Menschengemachte Psychologische von Tschernobyl
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Schwerpunktthema Menschengemachte Psychologische von Tschernobyl Zusammenfassung Gesine Hofinger „Tschernobyl“ wurde zum Symbol für Ka- Plattform „Menschen in komplexen Arbeitswel- tastrophen, die unmittelbar durch das Han- ten“ e.V. Diplompsychologin, Studium der deln von Menschen ausgelöst werden. Wir Psychologie und Promotion in Bamberg; Tätig- beschreiben in diesem Aufsatz verschiedene keit als Wissenschaftlerin und Trainerin; Schwerpunkte Human Factors, Feh- Formen menschengemachter Umweltkata- lermanagement, Sicherheit, Handeln in kritischen Situationen. strophen, schildern den Ablauf des GAUs von Tschernobyl und analysieren die kogni- tiven, motivationalen, sozialen und kulturel- len Hintergründe, die dazu geführt haben, Ute Rek dass ein Testprogramm zur Überprüfung ei- Institut für Theoretische Psychologie, Univer- ner Notfallfunktion des Reaktors zu seiner sität Bamberg. Diplompsychologin, Studium der Explosion führte. Wir gehen davon aus, dass Psychologie in Bamberg, Wissenschaftliche Mit- Handlungen, die in derartigen Katastrophen arbeiterin und Doktorandin am Institut für Theoretische Psychologie; resultieren, einerseits natürlich „Fehler“ im Schwerpunkte Human Factors, Krisenmanagement, Terrorismusforschung. Sinne des katastrophalen Ergebnisses sind. Sie folgen andererseits aber den allgemei- nen Gesetzmäßigkeiten menschlichen Den- kens und Handelns und sind daher nicht als Stefan Strohschneider vereinzelte, außergewöhnliche, individuelle Institut für Theoretische Psychologie, Univer- Fehltritte interpretierbar. sität Bamberg. Diplompsychologe. Studium der Psychologie, Promotion und Habilitation in Schlüsselwörter: Menschengemachte Katastro- Bamberg, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Theoretische phen, Human Factors, Handlungspsychologie, Psychologie, zwischenzeitlich auch an der Projektgruppe für Kognitive An- Denkfehler, Gruppendenken, Tschernobyl thropologie der Max-Planck-Gesellschaft. Forschungsschwerpunkte im Be- reich komplexes Problemlösen, kulturvergleichende Psychologie, Krisenma- nagement. 26 Umweltpsychologie, 10. Jg., Heft 1, 2006, 26-45
Umweltkatastrophen – Hintergründe am Beispiel Abstract 1 Menschengemachte Psychological factors in man-made Katastrophen environmental catastrophes: The Tschernobyl Tschernobyl war nicht nur eine der example schwersten menschengemachten Umwelt- „Chernobyl” has become a symbol for those katastrophen der jüngeren Vergangenheit, catastrophes that are directly triggered by Tschernobyl wirkte auch – zumindest indi- decisions and actions of individuals. In this rekt – als bedeutsamer Ka- paper, we distinguish among different forms talysator der Fehlerfor- Tschernobyl beförderte of man-made environmental catastrophes schung (z.B. Dörner, 1989; damit eine Perspektiven- and describe the processes that finally led to Reason, 1990) und als verschiebung weg von the explosion of the Chernobyl reactor. We wichtiger Impuls für die rein technischen Sicher- then analyze the cognitive, motivational, so- Verbreitung des Human- heitsdebatten hin zur cial, and cultural factors that turned a test of Faktoren-Gedankens, d.h. deutlicheren Betonung a technical emergency function into a catas- der psychologischen Ana- der Rolle des Menschen trophe. We argue that thought processes and lyse der Interaktion von actions that result in such catastrophes can, Menschen mit komplexen soziotechnischen from the outcome-perspective, certainly be Systemen (Vicente, 2004). Tschernobyl be- considered „errors”. However, they also fol- förderte damit eine Perspektivenverschie- low the general laws of human action regu- bung weg von rein technischen Sicherheits- lation and can, therefore, not be considered debatten hin zur deutlicheren Betonung der to be single, extraordinary, individual mis- Rolle des Menschen (Reason, 1987). takes. Wir wollen in diesem Artikel einige für die Key words: Human factors, Chernobyl, man- Umweltpsychologie relevante Erkenntnisse made disaster, human error, group think, psy- aus den Arbeiten der vergangenen zwei chology of action Jahrzehnte zusammenfassen, diese am Bei- spiel der Reaktorkatastrophe von Tscherno- byl selbst verdeutlichen und schließlich die Rolle von politischen und organisatorischen Rahmenbedingungen als Einflussfaktoren diskutieren. Hofinger, Rek & Strohschneider 27
die ihr Handeln meist nicht mit umweltre- Schwerpunktthema levanten Ereignissen in Verbindung bringen, ihre Kontrollüberzeugungen bezüglich des 1.1 Typen menschengemachter Umwelt- Verhinderns von Katastrophen sind nur ge- katastrophen ring ausgeprägt. Ein weiterer wichtiger Unterschied scheint uns darin zu liegen, Wenn man über menschengemachte Um- dass es beim Tschernobyl-Typ eine begrenzte weltkatastrophen spricht, so muss man sinn- Menge diskreter auslösender Faktoren gibt. Sol- vollerweise zwei verschiedene Typen von che diskreten auslösenden Faktoren können Katastrophen unterscheiden. Zum ersten bewusst getroffene Entscheidungen sein. Typ – nennen wir ihn „Tschernobyl-Typ“ - Beim Club of Rome-Typ liegt dagegen ein gehört natürlich Tschernobyl selbst, aber andauerndes, kontinuierliches Einwirken auch die „Exxon Valdez“, die „Amoco Ca- auf ein System vor, eine Menge von schlei- diz“, Bhopal oder Seveso. Beispiele für den chenden, impliziten und unreflektierten zweiten Typ – man könnte ihn den „Club Entscheidungen bei vielen Individuen. Die- of Rome- Typ“ nennen (Meadows, Randers ser zweite Typus macht daher auch eine & Meadows, 2004) - wären etwa die Flut- Adaptation an das steigende Risiko möglich, katastrophe in Sachsen 2002 (von der Weth, das System gelangt langsam in den „roten 2003), generell der Klimawandel oder das Bereich“, ohne dass etwas entscheidend Artensterben. Beide Typen von Katastro- Schlimmes passiert – die Risikogrenze wird phen unterscheiden sich hinsichtlich ver- langsam immer wieder nach oben verscho- schiedener Kriterien (Tabelle 1). Ein wichti- ben (z.B. die tolerable Feinstaubbelastung). ges Unterscheidungskriterium ist sicherlich Dekker (2005; eig. Übersetzung) spricht die zeitliche Nähe zwischen den auslösenden hier vom „allmählichen Abdriften von Sys- Faktoren (obwohl diese möglicherweise temen in die Unzuverlässigkeit“. Die Tatsa- wiederum selbst eine lange Geschichte ha- che eines explodierten Reaktors oder eines ben) und der Katastrophe selbst (beim ausgelaufenen Öltankers dagegen ist nicht Tschernobyl-Typ ist der zeitliche Zu- zu übersehen. sammenhang sehr eng). Ein zweites Krite- rium ist die Frage, ob das Handeln (oder Nicht-Handeln) individueller Menschen oder 1.2 Unfallursache „menschliches von Menschengruppen (Brückenbesatzun- Versagen“ gen, Anlagenfahrer) in die Kausalkette an zentraler Stelle einzufügen ist. Beim Wir beschäftigen uns in diesem Aufsatz mit Tschernobyl-Typ ist das in der Regel mög- menschengemachten Umweltkatastrophen lich, beim Club of Rome-Typ trägt oft „die vom Tschernobyl-Typ, gekennzeichnet Allgemeinheit“ die Verantwortung. Beim durch zeitliche Nähe von Auslösern und Er- ersten Typ gibt es einen „Ort des Gesche- eignis, eine begrenzte Zahl diskreter auslö- hens“ und es gibt einige (wenige) handeln- sender Ereignisse und das bewusste Han- de Personen, die wissen, dass sie mit ihrem deln von Menschen an entscheidender Stel- Handeln Einfluss auf den Gang der Ereig- le der Kausalkette. Die Forschung zu Hu- nisse und damit auch auf Umweltgefähr- man Factors hat seit den 80er Jahren ver- dungen nehmen (hohe Kontrollüberzeu- schiedene großtechnische Unfälle unter- gung im Sinne Flammers, 1990). Beim sucht – nicht alle davon waren Umweltkata- zweiten Typ gibt es eine Menge Beteiligter, strophen (wie z.B. das Challenger-Unglück, 28 Menschengemachte Umweltkatastrophen
Tabelle 1: Zwei Typen menschengemachter Katastrophen Merkmal "Tschernobyl" "Club of Rome" Zeitliche Nähe zwischen auslösenden Hoch Gering Faktoren und Katastrophe Wessen Handeln ist kausal bzw. Benennbare Individuen "Die Allgemeinheit" auslösend? Kontrollüberzeugung handelnder Hoch (Bewusstsein vom Gering (es wird kein Zu- Personen Zusammenhang zwischen sammenhang zwischen eigenem Handeln und eigenem Handeln und Katastrophe) Katastrophe gesehen) "Ort des Geschehens" Konkreter Ort Ubiquitär Menge auslösender Faktoren Begrenzt, konkrete Hand- Andauerndes, kontinuier- lungen liches Einwirken Entwicklung Plötzlich, ein Ereignis Schleichend zur Analyse siehe Vaughan, 1996). Es gilt als iert und gewartet wird. Und „menschliches mittlerweile allgemein akzeptiert, dass Not- Versagen“ lässt sich fast nie als fehlerhaftes fälle und Katastrophen von diesem Typ Handeln nur einer Person multikausal bedingt sind (Chiles, 2002; Re- beschreiben, sondern es ist Notfälle und Katastro- ason, 1990; Strauch, 2002; Vicente, 2004). Resultat verschiedener phen sind multikausal In allen untersuchten Fällen gibt es mehre- Einflussfaktoren auf ver- bedingt re direkt und indirekt wirkende Nahursa- schiedenen Ebenen einer chen und es gibt Fernursachen psychologi- Organisation. Diese gilt es genauer zu scher, sozialer und organisatorischer Art. untersuchen, wenn Umweltkatastrophen Dies entspricht der bekannten Unterschei- verhindert werden sollen. dung von „aktiven“, direkt auslösenden Fehlern und „latenten Bedingungen“, die 1.3 Tschernobyl: Normale Handlungs- durch frühere Entscheidungen bedingt als regulation? Fehlerursachen im System verborgen liegen (Reason, 1997). Die Explosion des Reaktors 4 des Lenin- Kraftwerks Tschernobyl erregt nicht nur In der Öffentlichkeit gerne verwendete Er- durch ihre Auswirkungen auf Mensch und klärungsmuster wie „menschliches Versa- Umwelt bis heute Aufmerksamkeit, son- gen“ oder „technisches Versagen“ erweisen dern auch aus einem anderen Grund, der sich unter dieser Perspektive als Scheiner- der Katastrophe ihre Einmaligkeit nimmt klärungen. Bei genauer Betrachtung zeigt und sie so noch bedrohlicher macht: Bezüg- sich nämlich, dass es „technisches Versagen“ lich ihrer unmittelbaren Ursachen lässt sie als solches gar nicht gibt: Auch hinter Sys- sich auf eine Reihe von Handlungen zu- temausfällen, Materialermüdungen etc. ver- rückführen, die sich in der konkreten Situa- birgt sich wieder „menschliches Versagen“, tion als schwere Fehler erwiesen haben, die da Technik von Menschen erdacht, konstru- aber allgemeinpsychologisch erklärbar sind. Hofinger, Rek & Strohschneider 29
Wir werden im tastrophe betont (z.B. Tschernousenko, Schwerpunktthema Folgenden zu zei- 1992) und eine, die die psychologischen und gen versuchen, sozialen Aspekte in den Vordergrund rückt dass die in Tschernobyl wirksamen Mecha- (z.B. Reason, 1990). Wir beziehen uns im nismen unserem psychischen System imma- Folgenden vor allem auf die zweite Sicht- nent sind und gerade nicht vereinzelte, weise, stellen dabei aber auch die techni- außergewöhnliche Fehl- schen Ursachen in ihrer Bedeutung für das Das in Tschernobyl tritte der Fahrer des Reak- konkrete menschliche Handeln dar. Die Er- vorgefundene Hand- tors 4 von Tschernobyl: läuterungen zum Unfallhergang folgen lungsmuster folgt den Das in Tschernobyl vorgefun- Knigge (1988), Medwedew (1991), Med- allgemeinen Gesetzmä- dene Handlungsmuster folgt wedjew (1991), Michel und Spengler (1986), ßigkeiten menschlichen den allgemeinen Gesetzmäßig- Reason (1987) sowie Tschernousenko Denkens und Handelns keiten menschlichen Denkens (1992). und Handelns. Vergleichba- re Handlungen könnten also in schwierigen, Funktionsweise des Reaktors problematischen Situationen von jedem durch- geführt werden – je nach situativen Umstän- Der Reaktor von Tschernobyl produziert den auch mit ähnlich katastrophalen Konse- Strom, indem durch die thermische Energie quenzen. Dies macht die Geschichte der der Kernspaltung Wasser bis zum Siede- Katastrophe für die Diskussion über Sicher- punkt erhitzt wird und der entstehende heit in der Mensch-Technik-Umwelt-Inter- Dampf Turbinen antreibt, die mit Stromge- aktion so interessant. neratoren verbunden sind. Vereinfacht dar- gestellt laufen daher durch den Reaktorkern Was sind nun die „menschlichen Faktoren“, neben den Brennstäben mit dem Uran zahl- die am Entstehen menschengemachter Um- reiche Wasserrohre in zwei Kreisläufen: weltkatastrophen (Tschernobyl-Typ) betei- zum einen im Primärkreislauf, der Wasser ligt sind? Generell kann man die verschie- durch den Kern und anschließend den denen Ursachen vier großen Gruppen zu- Dampf zu den Turbinen führt, zum anderen ordnen, die wir im Folgenden skizzenhaft im Notkühlkreislauf, der ebenfalls Wasser umreißen wollen um sie dann jeweils an der durch den Reaktorkern führt, aber rein zur Reaktorkatastrophe von Tschernobyl zu Kühlung des Kerns dient. Wenn das für die exemplifizieren: kognitive, motivationale, Energiefreisetzung wesentliche Isotop soziale und organisationale/kulturelle Fak- Uran-235 gespalten wird, so setzt es sehr toren. Wir stellen zunächst einen kurzen schnelle Neutronen frei, die ihrerseits wei- Überblick über den Ablauf des Geschehens tere Kerne spalten können. Dadurch im Reaktor bis zur Havarie voran, auf den kommt es sehr schnell zur explosiven Ket- wir jeweils an gegebener Stelle zur Illustra- tenreaktion. Will man die Kernspaltung tion der vorgestellten „Human Factors“ zu- zum Gewinnen von Strom nutzen, so muss rückgreifen werden. man diesen schnellen Aufschaukelungspro- zess bremsen. Im Reaktortyp von Tscher- nobyl wird hierfür Graphit verwendet: 2488 2 Der Unfallhergang Graphitstäbe können in den Reaktorkern Es gibt in der Literatur zu Tschernobyl zwei ein- und ausgefahren werden und so die Ge- „Theorieschulen“, eine, die vor allem die schwindigkeit der Spaltung modulieren (vgl. konstruktiv-technischen Ursachen der Ka- Abb. 1). 30 Menschengemachte Umweltkatastrophen
Wenn es in einem solchen Reaktor zum rein durch das mechanische Auslaufen der Verlust von Kühlwasser kommt, kann das Turbinen gewonnen wird, für die Versor- zu einer Kernschmelze führen, da die gung der Wasserpumpen des Primärkreis- Brennelemente ihre Hitze nicht abgeben laufs und für die Motoren zum Bewegen können. Von elementarer Bedeutung für die der Bremsstäbe ausreichend ist. Das Experi- Sicherheit dieses Reaktortyps ist daher die ment sollte nun geheim nachgeholt werden, Güte der Rohre, die ständig hohem Druck da es einerseits für die Sicherheit des Reak- und hohen Temperaturen ausgesetzt sind, tors unerlässlich war, man andererseits aber sowie die Gewährleistung der Stromversor- das vorherige Versäumnis nicht öffentlich gung für die Wasserpumpen, auch während machen wollte. Daher wurde es als zusätz- eines Störfalls. licher Punkt im Rahmen der jährlichen Wartung des Reaktors angesetzt und durch Vorbereitung am 25. April 1986 ein externes Team von Ingenieuren aus Kiew angeleitet. Bereits vor der Inbetriebnahme des Tscher- nobyl-Reaktors im Dezember 1983 hätte Gegen 13:00 Uhr mittags beginnt der Test für diese Stromversorgung ein obligatori- mit dem allmählichen Herunterfahren des scher Test durchgeführt werden müssen, der Reaktors. Schon um 14:00 Uhr kommt aus Zeitgründen unterlassen worden war. allerdings aus Kiew eine Forderung nach Am 25. April 1986 stand nun die Durchfüh- mehr Leistung: Einige Tage vor dem Mo- rung dieses Versuchs an: Es sollte getestet natsende, noch dazu vor den Maifeiertagen, werden, ob bei einer Abschaltung des Reak- wird in den damals sowjetischen Betrieben tors (z.B. in einem Notfall) die Energie, die unter Hochdruck und mit vielen Überstun- Brems-/ Steuerstäbe Wasser/ Dampftrennung Dampfturbinen Notkühlung Kühlsystem Reaktor Pumpe Pumpe Druckrohre mit Brennstäben Abbildung 1: Schematischer Aufbau des Reaktors Hofinger, Rek & Strohschneider 31
den gearbeitet, ren, dass der maximal instabile Zustand ei- Schwerpunktthema um die Monats- nes Kernreaktors bereits bei 20% Leistung pläne noch zu er- beginnt. Gegen 01:00 Uhr gelingt ein Ein- füllen. Das Herunterfahren wird daher an- pendeln der Leistung bei etwa 7%, ein Leis- gehalten und die Reaktorleistung bei 50% tungsniveau, das für die Durchführung des belassen. Im Lauf der nächsten Stunden Tests laut Vorgabe nicht ausreichend, für baut sich dadurch eine Xenonvergiftung im den Reaktor selbst ohnehin untersagt ist. Reaktor auf. Xenon ist ein Gas, das die Trotz des Widerspruchs der beiden Opera- Kernreaktion bremst und entsteht, wenn teure wird jedoch vom leitenden Ingenieur ein Kernkraftwerk über längere Zeit auf Djatlow die Fortführung des Versuchs be- verminderter Leistung fährt. Um dieses ‚Ei- schlossen. Um dennoch der Forderung nach genbremsen’ des Reaktors zu unterdrücken Stabilisierung des Reaktors nachzukommen, und den geforderten Strombedarf zu de- werden alle acht Pumpen des Primärkreis- cken, werden Bremsstäbe aus dem Reaktor laufs zugeschaltet. Selbst bei voller Leistung entfernt und zwar weit mehr als die zulässi- sind allerdings nur sechs zugelassen und es ge Mindestgrenze von 281. stellt sich in der Folge auch der gegenteilige Effekt ein: Aufgrund der zusätzlichen Küh- Um 23:10 Uhr schließlich kann der Reaktor lung im Kern entfernen sich automatisch vom Netz genommen und das Herunter- weitere Graphit-Bremsstäbe. Es kommt zu fahren fortgesetzt werden. Angestrebt ist die einem rapiden Abfall des Dampfdrucks, 25%-Leistungsmarke, bei der das Experi- ein Zustand, in dem normalerweise das ment stattfinden soll. Parallel dazu schalten automatische Sicherheitssystem eingreifen die Operateure das Notkühlsystem ab. Dies würde. ist eine notwendige Voraussetzung für den Test, da es sich ansonsten selbsttätig zuschal- Im Reaktor herrscht nun zu wenig Dampf- ten würde. Um Mitternacht findet der regu- druck für das Experiment, da der Dampf ja läre Schichtwechsel statt, wobei die beiden wesentlich für das Antreiben und somit übernehmenden Operateure über den Zu- auch das Auslaufen der Turbine ist. Um stand des Reaktors nicht ausführlich infor- mehr Dampf zu erzeugen, wird daher die miert werden. Das Ingenieur-Team, das Durchlaufmenge des Wassers erhöht, was wegen des verzögerten Versuchsbeginns jedoch wiederum zur Folge hat, dass der ebenfalls seit mehr als 12 Stunden arbeitet Reaktor weiter abkühlt und der Dampf- und erheblich länger wach ist, wechselt druck fällt. Die Operateure reagieren darauf nicht. mit dem Rückzug weiterer Bremsstäbe und schalten außerdem die Vorrichtung aus, die Der Test bei fallendem Dampfdruck den Reaktor stoppt, eine Maßnahme, die laut Betriebs- Eine halbe Stunde nach Mitternacht wird vorschriften nur nach (hier nicht erfolgter) die Auto-Steuerung zum Herunterfahren Rücksprache mit dem Chefingenieur der des Reaktors abgeschaltet und der Prozess - Anlage getroffen werden darf. um Zeit zu sparen - von einem Operateur per Hand fortgeführt. Dabei übersteuert das Etwa um 1:20 Uhr fragt der Schichtleiter Reaktorsystem und erreicht innerhalb kur- nach der Anzahl der Bremsstäbe im Reak- zer Zeit die Leistungsmarke von 1%. Zur tor, wobei sich herausstellt, dass das zulässi- Orientierung muss man sich vor Augen füh- ge Minimum mittlerweile weit unterschrit- 32 Menschengemachte Umweltkatastrophen
ten ist2. Der leitende Ingenieur beschließt such, die Brücke von in Tschernobyl doku- dennoch erneut, den Versuch fortzusetzen, mentierten Handlungen zu theoretischen obwohl die ursprünglichen Rahmenbedin- Konstrukten und empirischen Belegen zu gungen für den Test mittlerweile längst spannen. nicht mehr gegeben sind. Eines der Dampf- rohre wird im Rahmen des Tests geschlos- 3.1 Kognitive Ursachen sen und damit auch das letzte tätige Sicher- heitssystem deaktiviert. Der menschliche Umgang mit komplexen und dynamischen Systemen ist ein äußerst Kurz darauf beginnen die Anzeigen der Si- anspruchsvoller Prozess, der die simultane cherheitssysteme im Kontrollraum zu blin- Bewältigung verschiedener kognitiver An- ken und die durchstartende Kettenreaktion forderungen erfordert. Die Leistungsfähig- deutet sich an. Ein in diesem Zusammen- keit des kognitiven Systems ist jedoch nicht hang wesentliches Konstruktionsmerkmal unbegrenzt, vielmehr muss man davon aus- des Reaktortyps von Tschernobyl ist, dass gehen, dass es im Wesentlichen drei, sozu- die Bremsstäbe 20 Sekunden benötigen, um sagen „hardwaremäßig“ verankerte Begren- vollständig in den Kern einzufahren und ei- zungen gibt (Dörner & Schaub 1994; Ho- ne Kettenreaktion zu stoppen. In dieser finger, 2003), nämlich Zeitspanne allerdings sind die Führungska- (a) die Einspeicherungskapazität des Lang- näle der Stäbe bereits durch die enorme zeitgedächtnisses ist (besonders unter Hitzeentwicklung verbogen und die Brems- Stress) begrenzt, was zum schlichten stäbe können nicht mehr eingefahren wer- „Vergessen“ von Information – auch den. Es entwickelt sich Knallgas, das am wichtiger Information – führt. 26.4.1986 um 01:24 Uhr zur Explosion des (b) Die Informationsverarbeitungskapazität Reaktors führt. des kognitiven Systems ist begrenzt, es können nicht beliebig viele Informatio- nen simultan verarbeitet, zueinander in Beziehung gesetzt oder analysiert wer- 3 „Menschliche Faktoren“ den. Schon aus dieser knappen Darstellung des (c) Denken, das Entwickeln neuer Lösungs- Unfallhergangs wird deutlich, dass es sich ansätze, die Analyse von Fern- und bei Tschernobyl um eine menschenge- Nebenwirkungen von Entscheidungen machte Umweltkatastrophe des ersten Typs ist (physiologisch) anstrengend und wird handelt – die Kausalkette, die zur Explosion vermieden, solange (scheinbar) passende führt, hätte durch alle beteiligten Akteure Lösungen vorhanden sind („Ökonomie- an verschiedenen Stellen unterbrochen und prinzip“ des Denkens). die Entwicklung damit in eine weniger ge- fährliche Richtung gelenkt werden können. Diese drei Begrenzungen lassen sich nur Warum ist das nicht passiert? zum Teil direkt empirisch belegen, sichtbar werden sie vor allem in ihren Auswirkun- Wenn wir im Folgenden verschiedene Ur- gen, die sie auf das problemlösende Denken sachen benennen, spekulieren wir an eini- und Handeln haben. Mögliche Effekte sind gen Stellen über interne Prozesse der Betei- z.B. (Dörner, 1989): ligten. Wir verstehen diese Spekulationen – Schwierigkeiten bei der Analyse dyna- im Sinne von „educated guesses“ als Ver- mischer Entwicklungen (Orientierung Hofinger, Rek & Strohschneider 33
am aktuellen Sys- bar für die Dosierung seines Brems-Ein- Schwerpunktthema temzustand, nicht griffs ausschließlich am aktuellen Zustand an der Entwick- des Reaktors, nicht an der Tatsache, dass sich lung) das Bremsverhalten von selbst zunehmend – „Zerschlagung von Systemen“ und das beschleunigt (Belege für diese Sichtweise Operieren mit voneinander isoliert ge- finden sich bei Koepp und Koepp-Schewy- dachten Teilaspekten des Problems; rina, 1996, S. 69 sowie bei Wedwedew, Handeln ohne Bedingungsanalyse 1991, S. 66). So ‚rutschte’ die Leistung – Fehlende Fern- und Nebenwirkungs- plötzlich auf 1%. analysen – „Intuitionsaktionismus“ (die erste kog- Die ‘Zerschlagung von Systemen’ lässt sich am nitiv verfügbare Handlungsoption aus- Beispiel der Teamarbeit unter den besonde- führen, ohne genaue Analyse) ren Bedingungen des Experiments ebenfalls – Ausrichtung des Handelns an anschau- erkennen. Das Experiment sollte aufgrund lichen und sinnfälligen Indikatoren, seiner Schwierigkeit mit erfahrenen Opera- nicht an abstrakten Systemstrukturen teuren durchgeführt werden. Andererseits – „Methodismus“ (d.h. das Vertrauen auf sollte keine Zeit verloren werden. Am 25. bewährte Verfahren ohne Analyse der April nachmittags hätte es „sofort“ mit den Anwendbarkeitsbedingungen) eingeplanten erfahrenen Operateuren – Nutzung nur eines Bruchteils der tat- durchgeführt werden können. Aufgrund der sächlich vorhandenen Information. Verzögerungen hatten aber nach dem nächtlichen Schichtwechsel weniger erfah- Im Verhalten der Operateure und Ingenieu- rene und schlecht informierte Operateure re in der Katastrophennacht in Tschernobyl Dienst, während gleichzeitig das verant- lassen sich eine Reihe derartiger Effekte wortliche Team von Ingenieuren müde war. nachweisen. So ist es beispielsweise eine ty- Man prüfte nicht den Zustand des sozio- pische Folge der erwähnten kognitiven Be- technischen Gesamtsystems daraufhin, ob es grenzungen, dass Maßnah- immer noch sinnvoll und möglich war, das Die Ingenieure fühlten men allein aufgrund des ak- Experiment durchzuführen. Alle Beteiligten sich kompetent, beachte- tuellen Zustands eines Systems beurteilten offenbar die Lage aus ihrer ganz ten aber die Bedingung beschlossen werden. Dies eigenen Perspektive: Die Ingenieure fühlten ‚Müdigkeit’ nicht ist kognitiv weniger auf- sich kompetent, beachteten aber die Bedin- wändig als das gedankliche gung ‚Müdigkeit’ nicht; die Operateure für Durchdringen eines dynamischen Ablaufs. sich waren auch fähig, einen Reaktor zu Als das Herunterfahren des Reaktors den steuern, bewerteten diesen Aspekt aber un- Ingenieuren zu lang dauerte, sollte ein Ope- abhängig von der heiklen Aufgabe des Ex- rateur das System von Hand herunterregeln. periments und beide Gruppen wiederum Neben der allgemeinen Schwierigkeit, die beurteilten den Aspekt‚ ein Experiment mit Menschen beim Verrechnen ihrer Eingriffe dem Reaktor durchzuführen, unabhängig mit dem Eigenverhalten eines Systems oh- von der bestehenden Xenonvergiftung (s. nehin haben, wurde es dem Operateur hier dazu Medwedew, 1991, S. 47 und Medwed- noch dadurch erschwert, dass er den stell- jew, 1991, S. 53). vertretenden Chefingenieur „im Nacken“ hatte, der von ihm verlangte, Zeit zu sparen. Fehlende Nebenwirkungsanalysen könnten für In dieser Situation orientierte er sich offen- das Zuschalten der Pumpen verantwortlich 34 Menschengemachte Umweltkatastrophen
gewesen sein, nachdem beschlossen wurde, sultieren, muss für den Unfall von Tscher- den Test durchzuführen, obwohl der Reak- nobyl eine Veränderung des Denkens durch Er- tor nur mit 7% Leistung lief. Die angestreb- müdung und Müdigkeit angenommen werden. te Hauptwirkung, nämlich das Stabilisieren Die entscheidenden Ereig- des Reaktors, okkupierte das Denken und nisse fanden in den Stun- Viel eindrücklicher als vereitelte so ein Nachdenken darüber, was den um Mitternacht he- die Konsequenzen eines tatsächlich die Konsequenz weiterer Pum- rum statt; in dieser Zeit – instabilen Reaktors kann pen sein würde: „mehr Pumpen“ heißt der Biorhythmus ist auf man sich vorstellen, was „mehr Wasser“, „mehr Wasser“ führt zu Erholung eingestellt, die passiert, wenn man sich „erhöhter Neutronenabsorption“ und damit tonische Aktivierung ist gegen die Anordnung zu „weniger Dampfdruck“, was seinerseits gering – ist generell die eines ranghöheren zur Entfernung von Bremsstäben führt. Statt Fehler- und Unfallrate am Ingenieurs stellt eine derartige Analyse durchzuführen, ver- höchsten (Coren, 2002). fielen die Operateure dem ‘Intuitionsaktio- Zudem arbeiteten die Ingenieure länger als nismus’, sie handelten nach der intuitiv plau- 12 Stunden (Ermüdung), waren entspre- siblen und kognitiv sparsamen Annahme, chend länger wach. Schlafmangel wirkt auf mehr Wasser bedeute mehr Kühlung und das Denken, die Aufmerksamkeit und die das wiederum bedeute ein stabileres System. Handlungskoordination wie Alkohol (Daw- son & Reid, 1997). Im Kontext der Ent- Der Beschluss, den Test durchzuführen, ob- scheidungen in Tschernobyl könnten fol- wohl der Reaktor sich im maximal instabi- gende empirisch nachgewiesene Wirkun- len Zustand befand, verdeutlicht die Ten- gen von Ermüdung und Müdigkeit (Münz- denz, das Handeln an anschaulichen und sinn- berger 2004; Wilker, Bischoff & Novak, fälligen Indikatoren auszurichten. Natürlich 1994; Ulich 2001) relevant sein: generelle wussten die Ingenieure und Operateure Verminderung der Aktivierung, Abnahme theoretisch, dass der Reaktor äußerst labil der Konzentration und Aufmerksamkeits- war und dass es in einem solchen Zustand abbau, zudem Denkstörungen wie z.B. zu einem plötzlichen Durchstarten kom- Nachlässigkeit bei der Meinungsbildung, men kann. Solches theoretisches Wissen ist höhere Toleranz gegenüber eigenen Feh- aber nicht unbedingt Wissen, das beim lern und voreilige Entscheidungen, An- Handeln bestimmend wird. Man kann sich triebsstörungen und Veränderungen des so- kein anschauliches Bild davon machen, was zialen Verhaltens (geringere Bereitschaft zur ‚Durchstarten’ eigentlich bedeutet, da man Informationsweitergabe, unkontrollierte Af- einen derartigen Fall noch nie erlebt hat. In fekte). Wichtig ist, dass das Gefühl der Ermü- unserem Denken dominiert das Anschauli- dung dem Abbau der physischen und psychi- che, Vorstellbare über das weniger Anschau- schen Leistungsfähigkeit hinterherhinkt, liche, es erscheint uns bedeutsamer und dass man sich also trotz auftretender Verän- dringender. Viel eindrücklicher als die Kon- derungen des Denkens und der Aufmerk- sequenzen eines instabilen Reaktors kann samkeit leistungsfähig fühlt. man sich vorstellen, was passiert, wenn man sich gegen die Anordnung eines ranghöhe- 3.2 Motivationale Ursachen ren Ingenieurs stellt. Im Zusammenhang mit dem menschlichen Neben den Handlungstendenzen, die aus Umgang mit komplexen soziotechnischen der Begrenztheit des kognitiven Systems re- Systemen ist insbesondere die Kontrollmo- Hofinger, Rek & Strohschneider 35
tivation von Be- wieder über den Grenzwert zu heben: Den- Schwerpunktthema deutung. Unter ken und Handeln dienen der Kompetenz- Kontrollmotiva- hygiene. Wichtig ist, dass Kompetenzhygie- tion versteht man das Bestreben, Einfluss ne nicht zu eigentlich „irrationalem“ Han- auf seine (soziale und physische) Umwelt deln führt, sondern lediglich einen anderen nehmen zu können, eigene Absichten er- Rationalitätskontext schafft. Dieses Um- folgreich zu erledigen und Schadensereig- schalten hat kurzfristig die psychohygie- nisse abzuwehren (Bandura, 1979; Carver & nisch wichtige Funktion, den Organismus Scheier, 1982; Dörner, 1999). Das Kontroll- insgesamt handlungsfähig zu erhalten. Wir motiv wird durch Erfolgserlebnisse aller Artinterpretieren z.B. die folgenden in Studien befriedigt („Effizienzsignale“), durch Miss-zum Problemlösen gefundenen Handlungs- erfolge und unerwartete Ereignisse aber ak- tendenzen (nicht: „Fehler“) als Resultat ei- tualisiert. Menschen streben (dies kann evo-nes angeschlagenen subjektiven Kompe- lutionstheoretisch begründet werden) tenzgefühls (vgl. Dörner, 1989): grundsätzlich danach, Kontrolle im be- – „Vertikale Flucht“: Wunschhafte Um- schriebenen Sinne auszuüben, wobei die deutung der Realität, Ausblenden objek- Ausprägung der Kontrollmotivation ver- tiver Gefahren mutlich sowohl interindividuell variiert als– Erleben von starkem subjektiven Hand- auch durch soziale und kulturelle Rahmen- lungsdruck, mit der Folge eines „aggres- bedingungen moderiert wird (Strohschnei- siven“ Handlungsstils, der eine Neigung der, 2001). Menschen erleben das Ausmaß, zu „starken Maßnahmen“ und „ballisti- in dem ihr Kontrollbedürfnis befriedigt ist, schem Handeln“ und die Tendenz zu als „subjektives Kompetenzgefühl“ (Flam- verbalen Angriffen beinhalten kann mer, 1990, spricht von „Kompetenzmei- – Fehlender Abgleich des eigenen menta- nung“) und versuchen in der Regel, das sub- len Modells mit der Realität, fehlende jektive Kompetenzgefühl möglichst hoch Effektkontrolle zu halten. – „Horizontale Flucht“: Rückzug in noch gut beherrschbare Teilbereiche der Rea- Von besonderem Interesse ist nun die Frage, lität wie Menschen darauf reagieren, wenn ihr – Rückzug und Resignation, depressive, subjektives Kompetenzgefühl auf Grund mutlose Stimmungen. äußerer Umstände (oder missglückter eige- ner Handlungen) unter einen individuell Der Wunsch, sich kompetent zu fühlen, er- definierten Grenzwert sinkt. Man kann hier folgreich zu sein und auch von außen so mit der Idee der „doppelten Rationalität“ wahrgenommen zu werden, spielt unseres (Strohschneider, 2003) argumentieren, der- Erachtens während des ganzen Ablaufs der zufolge Menschen dann, wenn ihr subjekti- Prozesse in Tschernobyl bis zum GAU ves Kompetenzgefühl über ihrem indivi- (Größter Anzunehmender Unfall) eine ent- duellen Grenzwert liegt, sachrational han- scheidende Rolle. Das Kraftwerk war 1983 deln. Sinkt aber ihr Kompetenzgefühl unter vorzeitig ans Netz gegangen, die Mitarbei- diesen Grenzwert, so wird das Handeln ter hatten für die Erfüllung der Pläne Prä- „kompetenzrational“ – es dient nun primär mien erhalten, die Operateure waren als nicht mehr dazu, ein sachlich gegebenes mustergültige Arbeiter ausgezeichnet, die Problem zu bewältigen, es dient vielmehr Ingenieure gefeiert worden. Das Äußern dazu, das angeschlagene Kompetenzgefühl von Bedenken gegenüber dem Experiment 36 Menschengemachte Umweltkatastrophen
oder gar eine Absage hätte diesem subjekti- fühls geführt haben. Darüber hinaus schien ven wie öffentlichen Bild hoher Kompetenz ihnen der Reaktorzustand ja tatsächlich ge- geschadet und entsprechende Überlegun- fährlich zu sein. In einer solchen Lage ist die gen dürften daher von Anfang an kaum ei- Versuchung sehr groß, einfach irgendetwas ne Rolle gespielt haben. Dazu passt, dass zu tun, um sich als handlungsfähig zu erle- nach dem Übersteuerungsfehler der proble- ben und „Effizienzsignale“ zu sammeln. In matische Zustand des Reaktors unter den der Folge wird das Handeln der Operateure Ingenieuren nicht diskutiert wurde, und „ballistisch“. Das bedeutet, dass über einen Versuchsabbruch wohl gar es werden schnell stark Es entwickelt sich ein nicht nachgedacht wurde. Jeder unbeteiligte wirkende Maßnahmen be- inneres Modell der externe Beobachter hätte mit ziemlicher Si- schlossen und durchge- Realität, das sich von cherheit gesagt, „wenn die maximale Insta- führt, ohne dass dabei ana- den tatsächlichen Gege- bilität bei 20% Leistung beginnt, wir uns lysiert und geprüft würde, benheiten immer weiter aber bei 7% befinden, so ist unter diesen ob sie die angestrebten Ef- entfernt Umständen ein schwieriges Experiment fekte überhaupt einbrin- nicht machbar.“ Den Übersteuerungsfehler gen. Pumpen werden zugeschaltet, Sicher- zuzugeben und die Bedenken bezüglich ei- heitssysteme umgangen, die Wasserdurch- ner möglichen Xenon-Vergiftung zu disku- laufmenge erhöht. Bei keiner dieser Ent- tieren, hätte das durch die auftretenden scheidungen wird genau geprüft, was sie tat- Schwierigkeiten ohnehin angegriffene sächlich bewirken. Es wird nur angenommen, Kompetenzgefühl weiter verringert. So dass sie die Dinge in die gewünschte Rich- wurden Probleme ausgeblendet oder als tung lenken und anschließend wird auf der nicht gravierend bewertet. Bagatellisierung Basis dieser Annahme weiter geplant. Es von Problemen schützt das Kompetenzge- entwickelt sich ein inneres Modell der Rea- fühl effektiv („es gibt keine Bedrohung“, lität, das sich von den tatsächlichen Gege- „das haben wir im Griff“) und wird des- benheiten immer weiter entfernt. Deutlich halb oft lange beibehalten – unter Umstän- wird das in dem schockierten Ausspruch des den so lange, bis es zu spät für eine Korrek- Schichtleiters Akimow, der sich das Blinken tur ist. der Anzeigen und die klemmenden Brems- stäbe kurz vor der Explosion nicht erklären Kompetenzrationales Handeln können wir kann: „Was ist denn das für eine Teufelei? auch bei den Operateuren annehmen, nach- Wir haben doch alles richtig gemacht.“ dem sie von den Ingenieuren aufgefordert (Medwedew, 1991, S. 104). worden waren, den Beschluss zum Weiter- zumachen zu befolgen. Ihre Einwände (die Auch das Verhalten des stellvertretenden angesichts der strikten Hierarchie ohnehin Chefingenieurs lässt sich als aggressive schon ein mutiger Akt gewesen waren; s.u.) Form der Kompetenzregulation interpretie- waren nicht gehört worden. Die Ingenieure ren: Nachdem sich ein paar Minuten zuvor hatten deutlich gemacht, dass sie die Situa- auf eine Frage des Schichtleiters hin gezeigt tion nicht für gefährlich hielten. Die Opera- hatte, dass die zulässige Mindestanzahl der teure hatten sich also eine Blöße gegeben, Bremsstäbe im Reaktorkern weit unter- indem sie zugaben, Bedenken zu haben schritten war, reagiert der Ingenieur erstens oder sich der Situation nicht gewachsen zu erneut mit dem Beschluss, das Experiment fühlen. Dies dürfte bei ihnen zu starken zu Ende zu führen, was angesichts der ob- Verlusten des subjektiven Kompetenzge- jektiven Lage vollkommen irrational er- Hofinger, Rek & Strohschneider 37
scheint. Unter sätzliche Unbestimmtheit erzeugen, Ver- Schwerpunktthema der Perspektive wirrung stiften und damit die Komplexität der Kompetenz- der Aufgabe zusätzlich erhöhen, das Kom- regulation ist das Verhalten einleuchtend: petenzgefühl der einzelnen Teammitglieder Hätte er jetzt den Test abgebrochen, hätte er beinträchtigen und durch beide Prozesse die sich mit der Tatsache konfrontiert gesehen, Wahrscheinlichkeit der oben beschriebenen einen Atomreaktor in einen äußerst kriti- Verhaltenstendenzen erhöhen (Strohschnei- schen Zustand gefahren zu haben. Sein der & Gerdes, 2004). Kompetenzempfinden wäre vermutlich zu- sammengebrochen. Es ist daher eine kom- Ein anderer kritischer Mechanismus wäre petenzrationale Reaktion, sich die Lage des die Entstehung von „Gruppendenken“ sen- Reaktors nicht genau klar zu machen, son- su Janis (1972): Das Team fühlt sich durch dern mit dem Experiment weiter zu ma- die aktuellen Entwicklungen als Team be- chen. Zweitens greift er die Kompetenz der droht und reagiert mit einer Reihe mittler- Operateure und ihre Einschätzung der Lage weile als klassisch geltender Symptome: an; Abwertung anderer kann der Steigerung – Erhöhung der Gruppenkohäsion des eigenen Kompetenzgefühls dienen: Er – „Erfindung“ von Gegnern, Abgrenzung kommentiert das Zögern der Operateure von „den anderen“ mit „Etwas beweglicher, meine Herren! – Selbstzensur, Ausgrenzung von War- Noch ein, zwei Minuten, dann ist es vor- nern und Mahnern bei“. – Übersteigerte Selbstsicherheit samt dem damit verbundenen risky shift 3.3 Soziale Faktoren – Reduktion der geprüften Entschei- dungsalternativen und reduzierte Hypo- Der Umgang mit komplexen, dynamischen thesenbildung. soziotechnischen Systemen ist durch die Be- grenzungen des kognitiven Systems und Besonders anfällig für diese Symptome sind motivationale Faktoren häufig genug fehler- nach Janis Gruppen, die sich aufgrund trächtig. In realen Problemsituationen ver- bisheriger Erfolge als Expertenteams erle- schärft das Team als weitere Ebene neben ben. dem Sachproblem und der Selbstregulation der Akteure die Schwierigkeiten im Um- Auch wenn dieses Modell auf der Grundla- gang mit komplexen Systemen. Warum ge von Laborstudien immer wieder ange- „verschärft das Team die Schwierigkeiten“? griffen wird (z.B. Schulz-Hardt, 1997), las- Ist nicht das Team ein Rückhalt für den Ein- sen sich einige dieser Phänomene im Un- zelnen, die Versicherung für verbesserte fallhergang von Tschernobyl an entschei- Problemlösungen, die Garantie gegen Aus- denden Stellen wieder finden. Deutlich ist fälle? – Das kann so sein, dann muss es sich die Erhöhung der Gruppenkohäsion bei gleich- aber um ein gut trainiertes Emergency Ma- zeitiger Abgrenzung gegen „die anderen“ in den nagement Team handeln, das nicht nur die beiden Expertenteams in einer sich negativ operative Ebene des Handelns beherrscht, entwickelnden Situation. Von Anfang an be- sondern auch die strukturelle und die pro- fanden sich die Beteiligten in einer schwie- zessuale (Stempfle, 2004). Diese Vorausset- rigen sozialen Situation: Auf der einen Seite zungen sind oft nicht gegeben. Dann kann stand ein Team von Operateuren, das sich gerade die soziale Interaktion im Team zu- kannte, das täglich mit ‚seinem’ Reaktor 38 Menschengemachte Umweltkatastrophen
umging und das für seine gute Arbeit schon Entscheidungen (zweimal im Abstand von einmal öffentlich ausgezeichnet worden 20 Minuten), das Experiment trotz der kri- war. Auf der anderen Seite gab es das Team tischen Entwicklungen fortzuführen. Die von Ingenieuren, das von außerhalb kam Gruppensituation lässt keine kritische Refle- und für die Zwecke der Testung den Ope- xion der Lage, des mentalen Modells und rateuren hierarchisch übergeordnet wurde. der getroffenen und geplanten Maßnahmen Dazu kam, dass die Durchführung des Ex- mehr zu. Würde man Kritik äußern und da- periments geheim war. Neben der Tatsache, mit das Handeln der eigenen Gruppe in dass der Reaktor 1983 nicht hätte ans Netz Frage stellen, müsste man damit rechnen, genommen werden dürfen, ohne dass dieser dass die anderen durch Abwehr der Kritik Sicherheitstest stattgefunden hatte, wurde und Ausgrenzung des Kritikers ihr Kompe- der Öffentlichkeit verschwiegen, dass in tenzgefühl schützen. Da der soziale Rück- Tschernobyl neben Strom auch waffenfähi- halt in der eigenen Gruppe aber in schwie- ges Plutonium hergestellt wurde. Diese rigen Situationen oft zentral ist für das eige- Konstellation erhöhte den Druck auf die In- ne Kompetenzerleben, kann es zu Selbst- genieure, den Test schnell und ohne Aufse- zensur und Unterdrückung abweichender hen durchzuführen, außerdem erzeugte sie Gedanken kommen. aber zwischen den Teams auch eine ungute Stimmung der Heimlichtuerei. Die Opera- Bei den Operateuren lässt sich der Risiko- teure fühlten sich wohl bevormundet und schub („risky shift“, Kogan & Wallach, 1969) nicht ernst genommen, erlebten die Ver- beobachten. Auch bei den Operateuren schwiegenheit der Ingenieure als Arroganz, fehlt offensichtlich kritische Reflexion des wurden aber ihrerseits zur Geheimhaltung Handelns, als sie nach einer ganzen Reihe verpflichtet, ohne ausdrücklich die Gründe von Entscheidungen deren Effekte nicht dafür zu wissen. Durch diese Umstände überprüfen, sondern die entstand eine starke Gruppenkohäsion vom Team als wahrschein- Sie handelten riskanter innerhalb der beiden Einzelteams und eine lich angenommenen Er- anstatt vorsichtiger in deutliche Abgrenzung gegenüber „den An- gebnisse als feststehende einer Situation, in deren“, was einen offenen, konstruktiven Tatsachen behandeln. Als der bereits verbotene Austausch zwischen ihnen unwahrschein- sie dann aufgrund ihres Zustände vorlagen lich macht. mentalen Modells (das mit der Realität nicht mehr gut übereinstimmt) Diese Gruppenkonstellation hat Einfluss auf beschließen, ein weiteres Sicherheitssystem, kognitive Tendenzen, wie sie oben be- das sich bei stark abfallendem Dampfdruck schrieben wurden: Die Ingenieure bilden von selbst zuschalten würde, zu kappen, ihr Modell von der Lage, lassen sich durch wird deutlich, dass sie ihre eigenen Kompe- den Einspruch der Operateure nicht beir- tenzen überschätzen und sich ihre Risiko- ren, sondern verteidigen ihre Sicht der Din- wahrnehmung verschoben hat. Das Ab- ge. Bei den Operateuren findet keine syste- schalten dieser Vorrichtung war ausdrück- matische Analyse und Hypothesenbildung lich verboten. Im Laufe der Nacht hatte sich mehr statt, sie verlassen sich eher auf ihr bei den Operateuren aber die Meinung ent- Gruppenwissen und ihr Gefühl. wickelt, das sei nun alles ein besonderer Fall, dafür seien die Bestimmungen nicht Selbstzensur könnte in der Gruppe der Inge- ausgelegt und man hätte die Dinge im Griff. nieure stattgefunden haben angesichts der Sie handelten riskanter anstatt vorsichtiger Hofinger, Rek & Strohschneider 39
in einer Situation, verschiedene Faktoren und Dimensionen, Schwerpunktthema in der bereits drei in unserem Kontext scheinen uns aber die verbotene Zu- folgenden Aspekte bedeutsam: stände (7% Leistung, zu viele Pumpen, zu wenig Bremsstäbe) sowie eine Xenonvergif- – Kultureller Kollektivismus: Dieser von Hof- tung vorlagen. stede (1980, s.a. Kim, Triandis, Kagitci- basi, Choi & Yoon, 1994) stark propa- gierte Begriff bezeichnet die Bedeutung 3.4 Organisationale und kulturelle enger sozialer Beziehungen, die Bedeu- Faktoren tung von Gemeinschaften und Kollekti- ven, in die der Einzelne sozial und emo- Die Katastrophe von Tschernobyl erscheint tional integriert ist, und die ihn, im Aus- oft deshalb so unfassbar, weil für einen tausch gegen unbedingte Loyalität, Außenstehenden schwer begreifbar ist, wa- schützen. In kollektivistischen Kulturen rum die Ingenieure und Operateure den werden Entscheidungen in Bezug auf Reaktor scheinbar „sehenden Auges“ in den das Gruppenwohl reflektiert und der GAU gefahren haben. Neben den bislang Einzelne ist eher bereit, individuelle Zie- diskutierten psychologischen Mechanismen le aufzugeben, wenn sie den Gruppen- ist für die Erklärung ihrer Entscheidungen zielen widersprechen. und Handlungsweisen auch die Kenntnis – Machtdistanz und soziale Hierarchisierung: des kulturellen Kontexts wichtig, auch Mit Machtdistanz wird das Ausmaß be- wenn dessen Wirkung weniger offensicht- zeichnet, in welchem es die Mitglieder lich ist. einer Kultur akzeptieren, dass Macht und Einfluss in der Gesellschaft un- Das Handeln von Menschen in kritischen gleichmäßig verteilt sind (Fischer & Situationen ist nicht nur von ihrer sozialen Smith, 2003). Kulturen mit hoher Situation, ihrem Vorwissen und ihren indi- Machtdistanz sind meist hierarchisch viduellen Lernerfahrungen abhängig. Die aufgebaut, der (subjektiv erlebte) Ent- Organisation als Kontext des Handelns be- scheidungsspielraum des Einzelnen ist einflusst das Handeln des von seiner Hierarchieposition abhängig. Die Organisation als Individuums. Wichtige Je weiter unten man in der Hierarchie Kontext des Handelns Einflussbereiche der Orga- angesiedelt ist, desto mehr erlebt man beeinflusst das Handeln nisation auf ihre Mitglie- sich als weisungsgebunden, desto weni- des Individuums der sind Kommunikations- ger fühlt man sich aber auch für das, was und Informationswege, geschieht, verantwortlich. Arbeitsplatzgestaltung und Technologien, – Strategische Präferenzen: Organisations- Personalauswahl und -entwicklung, Werte wie Nationalkulturen lassen sich hin- und Ziele und Sicherheitskultur (z.B. Schul- sichtlich der strategischen Handlungs- te-Zurhausen, 2002; Reason, 1997). Auf sie muster beschreiben, die sie beim Um- wird hier aus Platzgründen nicht weiter ein- gang mit unbestimmten, kritischen Situ- gegangen. ationen bevorzugen (Strohschneider, 2001). Bedeutsam ist hier z.B. die Unter- Neben der Organisationskultur spielt auch scheidung zwischen kurzfristig angeleg- der nationalkulturelle Kontext eine wichti- ten, offensiven Strategien und vorsich- ge Rolle. Nun umfasst „Kultur“ sehr viele tig-defensiven Strategien oder die zwi- 40 Menschengemachte Umweltkatastrophen
schen einer geplanten Vorgehensweise lyse der Situation und Eigenständigkeit in und einem „adhocistischen“ Durch- der Beurteilung der Lage zu untergraben. wursteln. Eigenes Denken, eigene Ideen und Kreati- vität waren weniger wichtig als Konfor- Kulturelle Rahmenbedingungen geben in mismus und Folgebereitschaft. Solche Nor- vielerlei Hinsicht Tendenzen und Inhalte men unterstützen die Haltung, sich nach vor, die überhaupt erst koordiniertes und Vorschriften und Ablaufplänen zu richten „sinnvolles“ Handeln innerhalb einer Kul- und nicht alles selbst genau zu durchden- tur ermöglichen (vgl. auch Thomas, 1996). ken, Hypothesen zu bilden und unabhängi- Sie machen sozusagen einen ‚Handlungs- ge Bewertungen anzustellen. tunnel’ auf, der festlegt, welche Handlungs- möglichkeiten dem Einzelnen überhaupt Auf gesellschaftlicher und staatlicher Ebene offen stehen. Durch die Eingebundenheit in lassen sich außerdem weitere Faktoren fin- ihre (Organisations- und National-)Kultur den, die zwar nicht unmittelbar, aber doch haben Handelnde also nicht – wie von au- im Vorfeld die Tschernobyl-Katastrophe ßen oft angenommen – alle theoretisch mit verursachten. Es scheint z.B. aus heuti- denkbaren Handlungsmöglichkeiten zur ger Sicht unverständlich, warum die War- Verfügung. tung des Reaktors mit dem integrierten Ex- periment ausgerechnet so kurz vor den Beispielsweise unterschied sich die Weisungs- Maifeiertagen und dem Monatswechsel an- kultur im ehemals sowjetischen System mit gesetzt wurde. Wegen des Zwangs zur Plan- hoher Machtdistanz stark von der mitteleuro- erfüllung war es absehbar, dass zu dieser päischen. Ein Befehl kam vom Vorgesetzten Zeit alle Betriebe auf Hochtouren arbeiten und wurde dann durchgeführt, ohne dass und der Strombedarf in diesen Tagen hoch Wert darauf gelegt wurde, dass der Befehls- sein würde. Der Beschluss der Behörde, empfänger die Anweisung noch einmal Wartung und Test zu diesem Zeitpunkt an- selbst durchdachte (Muckle, 1988). Ver- zuordnen, scheint in diesem Zusammen- stärkt wurde dieses Prinzip im Falle von hang strategisch undurchdacht. Möglicher- Tschernobyl noch dadurch, dass es sich um weise sind solche Flüchtigkeiten der Pla- ein Prestige-Objekt des Staates handelte nung einem System immanent, in dem Ent- und dass militärische Interessen und Ge- scheidungen ‚top-down’ gefällt und weiter- heimhaltungsinteressen bestanden. Der gegeben werden, ohne dass sich die Ent- Testauftrag der Ingenieure stammte von der scheider von der Situation vor Ort ein ge- Regierung und damit waren sie vor den naues Bild gemacht hätten. Operateuren für jede Weisung legitimiert (Medwedew, 1991, S. 67f). Unter diesen Ein weiterer interessanter Aspekt ist der Umständen scheint es eher erstaunlich, dass Umgang mit Sicherheit und die Rolle die Operateure überhaupt Widerspruch der Außenwirkung. Die „Hochleistungs- wagten; nicht erstaunlich dagegen ist, dass Druckröhren-Reaktoren“ (RBMK-Reakto- sie erneute Versuche unterließen, als sie ren), von dessen Typ auch das Kraftwerk kein Gehör gefunden hatten. von Tschernobyl war, wurden als Aushän- geschild der sowjetischen Ingenieurskunst Ebenso mag ein kollektivistisch angelegtes Ge- gesehen, besonders wegen einiger Details sellschaftssystem wie das der ehemaligen So- der Sicherheitssysteme. Zwar werden die wjetunion dazu beigetragen haben, die Ana- Angaben über Konstruktion und Sicherheit Hofinger, Rek & Strohschneider 41
der russischen Jede Analyse spaltet das zu Analysierende in Schwerpunktthema RBM K-Reakto- Einzelaspekte auf. Nun sind aber kognitive, ren unter Ver- motivationale, soziale und organisationale schluss gehalten, aber verschiedenen Quel- Faktoren nicht stringent zu trennen. Dies len (vgl. Medwedjew, 1991, S. 18-55) ist zu sei am Beispiel des Umgangs mit Sicher- entnehmen, dass das Stromüberbrückungs- heitsregeln verdeutlicht: In Tschernobyl system, das am 26. April 1986 getestet wur- scheinen Verletzungen von Sicherheitsre- de, eine der zentralen Sicherheitsvorrich- geln nicht nur in der Nacht des GAU vor- tungen dieses Reaktortyps war. Es ist damit gekommen zu sein, sondern bereits vorher schwer nachvollziehbar, immer wieder praktiziert worden zu sein Hätte sich die Inbetrieb- wie außer Tschernobyl (Dörner, 1989). Hier treffen kognitive Me- nahme verzögert, wäre noch einige weitere dieser chanismen (Lernen) und motivationale der Technik-Mythos Reaktoren ans Netz ge- Faktoren (Ökonomietendenzen) beim Indi- angekratzt worden nommen werden konnten, viduum, soziale Prozesse (Beeinflussung der ohne dass diese Tests vor- Risikowahrnehmung) und Organisations- her erfolgreich durchgeführt worden waren. kultur (Wertigkeit von Regeln) zusammen. Hätte das russische Energieministerium Es ist ein auch aus anderen Hochrisikobran- aber aus diesem Grunde die Inbetriebnah- chen bekanntes Phänomen, dass das folgen- me verzögert oder später die Reaktoren ex- lose Übertreten von Sicherheitsregeln („vio- plizit zur Durchführung dieser zentralen lation“; Reason, 1990) dazu führt, dass die Tests heruntergefahren, wäre der Technik- Regel regelmäßig außer Kraft gesetzt wird Mythos angekratzt worden. Erst vor diesem („normal violation“, Vaughan, 1996): Im Hintergrund erklärt sich der hohe Druck, „normalen“ Alltag wird das Verletzen von der auf den Ingenieuren und damit auch Sicherheitsvorschriften, die eine Pufferbe- Operateuren lastete, das Experiment schnell reich haben, nicht bestraft (etwa durch ei- und geheim sowie möglichst erfolgreich nen sofortigen Unfall). Im Gegenteil bringt durchzuführen, so dass sich alles weitere die Regelübertretung meist eine Vereinfa- Tun diesem Ziel unterordnete. chung der Dinge (Abkürzung) mit sich. Es findet nun durch diese Belohnung (Verstär- kung) der Regelübertretung ein Lernpro- zess statt: Regelbrüche scheinen zu Arbeits- 4 Abschließende erleichterungen zu führen ohne negative Bemerkungen Konsequenzen. Diese Lernerfahrung deter- Wir haben in diesem Artikel einige der miniert zukünftige Gefahreneinschätzun- „Humanfaktoren“ diskutiert, die entschei- gen; die Regeln selber werden als übertrie- dend zum GAU in Tschernobyl beigetragen ben oder nur für Anfänger nötig bewertet. haben. Ergonomische Faktoren (wie die Diese Haltung gegenüber Sicherheitsregeln Gestaltung der Displays im Kontrollraum, wird sozial tradiert (etwa an neue Teammit- die Informationsdarstellung etc.) haben wir glieder weitergegeben); zudem muss sich dabei nicht beachtet, sondern uns auf spezi- ein Teammitglied, das die (umständlichen) fisch psychologische Themen der Hand- Regeln einhalten will, implizit vor der lungsregulation im sozialen und kulturellen Gruppe für diese Erschwernis rechtfertigen. Kontext beschränkt. Die Folge ist, dass Regelübertretung in Or- ganisationen „normal“ werden, wenn das Management nicht energisch gegensteuert. 42 Menschengemachte Umweltkatastrophen
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