2K MEIN SEHEN BLEIBT - Qucosa

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DANKSAGUNG
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    Seit seiner Gründung durch Karin Armbruster,      gungstellen ihrer Werke; den Studierenden
    Eric Beier und Lucie Klysch im Frühjahr 2017      der TU Dresden und allen Mitarbeiter*innen
    bündelt das Forum 2k17 die Kompetenzen von        in unserem Netzwerk für das Verfassen der
    Kunsthistorikerinnen sowie Geistes-, Kultur-      Texte; Prof. Dr. Christoph Oliver Mayer, der in
    und Naturwissenschaftlern, um mit jungen          Zusammenarbeit mit dem Institut Regional-
    Kunstschaffenden einen gemeinsamen Dis-           wissenschaften Lateinamerika der TU Dres-
    kurs zu gestalten. Im Fokus stehen Texte,         den wertvollen Beistand geleistet und frucht-
    Publikationen im Printbereich, im Onlinebe-       bare Verbindungen geknüpft hat; Gwendolin
    reich vor allem im Rahmen der gemeinsam           Felicitas Kremer für die Organisation der Aus-
    erarbeiteten Website und gemeinsame Aus-          stellung in den Räumen der ALTANA-­Galerie;
    stellungen.                                       unserer Grafikdesignerin Sabine Wermann
                                                      für die geduldige, freundschaftliche Zusam-
    Eines unserer wichtigsten Anliegen ist es,        menarbeit am Katalog zur Ausstellung; Karin
    einen konstruktiven Austausch zwischen den        Armbruster für die Gestaltung, Einrichtung
    Institutionen und Studiengängen der Hoch-         und das pausenlose Aktualisieren der Web-
    schule für Bildende Künste und der Techni-        site und nicht zuletzt allen Förderern, die
    schen Universität Dresden anzuregen. Immer        unser Projekt mit finanziellen Mitteln unter-
    wieder erscheint uns die Verbindung von Wis-      stützt haben: dem Freundeskreis der Kunst-
    senschaft und Bildender Kunst in Dresden als      hochschule, dem Studentenwerk , dem
    ein zu großen Teilen ungenutztes Potential –      Netz­werk Kreativ und dem STURA der HfBK
    das wollen wir ändern.                            Dresden. Einen ganz besonderen Dank auch
                                                      an Prof. Dr. Wolfgang Ullrich, der sich bereit
    Diese immer wieder angestrebte Kooperation        erklärt hat ein Vorwort für unseren Katalog
    ist eine der spannendsten Entwicklungen in        zu schreiben und dessen Vorträge und Semi-
    der Bildenden Kunst der Gegenwart. Wir            nare an der HfBK Dresden viele Studierende
    möchten diese Entwicklung vorantreiben und        begeistert und inspiriert haben.
    Aktivitäten in diesem Bereich mit aller Kraft
    unterstützen.

    Ein erster Schritt ist diese gemeinsam erarbei-
    tete Veröffentlichung, die nur dank zahlrei-
    cher Unterstützer zustande kommen konnte.

    Dank gebührt vor allem den Studierenden
    der HfBK Dresden sowie allen mitwirkenden,
    freien Kunstschaffenden für das Zurverfü-                                    Das Team von 2k17
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Vorwort                                                                                                      Lateinamerika – von Dresden
                                                                                                                                                                                                                      4|5

                                                                                                             aus gedacht

                                                                                                                  Prof. Dr. Christoph Oliver Mayer
    Prof. Dr. Wolfgang Ullrich                                                                                    Regionalwissenschaften Lateinamerika / TU Dresden

    In der Moderne ist es üblich geworden, einen         fessionalisierung des jeweiligen Blicks. Dadurch         Lateinamerika, das so heißt, weil es sich, un-   hat wohl gegen den Willen seiner Macher eher
    spezifischen Blick als das anzusehen, was            aber ist das, was entsteht, auch nie nur Kunst           abhängig von der spanischen, portugiesischen     eine Glorifizierung der Peronistin bewirkt und
    Künstler*innen von anderen Menschen unter-           als Kunst. Vielmehr definieren gute Arbeiten             oder auch französischen kolonialen Vergan-       es schert kaum jemanden, dass direkt nach
    scheidet. Da das Auge stellvertretend für den        neue Formate oder erschließen Themen und                 genheit, im 19. Jahrhundert nach Frankreich      Deutschland reichende Politskandale wie der
    Intellekt steht, wird Kunst damit aber auch als      Erfahrungen auf eine Weise, die über bisher              und den Idealen der Französischen Revoluti-      um die Colonia Dignidad in Chile trotz jüngs-
    Art von Erkenntnis definiert. Die Exzellenz de-      Bekanntes hinausreicht. Wichtig ist dabei, dass          on orientierte, ist ein Paradoxon in sich. Man   ter cineastischer Inszenierung alles andere
    rer, die Kunst machen, besteht darin, Interes-       die Künstler*innen wissen, was sie im Unter-             könnte auch sagen: ein (Doppel-)Kontinent        als aufgearbeitet sind. Faszination geht dabei
    santeres zu finden und Vorhandenes subtiler zu       schied zu Vertreter*innen anderer Disziplinen            der Gegensätze: Zivilisation und Barbarei,       einher mit dem berechtigten Interesse an
    verwenden als andere.                                auszeichnet. Es sollte ihnen immer bewusst               Emanzipation und Machismo, extreme linke         der Widersprüchlichkeit, die verschwundene,
                                                         sein, wie sie Sujets, die genauso die Sache von          Utopien und grausamste rechte Militärdik-        verschleppte und gefolterte Mexikaner*innen
    Sofern Künstler*innen eigenständige Sehwei-          Wissenschaftler*innen, Journalist*innen oder             taturen, übermäßiger Reichtum und schreck-       genauso auslösen wie das unberechenbare
    sen entwickeln und Erkenntnisse produzieren,         Dokumentarfilmer*innen sind, auf ihre spezi-             liche Armut lassen sich allesamt mit Latein-     Wahlverhalten von Venezuela bis Brasilien.
    liegt es nahe, sie auch in einer Affinität zu Wis-   fische Art und Weise in Szene setzen können.             amerika identifizieren und begründen auch
    senschaftler*innen – Ethnolog*innen, Anthro-                                                                  heute noch das Interesse an dieser Region, in    Zur lateinamerikanischen Kunst fällt sicher
    polog*innen, Psycholog*innen – zu sehen, die         Gegenüber Rezipient*innen ist entsprechend               der fast 600 Millionen Menschen auf 20 Mil-      den allermeisten als erstes (und vielleicht ein-
    ebenfalls auf der Basis von Beobachtungen und        der Appell zu formulieren, Kunst ihrerseits nie          lionen Quadratkilometern leben.                  ziges) die Mexikanerin Frida Kahlo ein. Viel-
    Daten arbeiten. Andererseits ähnelt ihr Vor-         nur als Kunst zu würdigen, sondern auch in                                                                leicht weiß die eine oder der andere auch, dass
    gehen dem von Kurator*innen, die genauso             dem wahrzunehmen, was die Werke über eine                Das deutsche Lateinamerikabild hat sich in       die dominierende literarische Strömung des
    einzelne Themen in Szene setzen. In der An-          Beschäftigung mit dem eigenen Kunst-Sein hi-             den letzten 30 Jahren allerdings stark gewan-    Magischen Realismus ihr Vorbild in der euro-
    näherung an diese beiden Berufsfelder drohen         naus bieten. Ihre Erschließungsleistung – und            delt. War man noch in den 1980er Jahren in       päischen Kunst hatte oder dass zahlreiche ita-
    Künstler*innen jedoch nicht nur verwechsel-          damit jener spezifische Blick der Künstler*innen         West wie Ost beseelt, den dort vermuteten        lienische Bildhauer und Architekten die ersten
    bar zu werden, sondern laufen auch Gefahr,           – sollte im Mittelpunkt stehen, egal ob es sich          Armen, Schwachen und Unterdrückten zu            Jahrhunderte der lateinamerikanischen Kunst,
    die Grenzen ihrer Begabung oder Kompetenz            dabei um ein formales Phänomen, ein soziolo-             helfen, entwickelte sich zuletzt immer mehr      andere wie v. a. der Brasilianer Oscar Niemeyer
    zu überschreiten. Umso wichtiger sind Metho-         gisches oder politisches Sujet oder eine spezifi-        ein Abenteuertourismus, der stets auch einen     die Weltkultur entscheidend geprägt haben.
    denbewusstsein und Zusammenhangswissen,              sche Stimmung handelt. Ein wesentliches Krite-           Hauch von so zu Hause nicht mehr spürba-         Der deutsche, lokale Blick von Künstlerinnen
    damit ihre Arbeit nicht unfreiwillig dilettantisch   rium von Kunst ist es dann, ob sich ausgehend            rer Gefahren, Ursprünglichkeit und Exotik        und Künstlern auf den Kontinent bzw. die
    oder unklar erscheint.                               von einem Werk eine Diskussion entwickeln                atmet. Anlässlich der Olympischen Spiele in      Interpretation ihrer Artefakte durch Studie-
                                                         lässt, in deren Verlauf es gar nicht mehr um             Rio de Janeiro vermutete die deutsche Pres-      rende der Kunstgeschichte und Philologie
    Gerade wenn der Blick das Zentrum der Bega-          die Frage nach dem Kunsthaften dieses Werks              se stümperhaften Dilettantismus in Bau und       leitet sich jedoch nicht zwangsläufig aus den
    bung sein soll, muss er eigens ausgebildet wer-      geht. Das tritt vielmehr nur indirekt, als Quelle        Organisation und so manche Universität führt     etablierten Bahnen direkter (künstlerischer)
    den. Das ist die Aufgabe der Kunsthochschulen.       von Gedanken oder als Garant einer gewissen              selbst ein G20-Land wie Argentinien heute        Rezeptionsbezüge ab. Vielmehr sind die Asso-
    Vor allem aber wird es bei selbstorganisierten       Konzentration, in Erscheinung. Dafür wird die            noch unter den Entwicklungsländern. Der          ziationen, Stimmungen, Nachrichtenfetzen,
    Projekten wie 2k17 geübt, deren Bedeutung da-        oft beschworene Unerschöpflichkeit der Kunst             Tod von Fidel Castro hat dem Mythos Kuba         Stereotype und Vorstellungen, aber auch eige-
    her kaum zu überschätzen ist. Allein durch die       daran erfahrbar, dass ein Nachdenken über ein            bis dato ebenso wenig anhaben können wie         ne Eindrücke wegweisend. Maradonna, Pablo
    Wahl eines gemeinsamen Sujets – hier: Latein-        Werk kein schnelles Ende findet und doch nicht           die biographischen Enthüllungen der Vergött-     Escobar oder Shakira tragen dazu genauso
    amerika – kommt es zu einer Schulung und Pro-        vom Thema abkommt.                                       lichung von Che Guevara. Das Musical Evita       bei wie kolumbianischer Kaffee, argentini-
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Lateinamerika – von Dresden aus gedacht            6|7

sches Rindfleisch und kubanischer Rum. Der        soweit die kulturwissenschaftliche Theorie,         ren, mit Geno- und Feminoziden schockieren        lateinamerikanischen Christentums, dessen
Kontakt zwischen Studierenden, die studien-       zugleich als produktive Matrix für jede Form        oder die Alterität der Landschaften enthüllen,    Statuen und Kultstätten die Zugehörigkeit zu
begleitend eine regionalspezifische Zusatz-       von Kreativität und Kunst, indem es, folgt          erinnern uns die hier gezeigten Bilder durch-     unserer Welt demonstrieren und diese gleich-
qualifikation Regionalstudien Lateinamerika       man hierbei dem französischen Schriftsteller        aus genauso an das Vertraute bzw. Vertraut-       zeitig aufgrund ihrer Andersartigkeit auch
mit dezidiert kulturwissenschaftlicher Aus-       Georges Bataille, die beiden Extremformen           gewordene. Waren Kartoffeln, Mais, Tomaten        unterwandern. So manche positive Entwick-
richtung und sprachlicher Vertiefung gewählt      Ekstase und Exzess entfaltet.                       und Ananas oder wie es eines der Kunstwerke       lung Europas scheint in Lateinamerika nicht
haben, ihrerseits schon bereits Erfahrungen                                                           zeigt: Südfrüchte und Kaffee nicht ursprüng-      angekommen zu sein. Was aber durchaus dem
in Lateinamerika gesammelt haben oder die-        Ein Überschuss an Aktionsradius, ein Über-          lich Produkte dieser neuen Welt so wie es         Kontinent auch zum Vorteil gereicht.
se für ihre berufliche Zukunft als zielführend    schreiten von Grenzen und ein ungehöriges           heute Batterien und Medikamente sind? Ist
ansehen, und den bereits im Studium produk-       Ignorieren der Norm inszenieren folglich            nicht jegliches ökologische Thema ein genuin      Die hier im Katalog abgebildete Ausstellung ist
tiv künstlerisch Schaffenden nuanciert diese      auch einige der Kunstwerke. Lateinamerika           lateinamerikanisches und das Grau die Farbe       aus einem gemeinsamen Projekt erwachsen,
Blickrichtung zusätzlich. Diese Einflüsse wie-    erscheint als Ort der Mythen und Legenden,          der Verdinglichung der Welt, der Rauch ein        innerhalb dessen Studierende der TU Dresden
derum lassen sich jedoch verdichten in mal        der Urlandschaft und der menschengemach-            Zeichen für die Vergeudung von Rohstoffen?        und der HfBK Dresden zu einem gemeinsa-
mehr und mal weniger kanonische Rezep-            ten Gewalt. Es ist der Kontinent, der entdeckt                                                        men Themenfokus ins Gespräch gekommen
tionsmodi.                                        und erobert werden konnte – wofür der Name          Präsentiert bekommen wir nicht nur atavis-        sind. Dass das wissenschaftliche Nachdenken
                                                  Christoph Kolumbus gleichsam symptoma-              tische Sexualität, tropische Landschaft in        über den Gegenstand und das künstlerische
Kehren wir also zunächst zurück zum Gegen-        tisch steht –, aber zugleich auch diejenige         ihrer Ursprünglichkeit wie in ihrer Ausbeu-       Produzieren per se unterschiedlich sind, war
satzpaar der Extreme, das den Kontinent so        Gegend der Welt, die sich am eifrigsten selbst      tung, sondern auch Schokolade, wie sie sich       von vornherein nicht in Abrede gestellt wor-
nachhaltig prägt. Sei es nun politisch – von      in die Tradition der Französischen Revolution       aus dem Alufolienmantel gleichsam lasziv          den. Die hier versammelten Ergebnisse sind
weit links (mit Figuren wie Castro, Chávez,       (inklusive ihrer Symbolik der Trikolore) gestellt   befreit. Wo die Schokolade zugleich zum Ab-       aber ungesteuerte Produkte eines impliziten
Morales oder Lula) bis weit rechts (mit Pro-      hat, jedoch genauso den US-amerikanischen           bild des Süßen wie zumindest für die Ideal-       Ausagierens, innerhalb dessen Lerneffekte
tagonisten wie Trujillo, Perón, Stroessner,       Medienkonsum exzessiv verinnerlicht. Post-          figur Gefährlichen wird, wo sie eine eigen-       gerade auch im menschlichen Miteinander
Pinochet, Fujimori oder Temer und zuletzt         moderne Architektur kann in ein und dersel-         ständige Urheit genauso verkörpert wie den        entstanden, die dezidiert nicht abbildbar sind.
Bolsonaro) –, geographisch – vom tropischen       ben Gesellschaft einhergehen mit evangelikal        Konsumismus westlicher Gesellschaften, wird       Interkulturelles Lernen im engeren Sinn kann
Regenwald bis zur Atacamawüste, von den           verklärter Ewiggestrigkeit. Menschen werden         sie zur Materialisierung des überbordenden        auch nur so stattfinden.
Anden bis zur Karibik – oder gesellschaft-        aufgesaugt, kommerzialisiert und verbraucht
lich – von der Mehrfachehe in Kolumbien bis       – sie verschwinden wie in einem Müsli. Le-
zum Abtreibungsverbot in Argentinien, vom         gendär ist der Schönheitskult genauso wie die
Verzicht auf Militär in Costa Rica bis zur Aus-   geschlechtliche Unersättlichkeit.
rufung eines Nationalfeiertags zu Ehren der
Fußball-WM-Qualifikation in Panamá, von           Andererseits verblüfft dann aber auch nicht,
der Legalisierung von Cannabis in Uruguay         wie andere Kunstwerke die Normalität in den
bis zum Protest gegen das Verbot der Kin-         Kontinent Lateinamerika zurückholen. Wäh-
derarbeit in Bolivien: Lateinamerika kennt        rend herkömmliche Ausstellungen oft nur
Extreme und diese faszinieren im positiven        die Extreme in Szene setzen, indigene Kult-
wie negativen Sinn. Dieses Faszinosum wirkt,      objekte als anti-eurozentristisch präsentie-
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Karin Armbruster
                                                                                                                                                                                                        8|9

     Lucie Klysch

     Wild gestikulieren die Figuren über die Bild-     tole, die er symbolisch abdrückt. Seine Lust     frontieren uns Karin Armbrusters Bilder mit    und die sich kaum davon abhebende Kleidung
     fläche. Mit heftigem Schwung drängen sich         an Provokation ist unvergleichlich. Er hetzt     vereinnahmenden Gefühlswallungen, die uns      der Figuren sind der Beweis, dass Körper-
     verfremdete Extremitäten vor unser Auge           gegen Minderheiten, hält Folter für harmlos      entweder mitreißen oder abstoßen. Für die      sprache unabhängig von gesprochener Spra-
     und drohen den Bildraum zu durchbrechen.          und Hitler für einen glorreichen Strategen.      einen sind sie faszinierend und motivierend,   che und ihrer Umgebung eine enorme Kraft
     Unser Fokus springt vom Hintergrund zum           Und alle Welt fragt sich: Wie konnte es soweit   für die anderen Abbild einer Bedrohung. Wir    entwickeln kann. In diesem Moment müssen
     Vordergrund, changiert zwischen scharf und        kommen, dass ein solcher Extremist das fünft-    wissen nicht, wer die porträtierten Personen   wir selbstständig entscheiden, ob wir einen
     verschwommen, zielt auf das Gesicht, dann         größte Land der Erde regiert? Wie schon vie-     sind. Sie geben zu wenig preis, um Vertrauen   Schritt näher oder einen Schritt zurück gehen,
     schnell wieder auf die Hände — aus Angst,         len fragwürdigen Führungspersönlichkeiten        oder Misstrauen hervorzurufen. Dennoch er-     bevor wir uns dem Bann hingeben.
     dass sie uns zu nah kommen könnten.               Lateinamerikas gelang es auch Bolsonaro, in      kennen wir ihre ambivalente Interaktion mit
                                                       kürzester Zeit eine riesige Masse von Anhän-     dem Publikum. Der monochrome Hintergrund
     Die Sichtbarmachung von körperlichen Emo-         gern um sich zu scharen. Das verrät viel über
     tionen und das Nachspüren von Körperspra-         den Zustand einer Gesellschaft. Die Sehnsucht
     che bilden den Mittelpunkt der Serie Vertigo      der brasilianischen Bevölkerung nach einer
     von Karin Armbruster. Weniger was wir sehen,      harten führenden Hand, nach einer Kraft, die
     sondern was wir spüren wird zum Bild. Damit       das in einem Korruptionssumpf und Gewalt
     zeigt uns die Künstlerin jenen Moment, in         versinkende Land aus seiner Misere heraus-
     dem Unberechenbarkeit Gestalt annimmt.            führt, war offenbar größer als alle Bedenken
                                                       vor einer erneuten Militärherrschaft und
     Die Porträts basieren auf dem gründlichen         ihren augenscheinlich folgenden demokratie-
     Studium der Realität. Durch die sensible Be-      feindlichen, diskriminierenden und isolieren-
     obachtung individueller und polarisierender       den Symptomen. Die Stimmung im Land ist
     Aktionen einer einzelnen Person visualisiert      aggressiv wie nie. Wie kann jemand Hoffnung
     Vertigo ein Phänomen, das ganze Nationen          vermitteln, der radikale Zerstörung prophe-
     spaltet. Jair Bolsonaro ist seit 1. Januar 2019   zeit? Durch bewusstes Polarisieren stehen sich
     Brasiliens neuer Präsident. Die Lieblingsgeste    Begeisterung und Verzweiflung, Hoffnung und
     des ultrarechten Staatsoberhauptes ist die        Wut, Sympathie und Aversion kämpferisch
     aus Daumen und Zeigefinger geformte Pis-          gegenüber. Abseits jeder Schuldfrage kon-
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Karin Armbruster      10 | 11

        Vertígo (5)
   Öl auf Leinwand
      170 x 100 cm
              2019
2K MEIN SEHEN BLEIBT - Qucosa
Gyde Becker
                                                                                                                                                                                                                               12 | 13

     Maxi Elisabeth Wollner

     Wie wird Geschichte vermittelt und an wel-      Tag in „Día de la Resistencia Indígena“ – „Tag
     cher Stelle entsteht ein eindimensional ver-    des Indigenen Widerstands“ – umbenannt. In
     breitetes oder gar verfälschtes Geschichts-     Argentinien steht er als „Tag des Respektes vor
     bild? Nimmt man die Persönlichkeit Christoph    der kulturellen Verschiedenheit“ im Kalender,
     Kolumbus als Beispiel, so assoziiert man mit    in Bolivien als „Tag der Entkolonialisierung“.
     dem italienischen Seefahrer schnell einen       Ecuador feiert einen „Tag der Interkulturalität“
     mutigen und tollkühnen Abenteurer, der auf      und Chile den „Tag der Entdeckung der zwei
     seiner Schiffsreise nach Indien zufällig Ame-   Welten“.
     rika entdeckte.                                                                                                                                                                                         C.C. covered II
                                                     Gyde Beckers Arbeit C.C. covered II zeigt ein                                                                                                                Fotografie
     Kolumbus, unterwegs im Dienst der spani-        auf der Grundlage eines amerikanischen                                                                                                                     50 x 90 cm
     schen Krone, kam laut Geschichtsschreibung      TV-Nachrichten-Beitrages entstandenes Bild                                                                                                                        2018
     am 12. Oktober 1492 in der „Neuen Welt“         einer in weißer Folie vermummten Statue in
     an. Ihm zu Ehren gilt dieses Datum in den       Los Angeles. Hierbei handelt es sich um eines
     USA und Kanada als staatlicher Feiertag, als    der Denkmäler, welche im 19. Jahrhundert in        Kolumbus durch einen amerikanischen Nach-         Mit ihrer künstlerischen Auseinandersetzung
     „Columbus Day“, bei welchem jährlich dieses     einem regelrechten Kult um den „Entdecker“         richtensprecher. Geradezu karikiert wird diese    zur Thematik „Lateinamerika“ zeigt Gyde Be-
     geschichtliche Großereignis zelebriert wird.    und Nationalhelden Amerikas aufgestellt wur-       einseitige Berichterstattung durch ein daran      cker frei von Wertung auf, dass die Problema-
     Viele Menschen jedoch, insbesondere in La-      den. Der*die Betrachter*in wird Zeuge einer        anschließendes heiter beschwingliches Lied        tik im Umgang mit Geschichte durchaus tief-
     teinamerika, sehen Kolumbus mitnichten als      der Folgen der derzeitigen Debatte über den        über den Nationalhelden in Form einer Kara-       greifender verwurzelt ist als es die Existenz
     ihren Nationalhelden an. Sie erinnert dieser    Umgang mit dem kolonialen Erbe. Durch jah-         okeversion. Der Songtext wird indessen mit        von Feiertagen, Denkmälern, Statuen oder
     Feiertag an eine brutale Eroberungsgeschich-    relange Proteste von Ureinwohnern entfacht,        unterschiedlichen Sequenzen aus Film- und         Straßennamen, die an zwiespältige Personen
     te und den Beginn der kolonialen Unterdrü-      ließ man die umstrittene Statue schlussend-        TV-Beiträgen visuell unterlegt, in denen die      der Historie erinnern, vermuten lässt. Einseiti-
     ckung der indigenen Bevölkerung.                lich aus dem Stadtbild entfernen.                  divergente Auffassung von vermeintlich he-        ge Darstellungen sowie geschichtliche Verklä-
                                                                                                        roischen Ereignissen der Geschichte verdeut-      rungen finden sich nicht nur im öffentlichen
     Für die indigenen Minderheiten in Lateiname-    Simultan zu C.C. covered II findet sich inner-     licht wird: von Trickfilm über Blockbuster, von   Raum wie etwa im Stadtbild wieder, sondern
     rika hat der umstrittene Feiertag daher einen   halb der Ausstellung die Videoarbeit C.C. co-      Nachrichtenausschnitten zu den Feierlichkei-      werden darüber hinaus sehr wirksam im mei-
     hohen Symbolcharakter. Auch sie feiern ihn      vered I. Dieser 1:42 Minuten lange Videoloop       ten des „Columbus Day“ samt Miss Columbus         nungsbildenden medienkulturellen Bereich
     nach wie vor – aber unter anderen Vorzei-       beginnt mit der Auflistung all der heldenhaf-      auf einem der Festwagen bis hin zur Abnahme       durch Film und Fernsehproduktionen vermit-
     chen. So wurde 2002 in Venezuela besagter       ten Leistungen und Qualitäten des Christoph        eine der zahlreichen Statuen.                     telt und aufrechterhalten.
2K MEIN SEHEN BLEIBT - Qucosa
Gyde Becker      14 | 15

           C.C. covered I
1-Kanal-Videoinstallation
                 1:42 min
                     2018
2K MEIN SEHEN BLEIBT - Qucosa
Eric Beier
                                                                                                                                                                                                                    16 | 17

      Luise von Nobbe

      Europa, Tricolore und Cyborg-Codex-ALDI sind       Indem Beier die Fragmente von Mann, Frau          Merkmale zu separieren und skizziert ein          mit der gegenwärtigen, primär durch den
      Teil der im Herbst 2017 von Eric Beier be-         und Rollstuhlfahrer*in verbindet, setzt er sie    Weltbild, das sich nicht auf Differenz, sondern   Handel geprägten Beziehung von Europa und
      gonnenen Werkserie Cyborg Playground. Den          miteinander gleich und postuliert die gesell-     auf Vielfalt stützt.                              Lateinamerika. Wie schon in der Auseinan-
      konzeptuellen Ausgangspunkt bilden drei            schaftliche Gemachtheit bestimmter Men-                                                             dersetzung mit dem Verhältnis von Mensch
      standardisierte Piktogramme, die sich auf          schentypen. Die Willkürlichkeit seines Zei-       Über das A Cyborg-Manifesto hinaus beziehen       und Technik, erkennt er hier eine Form der
      das Geschlecht oder den Behindertenstatus          chensystems überträgt sich im Vergleich auch      sich Europa, Tricolore und Cyborg-Codex-ALDI      Abhängigkeit. Ohne Zulieferer aus Mexiko,
      eines Menschen beziehen: Mann, Frau und            auf die standardisierten Piktogramme: Warum       auf ein konkretes kulturhistorisches Objekt,      Kolumbien oder Guatemala könnte die euro-
      Rollstuhlfahrer*in. Beier zerlegt die ordnen-      müssen es gerade Geschlecht, Behinderung          den sogenannten Codex Dresdensis. Anders          päische Bevölkerung ihren gewohnten Le-
      den Symbole in ihre Einzelteile und setzt sie      oder andere gesellschaftlich stigmatisierte       als der heutige Titel suggeriert, handelt es      bensstandard nicht aufrechterhalten. Dass für
      in Verwendung unterschiedlicher Techniken,         Körpermerkmale sein, die einen Menschen           sich dabei um einen vermutlich aus dem 13.        diese Art der ökonomischen Zusammenarbeit
      Materialien und Dispositive neu zusammen.          definieren?                                       Jahrhundert stammenden Maya-Kalender,             ganze Regionen und Völker Lateinamerikas
      Resultat ist ein hieroglyphenartiges Zeichen-                                                        der im Zuge der spanischen Conquista im 16.       ausgebeutet werden, ist im Angesicht der im
      system, das, aus 29 Elementen bestehend,           There is no drive in cyborgs to produce total     Jahrhundert von Lateinamerika nach Europa         Supermarkt aufgereihten Produkte nur noch
      sowohl das lateinische Alphabet in neufigu-        theory, but there is an intimate experience of    gelangte. Als eines von wenigen Schriftstü-       schwer erkennbar.
      rierter Form als auch die drei ursprünglichen      boundaries, their construction and deconstruc-    cken überlebte der Kalender die öffentliche       Die Fusion von Organismen – Mensch, Ma-
      Piktogramme – ersetzt durch Fragezeichen,          tion. There is a myth system waiting to become    Verbrennung indigener Literatur, Kunst- und       schine, Staat – lässt Gesellschaftsstrukturen
      Punkt und Komma – enthält.                         a political language to ground one way of loo-    Kultobjekte unter Anordnung des Bischofs          immer komplexer und unübersichtlicher er-
      Mit dem Titel der Werkserie stellt Beier einen     king at science and technology and challenging    Diego da Landas 1562 in Yucatán (Mexiko).         scheinen. Nicht von Diskriminierung betrof-
      Bezug zu dem erstmalig 1985 erschienenen A         the informatics of domination - in order to act   Während die indigene Bevölkerung Latein-          fene Menschen vergessen oder ignorieren die
      Cyborg Manifesto von Donna Haraway1 her. In        potently. 2                                       amerikas massenweise unterdrückt, ausge-          alltäglichen Schwierigkeiten von Minderhei-
      ihrem Aufsatz setzt sich die Autorin mit gesell-                                                     beutet und ermordet wurde, gelangte der           ten. Beier erinnert daran, dass die Gesellschaft
      schaftlichen und politischen Konsequenzen der      Aus Beiers Beschäftigung mit dem techni-          Kalender über Umwege nach Dresden, wo er          aus einem einzigen zusammenhängendem Ge-
      Verschmelzung von Organismen und Maschi-           schen Fortschritt, der Reproduzierbarkeit und     sich heute im Buchmuseum der Sächsischen          füge besteht und jede*r zu dessen Aufrecht-
      nen im biokybernetischen Zeitalter auseinan-       Objektivierung des Menschen geht eine Uto-        Landesbibliothek, Staats- und Universitätsbib-    erhaltung oder Dekonstruktion beiträgt.
      der. Beier konzentriert sich auf das Piktogramm    pie hervor: Der Cyborg Playground versinnbild-    liothek (SLUB) befindet. Beier greift die Optik
      des*der Rollstuhlfahrer*in, das stellvertretend    licht die Überwindung sozialer Grenzen, Inte-     des Codex auf und gleicht sein Zeichensystem
      für verschiedene Formen körperlicher Behinde-      gration und Gemeinschaft. Mann, Frau und          der im zweiten Jahrhundert v. Chr. entstan-
      rungen steht und eine Art Fusion von Mensch        Rollstuhlfahrer*in werden in dekonstruierter      denen Maya-Schrift an. Die Einzelteile von
      und technischem Apparat darstellt. Obwohl die      Form zu etwas Unbestimmtem und Gleich-            Mann, Frau und Rollstuhlfahrer*in ersetzen die
      medizinische Versorgung von körperlich Einge-      rangigem, das keine Geschichte und keine          Darstellungen von Gottheiten und Anleitun-
      schränkten heute oft nicht weniger bindend ist     Ecke zum Abstellen besitzt. Ein ähnlicher Pro-    gen zu religiösen Ritualen.
      als die allgemeine Abhängigkeit von Zulieferern    zess der Dekonstruktion lässt sich unter ande-    Die Entschlüsselung von Beiers Arbeiten führt     1
                                                                                                                                                                 Das Original erschien als Haraway, Donna:
      wie dem Lebensmittelvertreiber, dem Energie-       rem auch mit den klischeebesetzten Bildern        zu Preislisten von Produkten, die der Lebens-         „Manifesto for Cyborgs. Science, Technology, and
      versorger oder dem Handyanbieter, nehmen           von People of Color oder LGBTQ-Menschen           mittel-Discounter ALDI aus Lateinamerika              Socialist Feminism in the 1980‘s“,
      behinderte Menschen nach wie vor oft einen         denken. Beier hinterfragt prinzipiell die Not-    bezieht: Schokolade, Kaffee, Zucker usw. Der          in: Socialist Review 80 (1985), S. 65 – 108.
      Sonderstatus ein.                                  wendigkeit, Menschen aufgrund bestimmter          Künstler konfrontiert den*die Betrachter*in       2
                                                                                                                                                                 Ebd., S. 98.
Eric Beier   18 | 19

           Tricolore             Cyborg Codex-ALDI
Acryl auf Leinwand     Wasserfarben auf Antikpapyrus
      200 x 150 cm                     ca. 35 x 45 cm
               2018                              2019
Anne-Cathrin Brenner
                                                                                                                                                                                                             20 | 21

     Maren Marzilger

     Anne-Cathrin Brenner gewährt dem*der Be-          Hintergrund einen Kosmos aufspannen, in              findet. Feine Linien erfordern vollkommene        lich im Moment gefangen ist der Mensch im
     trachter*in einen fast schon intimen Einblick     dem es Zusammenhänge zu finden gilt. In              Konzentration, Präzision. Auf einer Grundie-      Jaguarkostüm, die Polarität der menschlichen
     in ihre Perspektive. Sie erzählt Geschichten in   dem Werk Menschenmüsli werden wir mit                rung aus Pigmenten, Eigelb und Leim „oxi-         Doppelnatur faszinierend betrachtend, sich
     Momentaufnahmen, ohne aber moralische             einer Figur konfrontiert, die eine Schale mit        dieren“ zarte graue Linien zu einem Braun-        vielleicht findend.
     Wertungen abzugeben. Selbsterkenntnis und         zahlreichen Köpfen bzw. Menschen im Arm              schwarz, Flächen entstehen durch Schraffur,
     Selbstreflektion bestimmen dabei die Bild-        festhält und auf einer Tischplatte an sich           Fehler bleiben stehen – die Suche nach dem        Auf ihrer Suche nach dem Selbst lässt Anne-­
     inhalte. Der eigene Erkenntnisprozess, der        zieht. Eine Schale, in der sich ein Konglomerat      Selbst nimmt intimere Formen an. Auf dem          Cathrin Brenner uns teilhaben, öffnet eine
     bisher von Philosophen wie Leibniz geprägt        aus Erfahrungen befindet. Erfahrungen in der         Blatt Jaguar im Karneval begegnen dem*der         narrative Welt, zwingt den Betrachter zum
     war, wird mehr und mehr von Ansätzen der          Auseinandersetzung mit anderen Menschen,             Betrachter*in drei Figuren. Nicht nur der Ti-     Innehalten und fordert die Auseinanderset-
     andinen Philosophie begleitet – aus dem Indi-     welche die Künstlerin bei der Frage nach der         tel, sondern auch die bewusste Verschränkung      zung ein.
     viduum wird ein kollektives Subjekt.              eigenen Identität begleiten. Ein Mensch ist          der Bildinhalte identifizieren den Jaguar, den
                                                       er /sie nur dann, wenn er sich mit anderen in        Räuber und chthonisches Wesen, als Protago-
     Anders als bei der abendländischen Philoso-       Beziehung setzt.                                     nisten. Aus dem weit aufgerissen Maul schaut
     phie stehen bei der sich in den Anden ent-                                                             ein menschliches Gesicht auf einen weibli-
     wickelten Denktradition die Beziehung zuein-      In ihrer Malerei ist es der direkte Dialog mit       chen Zentauren, der vorsichtig in der Hand-
     ander und zu den uns umgebenden Dingen im         dem Werk, der für die Künstlerin so spannend         fläche balanciert wird. Mit Neugier wird das
     Fokus. Es sind die gemeinsam erlebten Erfah-      ist – Vorstudien gibt es fast nie. Dabei steht das   Wesen, halb Mensch, halb Pferd, betrachtet,
     rungen, die verbinden. Alles steht mit jedem      Thema fest, die Idee ist da, nur die Umsetzung       während sich eine größere maskierte Figur
     in Beziehung, Tag und Nacht, männlich und         selbst entwickelt sich aus dem Bild heraus. Das      aus dem Jaguar zu lösen scheint und Richtung
     weiblich, Geburt und Tod sind notwendige          Element der Skizze kann Anne-Cathrin Brenner         rechten Bildrand tendiert. Der Dualismus un-
     Komplemente, keine Gegensätze. Verbinden-         dennoch nicht ganz ausklammern. Die Zeich-           seres Protagonisten zeigt sich in allen Formen.
     de Achsen zwischen diesen Polaritäten geben       nung ist ein ebenso bewusster Bestandteil            Das Fabelwesen in der Handfläche vereint die
     Raum für das Existierende in andiner Welt und     ihrer Malerei wie das Experiment mit Pigmen-         animalische Seite des Menschen mit der be-
     Kosmos.                                           ten und Lasuren. Dabei sind es so häufig die         herrschenden Natur des Reiters. Gleichzeitig
                                                       Hände, die sich geradezu schemenhaft jeder           wird die Wildheit des Zentauren aufgrund sei-
     Genau diese Beziehungen sind es, die uns          Ausformulierung verweigern.                          ner Größe negiert. Die Figur mit Maske und
     Anne-Cathrin Brenner in ihren Werken offen-                                                            Zepter ist hingegen vollkommen in einer Rolle,
     bart. Über die Raumkonzeption verschränkt         Neben der Malerei ist es die Silberstiftzeich-       verkörpert ein anderes groteskes Wesen, ver-
     sie Figuren mit Symbolen, lässt Vorder- und       nung, in der die Künstlerin ihren Ausdruck           birgt das eigene Ich, will weiterziehen. Gänz-
Anne-Cathrin Brenner   22 | 23

Jaguar im Karneval
Silberstift auf
grundiertem Papier
17 x 17,5 cm
2019

                                              Mal schaun
                                            Silberstift auf
                                       grundiertem Papier
                                           17,7 x 15,9 cm
                                                     2019

                     Menschenmüsli
Viele                Öl auf Leinwand
Silberstift auf           48 x 55 cm
grundiertem Papier              2018
15,8 x 11,6 cm
2019
Ursula Buchart
                                                                                                                                                                                                                                24 | 25

     Maren Marzilger

     Sinnlich ist die Kunst von Ursula Buchart –      Frage nach fairen und menschenwürdigen
     auf vielfältige Weise –, manchmal verstörend     Arbeitsbedingungen aufwirft. Dahinfließende
     und nie oberflächlich. Mit ihren Trompe-l´Œil    Massen einer religiösen Form, die Vergänglich-
     weckt die Künstlerin Begehrlichkeiten. Ein       keit eines (falschen) Glaubens in einer schnell-
     vorher nicht dagewesener Hunger auf Scho-        lebigen Welt, in der das Objekt im Spiel mit
     kolade stellt sich ein. Diese süße Verführung    unseren Sinnen zum Fetisch avanciert.
     scheint greifbar nah, doch die Erkenntnis der
     Täuschung lässt den*die Betrachter*in er-        Immer sind es Versatzstücke aus alltäglichen                                               Ein Quantum Trost                                                  Die Tafel
     nüchtert zurück. Und dabei schien es doch so     Gebrauchsgegenständen, Genussmittel, Mo-                                                   Acryl auf Leinwand                                      Acryl auf Leinwand
     offensichtlich: die Proportionen zu groß, sich   tive aus Mode oder Comic, die in der Malerei                                                       70 x 50 cm                                              85 x 75 cm
     malerisch auflösende Flächen, ein Kreuzsym-      von Ursula Buchart zu finden sind. Objekte                                                               2015                                                     2016
     bol – unsere Sinne ignorieren das gekonnt und    werden porträtiert oder erscheinen als Konglo-
     für den Augenblick sind da nur diese Begehr-     merat auf der Leinwand. Künstlich überhöht
     lichkeiten, die uns vor dem Werk innehalten      und nicht selten schockierend, weil dem*der
     lassen. Und genau in diesem Moment wird die      Betrachter*in pornografische Elemente und
     Tafel Schokolade zum Objekt der Malerei, das     Disney-Figuren gleichzeitig begegnen, sind
     mehr ist als nur eine optische Täuschung: Ein    ihre großformatigen Arbeiten. Stark stilisierte,   heit. Während der Transsexuelle wohl eher auf      Seit 2019 verschärft sich vor allem in Brasilien
     Abbild von Genuss, dessen Geschichte in La-      teilweise überzeichnete Körper, Brüste und Pe-     der Suche nach dem Selbst ist, verfallen immer     mit der Wahl des homophoben Jair Bolsona-
     teinamerika beginnt, als Teil des europäischen   nisse entziehen sich jeder Individualisierung.     mehr Frauen einem Schönheitswahn, der nur          ro zum Präsidenten die Lage für Transsexuelle
     Kolonialismus nach Afrika und Asien gelangt      Generelle Themen sind es, mit denen sich die       durch Chirurgie zu erreichen ist. Platz zwei der   erneut. Die Katze, die eben noch fette Beute
     und welches bis heute den Kakaoanbau und         Künstlerin auseinandersetzt. In Tranny Cat be-     Liste mit den meisten Schönheitsoperationen        gemacht hat, wird wieder zur Gejagten.
     die Ausbeutung von Völkern und Ressourcen        darf es nicht einmal des Titels, um in der Bild-   hält Brasilien. Gleichzeitig ist es aber auch
     schmerzlich begreifbar macht. Eingepackt,        komposition die Genderfrage auszumachen.           das Land mit den meisten Tötungsdelikten           Es sind die malerischen Lösungen von Ein-
     aufgerissen, kommerzialisiert. Diese Fragili-    Ein männliches Glied setzt genau in Höhe der       an Trans- und Homosexuellen. Eine traurige         zelheiten und transzendenten Ebenen, mit
     tät des Augenblickes zwischen dem Sinn nach      weiblichen Vulva an, die Brüste entsagen nicht     Quote, bedenkt man, dass der Interamerikani-       denen Ursula Buchart ganz bewusst Schwer-
     leicht zugänglicher, zarter Versuchung und der   zuletzt aufgrund einer schwarzen Kontur jeder      sche Gerichtshof für Menschenrechte in San         punkte setzt. Eine Verortung von Raum und
     Erkenntnis, dass das gleichzeitige Sichauflö-    natürlichen Form, sind gemacht. Die Identi-        José Anfang 2018 mittels Urteil den Schutz der     Zeit in diffusen Hintergründen ist weder nötig
     sen von Formen – Stücke, die nicht zu fehlen     fikation mit dem eigenen Geschlecht rückt          Rechte von Homosexuellen in einer Vielzahl         noch gewollt und dennoch erfasst sie unsere
     scheinen, sondern einfach nie da waren – die     ebenso in den Fokus wie die Frage nach Schön-      Lateinamerikanischer Staaten beschlossen hat.      Sinne, weckt Begehren und überrascht.
Ursula Buchart   26 | 27

                                 Artist chocolate
                     Acryl auf Leinwand, Alufolie
                              40 x 30 cm, 9 teilig
                                            2016

Tranny Cat
Acryl auf Leinwand
160 x 160 cm
2017
Friederike Butter
                                                                                                                                                                                                                28 | 29

     Lucie Klysch

     Für unsere alltägliche Wahrnehmung sind be-       verwendete, billige und hochdeckende Teer-          Die einschlägige Typographie hat sich mitt-         tal eröffnet. Als Plakatentwurf changieren sie
     malte Hauswände nichts besonderes, längst         farbe. Die Tags der Pichação-Bewegung sind          lerweile zu international verständlichen Hie-       zwischen Denkanstoß, zynischem Kommentar
     haben wir uns an diese mehr oder weniger          das Low-Budget-Medium einer Subkultur, das          roglyphen entwickelt und ist als Schriftart         und der Möglichkeit einer tatsächlichen Ak-
     durchschaubaren Wandbilder gewöhnt. Doch          es sich zur Aufgabe gemacht hat, das vorherr-       Adrenalina in digitaler Form für alle verfügbar.    tion. Gerade durch die einfache Technik und
     abseits von wuchernden Farbexperimenten           schende Elend aufzuzeigen. Sie sind eine ge-        Friederike Butter hat sich der eigentümlichen       die naheliegenden „Schreibflächen“ wirkt die-
     und kommerzialisierter Street Art bietet uns      zielte Form des politischen Protests, die die       Aura des Pichação angenommen und mit der            se Form der Provokation einladend. Inwiefern
     Friederike Butter einen eindrucksvollen Hin-      Zustände in den Favelas und die Gräben, die         Tristesse deutscher Fassadengestaltung kon-         diese Form des öffentlichen Diskurses Poten-
     weis auf ein Stück visuelle Geschichte Bra-       sich mit ihnen durch die Gesellschaft ziehen,       frontiert. Die unverwechselbare Handschrift         tial zur Adaption hat, bleibt an dieser Stelle
     siliens. Sie nähert sich dem Phänomen des         sichtbar machen sollen. Abgesehen von An-           bricht mit der vermeintlich glatten Oberfläche      offen.
     Pichação und nutzt dessen einschlägiges           erkennung, Sichtbarkeit und Adrenalin ist Wut       durchschnittlicher Wohngebiete und mit der
     Potential, um aktuelle Fragen unserer Gesell-     die wichtigste Motivation. Pichação ist ein An-     Form der Gesellschaft, die diese repräsentie-
     schaft neu zu verhandeln.                         griff auf die Stadt und je heiliger der Ort, des-   ren sollen. Sie stellt sich gegen die Ansprüche
                                                       to attraktiver ist er als Ziel für die Protestak-   der Öffentlichkeit und greift in die alltäglichen
     Pichação hat seinen Ursprung im São Paulo         tion. Diese urbanen Zeichen erobern sich den        Gewohnheiten visuell ein. Der Wunsch und
     der 1960er Jahre und verbreitet sich seither      öffentlichen Raum durch ihre unübersehbare          das Gefühl, dass alles seinen geregelten Platz
     sukzessiv in Brasiliens Großstädten. Als Vor-     Präsenz zurück.                                     hat, wird gestört.
     läufer gelten die Mauerparolen gegen die
     Militärdiktatur, die in Brasilien in den Jahren   Dass die Aktionen selbstverständlich illegal        Diese Arbeit soll in keinem Fall die prekären
     1964 bis 1985 herrschte. Bezeichnend sind die     sind, bringt durchaus eine aggressive Nuance        Missstände der brasilianischen Bevölkerung
     in dunklen Farben aufgetragenen kryptischen       mit sich. Allerdings stellen die spinnennetzar-     mit der sozialen Ungerechtigkeit Deutsch-
     Schriftzüge, die in wenigen Minuten auf die       tigen Schriftzüge eher eine symbolische Form        lands gleichsetzen, vielmehr übernimmt die
     Fassaden und Mauern aufgetragen werden.           der Gewalt dar. Es sind gesellschaftliche State-    Künstlerin die Geste der Okkupation, um
     Die einzelnen Lettern sind in Höhe, Weite         ments, die physische Gewalt in eine alternati-      kontroverse Aussagen aus ihrem Umfeld zu
     und Abstand zueinander angepasst, wodurch         ve und kreative Form der Auseinandersetzung         hinterfragen. Es sind Entwürfe eines visuellen
     sie stimmig verformt erscheinen und im Bezug      transformieren. lllegalität ist und bleibt der      Protests; eine fiktive Sachbeschädigung, die
     zueinander stehen. Piche ist Portugiesisch für    Preis und Garant für die Authentizität dieser       die Schranke zwischen Publikum und Künstle-
     Ton oder Teer und bezieht sich auf die häufig     Ausdrucksform.                                      rin bricht und ein neues Kommunikationspor-
Friederike Butter   30 | 31

Verlagschefin                     Maseratifahrer
Inkjet-Print auf Affichenpapier   Inkjet-Print auf Affichenpapier
59,4 x 42 cm                      59,4 x 42 cm
2018                              2018
Teresa Ellinger
                                                                                                                                                                                                                    32 | 33

     Jenny Mehlhorn
     Erinnerung und Wahrnehmung: Vom Sinn des Reisens

     Bruchstücke aus verschiedensten Quellen fin-       literarische Gattung diente als eine Anleitung
     den in Danke für die Blumen zusammen. Das          zum Verhalten auf Reisen sowie für Reflexio-
     A5-formatige Buch vereint Versatzstücke des        nen mit dem Sinn des Erkundens. Während
     Reisens und ordnet die Texte und Bilder nach-      das Reisen historisch hier als humanistische
     einander, übereinander und miteinander an.         und reflektierende Praxis, die einen lehr-
     Zu sehen sind zahlreiche Abbildungen: graue,       haften Part innehaben sollte, beschrieben
     nebelige Landschaftsfotografien, Bilder aus        wird, steht dem die heutige Form des Reisens
     Zeitschriften, die Menschen im Urlaub abbil-       gegenüber. Zuvorderst heißt Reisen heute zu-
     den und Schwarz-Weiß-Fotografien, die teils        allererst Urlaub, Entspannung und Vergnügen
     geschwärzt sind. Die Texte werden aus Zeit-        – meist durch einen strikt ausgearbeiteten
     schriften-Anzeigen und -ausschnitten, ein-         Reiseplan organisiert und in Magazinen an-
     zelnen Seiten aus einer Apodemik und eige-         geboten. Es bedeutet aber auch Finden, Sam-         Ob das Resort nun in Ägypten, Brasilien oder          einandersetzung mit dem Bild des*der beob-
     nen kurzen Textzeilen entworfen. Insgesamt         meln und Erfahren.                                  Thailand ist, mehr als den Weg vom Flughafen          achtenden und konsumierenden Reisenden,
     erschafft die Künstlerin damit eine Collage,                                                           in das Hotel sieht der Urlaubsgast vom Land           wenn es heißt: Die Fremde spricht, trotzdem
     welche die Wahrnehmung des*der Reisenden,          Dies leitet zur zweiten Ebene über, welche be-      meist nicht. Diesen Bildern begegnet das Werk         spreche ich für sie über sie.
     die Reaktion auf das Fremde und auf etwas          bildert und beschreibt, wie mit dem Äußeren         mit Einschüben der Künstlerin: Fremd und Alles
     Neues in den Vordergrund stellt. Blättert man      umgegangen wird und wie Orte wahrgenom-             was ich euch zeige, bin vielmehr ich, als irgendet-   Diese kritische Beobachtung öffnet eine letz-
     durch die Seiten, spürt und sieht man zudem        men werden. Wegfahren bedeutet für den*die          was anderes. steht im unteren Bereich der Seite       te Ebene: Wie ordnet sich der*die Reisende
     die unterschiedlichen Materialien, die den         Erholungssuchende*n Europäer*in vor allem           gegenüber den Klischee-Bildern. Welche Per-           selbst in sein Umfeld ein? Welche Sinnhaftig-
     Originalzustand der Quellen wiedergeben.           eins: Sommer, Sonne, Badehose. Die geeignets-       spektive die Worte einnehmen, kann der*die            keit bezwecken wir mit der Flucht aus dem
                                                        te Form stellt dabei seit Jahren der Cluburlaub     Betrachtende selbst entscheiden, die Fremde           Alltag? Diese Fragen stellen sich beim Durch-
     Mit dem Diskurs zur Erschließung von Frem-         dar: alles ist durchgeplant, allinclusive und das   des Ortes oder die Fremde des Touristen ste-          blättern des Büchleins und leiten eine Selbst-
     dem und zugleich Neuem werden verschie-            Hotel strandnah. Was dem Reiseziel nicht feh-       hen dem zu Hause auf Zeit gegenüber. Zudem            reflexion ein. Der*die Betrachtende reflektiert
     dene Ebenen der Betrachtung geöffnet. Zum          len darf, sind bestes Strandwetter, Palmen und      finden sich auch sensiblere Beobachtungen             das eigene Reiseverhalten, jene*r kann vieles
     ersten fällt hier der historische Rückblick auf.   ein entsprechendes Freizeitangebot. „Hauptsa-       und Auseinandersetzungen mit besuchten                sein: Sammler*in, Fotograf*in, Clubtourist*in,
     Die Apodemik als Form des Reiseberichts wur-       che in den Süden“ lautet das Motto. Interesse       Orten in den nebligen Landschaftsfotografien          Wanderer*in oder auch Abenteuerwütige*r.
     de schon in der Frühen Neuzeit angewendet          für Länder, Kulturen oder Austausch steht bei       oder in Mitbringseln wie dem abgebildeten             Aber irgendwie immer suchend nach dem
     und setzte sich bis in die Moderne fort. Diese     dieser Form von Urlaub nicht im Vordergrund.        Herbarium. Doch auch hier geschieht die Aus-          Neuen und dem Weiten.
Teresa Ellinger     34 | 35

               Danke für die Blumen
verschiedene Papiere, Schraubbindung
                        144 x 202 mm
                                 2019
Käthe Elter
                                                                                                                                                                                                                       36 | 37

     Nina Fischäss

     In unserer täglichen Kommunikation nutzen           starke Frau an die Spitze einer Bewegung und      starke Gesten bestimmen ihre Figuren und sie     konfrontiert. Auf einem Banner ist das Ge-
     wir sie unablässig. Sie sind Teil unserer Persön-   gab ihr eine Stimme.                              ringen um die Frage nach dem was bleibt. Ein     dicht zu lesen. Tritt man dahinter, findet man
     lichkeit und haben hohen Wiedererkennungs-                                                            Sehnen nach Ungebundenheit wird in den           die feinen Zeichnungen. Die Beleuchtung wirft
     wert. Jeder Mensch nutzt sie auf ganz eigene        In dem Gedicht Al menos flores, al menos can-     melancholischen Blicken deutlich. Die ge-        nunmehr die Schatten der Betrachter*innen
     Art und Weise – Gesten, Mimik, Worte. Teils         tos… (dt. „Wenigstens Blumen, wenigstens          senkten Köpfe und stark betonten, nieder-        auf das Banner und lässt sie zum kurzzeitigen
     unbewusst, teils berechnend setzen wir die-         Lieder“) formuliert Belli die Sehnsucht nach      geschlagenen Augen verraten den Konflikt         Teil des Kunstwerks werden. Sie selbst werden
     se Bausteine der Kommunikation ein, lassen          Freiheit. Ein Wunsch, der das Streben nach        im Inneren. Sie sind ganz bei sich, vertieft     zu Symbolen der Vergänglichkeit.
     sie für uns arbeiten oder versuchen verzwei-        körperlicher Freiheit übertrifft und sich Geis-   in ihre eigenen Gedanken, in ihre Wünsche
     felt, sie zu unterdrücken. Im freien und un-        tigem zuwendet: Dies mündet in einer Ge-          und Hoffnungen, in denen sie zu schwim-
     gezwungenen Gespräch fangen unsere Hände            lassenheit bezüglich eigener Handlungen und       men scheinen. Die Freiheit, die ihre Figuren
     an Bilder in die Luft zu malen, unsere Augen        ein Bewusstsein über Aktivität und blinden        suchen, sieht immer anders aus. So sind auch
     weiten sich vor Aufregung, unsere Lippen for-       Aktionismus.                                      die dargestellten Gesten jedes Mal ein wenig
     men lang bekannte und altbewährte Worte.                                                              verschieden. Die Finger mal mehr, mal weniger
     Das macht uns als Menschen aus, zeigt unse-         Al menos flores, al menos cantos…                 gespannt, gestreckt, zueinander gestellt oder
     re Persönlichkeit, lässt Rückschlüsse auf unser                                                       gebeugt, drücken sie den persönlichen Kampf
     Wesen zu.                                           Quedará de nosotros                               der Gedanken aus. Von den meisten Händen
                                                         algo más que el gesto o la palabra:               sieht der Betrachter nur die Handrücken. Sie
     Es sind vor allem die Gesten, die in der Latein-    Este deseo candente de libertad,                  bilden eine Grenze und schaffen einen inti-
     amerika-Serie von Käthe Sarah Elter in den          esta intoxicación,                                men Raum für die dargestellten Personen und
     Vordergrund rücken. Ein Gedicht von Gia-            se contagia.                                      halten den Betrachter auf Distanz. Ihre Suche
     conda Belli, einer revolutionären nicaraguani-                                                        nach dem Selbst gleicht einem transzenden-
     schen Schriftstellerin, gab den Anstoß für ihre     Von uns bleibt mehr                               ten Moment. Jenseits der sinnlich erfahrbaren
     Arbeiten. Im Rahmen des Aufstiegs der Sandi-        Als Worte und Gesten:                             Welt forschen die Dargestellten nach höheren
     nisten unter Daniel Ortega, dessen Regierung        Der glühende Wunsch nach Freiheit,                Idealen – immer auf der Suche nach Freiheit?
     auf einen Bürgerkrieg im Land folgte, sollten       ansteckende Sucht.1
     auch die Frauenrechte im streng katholischen                                                          Präsentiert werden die Arbeiten in intimer At-
     Land gestärkt werden. Die revolutionären Ge-        Elter verarbeitet ihre Assoziationen zum Ge-      mosphäre. Wer Käthe Elters Werke betrachten      1
                                                                                                                                                                Belli, Gioconda: In der Farbe des Morgens: Gedichte,
     dichte Bellis feierten weitläufige Erfolge und      dicht intuitiv in Tuschezeichnungen. Zarte        möchte, wird zuerst mit dem zugrundeliegen-          übs. v. Dieter Masuhr und Dagmar Ploetz, München
     wurden weltweit bekannt. Sie stellte sich als       Gesichter, feingliedrige Hände und ausdrucks-     den Gedicht in spanischer Originalsprache            2. Auflage 1993, S. 21.
Gioconda Belli                                                                  Käthe Elter      38 | 39
Wenigstens Blumen, wenigstens Lieder   Al menos flores, al menos cantos...
Von uns bleibt mehr                    Quedará de nosotros
als Worte oder Gesten:                 algo más que el gesto o la palabra:
der glühende Wunsch nach Freiheit,     Este deseo candente de libertad,
ansteckende Sucht.                     esta intoxicación,
                                       se contagia.

                                                                             o.T.
                                                                             Tusche auf Papier
                                                                             je 40 x 30 cm
                                                                             2018
Nadine Glas
                                                                                                                                                                                          40 | 41

     Mirjam Glas
     Para Siempre

     Nadine Glas generiert in ihren aktuellen           des lateinamerikanischen Städtebildes. Stark
     künstlerischen Arbeiten abstrakte Formen           abstrahiert und vereinfacht veranschaulichen
     und Ordnungen aus gesammelten Objekten             die Zeichnungen von Nadine Glas den Ein-
     und Geschichten. Ihre in der Ausstellung           druck einer Draufsicht auf Ausschnitte von
     Mein Sehen bleibt physisch folgenlos. Find: 2k17   „Giga-Städten“ wie Rio de Janeiro oder São
     – LAM erstmals gezeigte Arbeit Para Siempre        Paulo. Das skizzenhaft Stützende und Offene,
     (Für Immer) basiert auf der Suche nach Mus-        das sich mit dem klar formulierten Geradli-
     tern in der Architektur lateinamerikanischer       nigen abwechselt, bestimmt und reflektiert
     Großstädte. Die in ihren Zeichnungen ver-          gleichzeitig die Fragilität der Zeichnung.
     wendeten Strukturen erstellt sie nach dem
     Vorbild indigener Webkunst.                        In sorgsam abgestuften Pastelltönen nimmt
                                                        die Farbigkeit in Glas’ Arbeit Bezug auf die
     Para Siempre besteht aus einer Serie von zwölf     entsättigte und dennoch bunte Erschei-                                                              Para Siempre (Serie), #01,
     Zeichnungen in hellen Holzrahmen, die in drei      nung eines Stadtbildes von oben: Ein leichter                                                       Zeichnung,
     horizontalen Reihen à vier Bilder übereinander     Dunstschleier liegt über Rio de Janeiro. Der                                                        diverse Materialien
     an einer Wand hängen. Die Wahl des kleinen         Swimmingpool auf dem Dach spiegelt ein Glit-                                                        ca. 13,8 x 10 cm
     Formats ist weder unbedacht noch neutral.          zern der untergehenden Sonne. Para Siempre                                                          auf Papier 29,7 x 21 cm
     Der Gigantomanie der gegenwärtigen Kunst           spielt mit der Sehnsucht nach Struktur, dem                                                         (Rahmen 42 x 32 cm)
     zum Trotz wird die Darstellung der Megacity        Wunsch, Gegensätzliches zu überwinden,                                                              2019
     hier reduziert auf den kleinstmöglichen Aus-       insbesondere in der heutigen Zeit radikaler
     schnitt. Das kleine Format bietet als eine Art     Umschwünge und Krisen mit ungewissem
     des Widerstandes die Möglichkeit, der Zeich-       Ausgang. Die fragile Ordnung der Bildmotive      Siempre! aufgreift, verbindet in seiner ein-
     nung einen Moment der Intimität zurückzu-          paraphrasiert das Chaos angesichts politischer   deutigen Mehrdeutigkeit die verschiedenen
     erobern. Der großzügige Weißraum, der die          Brandstifter wie Jair Bolsonaro.                 Handlungsstränge der Bildausschnitte auf
     leicht über der Bildmitte platzierten Grafiken                                                      langfristige Sicht und bezieht sich daher als
     umgibt, bildet zugleich Schutzraum als auch        Mithilfe einer eigens entwickelten narrativen    übergeordnetes Prinzip auf alle fragmenta-
     einen Rahmen der Exposition, ähnlich einer         Symbolik schafft Glas in ihren Zeichnungen       risch dargestellten Einzelgeschichten.
     Bühne, auf der sich die Handlung abspielt. Die     formale Querverweise und Verbindungsmo-
     vielförmige und wechselhafte Wirklichkeit          mente zwischen unterschiedlichen Elemen-         Derzeit beschränkt sich die Serie auf zwölf Bil-
     der Bildmotive findet Ausdruck durch diverse       ten im Bildraum. Eine mögliche Interpretation    der, die zwar jeweils als Momentaufnahmen
     Materialien wie Buntstift, Kreide oder Kugel-      der Metaphorik, die sich im Zusammenspiel        für sich alleine sprechen, aber in der kontex-
     schreiber auf unterschiedlich farbigem Papier.     mit der parallel zur bildnerischen Gestaltung    tuellen Vertiefung der seriellen Ausführung
                                                        in Textform angelegten Poesie ergibt, ob-        zum größtmöglichen Ausdruck gelangen, und
     Die sehr grafische Bildstruktur ergibt sich aus    liegt der Betrachter*in. Der Titel der Arbeit    bietet daher als offenes System die Möglich-       Para Siempre (Serie)
     den architektonisch/mechanischen Vorbildern        Para Siempre, der das revolutionäre ¡Hasta       keit eines weiterführenden Ausbaus.                Ausstellungsansicht, Skizze
Nadine Glas      42 | 43

     Para Siempre (Serie), #07         Para Siempre (Serie), #12
Zeichnung, diverse Materialien   Zeichnung, diverse Materialien
              ca. 13,8 x 10 cm                 ca. 13,8 x 10 cm
       auf Papier 29,7 x 21 cm          auf Papier 29,7 x 21 cm
         (Rahmen 42 x 32 cm)              (Rahmen 42 x 32 cm)
                          2019                             2019
Viktoria Kurnicki
                                                                                                                                                                                                         44 | 45

     Luise von Nobbe

     Die Installation Import/Export besteht aus        ungewöhnliche Verpackung lässt sie fremd          eher an den Aufbau eines naturwissenschaft-     Form neokolonialer Ausbeutung natürlicher
     zwei übereinander montierten Metallstan-          und andersartig erscheinen, weshalb es für        lichen Experiments als an eine klassische       Ressourcen und menschlicher Arbeitskraft.
     gen, an denen verschiedenartige, unter Vaku-      den*die Betrachter*in schwieriger ist, eine       Skulpturenschau: auf Dekor wird verzichtet,     Das Vakuum, in das Kurnicki die einzelnen
     um verpackte und in Plastik eingeschweißte        persönliche Verbindung zum Objekt herzu-          die Materialien sind funktional und die Ge-     Objekte einschließt, kann paradoxerweise als
     Objekte hängen. Auf den ersten Blick lässt        stellen. Zwar ist die Konfrontation mit ein-      samtsituation steril. Bohnen, Metallplättchen   Einladung zur Sensibilisierung für die realen
     sich zwischen Kabeln, Früchten und Pillen         geschweißten Produkten etwas Alltägliches,        und Holzklumpen sind professionell verpackt,    Umstände der Rohstoffgewinnung, Verarbei-
     keine Gemeinsamkeit erkennen. Tatsächlich         doch rechnet man damit eher im Supermarkt         konserviert und in ein Schema eingereiht. Es    tung und Distribution gelesen werden.
     lassen sich jedoch alle Objekte in den Ex-        als in einem Ausstellungsraum für Kunst. Ob-      könnte sich bei den Objekten durchaus um die
     und Importstatistiken1 zum Handel zwischen        jekte, die man unter anderen Umständen ge-        Proben eines Chemielabors oder die Beweis-
     Deutschland und den Nationen Lateiname-           dankenlos ergreift, betastet und bearbeitet       stücke eines Kommissariats handeln.
     rikas wiederfinden. Die obere Reihe der Ins-      erscheinen plötzlich hochstilisiert als etwas
     tallation zeigt Ware, die Deutschland im Jahr     Besonderes.                                       Diese Art der Dekontextualisierung und Ent-
     2017 in großen Mengen aus Lateinamerika                                                             fremdung von Objekten ermöglicht eine neue
     importierte: landwirtschaftliche Erzeugnisse,     Das Bild der aufgehängten Objekte tauchte         Sichtweise auf im Alltag unsichtbar Werden-
     Holz, Nahrungs- und Futtermittel. Die untere      bereits in einer anderen Arbeit Kurnickis auf.    des. Was selbstverständlich ist, wird oftmals
     Reihe steht sinnbildlich für die von Deutsch-     Die Installation In Relation (2018) besteht im    nicht mehr bewusst wahrgenommen und
     land nach Lateinamerika exportierte Ware:         Kern aus einer Aluminiumstange, die an einer      nimmt erst aus der Distanz betrachtet wieder
     chemische und pharmazeutische Produkte,           Kette befestigt horizontal im Raum schwebt.       Form an. Import/Export rückt jene gewöhnli-
     Maschinen, Fahrzeuge und Elektronik. Kurni-       An ihren Enden sind in ungleicher Anzahl          chen Objekte in den Fokus unserer Aufmerk-
     cki stellt die Handelsgüter gegenüber, bewer-     dunkelfarbige Mäntel aufgehängt. Indem die        samkeit und wirft Fragen auf: Woher kommt
     tet sie aber nicht.                               Künstlerin das Gewicht des allein hängenden       die Ware? Wer hat sie produziert? Wieso steht
                                                       Mantels mit Steinen in den Taschen manipu-        sie mir scheinbar grenzenlos zur Verfügung?
     Stattdessen konzentriert sich die Künstlerin      liert, stellt sie die Balance zwischen den bei-
     auf die Objekte an sich, deren Farbe, Form        den Polen her.                                    Diese Fragen lassen sich nicht ohne Blick auf
     und Struktur. Sie nimmt an ihnen kaum Be-                                                           die Kolonialisierung Lateinamerikas ab dem
     arbeitungen vor, sondern inszeniert sie in        Auch Import/Export spielt mit der Schwerkraft,    16. Jahrhundert beantworten. Die damals
     ihrem Auffindungszustand. Im Angesicht der        dem Schwingungsvermögen und der Kontakt-          installierten Machtstrukturen und Unter-
     Schlichtheit des Dispositivs treten die einzel-   losigkeit von Objekten im Verhältnis zu ihrer     drückungsmechanismen schreiben sich auch
     nen Objekte optisch besonders hervor. Deren       Umwelt. Die Ausstellungssituation erinnert        heute noch auf vielen Ebenen fort – etwa in     1
                                                                                                                                                             Statistisches Bundesamt Wiesbaden, 2017
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