2K MEIN SEHEN BLEIBT - Qucosa
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DANKSAGUNG 2|3 Seit seiner Gründung durch Karin Armbruster, gungstellen ihrer Werke; den Studierenden Eric Beier und Lucie Klysch im Frühjahr 2017 der TU Dresden und allen Mitarbeiter*innen bündelt das Forum 2k17 die Kompetenzen von in unserem Netzwerk für das Verfassen der Kunsthistorikerinnen sowie Geistes-, Kultur- Texte; Prof. Dr. Christoph Oliver Mayer, der in und Naturwissenschaftlern, um mit jungen Zusammenarbeit mit dem Institut Regional- Kunstschaffenden einen gemeinsamen Dis- wissenschaften Lateinamerika der TU Dres- kurs zu gestalten. Im Fokus stehen Texte, den wertvollen Beistand geleistet und frucht- Publikationen im Printbereich, im Onlinebe- bare Verbindungen geknüpft hat; Gwendolin reich vor allem im Rahmen der gemeinsam Felicitas Kremer für die Organisation der Aus- erarbeiteten Website und gemeinsame Aus- stellung in den Räumen der ALTANA-Galerie; stellungen. unserer Grafikdesignerin Sabine Wermann für die geduldige, freundschaftliche Zusam- Eines unserer wichtigsten Anliegen ist es, menarbeit am Katalog zur Ausstellung; Karin einen konstruktiven Austausch zwischen den Armbruster für die Gestaltung, Einrichtung Institutionen und Studiengängen der Hoch- und das pausenlose Aktualisieren der Web- schule für Bildende Künste und der Techni- site und nicht zuletzt allen Förderern, die schen Universität Dresden anzuregen. Immer unser Projekt mit finanziellen Mitteln unter- wieder erscheint uns die Verbindung von Wis- stützt haben: dem Freundeskreis der Kunst- senschaft und Bildender Kunst in Dresden als hochschule, dem Studentenwerk , dem ein zu großen Teilen ungenutztes Potential – Netzwerk Kreativ und dem STURA der HfBK das wollen wir ändern. Dresden. Einen ganz besonderen Dank auch an Prof. Dr. Wolfgang Ullrich, der sich bereit Diese immer wieder angestrebte Kooperation erklärt hat ein Vorwort für unseren Katalog ist eine der spannendsten Entwicklungen in zu schreiben und dessen Vorträge und Semi- der Bildenden Kunst der Gegenwart. Wir nare an der HfBK Dresden viele Studierende möchten diese Entwicklung vorantreiben und begeistert und inspiriert haben. Aktivitäten in diesem Bereich mit aller Kraft unterstützen. Ein erster Schritt ist diese gemeinsam erarbei- tete Veröffentlichung, die nur dank zahlrei- cher Unterstützer zustande kommen konnte. Dank gebührt vor allem den Studierenden der HfBK Dresden sowie allen mitwirkenden, freien Kunstschaffenden für das Zurverfü- Das Team von 2k17
Vorwort Lateinamerika – von Dresden 4|5 aus gedacht Prof. Dr. Christoph Oliver Mayer Prof. Dr. Wolfgang Ullrich Regionalwissenschaften Lateinamerika / TU Dresden In der Moderne ist es üblich geworden, einen fessionalisierung des jeweiligen Blicks. Dadurch Lateinamerika, das so heißt, weil es sich, un- hat wohl gegen den Willen seiner Macher eher spezifischen Blick als das anzusehen, was aber ist das, was entsteht, auch nie nur Kunst abhängig von der spanischen, portugiesischen eine Glorifizierung der Peronistin bewirkt und Künstler*innen von anderen Menschen unter- als Kunst. Vielmehr definieren gute Arbeiten oder auch französischen kolonialen Vergan- es schert kaum jemanden, dass direkt nach scheidet. Da das Auge stellvertretend für den neue Formate oder erschließen Themen und genheit, im 19. Jahrhundert nach Frankreich Deutschland reichende Politskandale wie der Intellekt steht, wird Kunst damit aber auch als Erfahrungen auf eine Weise, die über bisher und den Idealen der Französischen Revoluti- um die Colonia Dignidad in Chile trotz jüngs- Art von Erkenntnis definiert. Die Exzellenz de- Bekanntes hinausreicht. Wichtig ist dabei, dass on orientierte, ist ein Paradoxon in sich. Man ter cineastischer Inszenierung alles andere rer, die Kunst machen, besteht darin, Interes- die Künstler*innen wissen, was sie im Unter- könnte auch sagen: ein (Doppel-)Kontinent als aufgearbeitet sind. Faszination geht dabei santeres zu finden und Vorhandenes subtiler zu schied zu Vertreter*innen anderer Disziplinen der Gegensätze: Zivilisation und Barbarei, einher mit dem berechtigten Interesse an verwenden als andere. auszeichnet. Es sollte ihnen immer bewusst Emanzipation und Machismo, extreme linke der Widersprüchlichkeit, die verschwundene, sein, wie sie Sujets, die genauso die Sache von Utopien und grausamste rechte Militärdik- verschleppte und gefolterte Mexikaner*innen Sofern Künstler*innen eigenständige Sehwei- Wissenschaftler*innen, Journalist*innen oder taturen, übermäßiger Reichtum und schreck- genauso auslösen wie das unberechenbare sen entwickeln und Erkenntnisse produzieren, Dokumentarfilmer*innen sind, auf ihre spezi- liche Armut lassen sich allesamt mit Latein- Wahlverhalten von Venezuela bis Brasilien. liegt es nahe, sie auch in einer Affinität zu Wis- fische Art und Weise in Szene setzen können. amerika identifizieren und begründen auch senschaftler*innen – Ethnolog*innen, Anthro- heute noch das Interesse an dieser Region, in Zur lateinamerikanischen Kunst fällt sicher polog*innen, Psycholog*innen – zu sehen, die Gegenüber Rezipient*innen ist entsprechend der fast 600 Millionen Menschen auf 20 Mil- den allermeisten als erstes (und vielleicht ein- ebenfalls auf der Basis von Beobachtungen und der Appell zu formulieren, Kunst ihrerseits nie lionen Quadratkilometern leben. ziges) die Mexikanerin Frida Kahlo ein. Viel- Daten arbeiten. Andererseits ähnelt ihr Vor- nur als Kunst zu würdigen, sondern auch in leicht weiß die eine oder der andere auch, dass gehen dem von Kurator*innen, die genauso dem wahrzunehmen, was die Werke über eine Das deutsche Lateinamerikabild hat sich in die dominierende literarische Strömung des einzelne Themen in Szene setzen. In der An- Beschäftigung mit dem eigenen Kunst-Sein hi- den letzten 30 Jahren allerdings stark gewan- Magischen Realismus ihr Vorbild in der euro- näherung an diese beiden Berufsfelder drohen naus bieten. Ihre Erschließungsleistung – und delt. War man noch in den 1980er Jahren in päischen Kunst hatte oder dass zahlreiche ita- Künstler*innen jedoch nicht nur verwechsel- damit jener spezifische Blick der Künstler*innen West wie Ost beseelt, den dort vermuteten lienische Bildhauer und Architekten die ersten bar zu werden, sondern laufen auch Gefahr, – sollte im Mittelpunkt stehen, egal ob es sich Armen, Schwachen und Unterdrückten zu Jahrhunderte der lateinamerikanischen Kunst, die Grenzen ihrer Begabung oder Kompetenz dabei um ein formales Phänomen, ein soziolo- helfen, entwickelte sich zuletzt immer mehr andere wie v. a. der Brasilianer Oscar Niemeyer zu überschreiten. Umso wichtiger sind Metho- gisches oder politisches Sujet oder eine spezifi- ein Abenteuertourismus, der stets auch einen die Weltkultur entscheidend geprägt haben. denbewusstsein und Zusammenhangswissen, sche Stimmung handelt. Ein wesentliches Krite- Hauch von so zu Hause nicht mehr spürba- Der deutsche, lokale Blick von Künstlerinnen damit ihre Arbeit nicht unfreiwillig dilettantisch rium von Kunst ist es dann, ob sich ausgehend rer Gefahren, Ursprünglichkeit und Exotik und Künstlern auf den Kontinent bzw. die oder unklar erscheint. von einem Werk eine Diskussion entwickeln atmet. Anlässlich der Olympischen Spiele in Interpretation ihrer Artefakte durch Studie- lässt, in deren Verlauf es gar nicht mehr um Rio de Janeiro vermutete die deutsche Pres- rende der Kunstgeschichte und Philologie Gerade wenn der Blick das Zentrum der Bega- die Frage nach dem Kunsthaften dieses Werks se stümperhaften Dilettantismus in Bau und leitet sich jedoch nicht zwangsläufig aus den bung sein soll, muss er eigens ausgebildet wer- geht. Das tritt vielmehr nur indirekt, als Quelle Organisation und so manche Universität führt etablierten Bahnen direkter (künstlerischer) den. Das ist die Aufgabe der Kunsthochschulen. von Gedanken oder als Garant einer gewissen selbst ein G20-Land wie Argentinien heute Rezeptionsbezüge ab. Vielmehr sind die Asso- Vor allem aber wird es bei selbstorganisierten Konzentration, in Erscheinung. Dafür wird die noch unter den Entwicklungsländern. Der ziationen, Stimmungen, Nachrichtenfetzen, Projekten wie 2k17 geübt, deren Bedeutung da- oft beschworene Unerschöpflichkeit der Kunst Tod von Fidel Castro hat dem Mythos Kuba Stereotype und Vorstellungen, aber auch eige- her kaum zu überschätzen ist. Allein durch die daran erfahrbar, dass ein Nachdenken über ein bis dato ebenso wenig anhaben können wie ne Eindrücke wegweisend. Maradonna, Pablo Wahl eines gemeinsamen Sujets – hier: Latein- Werk kein schnelles Ende findet und doch nicht die biographischen Enthüllungen der Vergött- Escobar oder Shakira tragen dazu genauso amerika – kommt es zu einer Schulung und Pro- vom Thema abkommt. lichung von Che Guevara. Das Musical Evita bei wie kolumbianischer Kaffee, argentini-
Lateinamerika – von Dresden aus gedacht 6|7 sches Rindfleisch und kubanischer Rum. Der soweit die kulturwissenschaftliche Theorie, ren, mit Geno- und Feminoziden schockieren lateinamerikanischen Christentums, dessen Kontakt zwischen Studierenden, die studien- zugleich als produktive Matrix für jede Form oder die Alterität der Landschaften enthüllen, Statuen und Kultstätten die Zugehörigkeit zu begleitend eine regionalspezifische Zusatz- von Kreativität und Kunst, indem es, folgt erinnern uns die hier gezeigten Bilder durch- unserer Welt demonstrieren und diese gleich- qualifikation Regionalstudien Lateinamerika man hierbei dem französischen Schriftsteller aus genauso an das Vertraute bzw. Vertraut- zeitig aufgrund ihrer Andersartigkeit auch mit dezidiert kulturwissenschaftlicher Aus- Georges Bataille, die beiden Extremformen gewordene. Waren Kartoffeln, Mais, Tomaten unterwandern. So manche positive Entwick- richtung und sprachlicher Vertiefung gewählt Ekstase und Exzess entfaltet. und Ananas oder wie es eines der Kunstwerke lung Europas scheint in Lateinamerika nicht haben, ihrerseits schon bereits Erfahrungen zeigt: Südfrüchte und Kaffee nicht ursprüng- angekommen zu sein. Was aber durchaus dem in Lateinamerika gesammelt haben oder die- Ein Überschuss an Aktionsradius, ein Über- lich Produkte dieser neuen Welt so wie es Kontinent auch zum Vorteil gereicht. se für ihre berufliche Zukunft als zielführend schreiten von Grenzen und ein ungehöriges heute Batterien und Medikamente sind? Ist ansehen, und den bereits im Studium produk- Ignorieren der Norm inszenieren folglich nicht jegliches ökologische Thema ein genuin Die hier im Katalog abgebildete Ausstellung ist tiv künstlerisch Schaffenden nuanciert diese auch einige der Kunstwerke. Lateinamerika lateinamerikanisches und das Grau die Farbe aus einem gemeinsamen Projekt erwachsen, Blickrichtung zusätzlich. Diese Einflüsse wie- erscheint als Ort der Mythen und Legenden, der Verdinglichung der Welt, der Rauch ein innerhalb dessen Studierende der TU Dresden derum lassen sich jedoch verdichten in mal der Urlandschaft und der menschengemach- Zeichen für die Vergeudung von Rohstoffen? und der HfBK Dresden zu einem gemeinsa- mehr und mal weniger kanonische Rezep- ten Gewalt. Es ist der Kontinent, der entdeckt men Themenfokus ins Gespräch gekommen tionsmodi. und erobert werden konnte – wofür der Name Präsentiert bekommen wir nicht nur atavis- sind. Dass das wissenschaftliche Nachdenken Christoph Kolumbus gleichsam symptoma- tische Sexualität, tropische Landschaft in über den Gegenstand und das künstlerische Kehren wir also zunächst zurück zum Gegen- tisch steht –, aber zugleich auch diejenige ihrer Ursprünglichkeit wie in ihrer Ausbeu- Produzieren per se unterschiedlich sind, war satzpaar der Extreme, das den Kontinent so Gegend der Welt, die sich am eifrigsten selbst tung, sondern auch Schokolade, wie sie sich von vornherein nicht in Abrede gestellt wor- nachhaltig prägt. Sei es nun politisch – von in die Tradition der Französischen Revolution aus dem Alufolienmantel gleichsam lasziv den. Die hier versammelten Ergebnisse sind weit links (mit Figuren wie Castro, Chávez, (inklusive ihrer Symbolik der Trikolore) gestellt befreit. Wo die Schokolade zugleich zum Ab- aber ungesteuerte Produkte eines impliziten Morales oder Lula) bis weit rechts (mit Pro- hat, jedoch genauso den US-amerikanischen bild des Süßen wie zumindest für die Ideal- Ausagierens, innerhalb dessen Lerneffekte tagonisten wie Trujillo, Perón, Stroessner, Medienkonsum exzessiv verinnerlicht. Post- figur Gefährlichen wird, wo sie eine eigen- gerade auch im menschlichen Miteinander Pinochet, Fujimori oder Temer und zuletzt moderne Architektur kann in ein und dersel- ständige Urheit genauso verkörpert wie den entstanden, die dezidiert nicht abbildbar sind. Bolsonaro) –, geographisch – vom tropischen ben Gesellschaft einhergehen mit evangelikal Konsumismus westlicher Gesellschaften, wird Interkulturelles Lernen im engeren Sinn kann Regenwald bis zur Atacamawüste, von den verklärter Ewiggestrigkeit. Menschen werden sie zur Materialisierung des überbordenden auch nur so stattfinden. Anden bis zur Karibik – oder gesellschaft- aufgesaugt, kommerzialisiert und verbraucht lich – von der Mehrfachehe in Kolumbien bis – sie verschwinden wie in einem Müsli. Le- zum Abtreibungsverbot in Argentinien, vom gendär ist der Schönheitskult genauso wie die Verzicht auf Militär in Costa Rica bis zur Aus- geschlechtliche Unersättlichkeit. rufung eines Nationalfeiertags zu Ehren der Fußball-WM-Qualifikation in Panamá, von Andererseits verblüfft dann aber auch nicht, der Legalisierung von Cannabis in Uruguay wie andere Kunstwerke die Normalität in den bis zum Protest gegen das Verbot der Kin- Kontinent Lateinamerika zurückholen. Wäh- derarbeit in Bolivien: Lateinamerika kennt rend herkömmliche Ausstellungen oft nur Extreme und diese faszinieren im positiven die Extreme in Szene setzen, indigene Kult- wie negativen Sinn. Dieses Faszinosum wirkt, objekte als anti-eurozentristisch präsentie-
Karin Armbruster 8|9 Lucie Klysch Wild gestikulieren die Figuren über die Bild- tole, die er symbolisch abdrückt. Seine Lust frontieren uns Karin Armbrusters Bilder mit und die sich kaum davon abhebende Kleidung fläche. Mit heftigem Schwung drängen sich an Provokation ist unvergleichlich. Er hetzt vereinnahmenden Gefühlswallungen, die uns der Figuren sind der Beweis, dass Körper- verfremdete Extremitäten vor unser Auge gegen Minderheiten, hält Folter für harmlos entweder mitreißen oder abstoßen. Für die sprache unabhängig von gesprochener Spra- und drohen den Bildraum zu durchbrechen. und Hitler für einen glorreichen Strategen. einen sind sie faszinierend und motivierend, che und ihrer Umgebung eine enorme Kraft Unser Fokus springt vom Hintergrund zum Und alle Welt fragt sich: Wie konnte es soweit für die anderen Abbild einer Bedrohung. Wir entwickeln kann. In diesem Moment müssen Vordergrund, changiert zwischen scharf und kommen, dass ein solcher Extremist das fünft- wissen nicht, wer die porträtierten Personen wir selbstständig entscheiden, ob wir einen verschwommen, zielt auf das Gesicht, dann größte Land der Erde regiert? Wie schon vie- sind. Sie geben zu wenig preis, um Vertrauen Schritt näher oder einen Schritt zurück gehen, schnell wieder auf die Hände — aus Angst, len fragwürdigen Führungspersönlichkeiten oder Misstrauen hervorzurufen. Dennoch er- bevor wir uns dem Bann hingeben. dass sie uns zu nah kommen könnten. Lateinamerikas gelang es auch Bolsonaro, in kennen wir ihre ambivalente Interaktion mit kürzester Zeit eine riesige Masse von Anhän- dem Publikum. Der monochrome Hintergrund Die Sichtbarmachung von körperlichen Emo- gern um sich zu scharen. Das verrät viel über tionen und das Nachspüren von Körperspra- den Zustand einer Gesellschaft. Die Sehnsucht che bilden den Mittelpunkt der Serie Vertigo der brasilianischen Bevölkerung nach einer von Karin Armbruster. Weniger was wir sehen, harten führenden Hand, nach einer Kraft, die sondern was wir spüren wird zum Bild. Damit das in einem Korruptionssumpf und Gewalt zeigt uns die Künstlerin jenen Moment, in versinkende Land aus seiner Misere heraus- dem Unberechenbarkeit Gestalt annimmt. führt, war offenbar größer als alle Bedenken vor einer erneuten Militärherrschaft und Die Porträts basieren auf dem gründlichen ihren augenscheinlich folgenden demokratie- Studium der Realität. Durch die sensible Be- feindlichen, diskriminierenden und isolieren- obachtung individueller und polarisierender den Symptomen. Die Stimmung im Land ist Aktionen einer einzelnen Person visualisiert aggressiv wie nie. Wie kann jemand Hoffnung Vertigo ein Phänomen, das ganze Nationen vermitteln, der radikale Zerstörung prophe- spaltet. Jair Bolsonaro ist seit 1. Januar 2019 zeit? Durch bewusstes Polarisieren stehen sich Brasiliens neuer Präsident. Die Lieblingsgeste Begeisterung und Verzweiflung, Hoffnung und des ultrarechten Staatsoberhauptes ist die Wut, Sympathie und Aversion kämpferisch aus Daumen und Zeigefinger geformte Pis- gegenüber. Abseits jeder Schuldfrage kon-
Gyde Becker 12 | 13 Maxi Elisabeth Wollner Wie wird Geschichte vermittelt und an wel- Tag in „Día de la Resistencia Indígena“ – „Tag cher Stelle entsteht ein eindimensional ver- des Indigenen Widerstands“ – umbenannt. In breitetes oder gar verfälschtes Geschichts- Argentinien steht er als „Tag des Respektes vor bild? Nimmt man die Persönlichkeit Christoph der kulturellen Verschiedenheit“ im Kalender, Kolumbus als Beispiel, so assoziiert man mit in Bolivien als „Tag der Entkolonialisierung“. dem italienischen Seefahrer schnell einen Ecuador feiert einen „Tag der Interkulturalität“ mutigen und tollkühnen Abenteurer, der auf und Chile den „Tag der Entdeckung der zwei seiner Schiffsreise nach Indien zufällig Ame- Welten“. rika entdeckte. C.C. covered II Gyde Beckers Arbeit C.C. covered II zeigt ein Fotografie Kolumbus, unterwegs im Dienst der spani- auf der Grundlage eines amerikanischen 50 x 90 cm schen Krone, kam laut Geschichtsschreibung TV-Nachrichten-Beitrages entstandenes Bild 2018 am 12. Oktober 1492 in der „Neuen Welt“ einer in weißer Folie vermummten Statue in an. Ihm zu Ehren gilt dieses Datum in den Los Angeles. Hierbei handelt es sich um eines USA und Kanada als staatlicher Feiertag, als der Denkmäler, welche im 19. Jahrhundert in Kolumbus durch einen amerikanischen Nach- Mit ihrer künstlerischen Auseinandersetzung „Columbus Day“, bei welchem jährlich dieses einem regelrechten Kult um den „Entdecker“ richtensprecher. Geradezu karikiert wird diese zur Thematik „Lateinamerika“ zeigt Gyde Be- geschichtliche Großereignis zelebriert wird. und Nationalhelden Amerikas aufgestellt wur- einseitige Berichterstattung durch ein daran cker frei von Wertung auf, dass die Problema- Viele Menschen jedoch, insbesondere in La- den. Der*die Betrachter*in wird Zeuge einer anschließendes heiter beschwingliches Lied tik im Umgang mit Geschichte durchaus tief- teinamerika, sehen Kolumbus mitnichten als der Folgen der derzeitigen Debatte über den über den Nationalhelden in Form einer Kara- greifender verwurzelt ist als es die Existenz ihren Nationalhelden an. Sie erinnert dieser Umgang mit dem kolonialen Erbe. Durch jah- okeversion. Der Songtext wird indessen mit von Feiertagen, Denkmälern, Statuen oder Feiertag an eine brutale Eroberungsgeschich- relange Proteste von Ureinwohnern entfacht, unterschiedlichen Sequenzen aus Film- und Straßennamen, die an zwiespältige Personen te und den Beginn der kolonialen Unterdrü- ließ man die umstrittene Statue schlussend- TV-Beiträgen visuell unterlegt, in denen die der Historie erinnern, vermuten lässt. Einseiti- ckung der indigenen Bevölkerung. lich aus dem Stadtbild entfernen. divergente Auffassung von vermeintlich he- ge Darstellungen sowie geschichtliche Verklä- roischen Ereignissen der Geschichte verdeut- rungen finden sich nicht nur im öffentlichen Für die indigenen Minderheiten in Lateiname- Simultan zu C.C. covered II findet sich inner- licht wird: von Trickfilm über Blockbuster, von Raum wie etwa im Stadtbild wieder, sondern rika hat der umstrittene Feiertag daher einen halb der Ausstellung die Videoarbeit C.C. co- Nachrichtenausschnitten zu den Feierlichkei- werden darüber hinaus sehr wirksam im mei- hohen Symbolcharakter. Auch sie feiern ihn vered I. Dieser 1:42 Minuten lange Videoloop ten des „Columbus Day“ samt Miss Columbus nungsbildenden medienkulturellen Bereich nach wie vor – aber unter anderen Vorzei- beginnt mit der Auflistung all der heldenhaf- auf einem der Festwagen bis hin zur Abnahme durch Film und Fernsehproduktionen vermit- chen. So wurde 2002 in Venezuela besagter ten Leistungen und Qualitäten des Christoph eine der zahlreichen Statuen. telt und aufrechterhalten.
Eric Beier 16 | 17 Luise von Nobbe Europa, Tricolore und Cyborg-Codex-ALDI sind Indem Beier die Fragmente von Mann, Frau Merkmale zu separieren und skizziert ein mit der gegenwärtigen, primär durch den Teil der im Herbst 2017 von Eric Beier be- und Rollstuhlfahrer*in verbindet, setzt er sie Weltbild, das sich nicht auf Differenz, sondern Handel geprägten Beziehung von Europa und gonnenen Werkserie Cyborg Playground. Den miteinander gleich und postuliert die gesell- auf Vielfalt stützt. Lateinamerika. Wie schon in der Auseinan- konzeptuellen Ausgangspunkt bilden drei schaftliche Gemachtheit bestimmter Men- dersetzung mit dem Verhältnis von Mensch standardisierte Piktogramme, die sich auf schentypen. Die Willkürlichkeit seines Zei- Über das A Cyborg-Manifesto hinaus beziehen und Technik, erkennt er hier eine Form der das Geschlecht oder den Behindertenstatus chensystems überträgt sich im Vergleich auch sich Europa, Tricolore und Cyborg-Codex-ALDI Abhängigkeit. Ohne Zulieferer aus Mexiko, eines Menschen beziehen: Mann, Frau und auf die standardisierten Piktogramme: Warum auf ein konkretes kulturhistorisches Objekt, Kolumbien oder Guatemala könnte die euro- Rollstuhlfahrer*in. Beier zerlegt die ordnen- müssen es gerade Geschlecht, Behinderung den sogenannten Codex Dresdensis. Anders päische Bevölkerung ihren gewohnten Le- den Symbole in ihre Einzelteile und setzt sie oder andere gesellschaftlich stigmatisierte als der heutige Titel suggeriert, handelt es bensstandard nicht aufrechterhalten. Dass für in Verwendung unterschiedlicher Techniken, Körpermerkmale sein, die einen Menschen sich dabei um einen vermutlich aus dem 13. diese Art der ökonomischen Zusammenarbeit Materialien und Dispositive neu zusammen. definieren? Jahrhundert stammenden Maya-Kalender, ganze Regionen und Völker Lateinamerikas Resultat ist ein hieroglyphenartiges Zeichen- der im Zuge der spanischen Conquista im 16. ausgebeutet werden, ist im Angesicht der im system, das, aus 29 Elementen bestehend, There is no drive in cyborgs to produce total Jahrhundert von Lateinamerika nach Europa Supermarkt aufgereihten Produkte nur noch sowohl das lateinische Alphabet in neufigu- theory, but there is an intimate experience of gelangte. Als eines von wenigen Schriftstü- schwer erkennbar. rierter Form als auch die drei ursprünglichen boundaries, their construction and deconstruc- cken überlebte der Kalender die öffentliche Die Fusion von Organismen – Mensch, Ma- Piktogramme – ersetzt durch Fragezeichen, tion. There is a myth system waiting to become Verbrennung indigener Literatur, Kunst- und schine, Staat – lässt Gesellschaftsstrukturen Punkt und Komma – enthält. a political language to ground one way of loo- Kultobjekte unter Anordnung des Bischofs immer komplexer und unübersichtlicher er- Mit dem Titel der Werkserie stellt Beier einen king at science and technology and challenging Diego da Landas 1562 in Yucatán (Mexiko). scheinen. Nicht von Diskriminierung betrof- Bezug zu dem erstmalig 1985 erschienenen A the informatics of domination - in order to act Während die indigene Bevölkerung Latein- fene Menschen vergessen oder ignorieren die Cyborg Manifesto von Donna Haraway1 her. In potently. 2 amerikas massenweise unterdrückt, ausge- alltäglichen Schwierigkeiten von Minderhei- ihrem Aufsatz setzt sich die Autorin mit gesell- beutet und ermordet wurde, gelangte der ten. Beier erinnert daran, dass die Gesellschaft schaftlichen und politischen Konsequenzen der Aus Beiers Beschäftigung mit dem techni- Kalender über Umwege nach Dresden, wo er aus einem einzigen zusammenhängendem Ge- Verschmelzung von Organismen und Maschi- schen Fortschritt, der Reproduzierbarkeit und sich heute im Buchmuseum der Sächsischen füge besteht und jede*r zu dessen Aufrecht- nen im biokybernetischen Zeitalter auseinan- Objektivierung des Menschen geht eine Uto- Landesbibliothek, Staats- und Universitätsbib- erhaltung oder Dekonstruktion beiträgt. der. Beier konzentriert sich auf das Piktogramm pie hervor: Der Cyborg Playground versinnbild- liothek (SLUB) befindet. Beier greift die Optik des*der Rollstuhlfahrer*in, das stellvertretend licht die Überwindung sozialer Grenzen, Inte- des Codex auf und gleicht sein Zeichensystem für verschiedene Formen körperlicher Behinde- gration und Gemeinschaft. Mann, Frau und der im zweiten Jahrhundert v. Chr. entstan- rungen steht und eine Art Fusion von Mensch Rollstuhlfahrer*in werden in dekonstruierter denen Maya-Schrift an. Die Einzelteile von und technischem Apparat darstellt. Obwohl die Form zu etwas Unbestimmtem und Gleich- Mann, Frau und Rollstuhlfahrer*in ersetzen die medizinische Versorgung von körperlich Einge- rangigem, das keine Geschichte und keine Darstellungen von Gottheiten und Anleitun- schränkten heute oft nicht weniger bindend ist Ecke zum Abstellen besitzt. Ein ähnlicher Pro- gen zu religiösen Ritualen. als die allgemeine Abhängigkeit von Zulieferern zess der Dekonstruktion lässt sich unter ande- Die Entschlüsselung von Beiers Arbeiten führt 1 Das Original erschien als Haraway, Donna: wie dem Lebensmittelvertreiber, dem Energie- rem auch mit den klischeebesetzten Bildern zu Preislisten von Produkten, die der Lebens- „Manifesto for Cyborgs. Science, Technology, and versorger oder dem Handyanbieter, nehmen von People of Color oder LGBTQ-Menschen mittel-Discounter ALDI aus Lateinamerika Socialist Feminism in the 1980‘s“, behinderte Menschen nach wie vor oft einen denken. Beier hinterfragt prinzipiell die Not- bezieht: Schokolade, Kaffee, Zucker usw. Der in: Socialist Review 80 (1985), S. 65 – 108. Sonderstatus ein. wendigkeit, Menschen aufgrund bestimmter Künstler konfrontiert den*die Betrachter*in 2 Ebd., S. 98.
Eric Beier 18 | 19 Tricolore Cyborg Codex-ALDI Acryl auf Leinwand Wasserfarben auf Antikpapyrus 200 x 150 cm ca. 35 x 45 cm 2018 2019
Anne-Cathrin Brenner 20 | 21 Maren Marzilger Anne-Cathrin Brenner gewährt dem*der Be- Hintergrund einen Kosmos aufspannen, in findet. Feine Linien erfordern vollkommene lich im Moment gefangen ist der Mensch im trachter*in einen fast schon intimen Einblick dem es Zusammenhänge zu finden gilt. In Konzentration, Präzision. Auf einer Grundie- Jaguarkostüm, die Polarität der menschlichen in ihre Perspektive. Sie erzählt Geschichten in dem Werk Menschenmüsli werden wir mit rung aus Pigmenten, Eigelb und Leim „oxi- Doppelnatur faszinierend betrachtend, sich Momentaufnahmen, ohne aber moralische einer Figur konfrontiert, die eine Schale mit dieren“ zarte graue Linien zu einem Braun- vielleicht findend. Wertungen abzugeben. Selbsterkenntnis und zahlreichen Köpfen bzw. Menschen im Arm schwarz, Flächen entstehen durch Schraffur, Selbstreflektion bestimmen dabei die Bild- festhält und auf einer Tischplatte an sich Fehler bleiben stehen – die Suche nach dem Auf ihrer Suche nach dem Selbst lässt Anne- inhalte. Der eigene Erkenntnisprozess, der zieht. Eine Schale, in der sich ein Konglomerat Selbst nimmt intimere Formen an. Auf dem Cathrin Brenner uns teilhaben, öffnet eine bisher von Philosophen wie Leibniz geprägt aus Erfahrungen befindet. Erfahrungen in der Blatt Jaguar im Karneval begegnen dem*der narrative Welt, zwingt den Betrachter zum war, wird mehr und mehr von Ansätzen der Auseinandersetzung mit anderen Menschen, Betrachter*in drei Figuren. Nicht nur der Ti- Innehalten und fordert die Auseinanderset- andinen Philosophie begleitet – aus dem Indi- welche die Künstlerin bei der Frage nach der tel, sondern auch die bewusste Verschränkung zung ein. viduum wird ein kollektives Subjekt. eigenen Identität begleiten. Ein Mensch ist der Bildinhalte identifizieren den Jaguar, den er /sie nur dann, wenn er sich mit anderen in Räuber und chthonisches Wesen, als Protago- Anders als bei der abendländischen Philoso- Beziehung setzt. nisten. Aus dem weit aufgerissen Maul schaut phie stehen bei der sich in den Anden ent- ein menschliches Gesicht auf einen weibli- wickelten Denktradition die Beziehung zuein- In ihrer Malerei ist es der direkte Dialog mit chen Zentauren, der vorsichtig in der Hand- ander und zu den uns umgebenden Dingen im dem Werk, der für die Künstlerin so spannend fläche balanciert wird. Mit Neugier wird das Fokus. Es sind die gemeinsam erlebten Erfah- ist – Vorstudien gibt es fast nie. Dabei steht das Wesen, halb Mensch, halb Pferd, betrachtet, rungen, die verbinden. Alles steht mit jedem Thema fest, die Idee ist da, nur die Umsetzung während sich eine größere maskierte Figur in Beziehung, Tag und Nacht, männlich und selbst entwickelt sich aus dem Bild heraus. Das aus dem Jaguar zu lösen scheint und Richtung weiblich, Geburt und Tod sind notwendige Element der Skizze kann Anne-Cathrin Brenner rechten Bildrand tendiert. Der Dualismus un- Komplemente, keine Gegensätze. Verbinden- dennoch nicht ganz ausklammern. Die Zeich- seres Protagonisten zeigt sich in allen Formen. de Achsen zwischen diesen Polaritäten geben nung ist ein ebenso bewusster Bestandteil Das Fabelwesen in der Handfläche vereint die Raum für das Existierende in andiner Welt und ihrer Malerei wie das Experiment mit Pigmen- animalische Seite des Menschen mit der be- Kosmos. ten und Lasuren. Dabei sind es so häufig die herrschenden Natur des Reiters. Gleichzeitig Hände, die sich geradezu schemenhaft jeder wird die Wildheit des Zentauren aufgrund sei- Genau diese Beziehungen sind es, die uns Ausformulierung verweigern. ner Größe negiert. Die Figur mit Maske und Anne-Cathrin Brenner in ihren Werken offen- Zepter ist hingegen vollkommen in einer Rolle, bart. Über die Raumkonzeption verschränkt Neben der Malerei ist es die Silberstiftzeich- verkörpert ein anderes groteskes Wesen, ver- sie Figuren mit Symbolen, lässt Vorder- und nung, in der die Künstlerin ihren Ausdruck birgt das eigene Ich, will weiterziehen. Gänz-
Anne-Cathrin Brenner 22 | 23 Jaguar im Karneval Silberstift auf grundiertem Papier 17 x 17,5 cm 2019 Mal schaun Silberstift auf grundiertem Papier 17,7 x 15,9 cm 2019 Menschenmüsli Viele Öl auf Leinwand Silberstift auf 48 x 55 cm grundiertem Papier 2018 15,8 x 11,6 cm 2019
Ursula Buchart 24 | 25 Maren Marzilger Sinnlich ist die Kunst von Ursula Buchart – Frage nach fairen und menschenwürdigen auf vielfältige Weise –, manchmal verstörend Arbeitsbedingungen aufwirft. Dahinfließende und nie oberflächlich. Mit ihren Trompe-l´Œil Massen einer religiösen Form, die Vergänglich- weckt die Künstlerin Begehrlichkeiten. Ein keit eines (falschen) Glaubens in einer schnell- vorher nicht dagewesener Hunger auf Scho- lebigen Welt, in der das Objekt im Spiel mit kolade stellt sich ein. Diese süße Verführung unseren Sinnen zum Fetisch avanciert. scheint greifbar nah, doch die Erkenntnis der Täuschung lässt den*die Betrachter*in er- Immer sind es Versatzstücke aus alltäglichen Ein Quantum Trost Die Tafel nüchtert zurück. Und dabei schien es doch so Gebrauchsgegenständen, Genussmittel, Mo- Acryl auf Leinwand Acryl auf Leinwand offensichtlich: die Proportionen zu groß, sich tive aus Mode oder Comic, die in der Malerei 70 x 50 cm 85 x 75 cm malerisch auflösende Flächen, ein Kreuzsym- von Ursula Buchart zu finden sind. Objekte 2015 2016 bol – unsere Sinne ignorieren das gekonnt und werden porträtiert oder erscheinen als Konglo- für den Augenblick sind da nur diese Begehr- merat auf der Leinwand. Künstlich überhöht lichkeiten, die uns vor dem Werk innehalten und nicht selten schockierend, weil dem*der lassen. Und genau in diesem Moment wird die Betrachter*in pornografische Elemente und Tafel Schokolade zum Objekt der Malerei, das Disney-Figuren gleichzeitig begegnen, sind mehr ist als nur eine optische Täuschung: Ein ihre großformatigen Arbeiten. Stark stilisierte, heit. Während der Transsexuelle wohl eher auf Seit 2019 verschärft sich vor allem in Brasilien Abbild von Genuss, dessen Geschichte in La- teilweise überzeichnete Körper, Brüste und Pe- der Suche nach dem Selbst ist, verfallen immer mit der Wahl des homophoben Jair Bolsona- teinamerika beginnt, als Teil des europäischen nisse entziehen sich jeder Individualisierung. mehr Frauen einem Schönheitswahn, der nur ro zum Präsidenten die Lage für Transsexuelle Kolonialismus nach Afrika und Asien gelangt Generelle Themen sind es, mit denen sich die durch Chirurgie zu erreichen ist. Platz zwei der erneut. Die Katze, die eben noch fette Beute und welches bis heute den Kakaoanbau und Künstlerin auseinandersetzt. In Tranny Cat be- Liste mit den meisten Schönheitsoperationen gemacht hat, wird wieder zur Gejagten. die Ausbeutung von Völkern und Ressourcen darf es nicht einmal des Titels, um in der Bild- hält Brasilien. Gleichzeitig ist es aber auch schmerzlich begreifbar macht. Eingepackt, komposition die Genderfrage auszumachen. das Land mit den meisten Tötungsdelikten Es sind die malerischen Lösungen von Ein- aufgerissen, kommerzialisiert. Diese Fragili- Ein männliches Glied setzt genau in Höhe der an Trans- und Homosexuellen. Eine traurige zelheiten und transzendenten Ebenen, mit tät des Augenblickes zwischen dem Sinn nach weiblichen Vulva an, die Brüste entsagen nicht Quote, bedenkt man, dass der Interamerikani- denen Ursula Buchart ganz bewusst Schwer- leicht zugänglicher, zarter Versuchung und der zuletzt aufgrund einer schwarzen Kontur jeder sche Gerichtshof für Menschenrechte in San punkte setzt. Eine Verortung von Raum und Erkenntnis, dass das gleichzeitige Sichauflö- natürlichen Form, sind gemacht. Die Identi- José Anfang 2018 mittels Urteil den Schutz der Zeit in diffusen Hintergründen ist weder nötig sen von Formen – Stücke, die nicht zu fehlen fikation mit dem eigenen Geschlecht rückt Rechte von Homosexuellen in einer Vielzahl noch gewollt und dennoch erfasst sie unsere scheinen, sondern einfach nie da waren – die ebenso in den Fokus wie die Frage nach Schön- Lateinamerikanischer Staaten beschlossen hat. Sinne, weckt Begehren und überrascht.
Ursula Buchart 26 | 27 Artist chocolate Acryl auf Leinwand, Alufolie 40 x 30 cm, 9 teilig 2016 Tranny Cat Acryl auf Leinwand 160 x 160 cm 2017
Friederike Butter 28 | 29 Lucie Klysch Für unsere alltägliche Wahrnehmung sind be- verwendete, billige und hochdeckende Teer- Die einschlägige Typographie hat sich mitt- tal eröffnet. Als Plakatentwurf changieren sie malte Hauswände nichts besonderes, längst farbe. Die Tags der Pichação-Bewegung sind lerweile zu international verständlichen Hie- zwischen Denkanstoß, zynischem Kommentar haben wir uns an diese mehr oder weniger das Low-Budget-Medium einer Subkultur, das roglyphen entwickelt und ist als Schriftart und der Möglichkeit einer tatsächlichen Ak- durchschaubaren Wandbilder gewöhnt. Doch es sich zur Aufgabe gemacht hat, das vorherr- Adrenalina in digitaler Form für alle verfügbar. tion. Gerade durch die einfache Technik und abseits von wuchernden Farbexperimenten schende Elend aufzuzeigen. Sie sind eine ge- Friederike Butter hat sich der eigentümlichen die naheliegenden „Schreibflächen“ wirkt die- und kommerzialisierter Street Art bietet uns zielte Form des politischen Protests, die die Aura des Pichação angenommen und mit der se Form der Provokation einladend. Inwiefern Friederike Butter einen eindrucksvollen Hin- Zustände in den Favelas und die Gräben, die Tristesse deutscher Fassadengestaltung kon- diese Form des öffentlichen Diskurses Poten- weis auf ein Stück visuelle Geschichte Bra- sich mit ihnen durch die Gesellschaft ziehen, frontiert. Die unverwechselbare Handschrift tial zur Adaption hat, bleibt an dieser Stelle siliens. Sie nähert sich dem Phänomen des sichtbar machen sollen. Abgesehen von An- bricht mit der vermeintlich glatten Oberfläche offen. Pichação und nutzt dessen einschlägiges erkennung, Sichtbarkeit und Adrenalin ist Wut durchschnittlicher Wohngebiete und mit der Potential, um aktuelle Fragen unserer Gesell- die wichtigste Motivation. Pichação ist ein An- Form der Gesellschaft, die diese repräsentie- schaft neu zu verhandeln. griff auf die Stadt und je heiliger der Ort, des- ren sollen. Sie stellt sich gegen die Ansprüche to attraktiver ist er als Ziel für die Protestak- der Öffentlichkeit und greift in die alltäglichen Pichação hat seinen Ursprung im São Paulo tion. Diese urbanen Zeichen erobern sich den Gewohnheiten visuell ein. Der Wunsch und der 1960er Jahre und verbreitet sich seither öffentlichen Raum durch ihre unübersehbare das Gefühl, dass alles seinen geregelten Platz sukzessiv in Brasiliens Großstädten. Als Vor- Präsenz zurück. hat, wird gestört. läufer gelten die Mauerparolen gegen die Militärdiktatur, die in Brasilien in den Jahren Dass die Aktionen selbstverständlich illegal Diese Arbeit soll in keinem Fall die prekären 1964 bis 1985 herrschte. Bezeichnend sind die sind, bringt durchaus eine aggressive Nuance Missstände der brasilianischen Bevölkerung in dunklen Farben aufgetragenen kryptischen mit sich. Allerdings stellen die spinnennetzar- mit der sozialen Ungerechtigkeit Deutsch- Schriftzüge, die in wenigen Minuten auf die tigen Schriftzüge eher eine symbolische Form lands gleichsetzen, vielmehr übernimmt die Fassaden und Mauern aufgetragen werden. der Gewalt dar. Es sind gesellschaftliche State- Künstlerin die Geste der Okkupation, um Die einzelnen Lettern sind in Höhe, Weite ments, die physische Gewalt in eine alternati- kontroverse Aussagen aus ihrem Umfeld zu und Abstand zueinander angepasst, wodurch ve und kreative Form der Auseinandersetzung hinterfragen. Es sind Entwürfe eines visuellen sie stimmig verformt erscheinen und im Bezug transformieren. lllegalität ist und bleibt der Protests; eine fiktive Sachbeschädigung, die zueinander stehen. Piche ist Portugiesisch für Preis und Garant für die Authentizität dieser die Schranke zwischen Publikum und Künstle- Ton oder Teer und bezieht sich auf die häufig Ausdrucksform. rin bricht und ein neues Kommunikationspor-
Friederike Butter 30 | 31 Verlagschefin Maseratifahrer Inkjet-Print auf Affichenpapier Inkjet-Print auf Affichenpapier 59,4 x 42 cm 59,4 x 42 cm 2018 2018
Teresa Ellinger 32 | 33 Jenny Mehlhorn Erinnerung und Wahrnehmung: Vom Sinn des Reisens Bruchstücke aus verschiedensten Quellen fin- literarische Gattung diente als eine Anleitung den in Danke für die Blumen zusammen. Das zum Verhalten auf Reisen sowie für Reflexio- A5-formatige Buch vereint Versatzstücke des nen mit dem Sinn des Erkundens. Während Reisens und ordnet die Texte und Bilder nach- das Reisen historisch hier als humanistische einander, übereinander und miteinander an. und reflektierende Praxis, die einen lehr- Zu sehen sind zahlreiche Abbildungen: graue, haften Part innehaben sollte, beschrieben nebelige Landschaftsfotografien, Bilder aus wird, steht dem die heutige Form des Reisens Zeitschriften, die Menschen im Urlaub abbil- gegenüber. Zuvorderst heißt Reisen heute zu- den und Schwarz-Weiß-Fotografien, die teils allererst Urlaub, Entspannung und Vergnügen geschwärzt sind. Die Texte werden aus Zeit- – meist durch einen strikt ausgearbeiteten schriften-Anzeigen und -ausschnitten, ein- Reiseplan organisiert und in Magazinen an- zelnen Seiten aus einer Apodemik und eige- geboten. Es bedeutet aber auch Finden, Sam- Ob das Resort nun in Ägypten, Brasilien oder einandersetzung mit dem Bild des*der beob- nen kurzen Textzeilen entworfen. Insgesamt meln und Erfahren. Thailand ist, mehr als den Weg vom Flughafen achtenden und konsumierenden Reisenden, erschafft die Künstlerin damit eine Collage, in das Hotel sieht der Urlaubsgast vom Land wenn es heißt: Die Fremde spricht, trotzdem welche die Wahrnehmung des*der Reisenden, Dies leitet zur zweiten Ebene über, welche be- meist nicht. Diesen Bildern begegnet das Werk spreche ich für sie über sie. die Reaktion auf das Fremde und auf etwas bildert und beschreibt, wie mit dem Äußeren mit Einschüben der Künstlerin: Fremd und Alles Neues in den Vordergrund stellt. Blättert man umgegangen wird und wie Orte wahrgenom- was ich euch zeige, bin vielmehr ich, als irgendet- Diese kritische Beobachtung öffnet eine letz- durch die Seiten, spürt und sieht man zudem men werden. Wegfahren bedeutet für den*die was anderes. steht im unteren Bereich der Seite te Ebene: Wie ordnet sich der*die Reisende die unterschiedlichen Materialien, die den Erholungssuchende*n Europäer*in vor allem gegenüber den Klischee-Bildern. Welche Per- selbst in sein Umfeld ein? Welche Sinnhaftig- Originalzustand der Quellen wiedergeben. eins: Sommer, Sonne, Badehose. Die geeignets- spektive die Worte einnehmen, kann der*die keit bezwecken wir mit der Flucht aus dem te Form stellt dabei seit Jahren der Cluburlaub Betrachtende selbst entscheiden, die Fremde Alltag? Diese Fragen stellen sich beim Durch- Mit dem Diskurs zur Erschließung von Frem- dar: alles ist durchgeplant, allinclusive und das des Ortes oder die Fremde des Touristen ste- blättern des Büchleins und leiten eine Selbst- dem und zugleich Neuem werden verschie- Hotel strandnah. Was dem Reiseziel nicht feh- hen dem zu Hause auf Zeit gegenüber. Zudem reflexion ein. Der*die Betrachtende reflektiert dene Ebenen der Betrachtung geöffnet. Zum len darf, sind bestes Strandwetter, Palmen und finden sich auch sensiblere Beobachtungen das eigene Reiseverhalten, jene*r kann vieles ersten fällt hier der historische Rückblick auf. ein entsprechendes Freizeitangebot. „Hauptsa- und Auseinandersetzungen mit besuchten sein: Sammler*in, Fotograf*in, Clubtourist*in, Die Apodemik als Form des Reiseberichts wur- che in den Süden“ lautet das Motto. Interesse Orten in den nebligen Landschaftsfotografien Wanderer*in oder auch Abenteuerwütige*r. de schon in der Frühen Neuzeit angewendet für Länder, Kulturen oder Austausch steht bei oder in Mitbringseln wie dem abgebildeten Aber irgendwie immer suchend nach dem und setzte sich bis in die Moderne fort. Diese dieser Form von Urlaub nicht im Vordergrund. Herbarium. Doch auch hier geschieht die Aus- Neuen und dem Weiten.
Teresa Ellinger 34 | 35 Danke für die Blumen verschiedene Papiere, Schraubbindung 144 x 202 mm 2019
Käthe Elter 36 | 37 Nina Fischäss In unserer täglichen Kommunikation nutzen starke Frau an die Spitze einer Bewegung und starke Gesten bestimmen ihre Figuren und sie konfrontiert. Auf einem Banner ist das Ge- wir sie unablässig. Sie sind Teil unserer Persön- gab ihr eine Stimme. ringen um die Frage nach dem was bleibt. Ein dicht zu lesen. Tritt man dahinter, findet man lichkeit und haben hohen Wiedererkennungs- Sehnen nach Ungebundenheit wird in den die feinen Zeichnungen. Die Beleuchtung wirft wert. Jeder Mensch nutzt sie auf ganz eigene In dem Gedicht Al menos flores, al menos can- melancholischen Blicken deutlich. Die ge- nunmehr die Schatten der Betrachter*innen Art und Weise – Gesten, Mimik, Worte. Teils tos… (dt. „Wenigstens Blumen, wenigstens senkten Köpfe und stark betonten, nieder- auf das Banner und lässt sie zum kurzzeitigen unbewusst, teils berechnend setzen wir die- Lieder“) formuliert Belli die Sehnsucht nach geschlagenen Augen verraten den Konflikt Teil des Kunstwerks werden. Sie selbst werden se Bausteine der Kommunikation ein, lassen Freiheit. Ein Wunsch, der das Streben nach im Inneren. Sie sind ganz bei sich, vertieft zu Symbolen der Vergänglichkeit. sie für uns arbeiten oder versuchen verzwei- körperlicher Freiheit übertrifft und sich Geis- in ihre eigenen Gedanken, in ihre Wünsche felt, sie zu unterdrücken. Im freien und un- tigem zuwendet: Dies mündet in einer Ge- und Hoffnungen, in denen sie zu schwim- gezwungenen Gespräch fangen unsere Hände lassenheit bezüglich eigener Handlungen und men scheinen. Die Freiheit, die ihre Figuren an Bilder in die Luft zu malen, unsere Augen ein Bewusstsein über Aktivität und blinden suchen, sieht immer anders aus. So sind auch weiten sich vor Aufregung, unsere Lippen for- Aktionismus. die dargestellten Gesten jedes Mal ein wenig men lang bekannte und altbewährte Worte. verschieden. Die Finger mal mehr, mal weniger Das macht uns als Menschen aus, zeigt unse- Al menos flores, al menos cantos… gespannt, gestreckt, zueinander gestellt oder re Persönlichkeit, lässt Rückschlüsse auf unser gebeugt, drücken sie den persönlichen Kampf Wesen zu. Quedará de nosotros der Gedanken aus. Von den meisten Händen algo más que el gesto o la palabra: sieht der Betrachter nur die Handrücken. Sie Es sind vor allem die Gesten, die in der Latein- Este deseo candente de libertad, bilden eine Grenze und schaffen einen inti- amerika-Serie von Käthe Sarah Elter in den esta intoxicación, men Raum für die dargestellten Personen und Vordergrund rücken. Ein Gedicht von Gia- se contagia. halten den Betrachter auf Distanz. Ihre Suche conda Belli, einer revolutionären nicaraguani- nach dem Selbst gleicht einem transzenden- schen Schriftstellerin, gab den Anstoß für ihre Von uns bleibt mehr ten Moment. Jenseits der sinnlich erfahrbaren Arbeiten. Im Rahmen des Aufstiegs der Sandi- Als Worte und Gesten: Welt forschen die Dargestellten nach höheren nisten unter Daniel Ortega, dessen Regierung Der glühende Wunsch nach Freiheit, Idealen – immer auf der Suche nach Freiheit? auf einen Bürgerkrieg im Land folgte, sollten ansteckende Sucht.1 auch die Frauenrechte im streng katholischen Präsentiert werden die Arbeiten in intimer At- Land gestärkt werden. Die revolutionären Ge- Elter verarbeitet ihre Assoziationen zum Ge- mosphäre. Wer Käthe Elters Werke betrachten 1 Belli, Gioconda: In der Farbe des Morgens: Gedichte, dichte Bellis feierten weitläufige Erfolge und dicht intuitiv in Tuschezeichnungen. Zarte möchte, wird zuerst mit dem zugrundeliegen- übs. v. Dieter Masuhr und Dagmar Ploetz, München wurden weltweit bekannt. Sie stellte sich als Gesichter, feingliedrige Hände und ausdrucks- den Gedicht in spanischer Originalsprache 2. Auflage 1993, S. 21.
Gioconda Belli Käthe Elter 38 | 39 Wenigstens Blumen, wenigstens Lieder Al menos flores, al menos cantos... Von uns bleibt mehr Quedará de nosotros als Worte oder Gesten: algo más que el gesto o la palabra: der glühende Wunsch nach Freiheit, Este deseo candente de libertad, ansteckende Sucht. esta intoxicación, se contagia. o.T. Tusche auf Papier je 40 x 30 cm 2018
Nadine Glas 40 | 41 Mirjam Glas Para Siempre Nadine Glas generiert in ihren aktuellen des lateinamerikanischen Städtebildes. Stark künstlerischen Arbeiten abstrakte Formen abstrahiert und vereinfacht veranschaulichen und Ordnungen aus gesammelten Objekten die Zeichnungen von Nadine Glas den Ein- und Geschichten. Ihre in der Ausstellung druck einer Draufsicht auf Ausschnitte von Mein Sehen bleibt physisch folgenlos. Find: 2k17 „Giga-Städten“ wie Rio de Janeiro oder São – LAM erstmals gezeigte Arbeit Para Siempre Paulo. Das skizzenhaft Stützende und Offene, (Für Immer) basiert auf der Suche nach Mus- das sich mit dem klar formulierten Geradli- tern in der Architektur lateinamerikanischer nigen abwechselt, bestimmt und reflektiert Großstädte. Die in ihren Zeichnungen ver- gleichzeitig die Fragilität der Zeichnung. wendeten Strukturen erstellt sie nach dem Vorbild indigener Webkunst. In sorgsam abgestuften Pastelltönen nimmt die Farbigkeit in Glas’ Arbeit Bezug auf die Para Siempre besteht aus einer Serie von zwölf entsättigte und dennoch bunte Erschei- Para Siempre (Serie), #01, Zeichnungen in hellen Holzrahmen, die in drei nung eines Stadtbildes von oben: Ein leichter Zeichnung, horizontalen Reihen à vier Bilder übereinander Dunstschleier liegt über Rio de Janeiro. Der diverse Materialien an einer Wand hängen. Die Wahl des kleinen Swimmingpool auf dem Dach spiegelt ein Glit- ca. 13,8 x 10 cm Formats ist weder unbedacht noch neutral. zern der untergehenden Sonne. Para Siempre auf Papier 29,7 x 21 cm Der Gigantomanie der gegenwärtigen Kunst spielt mit der Sehnsucht nach Struktur, dem (Rahmen 42 x 32 cm) zum Trotz wird die Darstellung der Megacity Wunsch, Gegensätzliches zu überwinden, 2019 hier reduziert auf den kleinstmöglichen Aus- insbesondere in der heutigen Zeit radikaler schnitt. Das kleine Format bietet als eine Art Umschwünge und Krisen mit ungewissem des Widerstandes die Möglichkeit, der Zeich- Ausgang. Die fragile Ordnung der Bildmotive Siempre! aufgreift, verbindet in seiner ein- nung einen Moment der Intimität zurückzu- paraphrasiert das Chaos angesichts politischer deutigen Mehrdeutigkeit die verschiedenen erobern. Der großzügige Weißraum, der die Brandstifter wie Jair Bolsonaro. Handlungsstränge der Bildausschnitte auf leicht über der Bildmitte platzierten Grafiken langfristige Sicht und bezieht sich daher als umgibt, bildet zugleich Schutzraum als auch Mithilfe einer eigens entwickelten narrativen übergeordnetes Prinzip auf alle fragmenta- einen Rahmen der Exposition, ähnlich einer Symbolik schafft Glas in ihren Zeichnungen risch dargestellten Einzelgeschichten. Bühne, auf der sich die Handlung abspielt. Die formale Querverweise und Verbindungsmo- vielförmige und wechselhafte Wirklichkeit mente zwischen unterschiedlichen Elemen- Derzeit beschränkt sich die Serie auf zwölf Bil- der Bildmotive findet Ausdruck durch diverse ten im Bildraum. Eine mögliche Interpretation der, die zwar jeweils als Momentaufnahmen Materialien wie Buntstift, Kreide oder Kugel- der Metaphorik, die sich im Zusammenspiel für sich alleine sprechen, aber in der kontex- schreiber auf unterschiedlich farbigem Papier. mit der parallel zur bildnerischen Gestaltung tuellen Vertiefung der seriellen Ausführung in Textform angelegten Poesie ergibt, ob- zum größtmöglichen Ausdruck gelangen, und Die sehr grafische Bildstruktur ergibt sich aus liegt der Betrachter*in. Der Titel der Arbeit bietet daher als offenes System die Möglich- Para Siempre (Serie) den architektonisch/mechanischen Vorbildern Para Siempre, der das revolutionäre ¡Hasta keit eines weiterführenden Ausbaus. Ausstellungsansicht, Skizze
Nadine Glas 42 | 43 Para Siempre (Serie), #07 Para Siempre (Serie), #12 Zeichnung, diverse Materialien Zeichnung, diverse Materialien ca. 13,8 x 10 cm ca. 13,8 x 10 cm auf Papier 29,7 x 21 cm auf Papier 29,7 x 21 cm (Rahmen 42 x 32 cm) (Rahmen 42 x 32 cm) 2019 2019
Viktoria Kurnicki 44 | 45 Luise von Nobbe Die Installation Import/Export besteht aus ungewöhnliche Verpackung lässt sie fremd eher an den Aufbau eines naturwissenschaft- Form neokolonialer Ausbeutung natürlicher zwei übereinander montierten Metallstan- und andersartig erscheinen, weshalb es für lichen Experiments als an eine klassische Ressourcen und menschlicher Arbeitskraft. gen, an denen verschiedenartige, unter Vaku- den*die Betrachter*in schwieriger ist, eine Skulpturenschau: auf Dekor wird verzichtet, Das Vakuum, in das Kurnicki die einzelnen um verpackte und in Plastik eingeschweißte persönliche Verbindung zum Objekt herzu- die Materialien sind funktional und die Ge- Objekte einschließt, kann paradoxerweise als Objekte hängen. Auf den ersten Blick lässt stellen. Zwar ist die Konfrontation mit ein- samtsituation steril. Bohnen, Metallplättchen Einladung zur Sensibilisierung für die realen sich zwischen Kabeln, Früchten und Pillen geschweißten Produkten etwas Alltägliches, und Holzklumpen sind professionell verpackt, Umstände der Rohstoffgewinnung, Verarbei- keine Gemeinsamkeit erkennen. Tatsächlich doch rechnet man damit eher im Supermarkt konserviert und in ein Schema eingereiht. Es tung und Distribution gelesen werden. lassen sich jedoch alle Objekte in den Ex- als in einem Ausstellungsraum für Kunst. Ob- könnte sich bei den Objekten durchaus um die und Importstatistiken1 zum Handel zwischen jekte, die man unter anderen Umständen ge- Proben eines Chemielabors oder die Beweis- Deutschland und den Nationen Lateiname- dankenlos ergreift, betastet und bearbeitet stücke eines Kommissariats handeln. rikas wiederfinden. Die obere Reihe der Ins- erscheinen plötzlich hochstilisiert als etwas tallation zeigt Ware, die Deutschland im Jahr Besonderes. Diese Art der Dekontextualisierung und Ent- 2017 in großen Mengen aus Lateinamerika fremdung von Objekten ermöglicht eine neue importierte: landwirtschaftliche Erzeugnisse, Das Bild der aufgehängten Objekte tauchte Sichtweise auf im Alltag unsichtbar Werden- Holz, Nahrungs- und Futtermittel. Die untere bereits in einer anderen Arbeit Kurnickis auf. des. Was selbstverständlich ist, wird oftmals Reihe steht sinnbildlich für die von Deutsch- Die Installation In Relation (2018) besteht im nicht mehr bewusst wahrgenommen und land nach Lateinamerika exportierte Ware: Kern aus einer Aluminiumstange, die an einer nimmt erst aus der Distanz betrachtet wieder chemische und pharmazeutische Produkte, Kette befestigt horizontal im Raum schwebt. Form an. Import/Export rückt jene gewöhnli- Maschinen, Fahrzeuge und Elektronik. Kurni- An ihren Enden sind in ungleicher Anzahl chen Objekte in den Fokus unserer Aufmerk- cki stellt die Handelsgüter gegenüber, bewer- dunkelfarbige Mäntel aufgehängt. Indem die samkeit und wirft Fragen auf: Woher kommt tet sie aber nicht. Künstlerin das Gewicht des allein hängenden die Ware? Wer hat sie produziert? Wieso steht Mantels mit Steinen in den Taschen manipu- sie mir scheinbar grenzenlos zur Verfügung? Stattdessen konzentriert sich die Künstlerin liert, stellt sie die Balance zwischen den bei- auf die Objekte an sich, deren Farbe, Form den Polen her. Diese Fragen lassen sich nicht ohne Blick auf und Struktur. Sie nimmt an ihnen kaum Be- die Kolonialisierung Lateinamerikas ab dem arbeitungen vor, sondern inszeniert sie in Auch Import/Export spielt mit der Schwerkraft, 16. Jahrhundert beantworten. Die damals ihrem Auffindungszustand. Im Angesicht der dem Schwingungsvermögen und der Kontakt- installierten Machtstrukturen und Unter- Schlichtheit des Dispositivs treten die einzel- losigkeit von Objekten im Verhältnis zu ihrer drückungsmechanismen schreiben sich auch nen Objekte optisch besonders hervor. Deren Umwelt. Die Ausstellungssituation erinnert heute noch auf vielen Ebenen fort – etwa in 1 Statistisches Bundesamt Wiesbaden, 2017
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