den Grenzseen) sind Graubünden ist die Bevölkerungsdichte mit etwa 100 km3 und in den künstlichen Spei- Lebensraum Alpen 26 Einwohner pro km2 und vielen unbe- cherseen knapp 4 km3 gespeichert. Eine Die Alpen umfassen eine Fläche von rund siedelten Hochgebirgsgebieten besonders 190 000 km2 in sieben Staaten – Frankreich, gering, dagegen kann sie in den Talebenen Italien, Schweiz, Deutschland, Lichten- regional auf über 400 Einwohner pro km2 stein, Österreich und Slowenien (Abb. 1). steigen. Die Talebenen werden intensiv Deutschland in N Rhe 100 km au Der Schweizer Anteil am Alpenraum macht landwirtschaftlich genutzt. Ausserdem sind Don 25 000 km2 aus. Diese Fläche entspricht sie Standort zahlreicher Industrieanlagen Frankreich Österreich 60% des nationalen Territoriums. und weisen ein gut ausgebautes Strassen- Schweiz Drau Das schweizerische Alpengebiet (Abb. 2 und Schienennetz auf, das auch für den e Rhon Slowenien und 3) hat seinen tiefsten Punkt mit 193 m internationalen Verkehr wichtig ist. ü.M. am Lago Maggiore, der höchste Gipfel, Die Landwirtschaft, vor 100 Jahren in den die Dufourspitze erreicht 4634 m. Es gibt auf meisten alpinen Gebieten der dominante Po Italien engem Raum enorme Klimaunterschiede: Wirtschaftsbereich, hat stark an Bedeutung inneralpine Trockengebiete, mediterrane verloren und der Anteil der dort beschäftig- Zonen und alle Übergänge bis hin zu pola- ten Erwerbstätigen macht nur noch wenige Abb. 1: Der Alpenbogen. 3 EAWAG news 55
Abflussregime Unbeeinflusst Restwasser Schwallbetrieb stättersee, Zugersee, Walensee, Brienzer- see, Thunersee, Lago di Lugano und Lago Maggiore. N Sowohl alpine Fliessgewässer als auch die 50 km Hochgebirgsseen reagieren sehr empfind- © Bundesamt für Landestopographie 1997 lich auf Klimaänderungen und menschliche Abb. 2: Alpine Fliessgewässer, die durch Wasserkraftnutzung beeinträchtigt sind. Verändert nach [14]. Eingriffe (siehe Artikel von M. Sturm S. 15). Wasserreichtum dient den Menschen weitere Wasserreserve, die im Jahresrhyth- trockengelegte Gerinne. Nach Art der Was- Im schweizerischen Alpenraum werden die mus gebildet und wieder abgebaut wird, ist serherkunft unterscheidet man Fliessge- Interessen am Wasser von der Wasserkraft- der Schnee. Sehr grosse und schwer bezif- wässer, die von Gletscherschmelzwasser, nutzung dominiert. Die nutzbaren Poten- ferbare Wassermengen lagern ausserdem in Grundwasser oder Regen/Schneeschmelze ziale sind weitgehend ausgeschöpft. Knapp den verschiedenen Systemen des Unter- gespeist werden. Die verschiedenen Er- 60% des Schweizer Elektrizitätsbedarfs grundes, in rezenten Schottern der Fluss- scheinungsformen der Fliessgewässer re- werden durch die Wasserkraft gedeckt, ein täler sowie in Poren und Spalten im Fels. präsentieren hydrologisch, morphologisch, Grossteil davon stammt aus den Alpen. physikalisch und chemisch unterschiedlich Weitere wichtige Nutzungen sind die Ver- Wasserreichtum prägt die Natur geartete Lebensräume. Klimatische und sorgung von Siedlungen, touristischen Zent- Das schweizerische Alpengebiet weist etwa topographische Barrieren führen zur Frag- ren und Industrie mit Trink- und Brauch- 30 000 km Fliessgewässer sowie 17 natür- mentierung zahlreicher Habitate und Orga- wasser sowie die Abwasserentsorgung, bei liche Seen und 47 künstliche Stauseen mit nismenvorkommen [3] (siehe Artikel von der die Bäche und Flüsse dem gereinigten einer Fläche von mehr als 0,5 km2 auf. Hin- M. Hieber S. 9). Abwasser als Aufnahme- und Transport- zu kommen unzählige kleinere Bergseen. Hochalpine Seen sind Extremökosysteme, medium dienen. Die Gletscher der Schweiz nehmen heute geprägt durch die strengen klimatischen Eine lange Tradition hat die landwirtschaft- eine Fläche von 1300 km2 ein, das sind rund Bedingungen, Nährstoffarmut und einen liche Bewässerung, speziell in den inner- 5% der Fläche des Alpenraums. geringen Salzgehalt. Der Eintrag von Zivili- alpinen Trockengebieten. Am bekanntesten Alpine Fliessgewässer haben viele Gesich- sationschemikalien macht auch vor diesen sind die oft viele hundert Jahre alten Be- ter: Wir finden beschauliche Quellbäche, entlegenen Seen nicht Halt. Über die Atmo- wässerungsanlagen im Wallis. Das Wasser relativ ausgeglichene Seeausflüsse, steile sphäre werden die Schadstoffe verteilt und wird meist hoch oben in den Bergen gefasst und gestreckte Wildbäche, verästelte Bach- schlagen sich auch in den Hochlagen der und in Wasserleitungen, die in schwierigs- systeme in Schwemmebenen, rauschende Alpen nieder (siehe Artikel von R. Psenner tem Gelände angelegt sind, bis an die zu Wasserfälle, mal tosende und mal ruhige S. 12). Eine landschaftlich und hydrologisch bewässernden Äcker und Wiesen geleitet. Gletscherflüsse, häufig aber auch künstlich dominante Rolle spielen die grossen Alpen- Die Wasserleitungen im Wallis umfassen abgetreppte, seitlich hart verbaute und randseen: Genfersee, Bodensee, Vierwald- eine Länge von 1500 – 2000 km und bewäs- Flüsse Hauptfluss Mündung Abfluss aus Anteil CH-Alpengebiet am CH-Alpengebiet CH-Alpengebiet Gesamt- EZG Gesamt-EZG des Jahresabfluss bei Hauptflusses Mündung ins Meer Rhein-Aare-EZG* Rhein Nordsee 1238 mm/Jahr 309 mm/Jahr 6% 24% 530 m3/s 2200 m3/s Rhone Rhone Mittelmeer 1100 mm/Jahr 611 mm/Jahr 5% 10% 182 m3/s 1900 m3/s Ticino-EZG** Po Adriatisches Meer 1239 mm/Jahr 657 mm/Jahr 5% 9% (Mittelmeer) 134 m3/s 1460 m3/s Inn Donau Schwarzes Meer 876 mm/Jahr 253 mm/Jahr 0,2% 1% 54 m3/s 6450 m3/s * Rhein, Thur, Linth, Aare, Emme, Reuss etc. / ** Ticino, Maggia, Tresa etc. Tabelle 1: Die hydrologische Bedeutung des Schweizer Alpenraums. Abflüsse aus dem schweizerischen Alpengebiet [15]. EAWAG news 55 4
Gewässerlauf Natürlich Stabilisiert sern eine Fläche von 140 – 200 km2 [4]. Eine heute nicht mehr praktizierte Gewässer- nutzung ist die Trift und Flösserei von Holz, die bis ins 20. Jahrhundert betrieben wurde. N Sie erforderte in vielen Fliessgewässern 50 km © Bundesamt für Landestopographie 1997 wasserbauliche Eingriffe wie Stauteiche und Leitwerke [4]. Abb. 3: Alpine Fliessgewässer mit korrigiertem Verlauf. Verändert nach [14]. Darüber hinaus bieten die Gewässer die Möglichkeit zu vielfältigen Erholungs- und Sportaktivitäten. Sie bereichern das Land- schaftsbild, sind für das Wohlbefinden der erfolgen sowohl innerhalb als auch zwi- Alpenraum gibt es nur noch wenige Relikte Menschen wichtig und oft mit vielen Emo- schen den Einzugsgebieten der grossen der ursprünglich verbreitet vorkommenden tionen verbunden. Vielseitige, intakte Land- Flüsse. Der Ticino z.B. erhält Zufluss aus Auen. schaften und Gewässer werden für die den Gebieten Rhein, Reuss (Aare) und Die Wasserkraftnutzungen und Gewässer- Freizeitattraktivität einer Region sehr hoch Rhone. Zum Teil wird das Wasser auch über korrektionen können sich weit flussabwärts bewertet. Sie werden umgekehrt durch die die Landesgrenzen hinweg umgeleitet. So auswirken und haben Veränderungen des Freizeitaktivitäten immer intensiver bean- wird aus dem Einzugsgebiet des Inn eine Abfluss-, Partikel-, Nährstoff- und Tempe- sprucht und belastet [5]. Wassermenge entsprechend 55 mm nach raturregimes zur Folge (siehe Artikel von Das Wasser und die Gewässer können aber Italien exportiert [2]. A. Wüest S. 18 ). auch Überschwemmungen, Murgänge und In den Schweizer Alpen sind fast alle grös- Erdrutsche auslösen und so für die Men- seren und viele kleine Fliessgewässer von Auswirkungen des schen gefährlich werden. Wasserentnahmen sowie Schwall-Sunk- Klimawandels Abflüssen betroffen (Abb. 2). Die Speicher- Als Folge des Klimawandels wird sich der Nutzungen wirken sich auf die wirtschaft kann auch zu markanten Ver- Wasserhaushalt im Einzugsgebiet der gros- Gewässer aus schiebungen von Sommer- zu Winterabflüs- sen Flüsse verändern. Die in den Alpen ein- Die Wasserkraftnutzung erfolgt in unter- sen führen. Dies ist beispielsweise in der tretenden Veränderungen sind beim Rhein schiedlichen Dispositionen von Lauf- und Rhone und im Vorderrhein der Fall [2, 6]. entlang der gesamten Fliessstrecke bis zur Speicherkraftwerken [6]. Sie umfasst ver- Zum Schutz der Siedlungen vor Naturgefah- Mündung in die Nordsee spürbar und über- schiedene betriebliche und bauliche Mass- ren sowie zur Gewinnung und Sicherung lagern regionale Effekte [7]. Der Anstieg der nahmen, die sich in unterschiedlicher Weise von landwirtschaftlich nutzbarem Land wur- Schneegrenze, grössere Hochwasser im auf die Fliessgewässer auswirken (Tab. 2). den sehr viele Wildbäche verbaut und ein Winter, tiefere Abflüsse im Sommer, die Oft werden auch die Infiltrations- und Ex- Grossteil der Fliessstrecken der grossen Dynamisierung des Abflussgeschehens, die filtrationsverhältnisse und damit das Grund- Gewässer begradigt und befestigt (Abb. 3). gesteigerte Evapotranspiration, der Anstieg wasserregime verändert. Die Gewässerkorrektionen sind oft kom- des Meeresspiegels mit nachfolgender Auf- Bei den Speicherseen wird Wasser oft aus biniert mit flächigen Entwässerungen des salzung des küstennahen Grundwassers, anderen Gebieten zugeleitet. Überleitungen umliegenden Landes. Im schweizerischen aber auch die Veränderungen der Landnut- Physikalische und chemische Auswirkungen Art des Eingriffs: der Wasserkraftnutzung Wasserentnahme Entsandung Wasserrückgabe Wasserspeicherung Bauliche Eingriffe (Entsanderspülung) Änderung des Abflussregimes P (P) P Änderung der Strömungsverhältnisse S S P Änderung des Feststoffregimes S P S P (S) Verkleinerung und/oder strukturelle S S S P Veränderung des Lebensraums Veränderung des Chemismus und der S S P Temperatur von Wasser und Sediment Tab. 2: Primäre (P) und sekundäre (S) Auswirkungen der Wasserkraftnutzung auf Fliessgewässer. S ist Folge von P. 5 EAWAG news 55
zung durch Siedlungen und Landwirtschaft Die Wasserrahmenrichtlinie der EU regelt direkter und indirekter Eingriffe erforderlich. erfordern Anpassungen bei der Gewässer- die gesamtheitliche Bewirtschaftung der Resultate zu diesen Forschungsthemen bewirtschaftung und darüber hinaus bei Wasserressourcen im Kontext der grossen finden sich im vorliegenden Heft. Anderer- allen vom Wasser betroffenen mensch- Flusseinzugsgebiete [10]. Sie ist jedoch seits muss die Wissenschaft mithelfen, um- lichen Aktivitäten (siehe auch Artikel von nicht ausreichend, um die unschätzbaren fassende Bewirtschaftungsansätze unter B. Schädler S. 24). ökologischen Ressourcen des Alpenraums Einbezug der massgebenden politischen, zu erhalten. Deshalb wird von verschie- rechtlichen, wirtschaftlichen, institutionel- Interessenkonflikte dener Seite gefordert, die von den Alpen- len, sozialen und kulturellen Aspekte zu Die lokal und regional unterschiedlichen staaten getragene Alpenkonvention durch entwickeln und zu erproben [13]. Interessen am Wasser können sich gegen- ein Gewässerprotokoll zu erweitern. Damit Die Forschenden sind gefordert, ihre seitig behindern. Oft stehen Wasserkraft- soll der Ausgleich der Interessen am Wasser wissenschaftlichen Beiträge und darüber nutzung und Korrektionen in einem scharfen im Sinne nachhaltiger Schutz- und Nut- hinaus ihr persönliches Engagement in die Konflikt zu intakten Naturwerten, Erholung zungsansprüche gewährleistet werden (sie- nachhaltige Entwicklung der alpinen Was- und Tourismus. Eine wichtige Rolle spielen he Artikel von M. Broggi S. 7). serressourcen einzubringen. auch die Interessen der Unterlieger. Einer- seits beanspruchen sie vom Alpenraum Handlungsbeispiele Elektrizität und Wasser für die Versorgung Die Entwicklung eines Schweizer Zertifizie- der Bevölkerung und der Industrie. Anderer- rungsverfahrens zur Kennzeichnung und seits sind entlang der Flüsse und in den Förderung umweltfreundlich gewonnener Ulrich Bundi ist Mitglied der EAWAG Direktion und befasst untenliegenden Seen viele Schutzinteres- Elektrizität ist ein gelungenes Beispiel für sich mit Fragen des Gewässer- sen und Nutzungen von den Eingriffen im die ökologische Optimierung spezifischer managements und der Umwelt- politik. Alpenraum betroffen. Beispiele sind der Wassernutzungen unter Einbezug der Hochwasserschutz, die Schifffahrt und die Stakeholder. Damit werden ökologische Wasserversorgung. und energiewirtschaftliche Anliegen in Mein Dank geht an Rudolf Koblet (EAWAG), Die Sensibilität der Unterlieger für diese einem für verschiedene Interessen produk- der mich massgeblich bei der Abfassung Zusammenhänge steigt, gerade auch durch tiven Ansatz verbunden [11]. des Manuskripts unterstützte. die Auseinandersetzung mit den möglichen Für die geplante dritte Rhonekorrektion im Folgen eines Klimawandels. Das Wasser- Wallis sind multifunktionelle Anforderungen management in den Alpen wird künftig ver- massgebend. Die Interessen des Hochwas- [1] Broggi M.F., Staub R., Ruffini F.V. (1999): Grossflächi- stärkt mit den Problemen und Ansprüchen serschutzes, die Verbesserung der ökolo- ge Schutzgebiete im Alpenraum – Daten, Fakten, Hintergründe. Europäische Akademie Bozen, Fach- im Unterland konfrontiert sein. Aber auch gischen Funktionfähigkeit des Flusses und bereich Alpine Umwelt, 241 S. die Unterlieger tragen Verantwortung. Denn die Schaffung von Erholungswerten sowie [2] Schädler B. (1985): Der Wasserhaushalt der Schweiz. je mehr sich eine Region im Tiefland von der wirtschaftliche und soziale Anliegen sollen Bundesamt für Umweltschutz – Landeshydrologie, Mitteilung Nr. 6, 9 – 83. nachhaltigen Nutzung ihrer eigenen Was- dabei in einem ausgewogenen Verhältnis [3] Monaghan M. (2002): Habitatfragmentierung und ge- serressourcen entfernt, umso eher ist sie wahrgenommen werden (siehe Artikel von netische Diversität. EAWAG news 54d, 28 – 30. auf den Import von Wasser, z.B. aus dem M. Fette S. 21). [4] Koblet R. (2000): Spiel mit dem Wasser – Spiel mit dem Feuer?, Selbstverlag, 70 S. Alpenraum, angewiesen [8]. Dies alles Im Falle der Rhone spielt auch die Be- [5] Bundesamt für Statistik (2002): Umwelt Schweiz 2002 macht deutlich wie sehr die Interessen am wirtschaftung der Speicherseen eine wich- – Statistiken und Analysen. 322 S. Wasser, von den Alpen bis zur Mündung der tige Rolle. Diese kann, in Kombination mit [6] Forstenlechner E., Hütte M., Bundi U., Eichenberger E., Peter A., Zobrist J. (1997): Ökologische Aspekte Flüsse in die Meere, miteinander vernetzt Retentionseinrichtungen zur Reduktion der der Wasserkraftnutzung im alpinen Raum. Vdf Hoch- sind. Schwallabflüsse, wesentlich zum Hoch- schulverlag AG an der ETH Zürich, 100 S. wasserschutz und zur Milderung negativer [7] Daamen K., Gellens D., Grabs W., Kwadijk J.C.J., Lang H., Middelkoop H., Parmet B.W.A.H., Schädler Handlungsvorgaben ökologischer Auswirkungen beitragen. Die B., Schulla J., Wilke K. (1997): Impact of climate Das Wasser der Alpen dient der Natur und ökologische Optimierung der Speicherbe- change on hydrological regimes and water resources den Menschen. Einseitige Nutzungsgewich- wirtschaftung ist in der alpinen Wasserwirt- management in the Rhine basin. International Com- mission for the Hydrology of the Rhine Basin (CHR), tungen zum erheblichen Nachteil der alpi- schaft ganz generell ein wichtiges künftiges 172 p. nen Naturwerte oder der Interessen anderer Handlungsfeld. [8] Lehn H. (1998): Nachhaltiges Wassermanagement in Regionen verbieten sich. Handlungsbedarf Baden-Württemberg? Spektrum der Wissenschaft, April, 96 –97. besteht auf verschiedenen räumlichen und Die Wissenschaft hilft mit [9] Bundi U., Truffer B. (2001): Integriertes Gewässer- politischen Ebenen – lokal, regional und Umfassende Ansätze erfordern Beiträge management als Perspektive. EAWAG news 51d, international. aus verschiedensten Bereichen: Physika- 3 – 6. [10] European Community (2000): Directive 2000/60/EC Die unterschiedlichen Interessen und Prob- lische, chemische, biologische, hydrolo- of the European Parliament and of the Council of leme müssen auf allen Ebenen in einer gische, wasserbauliche, ökonomische und 23 October 2000 establishing a framework for Com- Gesamtsicht analysiert und bewertet und in soziologische Disziplinen, aber auch Ener- munity action in the field of water policy, L327/1– L327/72. http://europa.eu.int/comm/environment/ Bewirtschaftungskonzepte integriert wer- giewirtschaft, Regionalpolitik und die betei- water/water-framework/index_en.html den. Voraussetzung dafür sind konsistente ligten Interessengruppen müssen gemein- [11] Bratrich C. (2001): Gewässerschutz mit Marktinstru- politische Vorgaben, die stufenweise für die sam tragfähige Lösungen entwickeln und menten. EAWAG news 51d, 20 – 22. [12] EAWAG (2002): Alpine Fliessgewässer. EAWAG news verschiedenen Handlungsebenen zu kon- realisieren. 54d, 36 S. kretisieren sind. Dabei sind speziell auch Ihr Handeln ist auf wissenschaftliche Unter- [13] EAWAG (2001): Gewässer bewerten – Gewässer Anreize und Freiräume für Eigeninitiativen stützung angewiesen. Einerseits ist grund- bewirtschaften. EAWAG news 51d, 28 S. [14] Landeshydrologie und -geologie (Ed.) (1992): Hydro- aller Akteure und Betroffenen zu schaffen legendes Wissen zur Ökologie alpiner Ge- logischer Atlas der Schweiz. [9]. wässer [12] und über die Auswirkungen [15] Koblet R. (2002): Persönliche Mitteilungen. EAWAG news 55 6
Schützt die Alpenkonvention das Wasserschloss Alpen? Die alpinen Fliessgewässer sind gefährdet. Der Raum für die Flüsse tierten Alpenraum bilden das Wasser und und Bäche ist oft nicht ausreichend, die Wasserqualität ungenügend die Gewässer das einzige flächendeckende und die Restwassermenge zu gering. Angesichts der grossen Be- und weitgehend zusammenhängende natür- deutung der Alpen als Wasserschloss Europas besteht dringender liche Netzwerk. Ökonomisch sind die Fliess- gewässer vor allem für die Gewinnung von Handlungsbedarf. Bereits 1991 verabschiedeten die Alpenstaaten Wasserkraft, in der Trinkwasserversorgung und die Europäische Union eine Konvention zum Schutz der Alpen. und im Tourismus von Bedeutung. Bei der Mit dem Ziel, die Gefährdung der Fliessgewässer zu minimieren touristischen Nutzung kommt der ästhe- und die Sensibilität für das lebenswichtige Wasser zu erhöhen, soll tische Aspekt der alpinen Gewässer hinzu. die Alpenkonvention nun so rasch wie möglich um ein Gewässer- Sie ziehen durch ihre einzigartige Schönheit protokoll erweitert werden. viele Menschen an. Mit einem jährlichen Wasserabfluss von Die Bedeutung der Alpen als europäisches verbauten alpinen Fliessgewässer revitali- über 200 Mrd. m3 wirken sich Fliessgewäs- Wasserschloss, in dem die grossen Flüsse sieren, wären bei heutiger Revitalisierungs- ser aber nicht nur positiv für den Lebens- Rhein, Rhone, Drau, Durance, Inn und Po geschwindigkeit über tausend Jahre nötig raum aus. Sie stellen ein beachtliches entspringen, ist allgemein anerkannt. Trotz- [1]. Somit muss unverzüglich gehandelt Gefahrenpotenzial dar, das sämtliche fluss- dem wird den alpinen Fliessgewässern werden, um einerseits die noch unverbau- nahen Gebiete prägt [2]. Verwüstungen in immer noch zu wenig Aufmerksamkeit ge- ten Gewässer zu schützen und andererseits verschiedenen Teilen Europas haben dies in schenkt. Von dem insgesamt 30 000 Fliess- die verbauten Gewässer in einen möglichst diesem Sommer deutlich vor Augen geführt kilometer langen Gewässernetz in den natürlichen Zustand zurückzuführen. Grund- (Abb. 1). Schweizer Alpen sind 12 500 Kilometer lage hierfür sind staatliche und grenzüber- mittlerer und grösserer Flüsse in einem schreitende Regelungen. Aktuelle Gefahren für die naturfernen Zustand. Sie wurden vor allem alpinen Gewässer in den letzten 200 Jahren aufgrund ver- Vielfältige Bedeutung alpiner Die Gefahren, die auf alpine Gewässer ein- schiedenster Nutzungsansprüche, z.B. für Gewässer wirken, sind vielfältig und werden hier den Hochwasserschutz und die Wasser- Im stark anthropogen geprägten und durch schlaglichtartig beleuchtet: kraftgewinnung, korrigiert. Wollte man alle Tief-, Hoch- oder Wasserbauten fragmen- Die Energiegewinnung mit Wasserkraft ist eines der heiklen Probleme für die Fliess- gewässer. Wurden die hydroelektrischen WSL Kraftwerke in den letzten 100 Jahren als «einheimisch», «sauber» und «erneuerbar» angepriesen, sind die ökologischen Aus- wirkungen heute gravierender als vor 50 Jahren angenommen. Zwar spielen die Wasserkraftwerke für den Finanzhaushalt der Berggemeinden eine eminente Rolle; für den wirtschaftlichen Aufschwung wird aber ein hoher ökologischer Preis bezahlt (siehe auch Artikel von A. Wüest S. 18 und M. Fette S. 21). Die Veräusserung und Privatisierung von Quellen und Gewässern stellt eine neue Ge- fahr dar. Diese Gefahr wird in der Schweiz jedoch noch wenig beachtet, weil die meis- ten Gewässer und auch die Wasserversor- gung in öffentlichen Händen liegen. Inter- nationale Konzerne wie Nestlé, Coca Cola oder Danone sichern sich den Zugang zum Abb. 1: Spuren der Verwüstung nach einem Hochwasser. Frischwasser und damit eine starke Position 7 EAWAG news 55
W. Gerber, WSL haltung und zum Schutz der Alpen unter phibische und terrestrische Strukturvielfalt umsichtiger und nachhaltiger Nutzung der einstellen. Den Erholungsbedürfnissen der Ressourcen zu garantieren. Menschen ist Rechnung zu tragen. Zur Ver- Auch die alpinen Gewässer und ihre nach- meidung von Gewässerverschmutzungen haltige Nutzung sind in der Alpenkonvention durch die Landwirtschaft sind ausreichend enthalten. So wird in der Rahmenkonvention breite Pufferzonen einzurichten. explizit gefordert, gesunde Wassersysteme Ausreichende Wasserführung: Es muss zu erhalten oder wiederherzustellen. Im eine Balance gefunden werden, damit einer- Fokus liegen Gewässerschutz, naturnaher seits genügend Wasser für die Erhaltung der Wasserbau und umweltverträgliche Was- aquatischen Lebensräume und des Land- serkraftnutzung. Daneben hebt die Präam- schaftsbildes vorhanden ist und anderer- bel des Protokolls Naturschutz und Land- seits der natürliche Abfluss und Geschiebe- schaftspflege die Bedeutung der Gewässer haushalt der Fliessgewässer durch eine Abb. 2: Viele einstmals üppige Gebirgsflüsse führen für die Erhaltung der Artenvielfalt hervor und genügend grosse Restwassermenge ge- heute nur noch geringe Restwassermengen, mit allen negativen Folgen. auch das Energieprotokoll unterstreicht die währleistet wird (Abb. 2). elementare Rolle der Gewässer für die öko- Ausreichende Wasserqualität: Die Ver- logische Vielfalt, die Trinkwasserversorgung schmutzung der Gewässer durch feste und am Markt. Über die Auswirkungen auf Natur und die Energiegewinnung. flüssige Stoffe ist zu minimieren. Naturnahe und Landschaft kann nur spekuliert werden. Allerdings sind all diese Bestimmungen, Temperaturverhältnisse müssen garantiert Nach inoffiziellen Quellen hat sich der vor allem im Hinblick auf eine griffige Um- werden. Gebäudebestand in der Periode 1951–1991 setzung, nicht konkret genug. Es fehlt ein Weil die Notwendigkeit eines Gewässer- in der Schweiz verdreifacht. Die Siedlungen eigenständiges Gewässerprotokoll, das so- protokolls bisher auf politischer Ebene und Verkehrsinfrastrukturen dringen zuneh- wohl auf die spezifischen Funktionen und kaum erkannt wurde, liegt hier ein grosser mend in den Einflussbereich der Flüsse vor. Bedürfnisse der Gewässer eingeht als auch Handlungsbedarf vor. Denn nur, wenn eine Der mangelnde Abstand wird bei Hochwas- deutlich die Gefahren benennt, die auf die politische Umsetzung dieser Forderungen ser in Form erheblicher Schäden deutlich Gewässer einwirken. gelingt, können die Alpengewässer ihre (Abb. 1). multifunktionalen Aufgaben auch in Zukunft Nach wie vor ist die Belastung der Ge- Erwartungen an ein erfüllen. wässer durch die Landwirtschaft ein Prob- Gewässerprotokoll lem. Zudem ist erst seit kurzem bekannt, In der Schweiz ist man sich grundsätzlich dass das in den Kläranlagen aufbereitete einig, welche wichtigen Punkte ein Gewäs- Wasser noch Spuren hormonaktiver so ge- serprotokoll enthalten sollte [1, 6 –9]: Mario F. Broggi, dipl. Forst- ingenieur (ETH), ist Direktor der nannter endokriner Substanzen enthalten Erhaltung der natürlichen Gewässer: Die Eidgenössischen Forschungs- kann. Diese Stoffe wirken auch in kleinsten letzten Reste natürlicher Flüsse und Bäche anstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) sowie Konzentrationen auf das Hormonsystem müssen integral geschützt werden. Der spe- Privatdozent für angewandte von Tier und Mensch ein. kulative Ausverkauf von Gewässern (Trink- Landschaftsökologie und Naturschutz an der Universität Auch wenn Eindolungen aufgrund der wasser) muss verhindert werden. Wien und Dozent an der Uni- Schweizer Gesetzgebung kaum mehr mög- Ausreichender Raum für Fliessgewässer: versität Basel. 1983 –1992 war er Präsident der CIPRA. lich sind, darf dies nicht darüber hinweg Grundvoraussetzung ist ein ausreichender täuschen, dass der jährliche Verlust an Gewässerquerschnitt, damit Hochwasser natürlichen Fliessgewässern in den letzten ohne Schaden für die Umgebung abfliessen Jahrzehnten bei etwa 50 Fliesskilometern kann. Daneben muss genügend Raum für pro Jahr lag [3]. standortgerechte Ökosysteme und deren [1] BUWAL (2002): Grundlagenbericht zum Leitbild Vernetzung vorhanden sein. Nur dann wird «Landschaft 2020». Noch unveröffentlichte Studie des Genügt die Alpenkonvention? sich auch eine natürliche aquatische, am- BUWAL, Bern. [2] CIPRA (1999): http://deutsch.cipra.org/texte/ Zum Schutz der Alpen wurde die Alpen- publikationen/Info_52/CI52_Blaues_Gold.htm konvention 1991 von den Alpenstaaten [3] ARE und BUWAL (2001): Landschaft unter Druck. Deutschland, Frankreich, Liechtenstein, 2. Fortschreibung Februar 2001, 50 Seiten, EDMZ Protokoll von der Schweiz Bern. Italien, Monaco, Österreich, Schweiz und unterzeichnet [4] CIPRA (2002): http://deutsch.cipra.org/texte/ Slowenien sowie der EU unterzeichnet. Raumplanung und nach- 16.10.1998 alpenkonvention/alpenkonvention_hauptseite.htm Die Rahmenkonvention, die den grund- haltige Entwicklung [5] Bätzing W. (2002): Die Bevölkerungsentwicklung der Alpen 1871– 2000, Sonderbeilage zum CIPRA-Info legenden Schutzgedanken festhält, ist seit Naturschutz und Land- 16.10.1998 Nr. 65. schaftspflege 1996 in Kraft. Beachtenswerterweise be- [6] Pro Natura (1998): Mehr Raum für unsere Fliessge- Berglandwirtschaft 16.10.1998 wässer, ein Gewinn für Mensch und Natur. Beiträge zieht sie sich auf die Alpen als Ganzes als Bergwald 16.10.1998 zum Naturschutz in der Schweiz, pro natura Basel 19, überaus vielfältigen, komplexen Lebens- 48 S. Bodenschutz 16.10.1998 raum in 8 Staaten mit 8500 Gemeinden auf [7] BWG und BUWAL (2000): Raum den Fliessgewässern! Tourismus und Freizeit 16.10.1998 Faltblatt, Bern. 190 000 km2 und fast 14 Mio. Einwohnern Energie 31.10.2000 [8] BUWAL (2000): Leitbild Fliessgewässer Schweiz, [4, 5]. Ziel der Alpenkonvention und ihrer interner Entwurf. Verkehr 31.10.2000 Protokolle (Tab. 1) ist die Verpflichtung der [9] Rodewald R. (2001): Der Wasserschatz der Alpen im Streitbeilegung 31.10.2000 internationalen Kontext. Zusammenfassung des Konventionspartner, «unter Beachtung des «Monacoprotokoll» 20.12.1994 Referats, ANL-Fachtagung «Die Alpen – ein kostbares Vorsorge-, Verursacher und Kooperations- Wasserschloss», November 2001, Bad Reichenhall, prinzips» eine ganzheitliche Politik zur Er- Tab. 1: Die 10 Protokolle der Alpenkonvention [4]. unveröffentlicht. EAWAG news 55 8
Alpine Fliessgewässer: vielfältige und empfindliche Ökosysteme Wer kennt sie nicht – plätschernde Bergbäche und tosende Glet- führt zu starken jahreszeitlichen Schwan- scherflüsse, noch immer ein Inbegriff rauer Schönheit und unbe- kungen vieler Umweltbedingungen. So rührter Natur. Aber sind unsere alpinen Fliessgewässer wirklich so steigt zum Beispiel der Abfluss des Glet- unberührt und intakt? Aufgrund der oft harschen Bedingungen und scherbaches «Ova da Roseg» (Engadin, Schweiz) von ruhigen 0,2 m3/s auf tosende ihrer schweren Zugänglichkeit war bislang wenig bekannt über 30 m3/s während der sommerlichen Glet- alpine Fliessgewässer und die dort lebenden Organismen. Ein um- scherschmelze an. Dabei wird das bis dahin fassendes Forschungsprojekt an der EAWAG konnte zeigen, dass stabile Flussbett kräftig umgewälzt. Gleich- alpine Fliessgewässer unterschiedlichste Lebensräume umfassen zeitig führt der Bach die so genannte und sich die Flora und Fauna auf verschiedenste Weise an die Gletschermilch. Mit dem Gletscherschmelz- oft extremen Bedingungen angepasst hat. Kleinste Veränderungen wasser werden Feststoffe aus dem Glet- durch anthropogene Eingriffe und Klimaerwärmung können diese scher in den klaren Bach eingetragen und sensiblen Ökosysteme unwiderruflich zerstören. sorgen so für seine extrem trübe und mil- chige Farbe [4]. Rithrale Bäche sind weni- Alpine Fliessgewässer kommen weltweit Alpine Regionen sind regelmässig natür- ger starken jahreszeitlichen Schwankungen vor – vom Pol bis in die Tropen [1]. Sie sind lichen «Störungen» wie z.B. durch Hoch- ausgesetzt und somit etwas moderater in durch ihre Lage zwischen der Baumgrenze wasser und Erdrutsche ausgesetzt. ihren Umweltbedingungen. Quellbäche hin- und der permanenten Schneelinie gekenn- gegen weisen aufgrund ihrer gleichmässi- zeichnet. In den europäischen Alpen ent- Von ruhigen Quellbächen und gen Zufuhr von Grundwasser relativ kon- spricht dies in etwa der Zone zwischen tosenden Gletscherflüssen stante und stabile Bedingungen auf [5]. 2000 und 3500 m ü.M. Alpine Fliessgewäs- 3 Haupttypen alpiner Fliessgewässer wer- ser können auf kleinstem geografischen den, basierend auf ihrem primären Ur- Alpine Fliessgewässer: Raum unterschiedlichste Lebensräume um- sprung, unterschieden: kryale Bäche wer- vielfältige Ökosysteme fassen, die meist durch spezifische Arten den auch als Gletscherbäche bezeichnet, Dass Bergbach nicht gleich Bergbach ist, besiedelt sind. Alle alpinen Fliessgewässer weil sie vorwiegend durch Gletscher- sondern dass alpine Fliessgewässer eine sind jedoch auch durch eine Reihe von Ge- schmelzwasser gespeist werden; krenale viel höhere Heterogenität aufweisen als bis- meinsamkeiten gekennzeichnet [2]: Bäche sind Quellbäche, die vom Grund- her angenommen, ist eine der wesentlichen Sie sind extremen Witterungen und klima- wasser abhängen; und rhithrale Bäche Erkenntnisse unseres Forschungsprojekts. tischen Bedingungen ausgesetzt. Dies führt werden hauptsächlich durch Regen und Das Auftreten eines Wasserfalls oder eines z.B. zu generell sehr niedrigen Wasser- Schneeschmelzwasser gespeist [3]. Die Sees, ob Fliessgewässer isoliert sind oder temperaturen und einer hohen Sonnen- Herkunft des Wassers beeinflusst mass- mit anderen in Verbindung stehen, die einstrahlung. geblich die jeweiligen Lebensraumbedin- Hanglage und Exposition und viele weitere Die Wachstumssaison der Organismen gungen (Tab. 1). Faktoren bestimmen massgebend die ist aufgrund der meist langen und starken Die Gletscher- und Schneeschmelze tritt Lebensraumbedingungen alpiner Fliess- Winter extrem kurz und bei den meisten während einer relativ kurzen Periode auf und gewässer. alpinen Fliessgewässern auf den Sommer beschränkt; bei Gletscherbächen hingegen liegen die günstigen Bedingungen im Früh- Gerinnetyp Wasser- Saisonalität Gerinne- Temperatur Trübung ursprung stabilität (°C) jahr und Herbst, also in den kurzen Perioden Hauptgerinne (H) kryal hoch gering 0–4 hoch zwischen winterlicher Schneebedeckung Seeausfluss (A) kryal mittel-hoch gering-mittel 0 –9 hoch und sommerlicher Gletscherschmelze. Seitengerinne (S) kryal hoch-mittel gering-mittel 0–4 hoch Aufgrund der spärlichen Ufervegetation Temporär vernetz- kryal hoch mittel-gering 0–5 hoch-mittel wird nur sehr wenig organisches Material in tes Gerinne (V) die Gewässer eingetragen, wodurch die Gemischtes kryal-krenal hoch-mittel mittel 0–5 mittel Nahrungsgrundlage für viele Bachtiere be- Gerinne (X) grenzt ist. Zufluss (Z) kryal-rhithral gering hoch 0–8 klar-mittel Meist sind die Nährstoffkonzentrationen Quellbach (Q) krenal gering hoch 3–5 klar alpiner Fliessgewässer tief und limitieren Tab. 1: Gerinnetypen auf den ersten 11 Fliesskilometern des Roseg-Flusses (Engadin, CH) und wichtige Umwelt- das Algenwachstum. bedingungen [2]. Siehe auch Abbildung 1. 9 EAWAG news 55
R. Zah, EAWAG A Z H S Fliessgewässer sind besonders extremen Lebensraumbedingungen und -schwankun- gen ausgesetzt, was zu einer weltweit sehr Q ähnlichen (kosmopolitisch) aber im Längs- V X verlauf stark eingeschränkten (stenozonal) Abb. 1: Unterschiedliche Fliessgewässertypen im Val Roseg: A = Seeausfluss, H = Hauptgerinne, Q = Quellbach, Artenzusammensetzung geführt hat. Da- S = Seitengerinne, V = temporär vernetztes Gerinne, X = gemischtes Gerinne, Z = Zufluss. gegen sind die Bewohner rhithraler Flüsse eher moderat kosmopolitisch, dafür aber im Seeausflüsse zum Beispiel stellen die dadurch relativ einheitlich, wird es im Som- Längsverlauf weiter verbreitet (euryzonal) Übergangszone zwischen einem stehenden mer überwiegend durch Gletscherschmelz- [3]. Gletscherbach-Biozönosen sind zudem und einem fliessenden Ökosystem dar. Der wasser dominiert und weist eine viel grös- aufgrund der extremen Bedingungen im Ver- Lebensraum Seeausfluss wird daher we- sere Heterogenität auf [4]. gleich zu rhithralen und krenalen Lebens- sentlich durch die beiden angrenzenden gemeinschaften eher artenarm (Abb. 3). Der Ökosysteme beeinflusst und ist sowohl von Leben an Extremstandorten Einfluss eines vorgelagerten Sees wirkt je typischen See- als auch Fliessgewässer- Wie gehen nun die aquatischen Organis- nach Herkunft des Wassers sehr unter- organismen besiedelt [6]. Schwemmebenen men dieser unterschiedlichen Fliessgewäs- schiedlich: so fanden sich mehr Arten in hingegen umfassen eine Vielzahl unter- sertypen mit den kleinräumigen Unter- kryalen Seeausflüssen als in kryalen schiedlichster Habitate, die je nach Abfluss schieden und teilweise extremen Umwelt- Bächen, jedoch weniger Arten in rhithralen miteinander verbunden oder isoliert sein bedingungen um? Schon zu Beginn des Seeausflüssen als in rhithralen Bächen. können und abhängig von der Schnee- und 20. Jahrhunderts stellte Steinmann [7] fest: Dabei unterscheiden sich die einzelnen Gletscherschmelze ständigen Veränderun- «Der Wildbach bietet seinen Bewohnern Fliessgewässertypen jedoch nicht nur in gen unterworfen sind. So ergaben unsere eine Heimat von so ausgeprägtem Cha- der Artenanzahl, sondern auch in der Zu- Untersuchungen, dass auf den ersten racter, dass sich dies in der Gestalt und sammensetzung und Häufigkeit der unter- 11 Fliesskilometern des Roseg-Flusses Lebensweise der Bachtiere widerspiegeln schiedlichen Taxa. Kryale und rhithrale 7 verschiedene Gerinnetypen vorkommen muss.» Nicht nur die Bachtiere, auch Algen Bäche werden vorwiegend von Insekten (Abb. 1 und Tab. 1) [4]. Abhängig von den und höhere Pflanzen haben unterschied- dominiert, während in den eher stabilen und Abflussbedingungen im Jahresverlauf ver- lichste Anpassungen an die speziellen Um- homogenen Quellbächen und rhithralen ändert sich die Vernetzung der einzelnen weltbedingungen alpiner Fliessgewässer Seeausflüssen auch sehr viele Nicht- Gerinnetypen und damit sowohl die Ge- entwickelt. Der Grossteil alpiner Fliessge- Insekten, wie zum Beispiel Borstenwürmer samtflusslänge als auch die Herkunft des wässerorganismen ist benthisch, das heisst (Oligochaeta), benthische Ruderfuss- (Co- Wassers: Beträgt die Gesamtlänge der eng an das Substrat gebunden. Dies er- pepoda) und Muschelkrebse (Ostracoda) Gerinne im Winter nur etwa 5 km, so dehnt möglicht ihnen eine bessere Überlebens- anzutreffen sind (Abb. 3). sie sich im Sommer auf mehr als 20 km aus. chance bei den oft hohen Fliessgeschwin- Ist das Fliessgewässernetzwerk im Winter digkeiten. Weitere Anpassungen an den Alpine Fliessgewässer: vor allem vom Grundwasser beeinflusst und starken Abfluss sind z.B. die kräftigen empfindliche Ökosysteme Krallen vieler Steinfliegenlarven (Plecop- Wie reagieren alpine Fliessgewässer auf tera), der dorsoventral abgeplattete Körper anthropogene Eingriffe und Veränderungen A. Frutiger, EAWAG vieler Eintagsfliegenlarven (Ephemerotera), des Klimas? Einige Auswirkungen anthro- bauchseitige Saugnäpfe der Lidmücken- pogener Eingriffe sind leicht sichtbar: larven (Liponeura, Blephariceridae) (Abb. 2), Wasserfassungen legen teilweise ganze das Leben in selbstgebauten Köchern aus Flüsse trocken, Staudämme verändern das verschiedensten Materialien, z.B. Steinen Abflussregime (siehe auch Artikel von (Köcherfliegenlarven, Trichoptera) oder das A. Wüest S. 18 und M. Fette S. 21) und Ausbilden gelatinöser Krusten vieler Algen. Hochwasserschutzmassnahmen zwängen Die Gemeinschaften der in Fliessgewässern die Bergbäche in ein undurchlässiges festes vorkommenden Algen und Wirbellosen Bett. Dagegen sind die Auswirkungen der werden meist von charakteristischen Kie- globalen Klimaerwärmung schwerer zu selalgenfamilien und Insektenordnungen erfassen. Prognosen sagen nicht nur eine Abb. 2: Die ventralen Saugnäpfe der Lidmückenlarve Liponeura ermöglichen ein Leben in starker Strömung. dominiert. Die Organismen der kryalen generelle Erwärmung der Oberflächentem- EAWAG news 55 10
Exoten, diese bis dahin unattraktiven Ge- dämmen sein, um naturnahe Bedingungen biete zu besiedeln und die ursprünglichen, zu bewahren [9]? Ist es möglich, durch angepassten Arten zu verdrängen. Spezi- künstliche Hochwässer eine natürliche Le- fische Indikatororganismen sowie glaziale bensgemeinschaft in solchen Restwasser- Arten werden verschwinden, denn es gibt strecken zu erhalten [10]? Wie muss die für sie kein Entweichen in höhere, kältere Revitalisierung eines begradigten Fliessge- Gebiete. wässers aussehen, damit sich wieder eine natürliche Lebensgemeinschaft einstellt Ökologisches (siehe auch Artikel von M. Fette S. 21)? Fliessgewässermanagement – Diese und ähnliche Projekte lassen hoffen, ein Widerspruch? dass wir auch zukünftig der Faszination Es liegt auf der Hand, dass ein nachhaltiger alpiner Fliessgewässer erliegen werden. Umgang mit alpinen Fliessgewässern nur peratur voraus, sondern auch eine Ver- möglich ist, wenn wir die Zusammenhänge schiebung der Niederschlagsmengen: künf- zwischen Umweltbedingungen und Biota tig rechnet man mit vermehrtem Nieder- verstehen. Einerseits muss deshalb die Mäggi Hieber, Biologin, hat schlag im Winter und weniger Niederschlag Grundlagenforschung weiter vorangetrie- kürzlich ihre Promotion über im Sommer (siehe auch Artikel von B. ben werden, damit wir diese Ökosysteme alpine Fliessgewässer, ins- besondere die Ökologie alpiner Schädler S. 24). In den letzten 150 Jahren noch besser kennen lernen. Andererseits Seeausflüsse, in der Abteilung wurde weltweit ein kontinuierlicher Rückzug müssen aber auch angewandte Aspekte Limnologie der EAWAG abge- schlossen. Seither arbeitet sie der Gletscher dokumentiert (Abb. 4), so untersucht werden. So beschäftigt sich die als Projektleiterin beim Zentrum dass extreme Prognosen vom völligen Ver- EAWAG beispielsweise mit den folgenden für angewandte Ökologie Schattweid. schwinden der Gletscher im Engadin in den Fragen: Wie stark muss der Abfluss in einer Ko-Autoren: Peter Burgherr, Urs Uehlinger, nächsten 50 Jahren ausgehen [8]. Restwasserstrecke unterhalb von Stau- Klement Tockner Was bedeutet das für die Bewohner alpiner Fliessgewässer? Ein Rückzug und Ver- [1] Körner C. (1999): Alpine plant life. Springer-Verlag, Berlin, 338 p. schwinden der Gletscher zieht den Verlust [2] EAWAG (2002): Alpine Fliessgewässer. EAWAG news 54d, 36 S. dieser einzigartigen Umweltbedingungen [3] Ward J.V. (1994): Ecology of alpine streams. Freshwater Biology 32, 277– 294. nach sich – das Abflussregime verschiebt [4] Tockner K., Malard F., Burgherr P., Robinson C.T., Uehlinger U., Zah R., Ward J.V. (1997): Characterization of channel types in a glacial floodplain ecosystem (Val Roseg, Switzerland). Archiv für Hydrobiologie 140, 433 – 463. sich von einem glazial-nivalen (von Eis- und [5] Klein B., Tockner K. (2000): Biodiversity in spring-brooks of a glacial flood plain (Val Roseg, Switzerland). Verhand- Schneeschmelze dominierten) zu einem lungen der Internationalen Vereinigung für Theoretische und Angewandte Limnologie 27, 704 –710. nival-pluvialen (von Schneeschmelze und [6] Hieber M., Robinson C.T., Uehlinger U., Ward J.V. (2002): Are alpine lake outlets less harsh than other alpine streams? Archiv für Hydrobiologie 154, 199 – 223. Regen dominierten) Typ, die Extremstand- [7] Steinmann, P. (1907): Die Tierwelt der Gebirgsbäche – eine faunistisch-biologische Studie. Annales de Biologie orte verschwinden und es kommt zu einer Lacustre 2, 30 –162. «Vereinheitlichung» der Lebensraumbedin- [8] IPPC (2001): Climate Change 2001: Synthesis Report, 944 p. [9] Meier W., Reichert P. (2001): Modelle im Gewässerschutz. EAWAG news 51d, 13 –15. gungen. Dies wiederum erlaubt weiter fluss- [10] Robinson C.T., Uehlinger U., Monaghan M.T. (2002): Wie reagieren Fliessgewässer auf künstliche Hochwasser? abwärts angesiedelten Arten ebenso wie EAWAG news 54d, 27– 29. 40 1 km Hansbreen, Svalbard 30 Paierl, Svalbard Storglaciären, Schweden Engabreen, Norwegen Anzahl Taxa Nigardsbreen, Norwegen 20 Leirufjardarjokull, Island relative Längenänderung Vatnajökull, Island Tsoloss, Kanada Wedgemount, Kanada Unterer Grindelwaldgletscher, 10 Schweiz Glacier d’Argentière, Frankreich Hintereisferner, Österreich Rhonegletscher, Schweiz 0 Chungpar-Tash., Karakorum rhithraler Seeausfluss rhithraler Fluss kryaler Seeausfluss kryaler Fluss Quellbach Minapin, Karakorum Lewisgletscher, Kenia Broggi Uruashraju, Peru Merengletscher, Irian Jaya Nicht-Insekten Köcherfliegen Pared Sur, Chile restl. Insekten Steinfliegen Franz-Josef-Gletscher, Zweiflügler Eintagsfliegen Neuseeland Abb. 3: Zusammensetzung der tierischen Lebens- 1500 1600 1700 1800 1900 2000 (Jahr) gemeinschaften in verschiedenen alpinen Fliess- gewässertypen. Abb. 4: Rückgang der Gletscher im Verlauf der letzten 500 Jahre. Verändert nach [8]. 1 Einheit = 1 km. 11 EAWAG news 55
Alpine Seen: Extremökosysteme unter dem Druck globaler Veränderungen Kälte und Nährstoffarmut, durchdringende UV-Strahlung oder mo- natelange Dunkelheit machen Hochgebirgsseen zu aussergewöhn- lichen Lebensräumen. Die in ihnen lebenden Organismen müssen Künstler der Anpassung sein. Doch auch diese entlegenen Seen sind nicht mehr unberührt. Anthropogene Veränderungen überlagern die natürlichen Faktoren und beeinflussen das Ökosystem. Da Hochgebirgsseen besonders empfindlich auf diese Veränderungen reagieren, werden sie als Frühwarnsysteme eingesetzt. In welche Richtung die Veränderungen zukünftig gehen, ist aber noch weit- gehend offen. Alpine Seen sind Extremökosysteme und Hochgebirgsseen reagieren besonders Nach der langen Dunkelheit im Winter erscheinen auf den ersten Blick als lebens- empfindlich auf Umweltveränderungen (sie- wechseln alpine Seen innerhalb kürzester feindlich. Sie sind gekennzeichnet durch he Kasten) und werden seit den 80er Jahren Zeit zu strahlender Helle. Dies geschieht sehr saure, alkalische, heisse oder kalte Be- als Frühwarnsysteme bezeichnet. Ende Juni/Anfang Juli, wenn die Sonnen- dingungen, durch das Einwirken von hohem strahlung die höchste Intensität aufweist Druck oder starker Strahlung (vor allem UV- Natürlich extrem... und das Eis aufbricht. Je höher ein See liegt, Strahlung) oder durch einen hohen oder Die Winterdecke eines alpinen Sees kann desto stärker ist er der kurzwelligen UV- sehr niedrigen Salzgehalt. Oft sind alpine mehrere Meter dick werden und den See Strahlung (UVB, 280 – 320 nm Wellenlänge) Seen von mehr als einer Extremsituation vollständig abdunkeln (Abb. 1). Im 10 m tie- ausgesetzt: In 3000 m Höhe ist die UVB- gleichzeitig betroffen oder im Lauf des Jah- fen Gossenköllesee beispielsweise macht Strahlung um etwa 50% höher als auf res findet ein rascher Wechsel der Extreme sie zur Zeit ihrer maximalen Ausdehnung Meeresniveau. Hinzu kommt, dass die UVB- statt. etwa ein Drittel des gesamten Seevolumens Strahlung seit 1970 durch Veränderungen Hinzu kommt, dass alpine Seen in immer aus [1]. Ohne Licht ist im See keine Photo- in der Stratosphäre zusätzlich um ca. 10% stärkerem Masse unter anthropogenen Ein- synthese mehr möglich und der gesamte angestiegen ist. flüssen leiden. Hier spielt nicht nur die Wasserkörper entwickelt sich zu einem Durch den Mangel an Huminsäuren und an- Klimaveränderung eine Rolle, sondern auch heterotrophen System, das über 6 bis 8 Mo- deren gelösten organischen Substanzen der Eintrag organischer Substanzen, die nate komplett von der Aussenwelt abge- dringt die UV-Strahlung in Hochgebirgs- über die Atmosphäre in diese entlegenen schnitten ist. Erst seit kurzem ist bekannt, Gebiete verfrachtet werden. Problematisch dass sich während dieser Zeit in der Winter- ist zudem, dass Organismen, die natür- decke eine eigene, überwiegend mikrobielle Die zentrale Hypothese licherweise in Hochgebirgsseen nicht vor- Lebensgemeinschaft entwickelt, die sowohl Der Zustand eines Sees hängt im wesent- kommen, durch den Menschen dort einge- aquatische als auch terrestrische und atmo- lichen von drei Faktoren ab, wobei es eine schleppt oder bewusst eingesetzt werden. sphärische Elemente enthält [2, 3]. Hierarchie der Kräfte gibt: Faktor 1 wirkt auf Faktoren 2 und 3, Faktor 2 wirkt auf Faktor 3, Faktor 3 führt zur spezifischen Ausprägung der Eigenschaften des betref- fenden Sees. Böden Faktor1: Das Klima und die atmosphäri- Niederschläge Schneedecke Licht schen Depositionen… Uferzone …bilden die räumlich-zeitlichen Gradienten Seeoberfläche treibender Kräfte. Winterdecke Dicke der Abb. 1: Entstehung, Aufbau und Faktor2: Die Geologie, die Böden und die Abschmelzen der Winterdecke alpiner Seen. Auf einer zentime- Vegetation des Einzugsgebietes… Freiwasser Winterdecke terdünnen Klareisschicht bildet …bestimmen die Empfindlichkeit eines sich eine meterdicke sandwich- Sees gegenüber äusseren Einflüssen. artige Struktur aus Schnee- 0,1% matsch (weiss) und Trübeis Faktor3: Die see-interne Dynamik (Orga- (grau). Herkunft und Transport nismen, Stoffkreisläufe)… Bildung Wachstum Schmelze von Mikroorganismen sind mit …führt zu einer individuellen Antwort auf Nov. Jan. Mai Juli Pfeilen gekennzeichnet. Ver- Belastungen. ändert nach [3]. EAWAG news 55 12
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