Menschengemachte Psychologische von Tschernobyl

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Schwerpunktthema                                 Menschengemachte
                                                          Psychologische
                                                         von Tschernobyl

                                                                                     Zusammenfassung
                           Gesine Hofinger                                           „Tschernobyl“ wurde zum Symbol für Ka-
                           Plattform „Menschen in komplexen Arbeitswel-              tastrophen, die unmittelbar durch das Han-
                           ten“ e.V. Diplompsychologin, Studium der                  deln von Menschen ausgelöst werden. Wir
                           Psychologie und Promotion in Bamberg; Tätig-              beschreiben in diesem Aufsatz verschiedene
keit als Wissenschaftlerin und Trainerin; Schwerpunkte Human Factors, Feh-           Formen menschengemachter Umweltkata-
lermanagement, Sicherheit, Handeln in kritischen Situationen.                        strophen, schildern den Ablauf des GAUs
                                                                                     von Tschernobyl und analysieren die kogni-
                                                                                     tiven, motivationalen, sozialen und kulturel-
                                                                                     len Hintergründe, die dazu geführt haben,
                           Ute Rek                                                   dass ein Testprogramm zur Überprüfung ei-
                           Institut für Theoretische Psychologie, Univer-            ner Notfallfunktion des Reaktors zu seiner
                           sität Bamberg. Diplompsychologin, Studium der             Explosion führte. Wir gehen davon aus, dass
                           Psychologie in Bamberg, Wissenschaftliche Mit-            Handlungen, die in derartigen Katastrophen
arbeiterin und Doktorandin am Institut für Theoretische Psychologie;                 resultieren, einerseits natürlich „Fehler“ im
Schwerpunkte Human Factors, Krisenmanagement, Terrorismusforschung.                  Sinne des katastrophalen Ergebnisses sind.
                                                                                     Sie folgen andererseits aber den allgemei-
                                                                                     nen Gesetzmäßigkeiten menschlichen Den-
                                                                                     kens und Handelns und sind daher nicht als
                           Stefan Strohschneider                                     vereinzelte, außergewöhnliche, individuelle
                           Institut für Theoretische Psychologie, Univer-            Fehltritte interpretierbar.
                           sität Bamberg. Diplompsychologe. Studium der
                           Psychologie, Promotion und Habilitation in                Schlüsselwörter: Menschengemachte Katastro-
Bamberg, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Theoretische                 phen, Human Factors, Handlungspsychologie,
Psychologie, zwischenzeitlich auch an der Projektgruppe für Kognitive An-            Denkfehler, Gruppendenken, Tschernobyl
thropologie der Max-Planck-Gesellschaft. Forschungsschwerpunkte im Be-
reich komplexes Problemlösen, kulturvergleichende Psychologie, Krisenma-
nagement.

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Umweltkatastrophen –
Hintergründe am Beispiel

Abstract                                           1 Menschengemachte
Psychological factors in man-made
                                                     Katastrophen
environmental catastrophes: The Tschernobyl        Tschernobyl war nicht nur eine der
example                                            schwersten menschengemachten Umwelt-
„Chernobyl” has become a symbol for those          katastrophen der jüngeren Vergangenheit,
catastrophes that are directly triggered by        Tschernobyl wirkte auch – zumindest indi-
decisions and actions of individuals. In this      rekt – als bedeutsamer Ka-
paper, we distinguish among different forms        talysator der Fehlerfor- Tschernobyl beförderte
of man-made environmental catastrophes             schung (z.B. Dörner, 1989; damit eine Perspektiven-
and describe the processes that finally led to     Reason, 1990) und als verschiebung weg von
the explosion of the Chernobyl reactor. We         wichtiger Impuls für die rein technischen Sicher-
then analyze the cognitive, motivational, so-      Verbreitung des Human- heitsdebatten hin zur
cial, and cultural factors that turned a test of   Faktoren-Gedankens, d.h. deutlicheren Betonung
a technical emergency function into a catas-       der psychologischen Ana- der Rolle des Menschen
trophe. We argue that thought processes and        lyse der Interaktion von
actions that result in such catastrophes can,      Menschen mit komplexen soziotechnischen
from the outcome-perspective, certainly be         Systemen (Vicente, 2004). Tschernobyl be-
considered „errors”. However, they also fol-       förderte damit eine Perspektivenverschie-
low the general laws of human action regu-         bung weg von rein technischen Sicherheits-
lation and can, therefore, not be considered       debatten hin zur deutlicheren Betonung der
to be single, extraordinary, individual mis-       Rolle des Menschen (Reason, 1987).
takes.
                                              Wir wollen in diesem Artikel einige für die
Key words: Human factors, Chernobyl, man- Umweltpsychologie relevante Erkenntnisse
made disaster, human error, group think, psy- aus den Arbeiten der vergangenen zwei
chology of action                             Jahrzehnte zusammenfassen, diese am Bei-
                                              spiel der Reaktorkatastrophe von Tscherno-
                                              byl selbst verdeutlichen und schließlich die
                                              Rolle von politischen und organisatorischen
                                              Rahmenbedingungen als Einflussfaktoren
                                              diskutieren.

                                                   Hofinger, Rek & Strohschneider                  27
die ihr Handeln meist nicht mit umweltre-
     Schwerpunktthema                                              levanten Ereignissen in Verbindung bringen,
                                                                   ihre Kontrollüberzeugungen bezüglich des
         1.1 Typen menschengemachter Umwelt-                       Verhinderns von Katastrophen sind nur ge-
             katastrophen                                          ring ausgeprägt. Ein weiterer wichtiger
                                                                   Unterschied scheint uns darin zu liegen,
         Wenn man über menschengemachte Um-                        dass es beim Tschernobyl-Typ eine begrenzte
         weltkatastrophen spricht, so muss man sinn-               Menge diskreter auslösender Faktoren gibt. Sol-
         vollerweise zwei verschiedene Typen von                   che diskreten auslösenden Faktoren können
         Katastrophen unterscheiden. Zum ersten                    bewusst getroffene Entscheidungen sein.
         Typ – nennen wir ihn „Tschernobyl-Typ“ -                  Beim Club of Rome-Typ liegt dagegen ein
         gehört natürlich Tschernobyl selbst, aber                 andauerndes, kontinuierliches Einwirken
         auch die „Exxon Valdez“, die „Amoco Ca-                   auf ein System vor, eine Menge von schlei-
         diz“, Bhopal oder Seveso. Beispiele für den               chenden, impliziten und unreflektierten
         zweiten Typ – man könnte ihn den „Club                    Entscheidungen bei vielen Individuen. Die-
         of Rome- Typ“ nennen (Meadows, Randers                    ser zweite Typus macht daher auch eine
         & Meadows, 2004) - wären etwa die Flut-                   Adaptation an das steigende Risiko möglich,
         katastrophe in Sachsen 2002 (von der Weth,                das System gelangt langsam in den „roten
         2003), generell der Klimawandel oder das                  Bereich“, ohne dass etwas entscheidend
         Artensterben. Beide Typen von Katastro-                   Schlimmes passiert – die Risikogrenze wird
         phen unterscheiden sich hinsichtlich ver-                 langsam immer wieder nach oben verscho-
         schiedener Kriterien (Tabelle 1). Ein wichti-             ben (z.B. die tolerable Feinstaubbelastung).
         ges Unterscheidungskriterium ist sicherlich               Dekker (2005; eig. Übersetzung) spricht
         die zeitliche Nähe zwischen den auslösenden               hier vom „allmählichen Abdriften von Sys-
         Faktoren (obwohl diese möglicherweise                     temen in die Unzuverlässigkeit“. Die Tatsa-
         wiederum selbst eine lange Geschichte ha-                 che eines explodierten Reaktors oder eines
         ben) und der Katastrophe selbst (beim                     ausgelaufenen Öltankers dagegen ist nicht
         Tschernobyl-Typ ist der zeitliche Zu-                     zu übersehen.
         sammenhang sehr eng). Ein zweites Krite-
         rium ist die Frage, ob das Handeln (oder
         Nicht-Handeln) individueller Menschen oder                1.2 Unfallursache „menschliches
         von Menschengruppen (Brückenbesatzun-                         Versagen“
         gen, Anlagenfahrer) in die Kausalkette an
         zentraler Stelle einzufügen ist. Beim                     Wir beschäftigen uns in diesem Aufsatz mit
         Tschernobyl-Typ ist das in der Regel mög-                 menschengemachten Umweltkatastrophen
         lich, beim Club of Rome-Typ trägt oft „die                vom Tschernobyl-Typ, gekennzeichnet
         Allgemeinheit“ die Verantwortung. Beim                    durch zeitliche Nähe von Auslösern und Er-
         ersten Typ gibt es einen „Ort des Gesche-                 eignis, eine begrenzte Zahl diskreter auslö-
         hens“ und es gibt einige (wenige) handeln-                sender Ereignisse und das bewusste Han-
         de Personen, die wissen, dass sie mit ihrem               deln von Menschen an entscheidender Stel-
         Handeln Einfluss auf den Gang der Ereig-                  le der Kausalkette. Die Forschung zu Hu-
         nisse und damit auch auf Umweltgefähr-                    man Factors hat seit den 80er Jahren ver-
         dungen nehmen (hohe Kontrollüberzeu-                      schiedene großtechnische Unfälle unter-
         gung im Sinne Flammers, 1990). Beim                       sucht – nicht alle davon waren Umweltkata-
         zweiten Typ gibt es eine Menge Beteiligter,               strophen (wie z.B. das Challenger-Unglück,

28                           Menschengemachte Umweltkatastrophen
Tabelle 1: Zwei Typen menschengemachter Katastrophen
Merkmal                              "Tschernobyl"                          "Club of Rome"
Zeitliche Nähe zwischen auslösenden Hoch                                    Gering
Faktoren und Katastrophe

Wessen Handeln ist kausal bzw.       Benennbare Individuen                  "Die Allgemeinheit"
auslösend?

Kontrollüberzeugung handelnder       Hoch (Bewusstsein vom                  Gering (es wird kein Zu-
Personen                             Zusammenhang zwischen                  sammenhang zwischen
                                     eigenem Handeln und                    eigenem Handeln und
                                     Katastrophe)                           Katastrophe gesehen)

"Ort des Geschehens"                 Konkreter Ort                          Ubiquitär
Menge auslösender Faktoren           Begrenzt, konkrete Hand-               Andauerndes, kontinuier-
                                     lungen                                 liches Einwirken

Entwicklung                          Plötzlich, ein Ereignis                Schleichend

zur Analyse siehe Vaughan, 1996). Es gilt als   iert und gewartet wird. Und „menschliches
mittlerweile allgemein akzeptiert, dass Not-    Versagen“ lässt sich fast nie als fehlerhaftes
fälle und Katastrophen von diesem Typ           Handeln nur einer Person
multikausal bedingt sind (Chiles, 2002; Re-     beschreiben, sondern es ist Notfälle und Katastro-
ason, 1990; Strauch, 2002; Vicente, 2004).      Resultat    verschiedener phen sind multikausal
In allen untersuchten Fällen gibt es mehre-     Einflussfaktoren auf ver- bedingt
re direkt und indirekt wirkende Nahursa-        schiedenen Ebenen einer
chen und es gibt Fernursachen psychologi-       Organisation. Diese gilt es genauer zu
scher, sozialer und organisatorischer Art.      untersuchen, wenn Umweltkatastrophen
Dies entspricht der bekannten Unterschei-       verhindert werden sollen.
dung von „aktiven“, direkt auslösenden
Fehlern und „latenten Bedingungen“, die         1.3 Tschernobyl: Normale Handlungs-
durch frühere Entscheidungen bedingt als            regulation?
Fehlerursachen im System verborgen liegen
(Reason, 1997).                                 Die Explosion des Reaktors 4 des Lenin-
                                                Kraftwerks Tschernobyl erregt nicht nur
In der Öffentlichkeit gerne verwendete Er-      durch ihre Auswirkungen auf Mensch und
klärungsmuster wie „menschliches Versa-         Umwelt bis heute Aufmerksamkeit, son-
gen“ oder „technisches Versagen“ erweisen       dern auch aus einem anderen Grund, der
sich unter dieser Perspektive als Scheiner-     der Katastrophe ihre Einmaligkeit nimmt
klärungen. Bei genauer Betrachtung zeigt        und sie so noch bedrohlicher macht: Bezüg-
sich nämlich, dass es „technisches Versagen“    lich ihrer unmittelbaren Ursachen lässt sie
als solches gar nicht gibt: Auch hinter Sys-    sich auf eine Reihe von Handlungen zu-
temausfällen, Materialermüdungen etc. ver-      rückführen, die sich in der konkreten Situa-
birgt sich wieder „menschliches Versagen“,      tion als schwere Fehler erwiesen haben, die
da Technik von Menschen erdacht, konstru-       aber allgemeinpsychologisch erklärbar sind.

                                                Hofinger, Rek & Strohschneider                         29
Wir werden im                  tastrophe betont (z.B. Tschernousenko,
     Schwerpunktthema                Folgenden zu zei-              1992) und eine, die die psychologischen und
                                     gen versuchen,                 sozialen Aspekte in den Vordergrund rückt
          dass die in Tschernobyl wirksamen Mecha-                  (z.B. Reason, 1990). Wir beziehen uns im
          nismen unserem psychischen System imma-                   Folgenden vor allem auf die zweite Sicht-
          nent sind und gerade nicht vereinzelte,                   weise, stellen dabei aber auch die techni-
                            außergewöhnliche Fehl-                  schen Ursachen in ihrer Bedeutung für das
      Das in Tschernobyl tritte der Fahrer des Reak-                konkrete menschliche Handeln dar. Die Er-
    vorgefundene Hand- tors 4 von Tschernobyl:                      läuterungen zum Unfallhergang folgen
  lungsmuster folgt den Das in Tschernobyl vorgefun-                Knigge (1988), Medwedew (1991), Med-
 allgemeinen Gesetzmä- dene Handlungsmuster folgt                   wedjew (1991), Michel und Spengler (1986),
 ßigkeiten menschlichen den allgemeinen Gesetzmäßig-                Reason (1987) sowie Tschernousenko
  Denkens und Handelns keiten menschlichen Denkens                  (1992).
                            und Handelns. Vergleichba-
          re Handlungen könnten also in schwierigen,                Funktionsweise des Reaktors
          problematischen Situationen von jedem durch-
          geführt werden – je nach situativen Umstän-               Der Reaktor von Tschernobyl produziert
          den auch mit ähnlich katastrophalen Konse-                Strom, indem durch die thermische Energie
          quenzen. Dies macht die Geschichte der                    der Kernspaltung Wasser bis zum Siede-
          Katastrophe für die Diskussion über Sicher-               punkt erhitzt wird und der entstehende
          heit in der Mensch-Technik-Umwelt-Inter-                  Dampf Turbinen antreibt, die mit Stromge-
          aktion so interessant.                                    neratoren verbunden sind. Vereinfacht dar-
                                                                    gestellt laufen daher durch den Reaktorkern
         Was sind nun die „menschlichen Faktoren“,                  neben den Brennstäben mit dem Uran zahl-
         die am Entstehen menschengemachter Um-                     reiche Wasserrohre in zwei Kreisläufen:
         weltkatastrophen (Tschernobyl-Typ) betei-                  zum einen im Primärkreislauf, der Wasser
         ligt sind? Generell kann man die verschie-                 durch den Kern und anschließend den
         denen Ursachen vier großen Gruppen zu-                     Dampf zu den Turbinen führt, zum anderen
         ordnen, die wir im Folgenden skizzenhaft                   im Notkühlkreislauf, der ebenfalls Wasser
         umreißen wollen um sie dann jeweils an der                 durch den Reaktorkern führt, aber rein zur
         Reaktorkatastrophe von Tschernobyl zu                      Kühlung des Kerns dient. Wenn das für die
         exemplifizieren: kognitive, motivationale,                 Energiefreisetzung wesentliche Isotop
         soziale und organisationale/kulturelle Fak-                Uran-235 gespalten wird, so setzt es sehr
         toren. Wir stellen zunächst einen kurzen                   schnelle Neutronen frei, die ihrerseits wei-
         Überblick über den Ablauf des Geschehens                   tere Kerne spalten können. Dadurch
         im Reaktor bis zur Havarie voran, auf den                  kommt es sehr schnell zur explosiven Ket-
         wir jeweils an gegebener Stelle zur Illustra-              tenreaktion. Will man die Kernspaltung
         tion der vorgestellten „Human Factors“ zu-                 zum Gewinnen von Strom nutzen, so muss
         rückgreifen werden.                                        man diesen schnellen Aufschaukelungspro-
                                                                    zess bremsen. Im Reaktortyp von Tscher-
                                                                    nobyl wird hierfür Graphit verwendet: 2488
         2 Der Unfallhergang                                        Graphitstäbe können in den Reaktorkern
         Es gibt in der Literatur zu Tschernobyl zwei               ein- und ausgefahren werden und so die Ge-
         „Theorieschulen“, eine, die vor allem die                  schwindigkeit der Spaltung modulieren (vgl.
         konstruktiv-technischen Ursachen der Ka-                   Abb. 1).

30                            Menschengemachte Umweltkatastrophen
Wenn es in einem solchen Reaktor zum            rein durch das mechanische Auslaufen der
Verlust von Kühlwasser kommt, kann das          Turbinen gewonnen wird, für die Versor-
zu einer Kernschmelze führen, da die            gung der Wasserpumpen des Primärkreis-
Brennelemente ihre Hitze nicht abgeben          laufs und für die Motoren zum Bewegen
können. Von elementarer Bedeutung für die       der Bremsstäbe ausreichend ist. Das Experi-
Sicherheit dieses Reaktortyps ist daher die     ment sollte nun geheim nachgeholt werden,
Güte der Rohre, die ständig hohem Druck         da es einerseits für die Sicherheit des Reak-
und hohen Temperaturen ausgesetzt sind,         tors unerlässlich war, man andererseits aber
sowie die Gewährleistung der Stromversor-       das vorherige Versäumnis nicht öffentlich
gung für die Wasserpumpen, auch während         machen wollte. Daher wurde es als zusätz-
eines Störfalls.                                licher Punkt im Rahmen der jährlichen
                                                Wartung des Reaktors angesetzt und durch
Vorbereitung am 25. April 1986                  ein externes Team von Ingenieuren aus
                                                Kiew angeleitet.
Bereits vor der Inbetriebnahme des Tscher-
nobyl-Reaktors im Dezember 1983 hätte           Gegen 13:00 Uhr mittags beginnt der Test
für diese Stromversorgung ein obligatori-       mit dem allmählichen Herunterfahren des
scher Test durchgeführt werden müssen, der      Reaktors. Schon um 14:00 Uhr kommt
aus Zeitgründen unterlassen worden war.         allerdings aus Kiew eine Forderung nach
Am 25. April 1986 stand nun die Durchfüh-       mehr Leistung: Einige Tage vor dem Mo-
rung dieses Versuchs an: Es sollte getestet     natsende, noch dazu vor den Maifeiertagen,
werden, ob bei einer Abschaltung des Reak-      wird in den damals sowjetischen Betrieben
tors (z.B. in einem Notfall) die Energie, die   unter Hochdruck und mit vielen Überstun-

                            Brems-/ Steuerstäbe

                                                                Wasser/ Dampftrennung

                                                                                   Dampfturbinen

 Notkühlung

                                                                                 Kühlsystem
                                 Reaktor

          Pumpe                                             Pumpe
                        Druckrohre mit Brennstäben

Abbildung 1: Schematischer Aufbau des Reaktors

                                                Hofinger, Rek & Strohschneider                     31
den gearbeitet,                   ren, dass der maximal instabile Zustand ei-
     Schwerpunktthema             um die Monats-                    nes Kernreaktors bereits bei 20% Leistung
                                  pläne noch zu er-                 beginnt. Gegen 01:00 Uhr gelingt ein Ein-
         füllen. Das Herunterfahren wird daher an-                  pendeln der Leistung bei etwa 7%, ein Leis-
         gehalten und die Reaktorleistung bei 50%                   tungsniveau, das für die Durchführung des
         belassen. Im Lauf der nächsten Stunden                     Tests laut Vorgabe nicht ausreichend, für
         baut sich dadurch eine Xenonvergiftung im                  den Reaktor selbst ohnehin untersagt ist.
         Reaktor auf. Xenon ist ein Gas, das die                    Trotz des Widerspruchs der beiden Opera-
         Kernreaktion bremst und entsteht, wenn                     teure wird jedoch vom leitenden Ingenieur
         ein Kernkraftwerk über längere Zeit auf                    Djatlow die Fortführung des Versuchs be-
         verminderter Leistung fährt. Um dieses ‚Ei-                schlossen. Um dennoch der Forderung nach
         genbremsen’ des Reaktors zu unterdrücken                   Stabilisierung des Reaktors nachzukommen,
         und den geforderten Strombedarf zu de-                     werden alle acht Pumpen des Primärkreis-
         cken, werden Bremsstäbe aus dem Reaktor                    laufs zugeschaltet. Selbst bei voller Leistung
         entfernt und zwar weit mehr als die zulässi-               sind allerdings nur sechs zugelassen und es
         ge Mindestgrenze von 281.                                  stellt sich in der Folge auch der gegenteilige
                                                                    Effekt ein: Aufgrund der zusätzlichen Küh-
         Um 23:10 Uhr schließlich kann der Reaktor                  lung im Kern entfernen sich automatisch
         vom Netz genommen und das Herunter-                        weitere Graphit-Bremsstäbe. Es kommt zu
         fahren fortgesetzt werden. Angestrebt ist die              einem rapiden Abfall des Dampfdrucks,
         25%-Leistungsmarke, bei der das Experi-                    ein Zustand, in dem normalerweise das
         ment stattfinden soll. Parallel dazu schalten              automatische Sicherheitssystem eingreifen
         die Operateure das Notkühlsystem ab. Dies                  würde.
         ist eine notwendige Voraussetzung für den
         Test, da es sich ansonsten selbsttätig zuschal-
                                                     Im Reaktor herrscht nun zu wenig Dampf-
         ten würde. Um Mitternacht findet der regu-  druck für das Experiment, da der Dampf ja
         läre Schichtwechsel statt, wobei die beiden wesentlich für das Antreiben und somit
         übernehmenden Operateure über den Zu-       auch das Auslaufen der Turbine ist. Um
         stand des Reaktors nicht ausführlich infor- mehr Dampf zu erzeugen, wird daher die
         miert werden. Das Ingenieur-Team, das       Durchlaufmenge des Wassers erhöht, was
         wegen des verzögerten Versuchsbeginns       jedoch wiederum zur Folge hat, dass der
         ebenfalls seit mehr als 12 Stunden arbeitet Reaktor weiter abkühlt und der Dampf-
         und erheblich länger wach ist, wechselt     druck fällt. Die Operateure reagieren darauf
         nicht.                                      mit dem Rückzug weiterer Bremsstäbe und
                                                     schalten außerdem die Vorrichtung aus, die
         Der Test                                    bei fallendem Dampfdruck den Reaktor
                                                     stoppt, eine Maßnahme, die laut Betriebs-
         Eine halbe Stunde nach Mitternacht wird vorschriften nur nach (hier nicht erfolgter)
         die Auto-Steuerung zum Herunterfahren Rücksprache mit dem Chefingenieur der
         des Reaktors abgeschaltet und der Prozess - Anlage getroffen werden darf.
         um Zeit zu sparen - von einem Operateur
         per Hand fortgeführt. Dabei übersteuert das Etwa um 1:20 Uhr fragt der Schichtleiter
         Reaktorsystem und erreicht innerhalb kur- nach der Anzahl der Bremsstäbe im Reak-
         zer Zeit die Leistungsmarke von 1%. Zur tor, wobei sich herausstellt, dass das zulässi-
         Orientierung muss man sich vor Augen füh- ge Minimum mittlerweile weit unterschrit-

32                            Menschengemachte Umweltkatastrophen
ten ist2. Der leitende Ingenieur beschließt    such, die Brücke von in Tschernobyl doku-
dennoch erneut, den Versuch fortzusetzen,      mentierten Handlungen zu theoretischen
obwohl die ursprünglichen Rahmenbedin-         Konstrukten und empirischen Belegen zu
gungen für den Test mittlerweile längst        spannen.
nicht mehr gegeben sind. Eines der Dampf-
rohre wird im Rahmen des Tests geschlos-       3.1 Kognitive Ursachen
sen und damit auch das letzte tätige Sicher-
heitssystem deaktiviert.                       Der menschliche Umgang mit komplexen
                                               und dynamischen Systemen ist ein äußerst
Kurz darauf beginnen die Anzeigen der Si-      anspruchsvoller Prozess, der die simultane
cherheitssysteme im Kontrollraum zu blin-      Bewältigung verschiedener kognitiver An-
ken und die durchstartende Kettenreaktion      forderungen erfordert. Die Leistungsfähig-
deutet sich an. Ein in diesem Zusammen-        keit des kognitiven Systems ist jedoch nicht
hang wesentliches Konstruktionsmerkmal         unbegrenzt, vielmehr muss man davon aus-
des Reaktortyps von Tschernobyl ist, dass      gehen, dass es im Wesentlichen drei, sozu-
die Bremsstäbe 20 Sekunden benötigen, um       sagen „hardwaremäßig“ verankerte Begren-
vollständig in den Kern einzufahren und ei-    zungen gibt (Dörner & Schaub 1994; Ho-
ne Kettenreaktion zu stoppen. In dieser        finger, 2003), nämlich
Zeitspanne allerdings sind die Führungska-     (a) die Einspeicherungskapazität des Lang-
näle der Stäbe bereits durch die enorme            zeitgedächtnisses ist (besonders unter
Hitzeentwicklung verbogen und die Brems-           Stress) begrenzt, was zum schlichten
stäbe können nicht mehr eingefahren wer-           „Vergessen“ von Information – auch
den. Es entwickelt sich Knallgas, das am           wichtiger Information – führt.
26.4.1986 um 01:24 Uhr zur Explosion des       (b) Die Informationsverarbeitungskapazität
Reaktors führt.                                    des kognitiven Systems ist begrenzt, es
                                                   können nicht beliebig viele Informatio-
                                                   nen simultan verarbeitet, zueinander in
                                                   Beziehung gesetzt oder analysiert wer-
3 „Menschliche Faktoren“                           den.
Schon aus dieser knappen Darstellung des       (c) Denken, das Entwickeln neuer Lösungs-
Unfallhergangs wird deutlich, dass es sich         ansätze, die Analyse von Fern- und
bei Tschernobyl um eine menschenge-                Nebenwirkungen von Entscheidungen
machte Umweltkatastrophe des ersten Typs           ist (physiologisch) anstrengend und wird
handelt – die Kausalkette, die zur Explosion       vermieden, solange (scheinbar) passende
führt, hätte durch alle beteiligten Akteure        Lösungen vorhanden sind („Ökonomie-
an verschiedenen Stellen unterbrochen und          prinzip“ des Denkens).
die Entwicklung damit in eine weniger ge-
fährliche Richtung gelenkt werden können. Diese drei Begrenzungen lassen sich nur
Warum ist das nicht passiert?                zum Teil direkt empirisch belegen, sichtbar
                                             werden sie vor allem in ihren Auswirkun-
Wenn wir im Folgenden verschiedene Ur- gen, die sie auf das problemlösende Denken
sachen benennen, spekulieren wir an eini- und Handeln haben. Mögliche Effekte sind
gen Stellen über interne Prozesse der Betei- z.B. (Dörner, 1989):
ligten. Wir verstehen diese Spekulationen – Schwierigkeiten bei der Analyse dyna-
im Sinne von „educated guesses“ als Ver-        mischer Entwicklungen (Orientierung

                                               Hofinger, Rek & Strohschneider                 33
am aktuellen Sys-              bar für die Dosierung seines Brems-Ein-
     Schwerpunktthema                temzustand, nicht              griffs ausschließlich am aktuellen Zustand
                                     an der Entwick-                des Reaktors, nicht an der Tatsache, dass sich
                                     lung)                          das Bremsverhalten von selbst zunehmend
          –   „Zerschlagung von Systemen“ und das                   beschleunigt (Belege für diese Sichtweise
              Operieren mit voneinander isoliert ge-                finden sich bei Koepp und Koepp-Schewy-
              dachten Teilaspekten des Problems;                    rina, 1996, S. 69 sowie bei Wedwedew,
              Handeln ohne Bedingungsanalyse                        1991, S. 66). So ‚rutschte’ die Leistung
          –   Fehlende Fern- und Nebenwirkungs-                     plötzlich auf 1%.
              analysen
          –   „Intuitionsaktionismus“ (die erste kog-               Die ‘Zerschlagung von Systemen’ lässt sich am
              nitiv verfügbare Handlungsoption aus-                 Beispiel der Teamarbeit unter den besonde-
              führen, ohne genaue Analyse)                          ren Bedingungen des Experiments ebenfalls
          –   Ausrichtung des Handelns an anschau-                  erkennen. Das Experiment sollte aufgrund
              lichen und sinnfälligen Indikatoren,                  seiner Schwierigkeit mit erfahrenen Opera-
              nicht an abstrakten Systemstrukturen                  teuren durchgeführt werden. Andererseits
          –   „Methodismus“ (d.h. das Vertrauen auf                 sollte keine Zeit verloren werden. Am 25.
              bewährte Verfahren ohne Analyse der                   April nachmittags hätte es „sofort“ mit den
              Anwendbarkeitsbedingungen)                            eingeplanten erfahrenen Operateuren
          –   Nutzung nur eines Bruchteils der tat-                 durchgeführt werden können. Aufgrund der
              sächlich vorhandenen Information.                     Verzögerungen hatten aber nach dem
                                                                    nächtlichen Schichtwechsel weniger erfah-
           Im Verhalten der Operateure und Ingenieu-                rene und schlecht informierte Operateure
           re in der Katastrophennacht in Tschernobyl               Dienst, während gleichzeitig das verant-
           lassen sich eine Reihe derartiger Effekte                wortliche Team von Ingenieuren müde war.
           nachweisen. So ist es beispielsweise eine ty-            Man prüfte nicht den Zustand des sozio-
           pische Folge der erwähnten kognitiven Be-                technischen Gesamtsystems daraufhin, ob es
                             grenzungen, dass Maßnah-               immer noch sinnvoll und möglich war, das
   Die Ingenieure fühlten men allein aufgrund des ak-               Experiment durchzuführen. Alle Beteiligten
sich kompetent, beachte- tuellen Zustands eines Systems             beurteilten offenbar die Lage aus ihrer ganz
  ten aber die Bedingung beschlossen werden. Dies                   eigenen Perspektive: Die Ingenieure fühlten
         ‚Müdigkeit’ nicht ist kognitiv weniger auf-                sich kompetent, beachteten aber die Bedin-
                             wändig als das gedankliche             gung ‚Müdigkeit’ nicht; die Operateure für
           Durchdringen eines dynamischen Ablaufs.                  sich waren auch fähig, einen Reaktor zu
           Als das Herunterfahren des Reaktors den                  steuern, bewerteten diesen Aspekt aber un-
           Ingenieuren zu lang dauerte, sollte ein Ope-             abhängig von der heiklen Aufgabe des Ex-
           rateur das System von Hand herunterregeln.               periments und beide Gruppen wiederum
           Neben der allgemeinen Schwierigkeit, die                 beurteilten den Aspekt‚ ein Experiment mit
           Menschen beim Verrechnen ihrer Eingriffe                 dem Reaktor durchzuführen, unabhängig
           mit dem Eigenverhalten eines Systems oh-                 von der bestehenden Xenonvergiftung (s.
           nehin haben, wurde es dem Operateur hier                 dazu Medwedew, 1991, S. 47 und Medwed-
           noch dadurch erschwert, dass er den stell-               jew, 1991, S. 53).
           vertretenden Chefingenieur „im Nacken“
           hatte, der von ihm verlangte, Zeit zu sparen. Fehlende Nebenwirkungsanalysen könnten für
           In dieser Situation orientierte er sich offen- das Zuschalten der Pumpen verantwortlich

34                            Menschengemachte Umweltkatastrophen
gewesen sein, nachdem beschlossen wurde,         sultieren, muss für den Unfall von Tscher-
den Test durchzuführen, obwohl der Reak-         nobyl eine Veränderung des Denkens durch Er-
tor nur mit 7% Leistung lief. Die angestreb-     müdung und Müdigkeit angenommen werden.
te Hauptwirkung, nämlich das Stabilisieren       Die entscheidenden Ereig-
des Reaktors, okkupierte das Denken und          nisse fanden in den Stun- Viel eindrücklicher als
vereitelte so ein Nachdenken darüber, was        den um Mitternacht he- die Konsequenzen eines
tatsächlich die Konsequenz weiterer Pum-         rum statt; in dieser Zeit – instabilen Reaktors kann
pen sein würde: „mehr Pumpen“ heißt              der Biorhythmus ist auf man sich vorstellen, was
„mehr Wasser“, „mehr Wasser“ führt zu            Erholung eingestellt, die passiert, wenn man sich
„erhöhter Neutronenabsorption“ und damit         tonische Aktivierung ist gegen die Anordnung
zu „weniger Dampfdruck“, was seinerseits         gering – ist generell die eines ranghöheren
zur Entfernung von Bremsstäben führt. Statt      Fehler- und Unfallrate am Ingenieurs stellt
eine derartige Analyse durchzuführen, ver-       höchsten (Coren, 2002).
fielen die Operateure dem ‘Intuitionsaktio-      Zudem arbeiteten die Ingenieure länger als
nismus’, sie handelten nach der intuitiv plau-   12 Stunden (Ermüdung), waren entspre-
siblen und kognitiv sparsamen Annahme,           chend länger wach. Schlafmangel wirkt auf
mehr Wasser bedeute mehr Kühlung und             das Denken, die Aufmerksamkeit und die
das wiederum bedeute ein stabileres System.      Handlungskoordination wie Alkohol (Daw-
                                                 son & Reid, 1997). Im Kontext der Ent-
Der Beschluss, den Test durchzuführen, ob-       scheidungen in Tschernobyl könnten fol-
wohl der Reaktor sich im maximal instabi-        gende empirisch nachgewiesene Wirkun-
len Zustand befand, verdeutlicht die Ten-        gen von Ermüdung und Müdigkeit (Münz-
denz, das Handeln an anschaulichen und sinn-     berger 2004; Wilker, Bischoff & Novak,
fälligen Indikatoren auszurichten. Natürlich     1994; Ulich 2001) relevant sein: generelle
wussten die Ingenieure und Operateure            Verminderung der Aktivierung, Abnahme
theoretisch, dass der Reaktor äußerst labil      der Konzentration und Aufmerksamkeits-
war und dass es in einem solchen Zustand         abbau, zudem Denkstörungen wie z.B.
zu einem plötzlichen Durchstarten kom-           Nachlässigkeit bei der Meinungsbildung,
men kann. Solches theoretisches Wissen ist       höhere Toleranz gegenüber eigenen Feh-
aber nicht unbedingt Wissen, das beim            lern und voreilige Entscheidungen, An-
Handeln bestimmend wird. Man kann sich           triebsstörungen und Veränderungen des so-
kein anschauliches Bild davon machen, was        zialen Verhaltens (geringere Bereitschaft zur
‚Durchstarten’ eigentlich bedeutet, da man       Informationsweitergabe, unkontrollierte Af-
einen derartigen Fall noch nie erlebt hat. In    fekte). Wichtig ist, dass das Gefühl der Ermü-
unserem Denken dominiert das Anschauli-          dung dem Abbau der physischen und psychi-
che, Vorstellbare über das weniger Anschau-      schen Leistungsfähigkeit hinterherhinkt,
liche, es erscheint uns bedeutsamer und          dass man sich also trotz auftretender Verän-
dringender. Viel eindrücklicher als die Kon-     derungen des Denkens und der Aufmerk-
sequenzen eines instabilen Reaktors kann         samkeit leistungsfähig fühlt.
man sich vorstellen, was passiert, wenn man
sich gegen die Anordnung eines ranghöhe- 3.2 Motivationale Ursachen
ren Ingenieurs stellt.
                                              Im Zusammenhang mit dem menschlichen
Neben den Handlungstendenzen, die aus Umgang mit komplexen soziotechnischen
der Begrenztheit des kognitiven Systems re- Systemen ist insbesondere die Kontrollmo-

                                                 Hofinger, Rek & Strohschneider                   35
tivation von Be- wieder über den Grenzwert zu heben: Den-
     Schwerpunktthema               deutung. Unter   ken und Handeln dienen der Kompetenz-
                                    Kontrollmotiva-  hygiene. Wichtig ist, dass Kompetenzhygie-
         tion versteht man das Bestreben, Einfluss   ne nicht zu eigentlich „irrationalem“ Han-
         auf seine (soziale und physische) Umwelt    deln führt, sondern lediglich einen anderen
         nehmen zu können, eigene Absichten er-      Rationalitätskontext schafft. Dieses Um-
         folgreich zu erledigen und Schadensereig-   schalten hat kurzfristig die psychohygie-
         nisse abzuwehren (Bandura, 1979; Carver &   nisch wichtige Funktion, den Organismus
         Scheier, 1982; Dörner, 1999). Das Kontroll- insgesamt handlungsfähig zu erhalten. Wir
         motiv wird durch Erfolgserlebnisse aller Artinterpretieren z.B. die folgenden in Studien
         befriedigt („Effizienzsignale“), durch Miss-zum Problemlösen gefundenen Handlungs-
         erfolge und unerwartete Ereignisse aber ak- tendenzen (nicht: „Fehler“) als Resultat ei-
         tualisiert. Menschen streben (dies kann evo-nes angeschlagenen subjektiven Kompe-
         lutionstheoretisch begründet werden)        tenzgefühls (vgl. Dörner, 1989):
         grundsätzlich danach, Kontrolle im be-      – „Vertikale Flucht“: Wunschhafte Um-
         schriebenen Sinne auszuüben, wobei die          deutung der Realität, Ausblenden objek-
         Ausprägung der Kontrollmotivation ver-          tiver Gefahren
         mutlich sowohl interindividuell variiert als– Erleben von starkem subjektiven Hand-
         auch durch soziale und kulturelle Rahmen-       lungsdruck, mit der Folge eines „aggres-
         bedingungen moderiert wird (Strohschnei-        siven“ Handlungsstils, der eine Neigung
         der, 2001). Menschen erleben das Ausmaß,        zu „starken Maßnahmen“ und „ballisti-
         in dem ihr Kontrollbedürfnis befriedigt ist,    schem Handeln“ und die Tendenz zu
         als „subjektives Kompetenzgefühl“ (Flam-        verbalen Angriffen beinhalten kann
         mer, 1990, spricht von „Kompetenzmei-       – Fehlender Abgleich des eigenen menta-
         nung“) und versuchen in der Regel, das sub-     len Modells mit der Realität, fehlende
         jektive Kompetenzgefühl möglichst hoch          Effektkontrolle
         zu halten.                                  – „Horizontale Flucht“: Rückzug in noch
                                                         gut beherrschbare Teilbereiche der Rea-
         Von besonderem Interesse ist nun die Frage,     lität
         wie Menschen darauf reagieren, wenn ihr – Rückzug und Resignation, depressive,
         subjektives Kompetenzgefühl auf Grund           mutlose Stimmungen.
         äußerer Umstände (oder missglückter eige-
         ner Handlungen) unter einen individuell Der Wunsch, sich kompetent zu fühlen, er-
         definierten Grenzwert sinkt. Man kann hier folgreich zu sein und auch von außen so
         mit der Idee der „doppelten Rationalität“ wahrgenommen zu werden, spielt unseres
         (Strohschneider, 2003) argumentieren, der- Erachtens während des ganzen Ablaufs der
         zufolge Menschen dann, wenn ihr subjekti- Prozesse in Tschernobyl bis zum GAU
         ves Kompetenzgefühl über ihrem indivi- (Größter Anzunehmender Unfall) eine ent-
         duellen Grenzwert liegt, sachrational han- scheidende Rolle. Das Kraftwerk war 1983
         deln. Sinkt aber ihr Kompetenzgefühl unter vorzeitig ans Netz gegangen, die Mitarbei-
         diesen Grenzwert, so wird das Handeln ter hatten für die Erfüllung der Pläne Prä-
         „kompetenzrational“ – es dient nun primär mien erhalten, die Operateure waren als
         nicht mehr dazu, ein sachlich gegebenes mustergültige Arbeiter ausgezeichnet, die
         Problem zu bewältigen, es dient vielmehr Ingenieure gefeiert worden. Das Äußern
         dazu, das angeschlagene Kompetenzgefühl von Bedenken gegenüber dem Experiment

36                           Menschengemachte Umweltkatastrophen
oder gar eine Absage hätte diesem subjekti-   fühls geführt haben. Darüber hinaus schien
ven wie öffentlichen Bild hoher Kompetenz     ihnen der Reaktorzustand ja tatsächlich ge-
geschadet und entsprechende Überlegun-        fährlich zu sein. In einer solchen Lage ist die
gen dürften daher von Anfang an kaum ei-      Versuchung sehr groß, einfach irgendetwas
ne Rolle gespielt haben. Dazu passt, dass     zu tun, um sich als handlungsfähig zu erle-
nach dem Übersteuerungsfehler der proble-     ben und „Effizienzsignale“ zu sammeln. In
matische Zustand des Reaktors unter den       der Folge wird das Handeln der Operateure
Ingenieuren nicht diskutiert wurde, und       „ballistisch“. Das bedeutet,
dass über einen Versuchsabbruch wohl gar      es werden schnell stark Es entwickelt sich ein
nicht nachgedacht wurde. Jeder unbeteiligte   wirkende Maßnahmen be- inneres Modell der
externe Beobachter hätte mit ziemlicher Si-   schlossen und durchge- Realität, das sich von
cherheit gesagt, „wenn die maximale Insta-    führt, ohne dass dabei ana- den tatsächlichen Gege-
bilität bei 20% Leistung beginnt, wir uns     lysiert und geprüft würde, benheiten immer weiter
aber bei 7% befinden, so ist unter diesen     ob sie die angestrebten Ef- entfernt
Umständen ein schwieriges Experiment          fekte überhaupt einbrin-
nicht machbar.“ Den Übersteuerungsfehler      gen. Pumpen werden zugeschaltet, Sicher-
zuzugeben und die Bedenken bezüglich ei-      heitssysteme umgangen, die Wasserdurch-
ner möglichen Xenon-Vergiftung zu disku-      laufmenge erhöht. Bei keiner dieser Ent-
tieren, hätte das durch die auftretenden      scheidungen wird genau geprüft, was sie tat-
Schwierigkeiten ohnehin angegriffene          sächlich bewirken. Es wird nur angenommen,
Kompetenzgefühl weiter verringert. So         dass sie die Dinge in die gewünschte Rich-
wurden Probleme ausgeblendet oder als         tung lenken und anschließend wird auf der
nicht gravierend bewertet. Bagatellisierung   Basis dieser Annahme weiter geplant. Es
von Problemen schützt das Kompetenzge-        entwickelt sich ein inneres Modell der Rea-
fühl effektiv („es gibt keine Bedrohung“,     lität, das sich von den tatsächlichen Gege-
„das haben wir im Griff“) und wird des-       benheiten immer weiter entfernt. Deutlich
halb oft lange beibehalten – unter Umstän-    wird das in dem schockierten Ausspruch des
den so lange, bis es zu spät für eine Korrek- Schichtleiters Akimow, der sich das Blinken
tur ist.                                      der Anzeigen und die klemmenden Brems-
                                              stäbe kurz vor der Explosion nicht erklären
Kompetenzrationales Handeln können wir kann: „Was ist denn das für eine Teufelei?
auch bei den Operateuren annehmen, nach- Wir haben doch alles richtig gemacht.“
dem sie von den Ingenieuren aufgefordert (Medwedew, 1991, S. 104).
worden waren, den Beschluss zum Weiter-
zumachen zu befolgen. Ihre Einwände (die Auch das Verhalten des stellvertretenden
angesichts der strikten Hierarchie ohnehin Chefingenieurs lässt sich als aggressive
schon ein mutiger Akt gewesen waren; s.u.) Form der Kompetenzregulation interpretie-
waren nicht gehört worden. Die Ingenieure ren: Nachdem sich ein paar Minuten zuvor
hatten deutlich gemacht, dass sie die Situa- auf eine Frage des Schichtleiters hin gezeigt
tion nicht für gefährlich hielten. Die Opera- hatte, dass die zulässige Mindestanzahl der
teure hatten sich also eine Blöße gegeben, Bremsstäbe im Reaktorkern weit unter-
indem sie zugaben, Bedenken zu haben schritten war, reagiert der Ingenieur erstens
oder sich der Situation nicht gewachsen zu erneut mit dem Beschluss, das Experiment
fühlen. Dies dürfte bei ihnen zu starken zu Ende zu führen, was angesichts der ob-
Verlusten des subjektiven Kompetenzge- jektiven Lage vollkommen irrational er-

                                                Hofinger, Rek & Strohschneider                 37
scheint.   Unter               sätzliche Unbestimmtheit erzeugen, Ver-
     Schwerpunktthema               der Perspektive                wirrung stiften und damit die Komplexität
                                    der Kompetenz-                 der Aufgabe zusätzlich erhöhen, das Kom-
         regulation ist das Verhalten einleuchtend:                petenzgefühl der einzelnen Teammitglieder
         Hätte er jetzt den Test abgebrochen, hätte er             beinträchtigen und durch beide Prozesse die
         sich mit der Tatsache konfrontiert gesehen,               Wahrscheinlichkeit der oben beschriebenen
         einen Atomreaktor in einen äußerst kriti-                 Verhaltenstendenzen erhöhen (Strohschnei-
         schen Zustand gefahren zu haben. Sein                     der & Gerdes, 2004).
         Kompetenzempfinden wäre vermutlich zu-
         sammengebrochen. Es ist daher eine kom-      Ein anderer kritischer Mechanismus wäre
         petenzrationale Reaktion, sich die Lage des  die Entstehung von „Gruppendenken“ sen-
         Reaktors nicht genau klar zu machen, son-    su Janis (1972): Das Team fühlt sich durch
         dern mit dem Experiment weiter zu ma-        die aktuellen Entwicklungen als Team be-
         chen. Zweitens greift er die Kompetenz der   droht und reagiert mit einer Reihe mittler-
         Operateure und ihre Einschätzung der Lage    weile als klassisch geltender Symptome:
         an; Abwertung anderer kann der Steigerung    – Erhöhung der Gruppenkohäsion
         des eigenen Kompetenzgefühls dienen: Er      – „Erfindung“ von Gegnern, Abgrenzung
         kommentiert das Zögern der Operateure            von „den anderen“
         mit „Etwas beweglicher, meine Herren!        – Selbstzensur, Ausgrenzung von War-
         Noch ein, zwei Minuten, dann ist es vor-         nern und Mahnern
         bei“.                                        – Übersteigerte Selbstsicherheit samt dem
                                                          damit verbundenen risky shift
         3.3 Soziale Faktoren                         –   Reduktion der geprüften Entschei-
                                                          dungsalternativen und reduzierte Hypo-
         Der Umgang mit komplexen, dynamischen            thesenbildung.
         soziotechnischen Systemen ist durch die Be-
         grenzungen des kognitiven Systems und Besonders anfällig für diese Symptome sind
         motivationale Faktoren häufig genug fehler- nach Janis Gruppen, die sich aufgrund
         trächtig. In realen Problemsituationen ver- bisheriger Erfolge als Expertenteams erle-
         schärft das Team als weitere Ebene neben ben.
         dem Sachproblem und der Selbstregulation
         der Akteure die Schwierigkeiten im Um- Auch wenn dieses Modell auf der Grundla-
         gang mit komplexen Systemen. Warum ge von Laborstudien immer wieder ange-
         „verschärft das Team die Schwierigkeiten“? griffen wird (z.B. Schulz-Hardt, 1997), las-
         Ist nicht das Team ein Rückhalt für den Ein- sen sich einige dieser Phänomene im Un-
         zelnen, die Versicherung für verbesserte fallhergang von Tschernobyl an entschei-
         Problemlösungen, die Garantie gegen Aus- denden Stellen wieder finden. Deutlich ist
         fälle? – Das kann so sein, dann muss es sich die Erhöhung der Gruppenkohäsion bei gleich-
         aber um ein gut trainiertes Emergency Ma- zeitiger Abgrenzung gegen „die anderen“ in den
         nagement Team handeln, das nicht nur die beiden Expertenteams in einer sich negativ
         operative Ebene des Handelns beherrscht, entwickelnden Situation. Von Anfang an be-
         sondern auch die strukturelle und die pro- fanden sich die Beteiligten in einer schwie-
         zessuale (Stempfle, 2004). Diese Vorausset- rigen sozialen Situation: Auf der einen Seite
         zungen sind oft nicht gegeben. Dann kann stand ein Team von Operateuren, das sich
         gerade die soziale Interaktion im Team zu- kannte, das täglich mit ‚seinem’ Reaktor

38                           Menschengemachte Umweltkatastrophen
umging und das für seine gute Arbeit schon     Entscheidungen (zweimal im Abstand von
einmal öffentlich ausgezeichnet worden         20 Minuten), das Experiment trotz der kri-
war. Auf der anderen Seite gab es das Team     tischen Entwicklungen fortzuführen. Die
von Ingenieuren, das von außerhalb kam         Gruppensituation lässt keine kritische Refle-
und für die Zwecke der Testung den Ope-        xion der Lage, des mentalen Modells und
rateuren hierarchisch übergeordnet wurde.      der getroffenen und geplanten Maßnahmen
Dazu kam, dass die Durchführung des Ex-        mehr zu. Würde man Kritik äußern und da-
periments geheim war. Neben der Tatsache,      mit das Handeln der eigenen Gruppe in
dass der Reaktor 1983 nicht hätte ans Netz     Frage stellen, müsste man damit rechnen,
genommen werden dürfen, ohne dass dieser       dass die anderen durch Abwehr der Kritik
Sicherheitstest stattgefunden hatte, wurde     und Ausgrenzung des Kritikers ihr Kompe-
der Öffentlichkeit verschwiegen, dass in       tenzgefühl schützen. Da der soziale Rück-
Tschernobyl neben Strom auch waffenfähi-       halt in der eigenen Gruppe aber in schwie-
ges Plutonium hergestellt wurde. Diese         rigen Situationen oft zentral ist für das eige-
Konstellation erhöhte den Druck auf die In-    ne Kompetenzerleben, kann es zu Selbst-
genieure, den Test schnell und ohne Aufse-     zensur und Unterdrückung abweichender
hen durchzuführen, außerdem erzeugte sie       Gedanken kommen.
aber zwischen den Teams auch eine ungute
Stimmung der Heimlichtuerei. Die Opera-        Bei den Operateuren lässt sich der Risiko-
teure fühlten sich wohl bevormundet und        schub („risky shift“, Kogan & Wallach, 1969)
nicht ernst genommen, erlebten die Ver-        beobachten. Auch bei den Operateuren
schwiegenheit der Ingenieure als Arroganz,     fehlt offensichtlich kritische Reflexion des
wurden aber ihrerseits zur Geheimhaltung       Handelns, als sie nach einer ganzen Reihe
verpflichtet, ohne ausdrücklich die Gründe     von Entscheidungen deren Effekte nicht
dafür zu wissen. Durch diese Umstände          überprüfen, sondern die
entstand eine starke Gruppenkohäsion           vom Team als wahrschein- Sie handelten riskanter
innerhalb der beiden Einzelteams und eine      lich angenommenen Er- anstatt vorsichtiger in
deutliche Abgrenzung gegenüber „den An-        gebnisse als feststehende einer Situation, in
deren“, was einen offenen, konstruktiven       Tatsachen behandeln. Als der bereits verbotene
Austausch zwischen ihnen unwahrschein-         sie dann aufgrund ihres Zustände vorlagen
lich macht.                                    mentalen Modells (das mit
                                               der Realität nicht mehr gut übereinstimmt)
Diese Gruppenkonstellation hat Einfluss auf    beschließen, ein weiteres Sicherheitssystem,
kognitive Tendenzen, wie sie oben be-          das sich bei stark abfallendem Dampfdruck
schrieben wurden: Die Ingenieure bilden        von selbst zuschalten würde, zu kappen,
ihr Modell von der Lage, lassen sich durch     wird deutlich, dass sie ihre eigenen Kompe-
den Einspruch der Operateure nicht beir-       tenzen überschätzen und sich ihre Risiko-
ren, sondern verteidigen ihre Sicht der Din-   wahrnehmung verschoben hat. Das Ab-
ge. Bei den Operateuren findet keine syste-    schalten dieser Vorrichtung war ausdrück-
matische Analyse und Hypothesenbildung         lich verboten. Im Laufe der Nacht hatte sich
mehr statt, sie verlassen sich eher auf ihr    bei den Operateuren aber die Meinung ent-
Gruppenwissen und ihr Gefühl.                  wickelt, das sei nun alles ein besonderer
                                               Fall, dafür seien die Bestimmungen nicht
Selbstzensur könnte in der Gruppe der Inge-    ausgelegt und man hätte die Dinge im Griff.
nieure stattgefunden haben angesichts der      Sie handelten riskanter anstatt vorsichtiger

                                               Hofinger, Rek & Strohschneider                    39
in einer Situation,               verschiedene Faktoren und Dimensionen,
     Schwerpunktthema            in der bereits drei               in unserem Kontext scheinen uns aber die
                                 verbotene      Zu-                folgenden Aspekte bedeutsam:
         stände (7% Leistung, zu viele Pumpen, zu
         wenig Bremsstäbe) sowie eine Xenonvergif-                 – Kultureller Kollektivismus: Dieser von Hof-
         tung vorlagen.                                              stede (1980, s.a. Kim, Triandis, Kagitci-
                                                                     basi, Choi & Yoon, 1994) stark propa-
                                                                     gierte Begriff bezeichnet die Bedeutung
         3.4 Organisationale und kulturelle                          enger sozialer Beziehungen, die Bedeu-
             Faktoren                                                tung von Gemeinschaften und Kollekti-
                                                                     ven, in die der Einzelne sozial und emo-
         Die Katastrophe von Tschernobyl erscheint                   tional integriert ist, und die ihn, im Aus-
         oft deshalb so unfassbar, weil für einen                    tausch gegen unbedingte Loyalität,
         Außenstehenden schwer begreifbar ist, wa-                   schützen. In kollektivistischen Kulturen
         rum die Ingenieure und Operateure den                       werden Entscheidungen in Bezug auf
         Reaktor scheinbar „sehenden Auges“ in den                   das Gruppenwohl reflektiert und der
         GAU gefahren haben. Neben den bislang                       Einzelne ist eher bereit, individuelle Zie-
         diskutierten psychologischen Mechanismen                    le aufzugeben, wenn sie den Gruppen-
         ist für die Erklärung ihrer Entscheidungen                  zielen widersprechen.
         und Handlungsweisen auch die Kenntnis                     – Machtdistanz und soziale Hierarchisierung:
         des kulturellen Kontexts wichtig, auch                      Mit Machtdistanz wird das Ausmaß be-
         wenn dessen Wirkung weniger offensicht-                     zeichnet, in welchem es die Mitglieder
         lich ist.                                                   einer Kultur akzeptieren, dass Macht
                                                                     und Einfluss in der Gesellschaft un-
          Das Handeln von Menschen in kritischen                     gleichmäßig verteilt sind (Fischer &
          Situationen ist nicht nur von ihrer sozialen               Smith, 2003). Kulturen mit hoher
          Situation, ihrem Vorwissen und ihren indi-                 Machtdistanz sind meist hierarchisch
          viduellen Lernerfahrungen abhängig. Die                    aufgebaut, der (subjektiv erlebte) Ent-
          Organisation als Kontext des Handelns be-                  scheidungsspielraum des Einzelnen ist
                            einflusst das Handeln des                von seiner Hierarchieposition abhängig.
    Die Organisation als Individuums. Wichtige                       Je weiter unten man in der Hierarchie
  Kontext des Handelns Einflussbereiche der Orga-                    angesiedelt ist, desto mehr erlebt man
beeinflusst das Handeln nisation auf ihre Mitglie-                   sich als weisungsgebunden, desto weni-
        des Individuums der sind Kommunikations-                     ger fühlt man sich aber auch für das, was
                            und Informationswege,                    geschieht, verantwortlich.
          Arbeitsplatzgestaltung und Technologien,                 – Strategische Präferenzen: Organisations-
          Personalauswahl und -entwicklung, Werte                    wie Nationalkulturen lassen sich hin-
          und Ziele und Sicherheitskultur (z.B. Schul-               sichtlich der strategischen Handlungs-
          te-Zurhausen, 2002; Reason, 1997). Auf sie                 muster beschreiben, die sie beim Um-
          wird hier aus Platzgründen nicht weiter ein-               gang mit unbestimmten, kritischen Situ-
          gegangen.                                                  ationen bevorzugen (Strohschneider,
                                                                     2001). Bedeutsam ist hier z.B. die Unter-
         Neben der Organisationskultur spielt auch                   scheidung zwischen kurzfristig angeleg-
         der nationalkulturelle Kontext eine wichti-                 ten, offensiven Strategien und vorsich-
         ge Rolle. Nun umfasst „Kultur“ sehr viele                   tig-defensiven Strategien oder die zwi-

40                           Menschengemachte Umweltkatastrophen
schen einer geplanten Vorgehensweise lyse der Situation und Eigenständigkeit in
     und einem „adhocistischen“ Durch- der Beurteilung der Lage zu untergraben.
     wursteln.                                 Eigenes Denken, eigene Ideen und Kreati-
                                               vität waren weniger wichtig als Konfor-
Kulturelle Rahmenbedingungen geben in mismus und Folgebereitschaft. Solche Nor-
vielerlei Hinsicht Tendenzen und Inhalte men unterstützen die Haltung, sich nach
vor, die überhaupt erst koordiniertes und Vorschriften und Ablaufplänen zu richten
„sinnvolles“ Handeln innerhalb einer Kul- und nicht alles selbst genau zu durchden-
tur ermöglichen (vgl. auch Thomas, 1996). ken, Hypothesen zu bilden und unabhängi-
Sie machen sozusagen einen ‚Handlungs- ge Bewertungen anzustellen.
tunnel’ auf, der festlegt, welche Handlungs-
möglichkeiten dem Einzelnen überhaupt Auf gesellschaftlicher und staatlicher Ebene
offen stehen. Durch die Eingebundenheit in lassen sich außerdem weitere Faktoren fin-
ihre (Organisations- und National-)Kultur den, die zwar nicht unmittelbar, aber doch
haben Handelnde also nicht – wie von au- im Vorfeld die Tschernobyl-Katastrophe
ßen oft angenommen – alle theoretisch mit verursachten. Es scheint z.B. aus heuti-
denkbaren Handlungsmöglichkeiten zur ger Sicht unverständlich, warum die War-
Verfügung.                                     tung des Reaktors mit dem integrierten Ex-
                                               periment ausgerechnet so kurz vor den
Beispielsweise unterschied sich die Weisungs- Maifeiertagen und dem Monatswechsel an-
kultur im ehemals sowjetischen System mit gesetzt wurde. Wegen des Zwangs zur Plan-
hoher Machtdistanz stark von der mitteleuro- erfüllung war es absehbar, dass zu dieser
päischen. Ein Befehl kam vom Vorgesetzten Zeit alle Betriebe auf Hochtouren arbeiten
und wurde dann durchgeführt, ohne dass und der Strombedarf in diesen Tagen hoch
Wert darauf gelegt wurde, dass der Befehls- sein würde. Der Beschluss der Behörde,
empfänger die Anweisung noch einmal Wartung und Test zu diesem Zeitpunkt an-
selbst durchdachte (Muckle, 1988). Ver- zuordnen, scheint in diesem Zusammen-
stärkt wurde dieses Prinzip im Falle von hang strategisch undurchdacht. Möglicher-
Tschernobyl noch dadurch, dass es sich um weise sind solche Flüchtigkeiten der Pla-
ein Prestige-Objekt des Staates handelte nung einem System immanent, in dem Ent-
und dass militärische Interessen und Ge- scheidungen ‚top-down’ gefällt und weiter-
heimhaltungsinteressen bestanden. Der gegeben werden, ohne dass sich die Ent-
Testauftrag der Ingenieure stammte von der scheider von der Situation vor Ort ein ge-
Regierung und damit waren sie vor den naues Bild gemacht hätten.
Operateuren für jede Weisung legitimiert
(Medwedew, 1991, S. 67f). Unter diesen Ein weiterer interessanter Aspekt ist der
Umständen scheint es eher erstaunlich, dass Umgang mit Sicherheit und die Rolle
die Operateure überhaupt Widerspruch der Außenwirkung. Die „Hochleistungs-
wagten; nicht erstaunlich dagegen ist, dass Druckröhren-Reaktoren“ (RBMK-Reakto-
sie erneute Versuche unterließen, als sie ren), von dessen Typ auch das Kraftwerk
kein Gehör gefunden hatten.                    von Tschernobyl war, wurden als Aushän-
                                               geschild der sowjetischen Ingenieurskunst
Ebenso mag ein kollektivistisch angelegtes Ge- gesehen, besonders wegen einiger Details
sellschaftssystem wie das der ehemaligen So- der Sicherheitssysteme. Zwar werden die
wjetunion dazu beigetragen haben, die Ana- Angaben über Konstruktion und Sicherheit

                                             Hofinger, Rek & Strohschneider                 41
der    russischen              Jede Analyse spaltet das zu Analysierende in
     Schwerpunktthema               RBM K-Reakto-                  Einzelaspekte auf. Nun sind aber kognitive,
                                    ren unter Ver-                 motivationale, soziale und organisationale
          schluss gehalten, aber verschiedenen Quel-               Faktoren nicht stringent zu trennen. Dies
          len (vgl. Medwedjew, 1991, S. 18-55) ist zu              sei am Beispiel des Umgangs mit Sicher-
          entnehmen, dass das Stromüberbrückungs-                  heitsregeln verdeutlicht: In Tschernobyl
          system, das am 26. April 1986 getestet wur-              scheinen Verletzungen von Sicherheitsre-
          de, eine der zentralen Sicherheitsvorrich-               geln nicht nur in der Nacht des GAU vor-
          tungen dieses Reaktortyps war. Es ist damit              gekommen zu sein, sondern bereits vorher
                           schwer nachvollziehbar,                 immer wieder praktiziert worden zu sein
Hätte sich die Inbetrieb- wie außer Tschernobyl                    (Dörner, 1989). Hier treffen kognitive Me-
 nahme verzögert, wäre noch einige weitere dieser                  chanismen (Lernen) und motivationale
     der Technik-Mythos Reaktoren ans Netz ge-                     Faktoren (Ökonomietendenzen) beim Indi-
      angekratzt worden nommen werden konnten,                     viduum, soziale Prozesse (Beeinflussung der
                           ohne dass diese Tests vor-              Risikowahrnehmung) und Organisations-
          her erfolgreich durchgeführt worden waren.               kultur (Wertigkeit von Regeln) zusammen.
          Hätte das russische Energieministerium                   Es ist ein auch aus anderen Hochrisikobran-
          aber aus diesem Grunde die Inbetriebnah-                 chen bekanntes Phänomen, dass das folgen-
          me verzögert oder später die Reaktoren ex-               lose Übertreten von Sicherheitsregeln („vio-
          plizit zur Durchführung dieser zentralen                 lation“; Reason, 1990) dazu führt, dass die
          Tests heruntergefahren, wäre der Technik-                Regel regelmäßig außer Kraft gesetzt wird
          Mythos angekratzt worden. Erst vor diesem                („normal violation“, Vaughan, 1996): Im
          Hintergrund erklärt sich der hohe Druck,                 „normalen“ Alltag wird das Verletzen von
          der auf den Ingenieuren und damit auch                   Sicherheitsvorschriften, die eine Pufferbe-
          Operateuren lastete, das Experiment schnell              reich haben, nicht bestraft (etwa durch ei-
          und geheim sowie möglichst erfolgreich                   nen sofortigen Unfall). Im Gegenteil bringt
          durchzuführen, so dass sich alles weitere                die Regelübertretung meist eine Vereinfa-
          Tun diesem Ziel unterordnete.                            chung der Dinge (Abkürzung) mit sich. Es
                                                                   findet nun durch diese Belohnung (Verstär-
                                                                   kung) der Regelübertretung ein Lernpro-
                                                                   zess statt: Regelbrüche scheinen zu Arbeits-
         4 Abschließende                                           erleichterungen zu führen ohne negative
           Bemerkungen                                             Konsequenzen. Diese Lernerfahrung deter-
         Wir haben in diesem Artikel einige der                    miniert zukünftige Gefahreneinschätzun-
         „Humanfaktoren“ diskutiert, die entschei-                 gen; die Regeln selber werden als übertrie-
         dend zum GAU in Tschernobyl beigetragen                   ben oder nur für Anfänger nötig bewertet.
         haben. Ergonomische Faktoren (wie die                     Diese Haltung gegenüber Sicherheitsregeln
         Gestaltung der Displays im Kontrollraum,                  wird sozial tradiert (etwa an neue Teammit-
         die Informationsdarstellung etc.) haben wir               glieder weitergegeben); zudem muss sich
         dabei nicht beachtet, sondern uns auf spezi-              ein Teammitglied, das die (umständlichen)
         fisch psychologische Themen der Hand-                     Regeln einhalten will, implizit vor der
         lungsregulation im sozialen und kulturellen               Gruppe für diese Erschwernis rechtfertigen.
         Kontext beschränkt.                                       Die Folge ist, dass Regelübertretung in Or-
                                                                   ganisationen „normal“ werden, wenn das
                                                                   Management nicht energisch gegensteuert.

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