Standgehalten 01/22 - Gewerkschaft der Polizei
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01/22
Das Magazin
der Gewerkschaft
der Polizei
Mit Tarifergebnis zufrieden
Standgehalten
In Koop
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Gewerk it der
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der Poli aft
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(GdP)
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01
Inhalt
IN EIGENER SACHE
Liebe Leserinnen und Leser, Ein
Ihre und Eure DP-Redaktion wünscht Ihnen gesundes
und
und Euch ein gutes, gesundes und sicheres
neues Jahr.
An dieser Stelle möchte ich zudem die Ge-
legenheit nutzen, einen langjährigen Weg- sicheres
gefährten in den wohlverdienten Ruhestand
2022!
Foto: Christine Glade/stock.adobe.com
zu verabschieden. Mit Wolfgang Schönwald
(wsd) verlässt uns ein erfahrener Journalist
der guten, alten Leipziger Schule. Nach vie-
len Jahren des hektischen Geschäftes in
mehreren Nachrichtenagenturen stieß un-
ser schon mit der GdP und innenpolitischen
Themen vertraute Kollege Anfang 2013 zur Titel Vor Ort
Berliner Bundesgeschäftsstelle und betrieb
von da an das Geschäft der Presse- und Öf- 2 Wir haben standgehalten 18 Innenminister gegen Antisemitismus
fentlichkeitsarbeit von der „gegenüberlie-
genden Seite“. 4 Durchbruch in dritter Runde
Wir werden seine präzise, geschliffene Innenleben
Schreibe jedoch nicht allzu lange vermis- 6 FAQ – Fragen und Antworten zum
sen müssen, wie er bereits andeutete. Viel Verhandlungsergebnis 20 Planänderung – leider
mehr jedoch trifft das auf die gemeinsamen
Komma-Diskussionen in den Korrekturrun- 24 „Gekommen, um zu bleiben!“
den des DP-Redaktionsschlusses zu. Eines Hingeschaut
sei Dir in Abwandlung eines mopsigen Lo- 27 Gemeinsamer mitbestimmen
riot‘schen Sinnspruches gesagt: Ein Leben 10 Die GdP-Ampel zur Ampel
ohne GdP ist möglich, aber sinnlos. Lieber 28 Einfach machen
Wolfgang, vielen Dank. 32 Enthemmt
35 Wer’s wissen will
38 Polizei und Rettungsdienst üben
gemeinsam 39 GdP Baden-Württemberg mit neuem
Vorsitzenden
GdP-Mitglieder Kommentiert 40 Print-„BM“ auch künftig im Abo
11 Gute Ansätze, offene Fragen
Und wo wir gerade bei der GdP sind. Nach Service
vielen Jahren in knapper Reichweite hat un- 36 … mit guter Balance
sere Gewerkschaft zum Jahreswechsel die 37 Mit diesen Tipps Steuern sparen
ersehnte Mitgliederzahlenhürde „200.000“
gerissen. Dabei soll es auch bleiben. Wir Gelesen
werden uns dafür ins Zeug werfen. Allen
Dazugekommenen und Treugebliebenen, 12 Geistig auf gepackten Koffern 40 Kongress-Ticker
vielen Dank für Euer Vertrauen in die GdP.
40 Impressum
Michael Zielasko Im Gespräch
DP-Chefredakteur
16 Der Kampf im Kopf
21 Das hat mit Fußball nichts zu tun
2
Titel
Foto: Kay Herschelmann
GdP-Tarifvorstand René Klemmer: Änderungen am Arbeitsvorgang abgewehrt.
TARIFRUNDE: AUSSERGEWÖHNLICHE ANSPANNUNG DP: Wie bewertest Du, Kollege Klemmer,
Wir haben
das erzielte Tarifergebnis mit einem ge-
wissen Abstand?
René Klemmer: Der erreichte Abschluss ist
zufriedenstellend. Er ruft zwar keinen Jubel
standgehalten hervor, ist jedoch unter Betrachtung der Ge-
samtumstände akzeptabel. Ganz entschei-
dend für uns ist, dass Veränderungen beim
Arbeitsvorgang seitens der Arbeitgeber ab-
gewehrt werden konnten. Dies belastete die
Eine äußerst zähe dritte Verhandlungsrunde für die Beschäftigten Verhandlungen von Anfang an enorm. Letzt-
des öffentlichen Dienstes der Länder endete nach mehr als lich ist das auch ein Grund für den Verhand-
lungsmarathon, da die Arbeitgeberseite sehr
20 Stunden an einem grauen Morgen. Nach hartem Ringen hatten lange eine Blockadehaltung einnahm.
die Gewerkschaften mit Blick auf die geplanten Zumutungen
der Arbeitgeber in Potsdam standgehalten. DP sprach mit dem DP: Das erste Echo der Beschäftigten
zeigt viele positive Reaktionen, jedoch
stellvertretenden Bundesvorsitzenden der Gewerkschaft der auch Unverständnis über das Ergebnis.
Polizei (GdP) und Tarifexperten René Klemmer, der zur Klemmer: Es ist nachvollziehbar, dass es
Verhandlungskommission zählte, über das Ergebnis, die gerade in den sozialen Medien unmittelbar
nach den Verhandlungen sofort kritische
Atmosphäre am Verhandlungstisch und künftige Tarifrunden. Stimmen gegeben hat. Man kann dafür Ver-
ständnis haben, dass bei einem Teil der Be-
schäftigten eine erst ab Dezember 2022 wir-
Wolfgang Schönwald kende lineare Erhöhung auf Unmut stößt
oder gar als Zahlenfehler angemahnt wur-
de, aber die Einmalzahlung von 1.300 Euro
DP DEUTSCHE POLIZEI 01/2022 3
darf nicht ganz vergessen werden. So gab es Situation schon außergewöhnlich und sehr DP: Wie schätzt Du künftige Verhandlun-
auch Wortbeiträge, in denen es hieß, das sei angespannt. gen bei angespannten Kassenlagen in
besser als beispielsweise 50 Euro brutto in Bund und Ländern ein?
einem ersten Schritt ab Jahresbeginn. DP: Da hilft eigentlich der Druck der Stra- Klemmer: Verhandlungen sind personen-
ße unter medialer Beobachtung? abhängig. Der Vorstand der TdL wechselt
DP: Und wie war es nun vor Ort? Klemmer: Ich muss mit Blick auf die Coro- ja alle zwei Jahre, deshalb setze ich meine
Klemmer: Dass die Verhandlungen hinter nabedingungen feststellen: Die Bereitschaft Hoffnung in bessere Gesprächsbedingun-
verschlossenen Türen geführt werden, hat zu Streiks war bei den Beschäftigten höher gen. Also: Wir haben in der nächsten Ta-
ja Gründe. Aber ein Beispiel: Noch in der als in der Vergangenheit. Uns ist es gelun- rifrunde der Länder einen neuen Verhand-
zweiten Runde Anfang November beweg- gen, den Kolleginnen und Kollegen klarzu- lungsführer auf Seiten der Arbeitgeber, der
ten sich die Arbeitgeber gar nicht. Vielmehr machen, dass der Arbeitsvorgang, das Fun- nicht so speziell in seiner Art ist. Und an-
erinnerte die Gegenseite daran, dass sie be- dament der Eingruppierung, das große The- gesichts der schwierigen Haushaltslage in
reits zu Jahresbeginn betont hatte, wenn die ma der Arbeitgeber ist. Und da war der Ärger den Ländern wegen den Corona-Ausgaben
Gewerkschaften beim Arbeitsvorgang nicht und Unmut bei den Beschäftigten groß, jetzt gehen die Steuerschätzungen für die nächs-
mit sich reden ließen, also letztlich Ver- da noch einzugreifen, wo ohnehin schon ten Jahre von besseren Ausgangswerten aus.
schlechterungen für die Arbeitnehmer zu- schlechtere und zu geringe Eingruppierun-
stimmen würden. Und dann wollten die Ar- gen existierten. Die Befürchtung: weitere fi- DP: Dein Fazit in einem Satz?
beitgeber noch nicht einmal über Gehalts- nanzielle Verschlechterungen. Die Folge: Klemmer: Am letzten Wochenende stand es
erhöhungen sprechen. Die Streikbereitschaft wuchs. Leider hat sie Spitz auf Knopf, das habe ich in Tarifrunden
sich aufgrund der Pandemie öffentlichkeits- noch nicht erlebt.
DP: Ein erfolgloses Ansinnen aus heuti- wirksam nicht so ausgewirkt wie erhofft. Der
ger Sicht. Druck kam in den Medien nicht rüber. DP: Vielen Dank für das Gespräch.
Klemmer: Richtig. Wir widersetzten uns al-
len Angriffen, den Arbeitsvorgang zum Ver-
handlungsgegenstand zu machen. Die Fol-
ge: Erst bei der dritten und abschließenden
Tarifrunde signalisierten die Arbeitgeber
schließlich Bereitschaft, mit uns über Ent-
geltregelungen zu sprechen. Das bedeutet
im Rückblick: Es ist uns gelungen, mehr zu
erreichen als gedacht, nämlich den Arbeits-
vorgang abzuwehren und ihnen gleichzei-
tig einen Entgeltabschluss abzuringen, was
eigentlich von Anfang an strikt abgelehnt
wurde.
DP: Deine bisher härtesten Tarifverhand-
lungen als GdP-Tarifexperte?
Klemmer: Definitiv. Diese war außerge-
wöhnlich. So ein Verhalten habe ich noch
nicht erlebt. Blockadehaltungen von Arbeit-
geberseite sind uns ja nicht fremd. Doch die-
se wurden in der Vergangenheit in der zwei-
ten Runde meist ein bisschen aufgeweicht.
Es gab bei kleineren Verhandlungsdetails
schon mal eine Richtung und erste Eini-
gungsangebote, auch wenn es selten schon
zu einem ersten Verhandlungsangebot kam.
DP: Und diesmal?
Klemmer: Diesmal setzten die Arbeitgeber
mit Niedersachsens Finanzminister Rein-
Foto: Kay Herschelmann
hold Hilbers an der Spitze auch in der drit-
ten Tarifrunde diese Blockadehaltung un-
vermindert fort, ohne erste konkrete Zah-
len auf den Tisch zu legen. Deshalb war die Lauter und sichtbarer Protest.
4 DEUTSCHE POLIZEI 01/2022 DP
Titel
Foto: Kay Herschelmann
Die Verhandelnden nach der Pressekonferenz: (v.l.) GdP-Tarifvorstand René Klemmer, Maike Finnern (GEW), Ulrich Silberbach (dbb),
Frank Werneke (ver.di) und der Verhandlungsführer der Länder, Niedersachsens Finanzminister Reinhold Hilbers.
N
ÄUSSERST ZÄHE VERHANDLUNGEN ach beeindruckenden Warnstreiks
Durchbruch in
und Aktionen war es gelungen, den
Druck auf die Arbeitgeber zu erhö-
hen. Nach zum Teil zermürbenden drei Ver-
handlungsrunden, in denen die Arbeitgeber
dritter Runde nicht wirklich zu Verhandlungen bereit wa-
ren, hatte sich der Druck von der Straße auf
die Verhandlungen ausgewirkt.
Für die Annahme des Verhandlungsergeb-
nisses von den Gremien der Tarifvertragspar-
Potsdam: Die Nacht zum 29. November 2021 brachte in der dritten teien wurde eine Frist bis 22. Dezember 2021
Verhandlungsrunde mit der Tarifgemeinschaft deutscher Länder vereinbart. Alle beteiligten Gewerkschaften
und Arbeitgebervertreter gingen fest davon
(TdL) den Durchbruch. Nach äußerst zähen Verhandlungen konnten aus, dass diese Hürde genommen werden
die Gewerkschaften ein aus ihrer Sicht zufriedenstellendes würde. Die Bundestarifkommission der GdP
Verhandlungsergebnis erzielen. hatte dem Verhandlungsergebnis noch am
29. November einstimmig zugestimmt.
Erfolgreicher Pilotversuch
Alberdina Körner In der vergangenen Tarifrunde mit der TdL
hat die GdP erstmalig sogenannte Tarifbot-
schafterinnen und -botschafter eingesetzt.
DP DEUTSCHE POLIZEI 01/2022 5
An der Tarifpolitik interessierte GdP-Kol- Tarifrunden informiert und seit Beginn der Nicht nur, dass es allen augenscheinli-
leginnen und Kollegen hatten sich zuvor Verhandlungen neben der Bundestarifkom- chen Spaß gemacht hat, die Fragen und An-
bei der Berliner GdP-Bundesgeschäftsstel- mission über die aktuellen Verhandlungs- merkungen aus den Reihen unseres Tarif-
le melden können, um Informationen rund stände auf dem Laufenden gehalten worden. botschafter-Teams bildeten zudem eine gute
um die Tarifrunde und deren Verhandlungs- Anders als das Bundestarifgremium hatten Grundlage für die anschließend erstellte
stand zu bekommen und weiterzugeben. die sie jedoch kein Stimmrecht, sondern FAQ-Liste aus der Tarifabteilung der Bun-
Am Ende signalisierten rund 80 Kollegin- fungierten insbesondere im eigenen dienst- desgeschäftsstelle. (siehe Seite 6)
nen und Kollegen aus unseren Landesbezir- lichen Umfeld als Multiplikatoren. Alle waren sich einig: Das machen wir
ken und Bezirken ihr Interesse. In der vorerst letzten Videokonferenz am wieder!
Die Tarifbotschafterinnen und Tarifbot- 1. Dezember 2021 wurden sie ausführlich In der nächsten Tarifrunde mit Bund und
schafter waren in mehreren Videokonferen- über das Verhandlungsergebnis informiert Kommunen wird also unser Tarifbotschaf-
zen über die Grundlagen und den Ablauf von und zu einer Fragerunde eingeladen. ter-Team erneut an den Start gehen. I
Verhandlungsergebnis
1 Lineare Anhebung der Entgelte
um 2,8 Prozent ab 1. Dezember 2022.
2 Eine einmalige steuer- und sozialversicherungsfreie Corona-Sonderzahlung
in Höhe von 1.300 Euro. Auszahlung bis März 2022.
3 24 Monate Laufzeit bis
zum 30. September 2023.
4 Auszubildendenvergütung: Anhebung um 50 Euro und 650 Euro
Corona-Sonderzahlung und Übernahmeerklärung.
5 Regelungen im
Gesundheitswesen.
6 Wirkungsgleiche Übernahme auf die Beamtinnen, Beamten
und Versorgungsempfängerinnen und -empfänger.
6
Titel
Foto: Kay Herschelmann
Kurzer Fototermin vor Beginn der Verhandlungsrunde.
TARIFRUNDE 2021
FAQ – Fragen und
Antworten zum
Verhandlungsergebnis
Ende November haben sich Gewerkschaften mit der
Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL) in der dritten
Verhandlungsrunde auf eine Tarifeinigung verständigt. Danach
erreichten einige Fragen aus dem Kreis der Mitglieder die GdP-
Bundesgeschäftsstelle – vor allem zum „Arbeitsvorgang“ und zur
Corona-Sonderzahlung. Unser Tarif-Team hat die Antworten.
Michaela Omari
DP DEUTSCHE POLIZEI 01/2022 7
Was ist aus dem zentralen Wie ist die Laufzeit des dieses Jahr in den Redaktionsverhandlun-
Thema „Arbeitsvorgang“ (AV) Tarifvertrages? gen geeint.
geworden?
Die Laufzeit beträgt insgesamt 24 Monate.
Die TdL wollte zunächst gar nicht zu den Der Beginn der Laufzeit der in der Tarifei- Hat sich etwas an der
Forderungen der Gewerkschaften verhan- nigung getroffenen Regelungen ist für den Jahressonderzahlung geändert?
deln. Ihre strikte Bedingung war eine Ver- 1. Oktober 2021 festgesetzt. Der Tarifvertrag
schlechterung bei der Definition des Arbeits- über die einmalige Corona-Sonderzahlung
vorganges, die zu unzähligen schlechteren ist am 29. November 2021 bereits in Kraft ge- Nein, dies war nicht Verhandlungsgegen-
Eingruppierungen bei den Beschäftigten ge- treten. Die Entgeltregelung in der Tarifeini- stand dieser Tarifrunde. Es verbleibt für die
führt hätte. Gerade unter diesem Gesichts- gung (Erhöhung der Tabellenentgelte des Jahre 2022 und 2023 bei den für 2021 festge-
punkt sind wir zufrieden, dass es ohne Ver- TV-L, die Corona-Sonderzahlung, die Dy- legten Prozentsätzen, die dem Paragraf 20
änderung beim Arbeitsvorgang zu einer Ta- namik bestimmter Zulagen etc.) endet am Absatz 2 TV-L (Jahressonderzahlung) zu ent-
rifeinigung kam. Die Arbeitgeber haben das 30. September 2023. nehmen sind.
Thema in den laufenden Verhandlungen im-
mer wieder auf den Tisch gebracht.
Die äußerst schwierige Ausgangslage
war, dass die TdL unbedingt den Arbeitsvor- In welcher Höhe wird das Wann wird die Corona-
gang im Paragraf 12 TV-L beziehungsweise Tabellenentgelt im Jahr 2022 Sonderzahlung gemäß dem
die Definition in der Protokollerklärung Nr. bis zur Entgelterhöhung Tarifvertrag über eine einmalige
1 zu Paragraf 12 Absatz 1 verändern wollte. ausgezahlt? Corona-Sonderzahlung (TV
Dieser Arbeitsvorgang ist das maßgebende Corona-Sonderzahlung)
Beurteilungsinstrument für die Eingruppie- ausgezahlt?
rung der Tarifbeschäftigten. Das hätte einen Für das kommende Jahr (bis zur linearen
schweren Einschnitt bedeutet, und die Folge Entgelterhöhung am 1. Dezember 2022 um
wären Verschlechterungen bei der Eingrup- 2,8 Prozent) verbleibt es bei den bisherigen Gemäß Paragraf 2 TV Corona-Sonderzah-
pierung gewesen. Dieser zentrale Punkt war Tabellenentgelten (Anlage B zum TV-L ab 1. lung wird diese einmalige Sonderzahlung
auch der Grund für die große Warnstreik- Januar 2021). Die Tarifeinigung sieht eine spätestens mit dem Tabellen-, Ausbildungs-,
bereitschaft der Tarifbeschäftigten. Die von Wiederinkraftsetzung der gekündigten Ent- Studierenden- beziehungsweise Praktikan-
den Arbeitgebern geforderte Veränderung geltregelungen (Entgelttabellen) bis 30. No- tenentgelt für März 2022 ausgezahlt. Dies ist
konnte erfolgreich abgewehrt werden. Die vember 2022 vor. auch abhängig davon, wie schnell die Be-
Gewerkschaftsseite hat sich vehement ge- zügestellen in den Ländern die Auszahlung
gen die Veränderung gestemmt und konnte umsetzen können. Es kann also sein, dass
hier in den Verhandlungen ihre Gegenwehr die Auszahlung in einigen Ländern auch vor
durchsetzen. Was bedeutet die März 2022 erfolgt.
Erklärungsfrist?
Wird mit dem Ergebnis Die Erklärungsfrist war bei Abschluss der Erhalten auch die Kolleginnen
der Inflationsausgleich Tarifeinigung für das Verhandlungsergeb- und Kollegen, die erst im
erreicht? nis auf den 22. Dezember 2021 festgesetzt Jahresverlauf (zum Beispiel ab
worden. Beide Tarifparteien konnten sich April 2021) ein Arbeitsverhältnis
innerhalb der Frist intern mit ihren zustän- als Tarifbeschäftigte oder
Hier muss der Gesamtabschluss (Corona- digen Gremien (Tarifkommission, Vorstand) -beschäftigter begonnen haben,
Sonderzahlung und Tabellenentgelt) be- beraten. die Corona-Prämie?
trachtet werden. Um einen solchen Netto- Innerhalb der Frist konnte das Tarifer-
wert wie die Corona-Sonderzahlung zu errei- gebnis angenommen oder abgelehnt bezie-
chen, müsste die Vergütung in der EG 6 Stufe hungsweise widerrufen werden. Der TV Co- Ja, da Paragraf 2 Absatz 1 TV Corona-Son-
6 um 5,1 Prozent erhöht werden. Auch in al- rona-Sonderzahlung war bereits am 29. No- derzahlung folgende Voraussetzung enthält:
len anderen Entgeltgruppen ist die Wirkung vember 2021 unterschrieben worden. Für die • das Arbeitsverhältnis muss am 29. No-
höher als eine Tabellenerhöhung um 2,8 Pro- übrigen Vereinbarungen der Tarifeinigung vember 2021 bestanden haben und
zent und kommt damit dem Ausgleich der war die Erklärungsfrist bis 22. Dezember • in der Zeit vom 1. Januar bis 29. Novem-
Inflation sehr nahe beziehungsweise geht 2021 vereinbart worden. Das heißt, die Tex- ber 2021 muss mindestens an einem Tag
darüber hinaus. te der Änderungstarifverträge werden erst Anspruch auf Entgelt bestanden haben.
8 DEUTSCHE POLIZEI 01/2022 DP
na-Sonderzahlung – erhalten, der dem An-
teil ihrer individuell durchschnittlichen Ar-
beitszeit entspricht.
Wird die Corona-Sonderzahlung
auch an Beamtinnen, Beamte
sowie Versorgungs-
empfängerinnen und
-empfänger gezahlt?
Foto: Kay Herschelmann
Angekündigt von der TdL ist die wirkungs-
Lautstarker Protest am Verhandlungsort in Potsdam. gleiche Übernahme. Die gesetzgeberi-
sche Übertragung der steuerfreien Sonder-
Wie verhält es sich mit der 1.300 Euro in voller Höhe ohne eine Anrech- zahlung auf die aktiven Beamtinnen und
Corona-Sonderzahlung für die nung der bereits erhaltenen 1.000 Euro aus- Beamte ist laut der Arbeitgeberseite be-
Beschäftigten, die sich in gezahlt bekommen. reits in Vorbereitung. Allerdings liegt die-
Elternzeit/Mutterschutz Steuer- und abgabenfrei wäre allerdings se Entscheidung, ob und in welcher Höhe
befinden? nur der Betrag bis zu 1.500 Euro bis März die Übertragung umgesetzt wird, allein
2022. Somit wären 500 der 1.300 Euro Coro- bei den Ländern. Sie haben dafür die aus-
na-Sonderzahlung steuer- und abgabenfrei, schließliche Gesetzgebungskompetenz. Des-
Paragraf 2 TV Corona-Sonderzahlung sieht die darüberhinausgehenden 800 Euro müss- halb kann eine Übertragung auf den Beam-
neben der Regelung, dass diese einmalige ten versteuert und es müssten Sozialabga- tinnen-, Beamten- und Versorgungsbereich
Sonderzahlung spätestens mit dem Tabel- ben gezahlt werden. nicht im Tarifvertrag vereinbart werden.
len-, Ausbildungs-, Studierenden- bezie- Sowohl die Besoldung als auch die Be-
hungsweise Praktikantenentgelt für März züge der Versorgungsempfängerinnen und
2022 ausgezahlt wird, vor, dass in der Zeit -empfänger erhöhen sich ab 1. Dezember
vom 1. Januar bis 29. November 2021 min- Erhalten auch am 1. Dezember 2022, wenn die Länder ihre Ankündigung
destens an einem Tag Anspruch auf Entgelt 2021 ausscheidende wahrmachen. Hier liegt noch viel Arbeit
bestanden haben muss. Sollte diese Voraus- Tarifbeschäftigte (zum Beispiel vor den GdP-Landesbezirken, dass die Um-
setzung nicht erfüllt sein, wird die Corona- wegen Erreichen der setzung wirklich erfolgt. Vom Angebot der
Sonderzahlung nicht gezahlt. Regelaltersrente oder eines Arbeitgeber zur Corona-Sonderzahlung sind
Hinsichtlich der Mutterschutzzeit sieht Arbeitgeberwechsels) eine die Versorgungsempfängerinnen und -emp-
Paragraf 2 Absatz 1 Nr. 4 TV Corona-Son- Corona-Sonderzahlung? fänger jedoch nicht erfasst.
derzahlung eine Gleichstellung vor bezüg- Jetzt ist es an den Ländern, wie sie bezie-
lich der Regelung, dass an einem Tag Entgelt hungsweise in welchem Umfang sie die Ta-
gezahlt worden sein muss. Folglich erhalten Ja, da Paragraf 2 TV Corona-Sonderzahlung rifeinigung für ihre Beamtinnen und Beam-
Beschäftigte im Mutterschutz eine Corona- vorsieht, dass das Arbeitsverhältnis vom 1. te sowie Versorgungsempfängerinnen und
Sonderzahlung. Januar bis 29. November 2021 bestanden ha- -empfänger umsetzen. Die Länder könnten
ben muss und in der Zeit vom 1. Januar bis 29. auch die Corona-Sonderzahlung auf die Ver-
November 2021 muss mindestens an einem sorgungsempfängerinnen und -empfänger
Tag Anspruch auf Entgelt bestanden haben. übertragen. Bisher ist die Übertragung in kei-
Wie verhält es sich mit der nem Land geplant. Der Bundesseniorenvor-
Steuer- und Sozialabgaben- stand kritisiert dies, da somit Versorgungs-
freiheit, wenn bereits eine empfängerinnen- und empfänger einen
Corona-Sonderzahlung (zum In welcher Höhe erhalten unverhältnismäßig langen Zeitraum ohne fi-
Beispiel in Höhe von 1.000 Euro) Teilzeitbeschäftigte die Corona- nanzielle Kompensation hinnehmen müssen.
gezahlt worden ist? Sonderzahlung? Deshalb fordern der Bundesseniorenvor-
stand und die GdP in den Gesprächen mit
den Ministerien, dass für den Zeitraum bis
Es ist keine Grenze für die Gesamthöhe ei- Paragraf 2 Absatz 2 Satz 2 TV Corona-Sonder- zur linearen Erhöhung zum 1. Dezember
ner Corona-Sonderzahlung vereinbart wor- zahlung verweist auf Paragraf 24 Absatz 2 2022 ein entsprechender Ausgleich erfolgt.
den. Folglich sollte die/der Tarifbeschäftig- TV-L, der vorsieht, dass Teilzeitbeschäftigte Orientierung bietet hierfür die Höhe der Co-
te die Corona-Sonderzahlung in Höhe von in dem Umfang Leistungen – hier die Coro- rona-Sonderzahlung. IEin Bier für die Heimfahrt? Now you can. Heineken 0.0. Voller Geschmack. Null Alkohol.
10 DEUTSCHE POLIZEI 01/2022 DP
Die GdP-Ampel Der Geschäftsführende Bundesvorstand der
Gewerkschaft der Polizei (GdP) hat sich den
zur Ampel Koalitionsvertrag der „Ampel“ aus
gewerkschaftspolitischer Perspektive angesehen.
Jeldrik Grups
Wir Kritisch Noch offen und/oder
begrüßen: betrachten wir: zu erläutern sind:
b das Bekenntnis zu einer gut aus- b die angekündigte Ausweitung der b die Ausgestaltung und praktische
gestatteten und ausgebildeten Sicherheitsüberprüfung von Be- Auswirkung der ambitionierten
Polizei, zur Stärkung der Attraktivi- werberinnen und Bewerbern bei neuen „Überwachungsgesamt-
tät des öffentlichen Dienstes (öD) der Polizei. rechnung" auf die Handlungsfä-
und dazu, dass dieser in puncto higkeit der Sicherheitsbehörden.
Vielfalt, Gleichstellung und flexib- b die vorgesehene Schaffung ei-
ler sowie digitaler Arbeits- ner oder eines Polizeibeauftragten b die Bedeutung des „Föderalis-
bedingungen Vorbild sein müsse. „als Anlaufstelle beim Bundestag musdialoges zur transparenteren
mit Akteneinsichts- und Zugriffs- und effizienteren Verteilung der
b die Verbesserung von Aus- und rechten“. Aufgaben“.
Fortbildung, Supervision und For-
schung im Polizeialltag zur b die Einführung einer sogenannten b die konkrete Umsetzung des Be-
Stärkung einer gegenüber antide- pseudonymen Kennzeichnung für kenntnisses, die Regelungen zur
mokratischen Umtrieben und Polizeivollzugsbeamte. Vorratsdatenspeicherung so aus-
Einstellungen resilienten Polizei. zugestalten, dass „Daten rechts-
b der Wille zur Erhöhung der Ein- sicher anlassbezogen und durch
b die Förderung von Fachkarrieren griffsschwellen für den Einsatz richterlichen Beschluss gespei-
und das Intensivieren diversitäts- von Überwachungssoftware. chert“ werden können.
orientierter Stellenbesetzung.
b die Festlegung verpflichtender b wie praktisch umgesetzt wer-
b die Einführung der Ruhegehaltsfä- Ton- und Bildaufnahmen bei Ver- den kann, dass „Verfassungsfein-
higkeit der Polizeizulage. hören und im Strafverfahren. de schneller als bisher aus dem
Dienst entfernt werden können“?
b das Bekenntnis zur Weiterentwick- b das Einführen einer kontrollierten
lung des bundesweiten Abgabe von Cannabis an Erwach- b wie das Ziel der „Förderung und
IT-Projektes „Polizei 2020“. sene zu Genusszwecken. Vereinfachung des Personalaus-
tausches und der Rotation zwi-
b die stärkere Fokussierung auf die schen verschiedenen Behörden,
Bekämpfung der Organisierten zwischen Bund und Ländern so-
Kriminalität (OK), inklusive einer wie zwischen Verwaltung und Pri-
Ausweitung dazu notwendiger vatwirtschaft“ umgesetzt wird?
Instrumente.
b die Absicht der Novellierung des
Bundespolizeigesetzes.DP DEUTSCHE POLIZEI 01/2022 11
Kommentiert
KOALITIONSVERTRAG
Gute Ansätze,
offene Fragen
Oliver Malchow
Foto: Aradan/stock.adobe.com
Foto: GdP/Hagen Immel
W as wir im Wahlkampf vermisst ha-
ben, macht der Koalitionsvertrag in
Teilen wieder gut. Die innere Sicherheit ist
mit großer Freude feststellen, dass uns über
200.000 Menschen in der Polizei ihr Vertrau-
en schenken. Das ist ein Pfund in unserem
Wir im Vergleich zum Programm der abgelösten künftigen politischen Diskurs.
„GroKo“ in der „Ampel“ ein Thema und Dieser wird sich auch mit der Stärkung
vermissen: damit auch die Menschen in der Polizei. der Polizei gegenüber antidemokratischen
Angesichts klarer Bekenntnisse zur Polizei Umtrieben beschäftigen. Ja, es ist sinnvoll,
b das Hervorheben des Themas und dem hohen Stellenwert der Sicherheit unsere Polizeien resilienter zu machen. Ger-
„Gewalt gegen Beschäftigte“. hierzulande sind wir optimistisch, in einen ne sind wir bereit, bei Themen wie Supervi-
für Euch zielführenden Dialog eintreten zu sion, Forschung sowie Aus- und Fortbildung
b Aussagen über ein Musterpolizei- können. Unkenrufe, die angesichts der Re- mitzuwirken. Ein paar Ideen mehr werden
gesetz. gierungskonstellation wenig Hoffnung für wir der Politik jedoch noch präsentieren, die
die Sicherheitsbehörden verlauten ließen, Legislaturperiode gibt es uns da einen zeit-
b Absichten zur Personalmitbestim- sind verstummt. Mit der Absicht, die Polizei- lichen Vorschuss.
mung und zu einer Modernisie- zulage wieder ruhegehaltsfähig zu gestalten, Worüber mit Sicherheit zu reden sein
rung des Laufbahnrechts im öf- geht im Übrigen das zunächst sichtbarste wird, ist der angelaufene Digitalisierungs-
fentlichen Dienst. positive Signal aus. Womöglich strahlt es prozess, der Euch in Eurem täglichen Dienst
von Berlin auf die Länder aus und ist nur mehr oder weniger präsent begegnet. Das
b ein Bekenntnis zur Weiterentwick- das erste von folgenden. Unsere Kampagne Projekt „Polizei 2020“ fällt dabei vor allem
lung des Dienstunfallschutzes so- für mehr Wertschätzung hat offensichtlich auf. Dem Bundeskriminalamt als zentralem
wie zur Förderung partizipativer in den Reihen der Politik verfangen. Bei dem IT-Dienstleister kommt hier eine bedeuten-
Projekte zu Förderung einer resi- einen mehr, bei dem anderen weniger. Da- de Rolle zu. Doch auch der Weg einer ver-
lienteren Demokratie. rauf angesprochen habe ich im Übrigen die stärkten Verzahnung und Identifizierung
neue Bundesinnenministerin Nancy Faeser spezifischer Schwerpunkttätigkeiten sowie
in meinem Gratulationsschreiben zu ihrer Kompetenzen, verbunden mit einer entspre-
Amtsübernahme. Sie kann daran mitwir- chenden Ressourcenbereitstellung, muss
ken, die teils sehr heterogenen Arbeits- und konsequent weitergegangen werden.
Rahmenbedingungen für die polizeiliche Am Ende bleiben auch Fragezeichen: Was
Arbeit, diese, aus unserer Sicht empfundene ist unter einer Überwachungsgesamtrech-
Ungerechtigkeit zu beseitigen. nung zu verstehen? Welche Folgen und Wir-
Uns irritiert jedoch, dass die Gewalt ge- kungen würde sie ausstrahlen? Oder: Wie
gen Polizeibeschäftigte in dem 177 Seiten weit offen ist die politische Tür für eine pra-
starken Koalitionsvertrag keine Rolle spielt. xistaugliche und rechtssichere „Vorratsda-
Ebenso ist weiterhin die Frage des Dienstun- tenspeicherung“?
fallschutzes angesichts pandemischer La- Wir jedenfalls begleiten, weisen hin,
gen offen. Das gilt auch für die zunehmen- schlagen vor und gestalten mit. Konstruk-
den psychischen Belastungen, die manche tiv, pragmatisch und engagiert. Also eigent-
und manchen von Euch aus dem Dienst ki- lich, wie immer. I
cken. Ein Selbstläufer werden die nächsten
vier Jahre für die GdP angesichts dieser nur
wenigen plakativen Beispiele also nicht. Da
ist es hilfreich, dass wir in der GdP stetig
mehr werden. Zum Jahresende konnten wir GdP-Bundesvorsitzender12 DEUTSCHE POLIZEI 01/2022 DP
Gelesen
I
ANTISEMITISMUS mmer wieder beunruhigt und erschüt-
Geistig auf
tert Antisemitismus die Bundesrepub-
lik. Antisemitische Einstellungen und
judenfeindliches Verhalten zählen zu den
zentralen Bedrohungen der rechtsstaatli-
gepackten chen Demokratie. Auf bereits hohem Niveau
steigt seit Jahren die Zahl entsprechender
Straftaten. Zu den markanten Beispielen der
Koffern
jüngeren Zeit gehört der versuchte Anschlag
auf die Synagoge im sachsen-anhaltischen
Halle im Oktober 2019 – ausgerechnet an
Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feier-
tag. Der Täter wollte die Synagoge stürmen
und zahlreiche Menschen offenbar nur tö-
Antisemitismus: Die Hemmschwelle der Täter sinkt, die Angst der ten, weil sie Juden sind. Eine verschlossene
Betroffenen steigt, konstatiert Autor Ronen Steinke in seinem Eichentür versperrte ihm den Weg. Dar-
aufhin erschoss er vor der Synagoge zwei
aktuellen Buch. Welche Verantwortung trägt der Rechtsstaat? Passanten. Kurze Zeit später nahm ihn die
Und gibt es in Deutschland wirklich „No-Go-Areas“ für Juden? Polizei fest.
DP-Autor Dr. Harald Bergsdorf hat hineingelesen.
Rasante
Verbreitung von
Hass und Hetze
Ein besonders hoher Anteil antisemitisch
Dr. Harald Bergsdorf motivierter Straftaten, zum Beispiel Volks-
verhetzungen, wird von Rechtsextremis-
Foto: privat
ten begangen. Judenfeindlichkeit zählt zu
den konstitutiven Elementen rechtsextre-
mistischer Ideologien und Weltdeutungen.
Jedoch auch andere Fanatiker, darunter Is-
lamisten und arabische Nationalisten, ver-
breiten anonym oder sogar unter Klarnamen
immer wieder Ressentiments gegen Juden.
Dazu teilen und multiplizieren sie unter an-
derem antisemitische Verschwörungstheo-
rien wie die sogenannte jüdische Weltver-
schwörung. Das Internet erleichtert ihnen
dabei Agitation und Propaganda, um Hass
und Hetze rasant zu verbreiten.
Hakenkreuzschmierereien an jüdischen
Gräbern, das Verbrennen von Israel-Fahnen,
das Darstellen von Landkarten des Nahen
Ostens ohne Israel, das Beleidigen, Bespu-
cken und Bedrohen jüdischer Bürger sind
dagegen nahezu alltägliches Geschehen.
Obendrein hetzen rechtsextreme Populisten
Ronen Steinke: Terror als geistige Brandstifter hierzulande inner-
gegen Juden – Wie anti- und außerhalb von Parlamenten verklau-
semitische Gewalt erstarkt suliert oder offen gegen Juden, verharmlo-
und der Staat versagt
sen die Hitler-Diktatur und feiern auch noch
Wahlerfolge. Umso wichtiger ist es, jungen
Piper Verlag 2020,
256 Seiten, 18 Euro, Leuten den berührenden Film „Schindlers
ISBN: 978-3827014252 Liste“ zu zeigen.DP DEUTSCHE POLIZEI 01/2022 13
Für seinen eher lebendig-konkreten als durch den die Täter auch sie, die deutsche
Hemmschwellen sinken wissenschaftlich-abstrakten Band hat Stein- Terroristin, aus dem Gefängnis freipressen
ke, jüdischer Jurist und Journalist, sowohl wollten, als einen „antiimperialistischen“
Weil Hemmschwellen seit Jahren sinken, einschlägige Literatur ausgewertet als auch und „antifaschistischen“ Akt der „Mensch-
wachsen Verunsicherung, Unbehagen und zahlreiche Gespräche mit Experten und Be- lichkeit“.
Ängste unter Juden in Deutschland, wie Ro- troffenen geführt. Analytisch wählt er eine
nen Steinke in seinem aktuellen Buch „Terror weite Perspektive, indem er nicht nur rechts-
gegen Juden“ darstellt. Manche Juden sitzen extremistisch, arabisch-nationalistisch und Antisemitische Stereotype
dem Autor zufolge notgedrungen – zumin- islamistisch motivierten Judenhass betrach-
dest geistig – wieder auf gepackten Koffern tet, sondern auch jenen weniger verbreiteten Bis heute teilten verschiedene Akteure des
oder haben sie wenigstens gedanklich schon Antisemitismus in seine Untersuchung ein- Antisemitismus, so Steinke, „das heroische
aus dem Keller geholt. Gerade deshalb sei es bezieht, der auf einer toxischen Mischung – auch für Menschen, die sich für links hal-
bedeutsam, über Antisemitismus in seinen aus antikapitalistischen, antiimperialisti- ten, attraktive – Gefühl“, nicht nach unten
unterschiedlichen Ausprägungen aufzuklä- schen und antiamerikanischen Ideologie- zu treten „wie der schnöde Rassist“, son-
ren und Juden bestmöglich zu schützen und fragmenten und Feindbildern gründet. Auf dern nach oben gegen „eine Gruppe, die ge-
zu verteidigen. Das zähle zu den wichtigsten einer solchen Basis (unter anderem Israel heimnisvolle Mittel und Privilegien“ genie-
Aufgaben aller Demokraten. Dazu will Stein- als angeblichem US-Vorposten) bejubelte ße. In seiner Schrift „Zur Judenfrage“ legte
kes Buch beitragen. Denn heute in Deutsch- schon das Mitglied der Rote-Armee-Fraktion bereits Karl Marx antikapitalistisch gefärb-
land offen als Jüdin oder Jude zu leben, be- (RAF) Ulrike Meinhof den palästinensischen te Grundlagen für antisemitische Stereoty-
deute vielfach „Religionsausübung im Bela- Mordanschlag auf israelische Sportler 1972 pe, auf denen heute gerade auch Rechtsex-
gerungszustand“, schreibt er. bei den Olympischen Spielen in München, tremisten beziehungsweise nationale Sozi-
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DP-Autor Dr. Harald Bergsdorf
ist Politikwissenschaftler, Historiker und
Buchautor aus Bonn. Er arbeitet zu den
Schwerpunkten Parteien, Demokratie,
Extremismus, Terrorismus und deutsche
Geschichte seit 1870/71.
communities“ (geschlossene und bewach- tackierten, immer wieder versuchten, ihre
te Wohnanlagen) mit noch höheren Mauern Taten als besondere Form von Israelkritik
und Sicherheitszäunen. zu verniedlichen und zu verharmlosen. Da-
mit folgten sie einem populären Trend der
Gegenwart. Denn seit einiger Zeit wüch-
Ignoranz? sen Tendenzen, Antisemitismus unter dem
Deckmantel des Antizionismus zu verbrei-
Zunächst präsentiert der Autor Beispiele aus ten. Damit stießen einige Täter immer wie-
der bundesrepublikanischen Geschichte, der auf viel Verständnis und Nachsicht, un-
die zeigen sollen, wie Strafverfolgungsbe- ter anderem vor manchen Gerichten. Der
hörden antisemitisch motivierte Gewaltta- österreichische Schriftsteller und Wider-
ten, darunter Morde, in manchen Fällen erst standskämpfer Jean Améry habe bereits ge-
spät als solche erkannten und benannten, warnt, „Antizionismus enthält Antisemitis-
nachdem sie zuvor primär anderen Tatmoti- mus wie die Wolke den Regen“. Bis heute
ven nachgegangen waren. Hierbei sei es be- müssten sich deutsche Juden für israelische
reits weit vor den schockierenden Taten des Politik rechtfertigen.
NSU (Nationalsozialistischer Untergrund) Zwar gebe es selbstverständlich – wie in
sowohl zu einer Art „blaming the victims“ jeder rechtsstaatlichen Demokratie – auch in-
(einer Täter-Opfer-Umkehr) als auch zu einer ner- und außerhalb Israels legitime Kritik an
Form von „eyes wide shut“ (einer Art Igno- der Politik des Landes. Doch gerade, wer Is-
ranz) gekommen, wie Steinke moniert. rael, der einzigen Demokratie im Nahen Os-
Konkret wird Steinke bei der Hinrichtung ten, nach dem Holocaust das Existenzrecht
des jüdischen Paares, Shlomo Lewin und abspreche, äußere sich nicht antizionistisch,
Frieda Poeschke, 1980 in Erlangen durch sondern antisemitisch. Das gelte umso mehr
einen Rechtsextremisten. Zehn Jahre zu- für Versuche, Israel als Staat mit natürlich
Julia Neuberger:
vor fielen einem Brandanschlag auf ein jü- besonderen Sicherheitsbedürfnissen zu dä-
Antisemitismus. Wo er
herkommt, was er ist – und disches Altenheim in München sieben Men- monisieren („Israhell“) oder gar mit der Hit-
was nicht schen zum Opfer. Unter den Ermordeten be- ler-Diktatur („faschistischer Zionismus“)
fanden sich Holocaust-Überlebende. Als gleichzusetzen – samt deren singulären Mas-
aus dem Englischen von Täter des bis heute unaufgeklärten Verbre- senverbrechen gegen die Menschlichkeit.
Anne Emmert, BERENBERG
chens könnten aufgrund einiger Indizien die SteinkesFazit: „Die allermeisten Attacken
Verlag 2020, 240 Seiten,
16 Euro, antiimperialistisch-linksradikal-gewalttäti- auf Juden werden heute auf die eine oder an-
ISBN 978-3-946334-77-4 ge „Tupamaros München“ in Frage kommen. dere Weise mit der israelischen Politik ge-
Konkret nachweisen ließ sich dieser Gruppe rechtfertigt, sofern die Täter überhaupt er-
bisher nichts. wischt werden.“ Noch einmal verstärkt habe
sich das, seitdem in größerer Zahl Menschen
aus arabischen Ländern eingewandert sei-
Verniedlichung en, in deren Heimatländern Jude und Isra-
alisten aufbauen (können). Marx erklärte: eli als Synonyme verwendet werden. Für
„Welches ist der weltliche Grund des Juden- Darüber hinaus schildert er, wie gefährlich „Feind“. Auch für Antisemitismus unter
tums? Das praktische Bedürfnis, der Eigen- es mittlerweile für Juden in manchen Stadt- Muslimen dürfe es keine kulturellen Rabat-
nutz. Welches ist der weltliche Kultus der Ju- vierteln zum Beispiel Berlins (er spricht von te geben. Enorm wichtig sei der aktuelle Ein-
den? Der Schacher. Welches ist sein weltli- „no-go-areas“) wieder sein kann, eine Ket- satz vieler Menschen, darunter zahlreiche
cher Gott? Das Geld.“ te mit Davidstern oder eine Kippa zu tragen. Christen und Muslime, gegen Antisemitis-
Primär geht es Steinke darum, stärker Und wie Polizeibeamte, mit umgehängten mus und andere Arten von Demokratiefeind-
für die Gefahren zu sensibilisieren, denen Maschinengewehren bewaffnet, jüdische lichkeit. Das Engagement gegen Antisemi-
Juden in Deutschland heute durch antisemi- Schulen und Synagogen in Deutschland be- tismus dürfe – getreu dem Motto „Interven-
tisch motivierte Straftaten ausgesetzt sind, wachen müssen. Um jüdische Einrichtun- tion statt Resignation“ – keine Saisonarbeit
darunter schwere Gewaltdelikte. Umso mehr gen besser als die Haller Synagoge zu schüt- sein. Vielmehr gelte es, Antisemiten unter-
will er mit seinem Buch zu einem spürbar zen, müsse der demokratische Rechtsstaat schiedlicher Ausrichtung kontinuierlich mit
unbeschwerteren Leben jüdischer Bürge- mancherorts mehr leisten, fordert Steinke. gelassener Entschlossenheit zu bekämpfen
rinnen und Bürger hierzulande beitragen. Zugleich lobt er den Freistaat Bayern, der in – gemäß der Devise: Hinsehen und Handeln
Daher fordert er, sowohl Dunkelfelder stär- der Landeshauptstadt München diese mas- statt Wegsehen und Warten; mit Worten und
ker auszuleuchten und aufzuhellen als auch siv sichere. Wahlzetteln, notfalls auch mit Gesetz und
den praktischen Schutz von Juden zu ver- Ausführlich beleuchtet der Autor in sei- Gefängnis. Der demokratische Rechtsstaat
bessern – und das nicht nur durch „gated ner „Anklage“, wie Täter, die Synagogen at- könne und dürfe es nicht hinnehmen, wennDP DEUTSCHE POLIZEI 01/2022 15
sich Juden im Kampf gegen Antisemitismus deutschen Wurzeln gehört als Mitglied zum der vergangenen Unterhauswahl, zurückge-
alleingelassen fühlten und sie antisemiti- „House of Lords“. Zugleich fungiert sie als tretenen Vorsitzenden Jeremy Corbyn. Tat-
sche Straftaten aus Angst vor Rache der Tä- Rabbinerin. Hitlers Verbrecher ermordeten sächlich hatte Corbyn einst sogar selbst er-
ter erst gar nicht anzeigten. viele Mitglieder ihrer Familie. In ihrer Pu- klärt, es sei zulässig, Israel, seine Politik
Steinkes sowohl aufrüttelnde als auch ab- blikation diskutiert und analysiert die be- oder die Umstände seiner Gründung rassis-
gewogene und anschauliche Analyse kann kennende Brexitgegnerin, die 2019 auch tisch zu nennen. Nach den Worten seines
dazu beitragen, mehr Menschen für das Ju- die deutsche Staatsangehörigkeit erhielt, Sprechers wollte er damit lediglich palästi-
dentum zu sensibilisieren und gegen Antise- schwerpunktmäßig den wachsenden Anti- nensische Rechtsauffassungen verteidigen.
mitismus unterschiedlicher Ausrichtungen semitismus in seinen verschiedenen Facet- Offenbar mangele es dem britischen Po-
zu aktivieren. Sein bewegendes Buch gehört ten in England und hierzulande. litiker bereits an einem Grundverständnis
damit zu den wichtigen Veröffentlichungen Besorgt äußert sie sich gerade auch für die Ursachen und Umstände der Entste-
der Gegenwart über den Kampf gegen die über den wachsenden Antisemitismus in hung Israels. Ebenso würdigte und vertei-
wachsende Judenfeindlichkeit und für ein Deutschland, wo Rechtsextremisten popu- digte er vor einigen Jahren, wie Neuberger
freieres Leben von Juden in Deutschland. listisch gegen Juden hetzten, die Hitler-Dik- erinnert, ein Gemälde mit antisemitischen
tatur verharmlosten, demokratische Politi- Stereotypen gröbster Art als beinahe wert-
ker verunglimpften, rassistische Ressenti- vollen Beitrag zur Meinungsfreiheit – das
Mangelndes Grundverständnis ments schürten und auch noch Wahlerfolge Bild präsentiert „hakennasige Geldjuden“
feierten. Scharf kritisiert die Autorin anti- als „kapitalistische Ausbeuter“ des Prekari-
Einen Beitrag zur Aufklärung über Antise- semitische Tendenzen in der britischen La- ats. Neubergers Buch zählt ebenfalls zu den
mitismus will auch das Buch von Julia Neu- bour-Partei, vor allem unter ihrem inzwi- zentralen Publikationen der Gegenwart über
berger leisten. Die britische Autorin mit schen, nach seiner schweren Niederlage bei Antisemitismus. I
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DP-Interviewpartner Burak Yilmaz
Im Gespräch arbeitet als Pädagoge in Schulen und Ge-
fängnissen. Für sein Engagement gegen
Antisemitismus erhielt er von Bundes-
präsident Franz-Walter Steinmeier das
Bundesverdienstkreuz.
20 Prozent unserer Gesellschaft zu antisemi-
tischen Einstellungen neigen. Es kann nicht
sein, dass sich Menschen aufgrund ihrer
Herkunft so bedroht fühlen, dass sie diese
verheimlichen. Wir tragen alle eine Verant-
wortung, wenn es darum geht, mehr Sicht-
barkeit und Teilhabe für Jüdinnen und Ju-
den zu schaffen, jenseits klischeehafter Vor-
stellungen.
DP: Sie selbst haben türkische Wurzeln.
Ihr Buch ist autobiografisch geprägt, es
enthält viele persönliche Erfahrungen.
Was interessiert Sie so sehr am Thema?
Yilmaz: Geschichte und Politik haben mich
ANTISEMITISMUS schon immer interessiert. Wenn man wie
Der Kampf
ich in Duisburg-Obermarxloh in einer tür-
kisch-kurdischen Familie aufwächst und
mitbekommt, wie viel leichter es deutsche
Freunde haben, dann betrachtet man die-
im Kopf se Gesellschaft mit anderen Augen. „Wa-
rum behandeln die uns so ungerecht?“,
war vielleicht die häufigste Frage in meiner
Kindheit. Als ich in der sechsten Klasse auch
noch vom Holocaust erfahren habe, wurde
Der Duisburger Pädagoge Burak Yilmaz engagiert sich gegen mir richtig schlecht. Mich verängstigt, dass
Antisemitismus – und organisiert Fahrten mit Jugendlichen aus so etwas in Deutschland passieren konnte.
Ich will nicht nur die Geschichte verstehen,
Migrationsfamilien nach Auschwitz. Er weiß: Der Kampf gegen sondern auch erkennen, welche Schatten
Judenhass und Rassismus beginnt im eigenen Kopf. der Vergangenheit bis heute reichen.
Thomas Gesterkamp DP: Sie sprechen von der eigenen Famili-
engeschichte als „Ressource”. Was heißt
das?
Yilmaz: Fast jede deutsche Familie war in
DP: Herr Yilmaz, Ihr Buch „Ehrensache” eine Realität ist, die jüdische Menschen be- den Nationalsozialismus verstrickt. Ich er-
beschäftigt sich mit dem Antisemitis- droht. Auch künftig rechne ich mit solchen lebe es oft bei deutschen Jugendlichen, dass
mus. Ist dieser unter jungen Muslimen gewaltbereiten Protesten. Judenhass ist je- sie sich dafür schämen, aber auch relativ
besonders stark verbreitet? doch kein rein muslimisches Problem. Mit gleichgültig sagen: „Das hat doch nichts
Burak Yilmaz: Antisemitismus gibt es na- einem Generalverdacht kommen wir nicht mit mir zu tun!“ Mit Ressource meine ich,
türlich auch unter Muslimen. Vor allem die weiter. Wir müssen auch darüber diskutie- dass Menschen nach dieser familienbiogra-
sozialen Medien spielten in den vergange- ren, welche Rolle die Politik beim Ausbau fischen Selbstreflexion ein anderes Selbst-
nen Jahren dabei eine große Rolle. Wie weit islamistischer und nationalistischer Netz- bewusstsein haben. Sie finden Worte für das
er verbreitet ist, dazu gibt es keine genau- werke gespielt hat. Es ist skandalös, dass Schweigen in der Familie, für ihre Scham,
en Daten, doch in der beruflichen Praxis be- man wie in Duisburg bei der Extremismus- und begreifen ihre Verantwortung. Darin
gegnet er mir häufig. Auf der anderen Seite prävention mit türkischen Nationalisten ko- liegt ein großes Potenzial, denn durch die-
wächst innerhalb der muslimischen Com- operiert. Damit muss endlich Schluss sein. se Aufarbeitung wird unsere Demokratie ge-
munity auch das Engagement gegen Anti- stärkt.
semitismus. Viele haben begriffen, dass der DP: Entlastet sich die Mehrheitsgesell-
Kampf gegen Rassismus den Kampf gegen schaft von ihren eigenen Ressentiments? DP: Sie berichten von Ihrer Arbeit in ei-
Antisemitismus einschließen muss. Manche sprechen ja gar von „importier- nem Jugendzentrum, zitieren Besucher
tem Antisemitismus”... mit dem Satz: „Wir sind Antisemiten, da-
DP: Handelt es sich um ein Klischee, um Yilmaz: Diese Entlastung erlebe ich sehr oft. ran kannst du nichts ändern!” Was haben
eine zu simple Zuschreibung? Wie man ausgerechnet in Deutschland sich Sie geantwortet?
Yilmaz: Die antisemitischen Demonstratio- vom Judenhass entlasten möchte, bleibt mir Yilmaz: Ich habe sie gepackt und rausge-
nen etwa im Ruhrgebiet zeigten, dass das ein Rätsel. Dabei zeigen Studien, dass 15 bis schmissen, weil sie den Hitlergruß gezeigtDP DEUTSCHE POLIZEI 01/2022 17
27. Januar Während der NS-Zeit ermordeten die Nazis in Auschwitz über anderthalb Millionen Männer,
Frauen und Kinder. Am 27. Januar 1945 befreite die Rote Armee die Gefangenen des
Internationaler Tag Konzentrationslagers. Der Jahrestag der Befreiung wurde 1996 auf Initiative des damaligen
des Gedenkens an die Bundespräsidenten Roman Herzog offizieller deutscher Gedenktag für die Opfer des
Opfer des Holocausts Nationalsozialismus.
„
ge Kenntnisse über den Nationalsozialismus. schen Community wächst, und vor allem
an den Schulen spüre ich, dass sich junge
DP: Die Nazis pflegten enge Kontakte zur Menschen einmischen wollen und Zivilcou-
Auch Minderheiten, arabischen Welt, etwa zum Mufti von Je- rage zeigen. Vor zehn Jahren war mein Pro-
rusalem. Und den türkischen Umgang jekt „Junge Muslime in Auschwitz“ noch
die Rassismus erleben, mit den Armeniern hat der Bundestag als bundesweit einmalig, inzwischen gibt es
können rassistisch oder Völkermord eingestuft ... immer mehr solcher Initiativen. Wir dürfen
antisemitisch sein. Yilmaz: Rassismus und Antisemitismus aber nicht vergessen, dass im Kampf gegen
sind ein globales Phänomen. Es existiert Judenhass die gesamte nichtjüdische Mehr-
auf allen Ebenen unserer Gesellschaft. heit in unserem Land in der Verantwortung
Auch Minderheiten, die Rassismus erleben, steht.
haben. Danach gab es drei Monate Haus- können rassistisch oder antisemitisch sein.
verbot. Aber ich wollte ran an diese antise- Sie haben aber nicht dieselben Ressourcen DP: Am Ende des Buches plädieren Sie
mitischen Denkmuster und ihr Verhalten. und Möglichkeiten wie die Mehrheitsgesell- dafür, offen zu sein für die „Menschen der
Ich habe sie gefragt, woher ihre Vorurteile schaft, um einen Wandel einzuleiten. Es ist anderen Seite”. Was meinen Sie damit?
und ihre Verachtung kommen, und habe be- mir trotzdem wichtig zu betonen, dass das Yilmaz: Ich erinnere mich an einen Vortrag
tont, dass sie damit im Jugendzentrum kei- eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist. in Israel über meine Arbeit. Neben den deut-
ne Chance haben. So entwickelten sich bio- Wenn wir die Verantwortung immer auf die schen Gästen saßen dort jüdische und ara-
grafische Gespräche über Erziehung und anderen schieben, wird sich unsere Gesell- bische Israelis. Ich fühlte mich sehr ange-
Kindheit. Es stellte sich heraus, dass sie aus schaft spalten. Der Kampf gegen Judenhass spannt, es war ein Drahtseilakt. Ich habe
islamistischen Familien kamen, in denen und Rassismus beginnt im eigenen Kopf. dafür plädiert, dass es mehr Perspektiv-
Judenhass Teil ihrer Erziehung und Ideolo- Egal, ob ich Stefan oder Fatma heiße. wechsel braucht. Wir müssen uns öffnen für
gisierung war. die Geschichten anderer, ihre Lebenswelten
DP: Fördert der Konflikt zwischen Israel verstehen. Wir brauchen immer wieder ge-
DP: Sie reisen mit jungen Muslimen nach und Palästina den Antisemitismus in der meinsame Gespräche und Strategien, wie
Polen, zum ehemaligen Konzentrations- muslimischen Community? wir an einer besseren und gerechteren Zu-
lager Auschwitz – und haben für die- Yilmaz: Nein, er offenbart ihn eher. Vie- kunft arbeiten können. Ich will nicht, dass
ses Engagement sogar das Bundesver- le sagen „Israel ist schuld am Judenhass“, die Trennlinie in unserer Gesellschaft zwi-
dienstkreuz erhalten. Welche Eindrücke aber Judenhass ist der Grund dafür, dass schen der Mehrheit und den Minderheiten
nehmen die Gruppen mit? Was lernen Sie es Israel gibt. Der israelbezogene Antisemi- verläuft, sondern zwischen denen, die für
dort? tismus war gerade bei den Demonstratio- Demokratie einstehen und denen, die sie
Yilmaz: Die Eindrücke der Jugendlichen nen im Juni erschreckend radikal. Tagelang bekämpfen.
sind sehr unterschiedlich. Viele sind sprach- wurde vorher in digitalen Netzwerken wie
los über das Ausmaß der Gewalt, den Ver- TikTok und Instagram Stimmung gemacht. DP: Danke für das Gespräch.
nichtungswillen der Nazis und das Leben Unter dem Vorwand der Solidarität mit den
im Lager. Anhand persönlicher Geschich- Palästinensern wurde das Ganze instru-
ten wird dieser Ort greifbarer. Einmal tra- mentalisiert, um seinen eigenen Hass auf
fen wir dort eine israelische Jugendgruppe, Juden und Israel loszuwerden. Wenn isla-
und einer unserer Teilnehmer sagte später: mistische Schlachtrufe mit einem antisemi-
„Ich hatte Empathie mit meinen Feinden.” In tischen Vernichtungswunsch gebrüllt wer-
seinem Freundeskreis dagegen wurde er we- den, dann hat das nichts mehr mit Kritik
gen der Fahrt nach Auschwitz angegriffen. oder Solidarität zu tun. Mit Jugendlichen dif-
ferenziert über den Nahostkonflikt zu spre-
DP: Was haben die Kinder oder Enkel chen und ihnen Widersprüche aufzuzeigen,
von Zugewanderten mit der deutschen ist ein Weg, um diesen Hass zu bekämpfen.
Geschichte in der ersten Hälfte des 20.
Jahrhunderts zu tun? DP: Wenn Sie in die Zukunft schauen:
Yilmaz: Unsere Großeltern haben mitgehol- Glauben Sie, dass sich die antisemiti-
fen, Deutschland wiederaufzubauen. Nicht schen Vorurteile in den folgenden Gene-
wenige von ihnen waren sogar in jenen In- rationen mit Migrationshintergrund ab-
dustriebetrieben beschäftigt, die während schwächen werden? Burak Yilmaz:
des zweiten Weltkriegs Zwangsarbeiter aus Yilmaz: Ja! Ich erhalte dauernd Mails von Ehrensache. Kämpfen
gegen Judenhass.
dem Osten einsetzten. Ich frage mich heute, zivilgesellschaftlichen Organisationen,
ob meine Großeltern nach Deutschland ge- die sich professionalisieren wollen und das
Suhrkamp Verlag, Berlin,
kommen wären, wenn sie all das vorher ge- Thema Judenhass auf ihre Tagesordnung 2021, 234 Seiten, 16,95 Euro,
wusst hätten. Aber sie hatten nur sehr gerin- packen. Auch der Austausch mit der jüdi- ISBN 978-3-518-47171-5Sie können auch lesen
