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Amtliches Schulblatt des Kantons Bern Bildungs- und Kulturdirektion (BKD) Feuille officielle scolaire du canton de Berne 3.20 Direction de l’instruction publique et de la culture (INC) Juni / Juin / www.bkd.be.ch An Krisen wachsen | Grandir avec la crise
Inhalt | Sommaire Politischer Kommentar | Volksschule | Regard politique Ecole obligatoire 4 Mit Kreativität und Wertschätzung durch die Krise 30 Neues Lehrmittel: mit «Tocca a te!» in die Zukunft des Italienischunterrichts 5 Un nouveau regard grâce à la pandémie 33 Magazin | Magazine 7 Magazin | Magazine Mittelschule/Berufsbildung | Ecoles moyennes/ Thema | Dossier: Formation professionnelle An Krisen wachsen | Grandir avec la crise 38 Neupositionierung Fachmittelschulen: «Die Reform ist tiefgreifend, aber sinnvoll» 10 Zwischen Angst und Aufbruch Wir alle werden 41 Magazin | Magazine nachhaltig beeinflusst durch die Erfahrungen während der Coronakrise. Das macht bewusst, wie privilegiert wir sind. PHBern – aktuell 14 «Kinder haben nun nicht nur schulischen, sondern auch sozialen Nachholbedarf» Peter Sonderegger, Leiter der kantonalen Erziehungs- 42 Neugierde und lebenslanges Lernen aus Leidenschaft: Interview mit dem Dozenten beratung, spricht im Interview über die Folgen der Krise. und Forscher M arco Adamina 18 Die Lehren aus dem Fernunterricht Inwiefern w erden die Erfahrungen des Fernunter- 45 Tandem-Projekt zur Sprachenvielfalt im Klassenzimmer richts den «Normalbetrieb» prägen? Wir haben bei Lehrpersonen nachgefragt. 46 Konsekutiver Master: «Das Studium ist intensiv, aber auch sehr spannend» 20 Les leçons de l’enseignement à distance Nous avons interrogé des écoles pour savoir quelles expériences ont le plus marqué les enseignants 49 CAS Unterricht entwickeln mit neuem Studien- plan: «Ich will Lernsprünge ermöglichen!» et enseignantes. 50 Langzeitevaluation der Intensivweiterbildungen: 24 Lehrstellensuche: dranbleiben – trotz Corona- krise Mit verschiedenen Massnahmen hilft der Kanton Selbstwirksamkeit steigt, Zufriedenheit auch jenen, die jetzt noch keine Lehrstelle haben. 53 Weiterbildung | 26 Places d’apprentissage : continuer à chercher Il reste des places d’apprentissage à pourvoir à compter de l’été 2020. Formation continue Porträt | Portrait 57 Amtliches Schulblatt | Feuille officielle scolaire 28 Res Zimmermann: «Lehren und Lernen ist Beziehungsarbeit» 2 EDUCATION 3.20
Editorial WENN DIE PANDEMIE-FIKTION REALITÄT WIRD Seit ich zum ersten Mal den US-Kinofilm «Outbreak» (1995) ge- sehen hatte, hatte ich folgende Schreckensvorstellung von einer Pandemie: Ein Virus springt von einem Äffchen auf Menschen über, verbreitet sich in Windeseile auf der ganzen Welt, und jeder, der keinen knallgelben Schutzanzug trägt, stirbt. Irgendein Heldenteam rund um Dustin Hoffman forscht emsig am Gegen mittel und rettet schliesslich die Menschheit über Nacht. Sie sehen: In einigen Aspekten hat mir die Coronakrise Ängste genommen. Dafür habe ich realisiert, dass sich eine solche Aus- 14 nahmesituation nicht so schnell lösen lässt – Expertinnen und Experten rechnen etwa mit einer monate-, wenn nicht jahre langen Entwicklungszeit für einen COVID-19-Impfstoff. Vor allem aber habe ich gestaunt, wie schnell die Menschheit am selben Strick ziehen kann, wenn es die Krise erfordert. Ich wünsche mir, dass wir alle daraus unsere Lehren ziehen – und in Zukunft auch anderen Problemen geeint entgegentreten. QUAND LA RÉALITÉ RATTRAPE LA FICTION 28 Depuis que j’ai vu le film américain « Alerte ! » (1995) pour la pre- mière fois, j’avais dans la tête un scénario d’horreur : un virus passe du singe à l’homme, se propage rapidement aux quatre coins de la planète et quiconque ne porte pas de combinaison de protection jaune canari décède. Des héros et héroïnes 38 autour de Dustin Hoffman entreprennent ensuite des recherches intenses pour trouver un antidote et sauvent finalement l’huma nité du jour au lendemain. Vous voyez, la pandémie du corona- virus m’a ôté certaines craintes. En revanche, j’ai réalisé qu’une telle situation ne pouvait pas se résoudre aussi rapidement ; les experts et expertes estiment que nous disposerons d’un vaccin dans plusieurs mois, voire plusieurs années. J’ai aussi été sur- prise par la rapidité avec laquelle les êtres humains ont pu unir leurs efforts en temps de crise. J’espère que nous en tirerons tous des leçons et que nous pourrons, à l’avenir aussi, faire front commun face aux autres problèmes. Stefanie Christ, stefanie.christ@be.ch Redaktorin EDUCATION | Rédactrice EDUCATION EDUCATION 3.203
Politischer Kommentar | Regard politique MIT KREATIVITÄT UND WERTSCHÄTZUNG DURCH DIE KRISE Christine Häsler, Bildungs- und Kulturdirektorin christine.haesler@be.ch «Liebe Kinder, wir vermissen euch» stand in grossen Lettern am haben im Homeoffice einige Eltern erkannt, was Lehrpersonen Schulhaus in Kandergrund. Und am Schulhaus Wilderswil, in dem täglich leisten. Corona war ein Anstoss zur Kreativität und zu ich vor Jahren die Sekundarschule besuchte, hing ein Banner mit einem neuen, wertschätzenden Miteinander. Das haben Sie als den Worten «Ohni öich fägt’s nid!». Es ging ans Herz, die unüber- Lehrpersonen sehr gut verstanden und vorgelebt. sehbaren Grussbotschaften der Lehrpersonen an die Schülerin- Ich danke Ihnen herzlich – für Ihr Engagement, Ihre Verläss- nen und Schüler zu sehen. lichkeit und Ihre Zuversicht, mit der Sie diese Krise bis anhin ge- Das soziale Miteinander in der Klassengemeinschaft ist ein meistert haben! wichtiger Teil der Schule. Schülerinnen und Schüler nehmen An- teil an den Erlebnissen der Klassenkolleginnen oder -kollegen, geben sich gegenseitig Zeichen der Anerkennung oder teilen die Begeisterung für eine gemeinsame Idee. Diese Vielfalt der Ge- fühle ist es, die wir im Homeoffice in der Phase des Lockdowns besonders vermisst haben. Blicken wir zurück: Im März mussten Sie als Lehrperson bei- nahe von einem Tag auf den andern auf Fernunterricht umstel- len – eine besondere Herausforderung. Sie sind diese Aufgabe mit viel Initiative und Ideenreichtum angegangen. Lernen auf Dis- tanz verlangt viel Flexibilität und den Mut, neue digitale Formen des Lernens zu testen. Vielleicht war diese Phase auch ein Ge- winn für Sie und hat Sie zu neuen Unterrichtsideen inspiriert. Ich fand es bewegend, zu erleben, welch kreative und manch- mal unkonventionelle Lösungen Lehrpersonen erfanden, um die persönlichen Beziehungen zu den Schülerinnen und Schülern aufrechtzuerhalten. So rief eine Lehrperson die Schülerinnen und Schüler dazu auf, Selfies zu machen und zu schreiben, wie es ihnen ging. Eine andere Lehrperson schrieb ihnen einen Brief, um zu zeigen, wie einsam sie sich ohne die Klasse fühlte. Was bleibt aus dieser Zeit des Getrenntseins und der Iso lierung haften? Wie wird die Schule nach dieser Erfahrung des Fernunterrichts ins neue Schuljahr starten? Und in welche Nor malität werden wir zurückkommen? Ich bin mir sicher, dass die erfahrene Extremsituation einen nachhaltigen Einfluss auf den Schulalltag und unser Zusammen- leben haben und unsere Generation prägen wird. Die Hygiene- massnahmen und das Abstandhalten werden uns weiter beglei- ten. Wir können das Virus als Signal verstehen, mehr Sorge zum Mitmenschen und zur Gesundheit von uns allen zu tragen. In der Isolation realisierten wir, wie wichtig es ist, soziale Be- ziehungen zu pflegen. Einige Schülerinnen und Schüler haben Briefe an die eigenen Grosseltern geschrieben – eine glänzende Idee. Sie ist bezeichnend für die erlebte Solidarität. Und vielleicht 4 EDUCATION 3.20
Politischer Kommentar | Regard politique UN NOUVEAU REGARD GRÂCE À LA PANDÉMIE Christine Häsler, Directrice de l’instruction publique et de la culture christine.haesler@be.ch Le message « Chers enfants, vous nous manquez » en grosses La vie sociale au sein de la classe est un élément important lettres ornait le bâtiment de l’école de Kandergrund. L’établisse- de l’école. Les élèves prennent part aux événements de la vie ment de Wilderswil, où j’ai fréquenté l’école secondaire il y a des de leurs camarades de classe, expriment des signes de recon- années, affichait une bannière avec les mots « Ohni öich fägt’s naissance ou s’engagent avec enthousiasme pour une idée com- nid! » (Sans vous, on s’ennuie !). Ces messages manifestes des mune. Cette diversité des sentiments a particulièrement manqué enseignants et enseignantes à l’adresse de leurs élèves sont par- durant le confinement. ticulièrement touchants. Revenons en arrière : en mars, vous avez dû, chers ensei- gnants et enseignantes, passer de l’enseignement présentiel à l’enseignement à distance pratiquement du jour au lendemain – un véritable défi. Vous vous êtes attelés à cette tâche avec beaucoup d’initiative et de créativité. L’enseignement à distance exige beaucoup de flexibilité et le courage de tester de nouvelles solutions d’apprentissage numériques. Peut-être cette phase vous aura-t-elle aussi apporté de nouvelles idées pour votre enseignement. J’ai trouvé particulièrement touchant de voir l’inventivité dont vous avez fait preuve et les solutions peu conventionnelles que vous avez trouvées afin de maintenir une relation personnelle avec vos élèves. Ainsi, un enseignant a invité ses élèves à faire des selfies et à décrire l’état d’esprit dans lequel ils se trouvaient. Une autre enseignante a écrit une lettre à ses élèves pour leur exprimer combien elle se sentait seule sans eux. Que restera-t-il de cette période de séparation et d’isole- ment ? Comment la prochaine année scolaire commencera-t-elle après cette expérience de l’enseignement à distance ? Quelle normalité allons-nous retrouver ? Je suis persuadée que la situation exceptionnelle que nous vivons actuellement aura un impact durable sur le quotidien scolaire et sur notre vie commune. Elle marquera les générations actuelles. Les mesures d’hygiène et de distanciation sociale continueront de nous accompagner. Ce virus peut être le signal soulignant la nécessité de se préoccuper davantage de son pro- chain et de la santé de tous et de toutes. Durant le confinement, nous avons réalisé combien les rela- tions sociales étaient importantes. Certains élèves ont écrit des lettres à leurs grands-parents – une excellente idée, caractéris- tique de l’élan de solidarité vécu. Peut-être certains parents ont-ils Photo : Pia Neuenschwander compris la portée du travail accompli chaque jour par les ensei- gnants et enseignantes. La pandémie nous a conduits à faire preuve de créativité et à porter un regard empreint d’estime sur les autres. Vous, enseignants et enseignantes, l’avez bien com- pris et avez montré l’exemple. Je vous remercie de tout cœur – pour votre engagement, votre fiabilité et l’assurance dont vous avez fait preuve jusque-là dans cette situation particulièrement difficile. EDUCATION 3.205
Magazin | Magazine Unter der Lupe FÜNF FRAGEN AN IVO KUMMER 1. Wenn Sie an Ihre Schulzeit denken, was kommt Ihnen als Erstes in den IVO KUMMER, Sinn? Der stolze Erstklässler mit einem geboren 1959 in Solothurn, studierte Schulranzen aus Kuhfell (leider «glatt» Germanistik und Journalistik an der statt «gekraust») und dem Geruch Universität Fribourg. Nach Tätigkeiten frisch riechender Caran-d’Ache-Farb- als Journalist, Mediensprecher stifte im warmen Frühlingslicht auf und Leiter einer Filmproduktions dem Weg in das Unbekannte. firma engagierte er sich von 1989 2. Welcher Lehrperson würden bis 2011 als Direktor der Solo Sie rückblickend eine Sechs ge- thurner Filmtage. Seit August 2011 ben, und warum? Mindestens drei ist er Filmchef des Bundesamts Lehrern: Pater Eugen lehrte mich als für Kultur (BAK). jungen Gymnasiasten die Tiefe der Lyrik, Toni Schaller als Deutschlehrer Foto: zvg die Verführung der Prosa, und Peter Sicher als Lehrperson für bildnerisches Gestalten tröstete mich mit guten Noten über das Missratene in den mathematischen 4. Was ist das Wichtigste, was Kinder und Fächern hinweg. 3. Inwiefern hat Ihnen die Jugendliche heute im Kindergarten oder in Schule geholfen, Chef der Sektion Film beim der Schule lernen sollten? Respekt, Achtung und BAK zu werden? Meine prägende Begegnung mit Kino war die Hilfsbereitschaft, Schwächere zu unterstützen, um dasselbe in der Klosterschule Engelberg. Der Film «If» (1968, Lindsay zurückzubekommen, wenn man selbst darauf angewiesen ist. Anderson) provozierte eine «Revolution» im Theatersaal bei uns 5. Wären Sie eine gute Lehrperson? Aus Sicht der Schul- Schülern. Die Filmvorführung wurde abgebrochen. Da spürte klasse vielleicht schon. Aus Sicht der Schulleitung vermutlich ich als Jüngling: Hey, Film ist mehr als Unterhaltung, er ist Auf- nicht: Während meines Studiums schaffte ich exakt ein Vikariat. klärung, er ist Emanzipation. Da will ich hin! Während des Stu Trotz öfteren Bewerbungen meinerseits. Ich war offenbar zu diums an der Uni Fribourg wurde ich mit dem Schweizer Film in- basisdemokratisch unterwegs. Ganz im Sinne der Schülerinnen fiziert, und mein beruflicher Werdegang war somit vorgezeichnet. und Schüler. Das war damals nicht gefragt. Von der Maturaarbeit zum Buch BLICK IN DIE TEENAGER-SEELE Für ihre Maturaarbeit hat sich die Berner Gymnasiastin Ronja Fankhauser dem Thema «Erwachsen werden» angenommen und dafür zahlreiche Tage- bucheinträge von Teenagern ausgewertet. Für ihre Arbeit hat die Autorin die Endnote 6 erhalten. Die fachbegleitende Expertin schrieb dazu: «Ihrer Intuition folgend, hat Ronja Fankhauser eine beeindruckende Studie über die Gefühle von Teenagern geschrieben, die in Umfang und Tiefe weit über die Anforderungen einer Maturaarbeit hinausgeht.» Nun gibt der Berner Lokwort Verlag einen Teil als Buch heraus. Zahlreiche Originaldokumente berichten von dem, was sich in unserer Gesellschaft rund ums Tage buchschreiben abspielt, vor allem aber schildern die prägnanten Auf- zeichnungen das Erwachsenwerden als ständige Achterbahnfahrten. Themen der Ich-Findung kommen zur Sprache, Dramen übers B eliebt- und Verliebtsein, Aussagen zu Rollen, die man auf dem oft h olprigen Weg der Adoleszenz unterschiedlich gern spielte. Ronja Fankhauser: «Tagebuchtage Tagebuchnächte. Übers Erwachsenwerden», 130 Seiten, Lokwort Verlag, Bern Foto: zvg EDUCATION 3.207
Magazin | Magazine Schulhaus, Molkereistrasse 18, Zollikofen, nach der Restaurierung 2018 Foto: © by Büro L64 Schulhaus, Molkereistrasse 18, Zollikofen, ca. 1982/83 Foto: zvg Schulhäuser im Kanton Bern WEICHKÄSE UND HOCHBAUMSAUSER Eine Serie der kantonalen Denkmalpflege Die Landwirtschaftliche Schule Rütti bei Zollikofen wurde 1860 sauser» serviert. Nach der Schliessung der Molkereischule im gegründet. In unmittelbarer Nähe befand sich von 1887 bis 2003 Jahr 2004 wurde das Schulgebäude vom INFORAMA (Bildungs-, auch die Molkereischule. Obschon grosse Probleme in der Land- Beratungs- und Tagungszentrum) übernommen. Heute werden und Milchwirtschaft den Anstoss zu ihrer Gründung gegeben hier Klassen der beruflichen Grundbildung und der Höheren Be- hatten, lehnte das Volk die Molkereischule 1886 an der Urne ab. rufsbildung in Landwirtschaft unterrichtet. Nebst verschiedenen Gegen den Willen des Volkes beschloss der Grosse Rat je- Massnahmen in den letzten Jahrzehnten erfolgte kürzlich die doch ein Jahr später, der Rütti eine Molkereiabteilung anzu Umgestaltung der Umgebung. Zuletzt wurden 2018 im Dach gliedern. Das hier präsentierte Schulhaus von 1928, ein währ- geschoss mit seiner dreifenstrigen Lukarne Gruppenräume ein- schafter Bau mit eindrücklicher Eingangsgestaltung, stellt einen gebaut. Dabei hat man mit wenigen Eingriffen sehr viel erreicht. wichtigen Teil der Erweiterung der Molkereischule dar. Das Ge- Gleichzeitig erfolgte die Restaurierung des Korridors. Die neue bäude wurde im Frühjahr 1929 eingeweiht. Die ehemaligen Rütti Gestaltung lehnt sich dabei an eine zur Bauzeit übliche Farb schüler lud man zur Besichtigung der erweiterten Molkereischule gebung an. Die Pendeltür und das Innenfenster gegen das Trep- ein. Gemäss einem Protokoll wurden dabei «saftiger Schinken, penhaus rüstete man mit Brandschutzglas auf, um den heutigen Produkte der neu errichteten Weichkäserei und Hochbaum Vorgaben gerecht zu werden. Ausstellung MEHR VERSTÄNDNIS FÜR R ABENVÖGEL Warum sind Rabenvögel teilweise so verhasst oder gar gefürchtet? Wie viele Unterarten gibt es? Was für berühmte «Rollen» spielen die Krähen in der Kultur? Diesen und vielen weiteren Fragen geht die Ausstellung «Corvo» im Infozentrum Eichholz in Bern nach. Die Ausstellung ist noch bis am 25. Oktober 2020 jeweils Mittwoch, Samstag und Sonntag von 13.30 bis 17.30 Uhr geöffnet. Für Schulen und Gruppen sind Führungen auch aus- serhalb dieser Zeiten jederzeit möglich. Im Vorfeld der Ausstellung über Schweizer Rabenvögel bereits lokale Berühmtheit erlangt haben Jungtiere aus Wabern: Eine Web- cam filmte live ein Saatkrähenpaar während der Brut und Aufzucht. Wer die beeindru- ckenden Einblicke verpasst hat und wissen möchte, wie viele der ursprünglich vier Jung- tiere herangereift sind, kann dies im Archiv der Ausstellungswebsite nachschauen: www.kraehennest.ch Foto: zvg 8 EDUCATION 3.20
Thema | Dossier Mit der 14-jährigen Schülerin Lou durch die Coronakrise: Für EDUCATION hat sie ihren Alltag in der Ausnah m ezeit doku m entiert. Etwa ihren «Umzug» vo m Schul- zim m er in die Ho m eschool. 10 EDUCATION 3.20
Thema | Dossier An Krisen wachsen ZWISCHEN ANGST UND AUFBRUCH In den vergangenen Monaten haben wir durch die Coronakrise viel über uns gelernt – als Individuum, aber auch als Gesellschaft. Der Schulbetrieb hat sich zum Teil nachhaltig verändert, wir liessen Solidarität und Rücksichtnahme walten oder lernten, Langeweile oder Ängste besser auszuhalten. Doch was wird davon im «Normal- betrieb» haften bleiben? Stefanie Christ / Fotos: büro z EDUCATION 3.2011
Thema | Dossier Auf ein mal ersetzen Bildschirm e das Klassenzim m er. Aufgaben werden online gelöst, der Aus- tausch mit den Lehrpersonen und der Klasse erfolgt über Co m puter- program m e. Ich stehe neben meinem vierjährigen Kind am Lavabo, wir wa- zahlreich aus dem brüchigen Asphalt spriessen – und die unter schen uns beide die Hände. Ich will meine bereits trocknen, da normalen Umständen längst plattgetreten worden wären. In sagt das Kind: «Nein Mami, du musst noch oben, zwischen den Wales beleben wilde Ziegen die leergefegten Strassen, und Ko Fingern und die Daumen waschen.» Verwirrt nicke ich. Noch vor joten dringen in San Francisco immer weiter zum Stadtzentrum wenigen Monaten endete jedes Händewaschen des Kindes in vor.1 Und längst haben Satellitenaufnahmen die Runde gemacht, einem mittelschweren Wasserschaden, und nun weiss es dank die zeigen, wie sich der verschmutzte Luftraum erholt. Dies sind der Coronakrise besser über Hygienemassnahmen Bescheid die schönen Bilder, die den vielen traurigen Aufnahmen von italie als ich. Ob Sicherheitsvorkehrungen, Quarantäne oder Mass nischen Spitalabteilungen, beatmeten Erkrankten und Massen nahmenlockerung: Je länger wir uns mit der Pandemie und ihren gräbern vor den Toren New Yorks gegenüberstehen. Bilder, die Folgen auseinandersetzen müssen, desto grösser scheinen mir am Anfang schockierten – und an die wir uns doch schnell ge- die Schritte, die das Kind macht. Es wächst nicht nur in der Krise, wöhnt haben. Der Grund liegt in der Desensibilisierung. es wächst auch an der Krise. Wie wir alle. «Starke emotionale Zustände kann der Organismus nicht Auch die Natur «wächst»: Die Medien zeigen Bilder von bun- über längere Zeit aushalten, und deshalb ist es grundsätzlich ten Blumen, die dank den ausbleibenden Fussgängerscharen adaptiv, das heisst für das Überleben sinnvoll, dass sich die In tensität von Gefühlsreaktionen mit der Zeit abschwächt und das emotionale Erleben auf ein weniger extremes Niveau zurückgeht», beschreibt Barbara Krahé, Professorin für Sozialpsychologie an der Universität Potsdam, den Prozess.2 So lernten viele von uns 1 Vgl. https://www.nytimes.com/2020/04/01/science/coronavirus-animals- wildlife-goats.html während des Lockdowns, Langeweile oder Ängste besser aus 2 Barbara Krahé: «Abstumpfung gegenüber Gewalt und Leid. Auswirkungen zuhalten oder gar zu bekämpfen. Diesen Effekt an sich selbst des Konsums gewalthaltiger Medien», in: Leidfaden, Heft 1/2015, S. 28–32 zu beobachten, kann beruhigend wirken. Das Vertrauen in die 3 www.erz.be.ch/fernunterricht 4 Raffael Kalisch: «Der resiliente Mensch. Wie wir Krisen erleben und bewältigen», eigene Kraft wird gestärkt, und man realisiert, warum Menschen Berlin Verlag, 2017, S. 227 (eBook) in Krisensituationen so viel aushalten können. 12 EDUCATION 3.20
Thema | Dossier Veränderter Unterricht Lehrpersonen sowie Schülerinnen und Schüler mussten in den wurden, umso grösser erschien mir persönlich die Kluft zwischen vergangenen Monaten ebenfalls über sich hinauswachsen. Seit der Coronakrise in unserer privilegierten Welt und jener in ge Langem ist die Digitalisierung des Unterrichts ein Thema, und je beutelten Regionen. Oder zwischen anderen Katastrophen, die nach Gemeinde oder Stufe ist sie mehr oder weniger fortge zuweilen von Toilettenpapier-Glossen aus den Medien verdrängt schritten. Manchmal vereinfachen die neuen Möglichkeiten den wurden: Hungersnot, Glaubenskriege, Klimakatastrophe – alles Schulbetrieb, an anderen Orten müssen erst einige Hürden über- Krisen, gegen die es nie einen Impfstoff geben wird und die ein wunden werden. In den vergangenen Monaten hat die digitale Vielfaches an Opfern fordern beziehungsweise fordern werden. Entwicklung über alle Klassen hinweg notgedrungen einen Im besten Fall können wir die durch die Krise gelebte, ver- Sprung erlebt. Die Bildungs- und Kulturdirektion hat auf der Web- stärkte Solidarität in den Nach-Corona-Alltag retten. Langzeit site entsprechende Hilfsmaterialien publiziert und den Fernunter- studien zu diesem sogenannten «posttraumatischen Wachstum» richts-Leitfaden für die Volksschule überarbeitet.3 Das Angebot konnten aufzeigen, dass Menschen nach einer überstandenen auf www.educlasse.ch für die Schulen im französischsprachigen Krise «das Leben mehr wertschätzen, es nicht länger für selbst- Kantonsteil wurde ebenfalls aktualisiert und verzeichnet grosse verständlich nehmen und jeden Tag voll auskosten. Die Forscher Zugriffsraten. Auf einmal ersetzte der Computerbildschirm das stellten zudem fest, dass viele nun besser als vorher in der Lage Klassenzimmer, und interaktive Lernprogramme kamen über waren, befriedigende zwischenmenschliche Bindungen einzu proportional häufig zum Einsatz. Aber es zeichnete sich auch ab, gehen.»4 Die Zeit wird zeigen, wie stark wir an der Coronakrise wie wichtig der persönliche Kontakt im Unterricht ist. Welche gewachsen sind – und in welche Verhaltensmuster wir nur allzu Methoden und Projekte aus der Coronazeit sich im «Normal schnell zurückfallen. betrieb» durchsetzen könnten, lesen Sie auf den Seiten 18 bis 20. Kulturelle Aufarbeitung Zum Umgang einer Gesellschaft mit Krisensituationen gehört auch die kulturelle Aufarbeitung. Blicken wir zurück auf die jün SYNTHÈSE : ENTRE PEUR gere Zeitgeschichte: Künstler wie Ernst Ludwig Kirchner und Erich Heckel schufen während und unmittelbar nach dem Ersten ET NOUVEAU DÉPART Weltkrieg Grafiken und Gemälde, die Eindrücke von der Kriegs- Nous nous habituons tous à vivre avec le coronavirus. La ques- front der breiten Öffentlichkeit zugänglich machten. Bis heute wird tion de la numérisation de l’enseignement fait débat depuis der Holocaust literarisch aufgearbeitet, Tagebücher wie jenes von longtemps, mais les enseignants et enseignantes et les élèves Anne Frank gehören ebenso zur Schullektüre wie Klassiker von ont dû franchir le pas ces derniers mois. Pendant le confine- Paul Celan, Alfred Andersch oder Ingeborg Bachmann. Die ak ment, les enfants, adolescents et adolescentes ont, en outre, tuelle Flüchtlingskrise prägt durch Filme wie Markus Imhoofs appris à mieux gérer l’ennui ou leurs craintes. Même si beau- «Eldorado» oder Maggie Perens «Die Farbe des Ozeans» das coup d’entre eux restent rationnels face à leur quotidien sous zeitkritische Autorenkino. Dank dem technischen Fortschritt und l’égide du coronavirus, certains ont peur, ne se sentent pas den modernen Verbreitungsmethoden erfolgt die Aufarbeitung en sécurité et font des cauchemars. Suffit-il de leur expliquer la immer schneller – so lagen die ersten Coronafilme und -bücher situation ou bien d’autres mesures sont-elles nécessaires ? schon vor, ehe die Schulen ihre Tore wieder geöffnet hatten. Nous avons parlé de ce sujet avec les services psychologiques Die Auseinandersetzung mit kulturellen Werken kann Kinder pour enfants et adolescents (cf. page 14-16). D’autres problé und Jugendliche darin unterstützen, Krisen zu verarbeiten. Viele matiques, très concrètes, peuvent aussi préoccuper les élèves, Kinder reagieren zwar gelassen, neugierig und rational auf den comme la question suivante : trouverai-je une place d’apprentis- Corona-Alltag, bei anderen gehören Angst, Verunsicherung und sage dans la situation actuelle ? Pour en savoir plus sur la Albträume zu dieser Zeit. Reicht es, den Kindern und Jugendli- situation des élèves en fin de scolarité en cette année scolaire chen die Sachlage zu erklären, oder braucht es weitere Massnah- hors du commun, rendez-vous à la page 26/27. men? Wir haben diese Fragen mit der Erziehungsberatung des Il est par ailleurs important de comprendre et de prendre Kantons thematisiert, und für den Abteilungsleiter Peter Sonder- au sérieux les peurs et les doutes que chacun de nous ressent. egger ist klar: «Wenn die Kinder spüren, dass die Eltern sich mit Après tout, la plupart d’entre nous vivent pour la première fois, et der Situation gut arrangieren können, haben auch sie weniger peut-être pour la dernière, une pandémie. Il va donc de soi que Angst. Zudem ist es wichtig, echte Antworten auf ihre Fragen zu le besoin d’information est élevé. On peut toutefois se demander geben» (siehe Seiten 14–16). Auch ganz konkrete Fragestellun- quelle est la bonne mesure en la matière. Quand je vois le gen können belasten, etwa: Finde ich in der jetzigen Situation nombre de témoignages sur le télétravail publiés par des per- eine Lehrstelle? Wie diese Situation für Schulabgängerinnen sonnes du milieu bourgeois, je me rends compte à quel point und Schulabgänger in diesem aussergewöhnlichen Jahr aus- le fossé est grand entre notre monde privilégié et les régions sieht, erfahren Sie auf den Seiten 24/25. défavorisées. Ou entre les autres catastrophes occultées par les médias et la crise du papier toilette qui fait la une. La famine, Privilegierte Krisengesellschaft les guerres de religion, le changement climatique : nous n’aurons Es ist wichtig, die Ängste und Unsicherheiten aller wahr- und jamais de vaccin pour toutes ces crises qui font ou feront un ernst zu nehmen, immerhin ist es für die meisten von uns die grand nombre de victimes. erste und vielleicht einzige Pandemie, die wir miterleben. Und Dans le meilleur des cas, nous pourrons conserver la solida- dass vor diesem Hintergrund das Kommunikationsbedürfnis rité suscitée et renforcée par la crise du coronavirus. Des études gross ist, erklärt sich von selbst. Doch über das richtige Mit au long cours sur la croissance post-traumatique ont montré que teilungsmass darf durchaus gestritten werden. Kaum ein Kultur- les personnes qui ont surmonté une situation difficile accordent schaffender, kaum eine Journalistin, kaum ein Blogger, kaum eine plus de valeur à la vie, ne la prennent plus pour acquise et pro- Influencerin, kaum ein Facebook-Freund, der oder die ihren Co fitent pleinement de chaque jour. Le temps nous dira à quel point rona-Alltag nicht medial ausgeschlachtet hätte. Je mehr Erfah- cette crise nous aura fait grandir. rungsberichte aus hübsch eingerichteten Homeoffices publiziert EDUCATION 3.2013
Thema | Dossier An Krisen wachsen «KINDER HABEN NUN NICHT NUR SCHULISCHEN, SONDERN AUCH SOZIALEN NACHHOLBEDARF» Interview: Tina Uhlmann Fotos: Sam Bosshard Wie nimmt man einem Kind die Angst vor der Pandemie? Was macht soziale Isolation mit Jugendlichen? Und worauf sollten Familien und Schulen achten, wenn es nun heisst, Schritt für Schritt in eine neue Normalität zu finden? Peter Sonderegger, Leiter der Berner Erziehungsberatung, steht Rede und Antwort. 14 EDUCATION 3.20
Thema | Dossier Peter Sonderegger, Leiter der Erziehungsberatung: «Als die Schulen schlossen, haben wir proaktiv reagiert und unsere Bereitschaft signalisiert, in dieser Ausnahmesituation zu helfen.» Mitte März sind in der Schweiz die Manche Eltern hatte Mühe, ihre Kinder zu Schulen geschlossen worden. Hause zum Lernen zu motivieren. Je län- PETER SONDEREGGER, Homeschooling und Fernunterricht ger der Fernunterricht dauerte, desto 54, ist seit 2018 Leiter der Erziehungs haben Eltern und Lehrpersonen schwieriger wurde es. Oft war auch der beratung bei der Bildungs- und Kultur stark gefordert. Sind Sie und Ihr Bewegungsmangel ein Thema, der unter direktion des Kantons Bern. Zuvor war er Team auf der Erziehungsberatung anderem zu Aggressionen führte. Bei eini- in leitender Funktion bei der Dienststelle überrollt worden, Herr Sonderegger? gen Familien ist die Situation eskaliert, es Volksschulbildung im Kanton Luzern tätig. Peter Sonderegger Nein, das ist nicht kam zu Gewalt. Allerdings waren die meis- Der ausgebildete Primarlehrer und Schul- passiert. Aber es gab natürlich schon An- ten dieser Familien uns bereits bekannt. Es psychologe ist Vater dreier erwachsener fragen. Als die Schulen schlossen, haben gibt ja nicht plötzlich massenhaft dysfunk- Kinder und lebt in der Nähe von Luzern. wir proaktiv reagiert und auch den Schu- tionale Familien. Wo aber schon vor der len unsere Bereitschaft signalisiert, in die- COVID-19-Krise eine schwierige S ituation ser Ausnahmesituation zu helfen. Auf der bestand, ist sie in den letzten Wochen oft Website haben wir ein Merkblatt für Eltern noch verschärft worden. beschäftigt. Es gibt aber auch positive aufgeschaltet, zudem sind alle Anfragen im Haben sich in diesem Zusammen- Folgen: Viele Schülerinnen und Schüler Zusammenhang mit COVID-19 prioritär hang auch Lehrpersonen bei Ihnen haben punkto selbstständiges Arbeiten behandelt worden. Aber die Mehrheit der gemeldet? Fortschritte gemacht. Wie steht es um die kleineren Kinder? Können sie die abstrakte Bedrohung durch ein unsichtbares Virus vergessen, wenn sie gut «Die Mehrheit der Familien hat die in der Familie eingebettet sind? Situation super gemeistert. Es war eine Vergessen sicher nicht, da die einschrän- kenden Massnahmen ja auch sie treffen. Minderheit, die bei uns Rat suchte.» Sie dürfen nicht mehr zu den Grosseltern, Peter Sonderegger nicht mehr mit anderen Kindern draussen spielen. Was der Grund dafür ist, kümmert sie weniger, aber der veränderte Alltag beschäftigt und verunsichert sie. Beson- ders, wenn sie die Angst der Erwachsenen Familien hat die Situation super gemeis- Ja, es gab einzelne Fälle, in denen Kin- spüren. tert. Es war eine Minderheit, die damit der im Fernunterricht gar nicht mehr er- Wie kann man Kindern im Aus Probleme hatte und bei uns Rat suchte. reicht werden konnten. Generell ist mit nahmezustand die Angst nehmen? Was für Probleme sind an die dem Homeschooling das Thema Chan- Indem man bei sich selbst anfängt, um die Erziehungsberatung herangetragen cengerechtigkeit wieder in den Vorder- Bedrohung nicht übermächtig werden zu worden? grund gerückt, das hat viele Lehrpersonen lassen. Dazu gehört, den Medienkonsum EDUCATION 3.2015
Thema | Dossier einzuschränken, den Tag gut zu strukturie- gezeichnet hatten. Es wird sich zeigen, Nun werden diese Einschränkungen ren, für genügend Bewegung zu sorgen. was wir im Sinne von Positive Learning da- nach und nach aufgehoben. Was Wenn die Kinder spüren, dass die Eltern raus ziehen können. könnten Stolpersteine sein auf dem sich mit der Situation gut arrangieren Die Krise als Chance? Weg in eine neue Normalität? können, haben auch sie weniger Angst. Das möchte ich so absolut nicht sagen. Wir können nicht einfach tun, als ob nichts Zudem ist es wichtig, echte Antworten auf Menschen wurden krank, Menschen star- gewesen wäre. Beispiel Schule: Sich jetzt ihre Fragen zu geben. Man kann etwa ben. Viele wurden hart getroffen. Aber nur aufs Nachholen von versäumtem Stoff da rauf hinweisen, dass das Risiko, an gerade Familien haben auch gute Erfah- oder auf die Durchführung verschobe- ner Prüfungen zu konzentrieren, ist sicher falsch. Lehrerinnen und Lehrer müssen der Tatsache Rechnung tragen, dass die Kinder isoliert waren und nicht nur schuli- schen, sondern auch sozialen Nachhol «Mich hat erstaunt und beeindruckt, bedarf haben. Das Erlebte sollte gemein- wie anpassungsfähig der Mensch ist.» sam aufgearbeitet werden. Und mit Blick auf die Zukunft müssen wir alle uns fragen, Peter Sonderegger was wir beibehalten wollen und was nicht. Was nehmen Sie persönlich mit aus der Krise? Mich hat erstaunt und beeindruckt, wie anpassungsfähig der Mensch ist. Kinder, OVID-19 zu erkranken, gering ist, wenn C rungen machen können. Noch nie waren Eltern und Lehrpersonen, denen ich beruf- man die Hygieneregeln befolgt. Und dass so viele Väter mit ihren Kindern draussen lich und privat begegnet bin, haben das nur wenige Menschen daran sterben. unterwegs. Das schöne Wetter half da bewiesen und kreative Lösungen für ihre Dass es nicht guttut, sich nonstop natürlich mit. Weniger Hektik und Stress, jeweilige Situation gefunden. Es ist gut, die Coronanachrichten reinzuziehen, mehr Zusammensein, auch daheim: Wie eigenen Ressourcen zu kennen, zu wissen: haben die meisten Leute rasch schön das sein kann, haben manche Wir sind auch krisentauglich. Und solida- realisiert und sich eingeschränkt. Familien erst durch die verordneten Ein- risch. Ich persönlich bin sicher, dass wir ge Was für eine Rolle spielen denn schränkungen entdeckt. stärkt aus dieser Pandemie hervorgehen. Social Media in der Krise? Für Jugendlich waren die sozialen Medien in den letzten Wochen natürlich ein Segen. Weil für sie Gleichaltrige meist wichtiger SYNTHÈSE : « LES ENFANTS N’ONT PAS DU sind als die Familie, hat die soziale Isola tion sie besonders hart getroffen. Dank RETARD À R ATTRAPER QUE DANS LE DOMAINE Social Media konnten sie trotzdem mitein- SCOLAIRE MAIS AUSSI DANS LE DOMAINE ander in Kontakt bleiben, auch gruppen- weise. SOCIAL » Kann ein Videochat die persönliche Peter Sonderegger, responsable des Services psychologiques pour enfants et adoles- Begegnung ersetzen? cents (SPE) du canton de Berne, s’exprime sur la pandémie du coronavirus : « Certains Sicher nicht, aber es ist eine willkommene parents ont eu de la peine à motiver leurs enfants à étudier à la maison. Plus la période Notlösung. Ich weiss von einigen Eltern, d’enseignement à distance durait, plus cela devenait difficile. Souvent, le manque die ihren jugendlichen Kindern während d’activité physique a été un problème car il a entraîné une certaine agressivité. Dans der Isolation mehr Zeit am Handy zuge- certaines familles, la situation a empiré jusqu’à la violence. Toutefois, nous connaissions standen haben also sonst. Das war ange- déjà la plupart de ces familles. Les dysfonctionnements n’apparaissent pas soudaine- sichts der Ausnahmesituation wohl richtig. ment en masse. Mais pour les familles déjà en difficulté avant la crise du coronavirus, Andererseits wurden über die sozialen Me la situation s’est souvent aggravée ces dernières semaines. Dans certains cas, les dien auch viele falsche Informationen im enfants n’étaient plus joignables durant l’enseignement à distance. De manière générale, Umlauf gesetzt, die wildesten Verschwö- l’enseignement à distance a fait renaître la question de l’égalité des chances, qui a rungstheorien. Es gebe in der Schweiz préoccupé beaucoup d’enseignants et d’enseignantes. Mais il y a eu des effets positifs : viel mehr COVID-19-Infizierte und -Tote als de nombreux élèves ont fait des progrès en termes d’autonomie. offiziell bestätigt, der Bundesrat wolle es Les parents peuvent rassurer les enfants en évitant eux-mêmes de laisser la peur nur nicht sagen – solche Sachen halt. Das prendre des proportions démesurées. Pour ce faire, il faut que les enfants aient un schürt natürlich Angst. accès limité aux médias, structurent leur journée et soient actifs physiquement. S’ils Eine Gratwanderung also, der perçoivent que leurs parents s’accommodent bien de la situation, ils auront moins peur. Umgang mit Social Media. Aber ist Par ailleurs, il est important de donner de vraies réponses aux questions des enfants. er das nicht immer? Hat die Corona- Il est possible par exemple de leur expliquer que le risque de tomber malade est krise nicht einfach viele Dinge moindre si on respecte les règles d’hygiène. Ou encore de leur préciser que peu de verdeutlicht und Entwicklungen personnes décèdent suite à une infection due au coronavirus. beschleunigt, die schon im Gang Il ne faut pas faire comme si de rien n’était. Prenons l’exemple des écoles : se waren? concentrer maintenant sur le rattrapage de matière manquée ou sur l’organisation Das kann durchaus sein, auch im schuli- d’examens décalés serait une erreur. Les enseignants et enseignantes doivent schen Bereich, wo man sehr schnell neue prendre en considération le fait que les enfants ont été isolés et qu’ils n’ont pas du Strukturen und Abläufe konkretisiert hat, retard à rattraper que dans le domaine scolaire mais aussi dans le domaine social. » ? die sich zum Teil schon vor der Krise ab- 16 EDUCATION 3.20
Thema | Dossier Social Media statt Pausen- platz: Freundschaften pflegt Lou während des Lockdow ns über das Smartphone. EDUCATION 3.2017
Thema | Dossier An Krisen wachsen DIE LEHREN AUS DEM FERNUNTERRICHT Aufgezeichnet von Stefanie Christ Während des Lockdowns haben sich bestehende Entwicklungen beschleunigt, und Lehrpersonen mussten mit viel kreativem Spielraum einen neuen, mehrheitlich digitalen Unterricht gestalten. Welche Erfahrungen haben sie dabei am meisten geprägt, und was wird künftig auch im «Normalbetrieb» nachhallen? «WENN DIE ERSTEN Zudem wurde auch der Wunsch nach fahrungen aus dem Distanzunterricht in mehr ‹bildschirmfreien› Aufträgen laut, um den Präsenzunterricht einfliessen. Etwa BYOD-KLASSEN Begleiterscheinungen wie Kopfschmerzen, die Erfahrung, dass einzelne Schülerinnen STARTEN, MÜSSEN Rücken- und Augenprobleme zu mildern. und Schüler, die sich im mündlichen Un- Für die Schülerinnen und Schüler war das terricht im Klassenzimmer wenig beteili- WIR NICHT VON Schwierigste die Selbstdisziplin, die Ver- gen, im Chat auf einmal aktiv mitdisku VORNE ANFANGEN» antwortung fürs eigene Lernen und auch tieren, oder die zahlreichen Ideen, wie die fehlenden Kontakte zu Gleichaltrigen. man ein Thema eben mal ganz anders an- ANNETTE SALM, Viele Lehrpersonen haben bereits vor gehen kann. Das Gefühl, gemeinsam eine Konrektorin Gymnasium Biel-Seeland, der Schulschliessung mit Tools wie One- schwierige Situation gemeistert zu haben, Fachmittelschule und Wirtschaftsmittel- Note oder Teams gearbeitet – einfach eher verbindet und stärkt das gegenseitige Ver- schule ergänzend als hauptsächlich. Die Schul-E- trauen. Und wenn im August 2020 die ers- Mail-Adresse ist seit Längerem ein etab- ten BYOD-Klassen starten, müssen wir in «Nebst der Vermittlung der Lerninhalte lierter Kommunikationskanal. Die grösste der Didaktik nicht ganz vorne anfangen: war uns vor allem wichtig, keinen Schüler, Herausforderung war die veränderte Di- ‹Rücke zwei Felder vor›.» keine Schülerin zu ‹verlieren›. Wie sollten daktik, auf die niemand wirklich vorbereitet wir wissen, in welcher Situation sie sich war. Mal einen Auftrag per Mail erteilen, nun zu Hause befinden? Darum führten wir das hat jeder schon mal gemacht. Aber ein schon früh im Fernunterricht eine Auswer- Thema neu einführen, Inhalte diskutieren tung durch. am Bildschirm und das während Wo- Besonders hervorzuheben ist, dass chen – das hat kaum jemand schon so DEN INDIVIDUELLEN die Schülerinnen und Schüler im Grossen erlebt. Auf einmal fühlt man sich wie im und Ganzen mit der neuen Lernsituation ‹Leiterlispiel›: Gehe drei Felder zurück. Ler- BEDÜRFNISSEN eher gut zurechtgekommen sind. Viele ne neu, was ‹guter Unterricht› bedeutet. GERECHT WERDEN konnten zu Hause ungestört lernen und Wir werden uns in Zukunft sicher ver- arbeiten, und sie wussten, dass sie bei tieft mit den Konzepten ‹flipped class- CARMELA SCHMID, Verständnisproblemen die Möglichkeit hat- room› und ‹blended learning› auseinander- Leiterin Heilpädagogische Schule ten, Fragen zu stellen. Knapp die Hälfte setzen. Die meisten – sowohl Schülerinnen der Region Thun der Schülerinnen und Schüler empfand die und Schüler als auch Lehrpersonen – wer- Zeit zur Fertigstellung der Aufträge in den den die Vorteile des Präsenzunterrichts «Der gelebte Umgang mit der Vielfalt an Lektionen als zu gering. Hier zeigte sich, wieder anders schätzen: die non- und pa- der Heilpädagogischen Schule erforderte dass die Planung des Unterrichts anders raverbalen Signale, die die Kommunika auch in dieser ausserordentlichen Situa angegangen werden muss. Die Schüle tion so viel reicher machen, die Möglich- tion eine individuelle Gestaltung des Fern- rinnen und Schüler brauchen mehr Zeit keit, ein Experiment durchzuführen, und unterrichts. Wir mussten mit jedem Kind für die Aufträge. Einige schrieben, dass nicht zuletzt auch die informellen Pausen- prüfen, welche Aufgaben es wie, wann sie beim eigenständigen Lernen mehr Zeit gespräche, die Teil der Beziehungskultur und mit welcher Unterstützung erledigen zum Verstehen und Vertiefen brauchten. sind. Allerdings können auch positive Er- konnte. Dafür standen wir in intensivem 18 EDUCATION 3.20
Thema | Dossier Unter den wachsam en Augen der Lehrpersonen findet der Fernunterricht statt, etwa im Gestalten. Kontakt mit den Eltern, das Bedürfnis Stand zu bringen. Wir mussten verständ Arbeiten und Aufgaben. Viele Jugendliche nach Austausch war auf allen Seiten zum liche Hilfestellungen und klare Anwei haben sich mit grossem Interesse auf die Teil sehr gross. sungen kommunizieren, da viele unserer verschiedenen medialen Möglichkeiten ein Mit viel Kreativität haben die Lehrper- Schülerinnen und Schüler auf eine gut gelassen und sich neue Kommunikations- sonen den Fernunterricht sichergestellt. strukturierte Arbeitsplatzsituation ange- möglichkeiten angeeignet. Eine Chance, Sehr beliebt bei den Schülerinnen und wiesen sind. Für manche Eltern war es die es auch zukünftig zu nutzen gilt.» Schülern waren die Aufgabenpäckchen, schwierig, ihr Kind die ganze Woche zu die ihnen die Lehrpersonen nach Hause betreuen. Während der ganzen Schul- schickten oder vorbeibrachten. So konn- schliessung stand darum auch ein Be ten sie etwas in physischer Form auspa- treuungsangebot der Schule zur Verfü- cken. Die Aufträge zu den Unterrichts gung. Schülerinnen und Schüler wurden DER PERSÖNLICHE fächern, geknüpft an die individuellen Lern- parallel zum Fernunterricht in der Schule inhalte vor der Coronakrise, sowie die so- unterrichtet und betreut. Anfänglich waren KONTAKT ALS ROTER zialen Kontakte wurden aber auch über es vier bis fünf Kinder, die an einzelnen UNTERRICHTSFADEN Briefe, Telefonate oder digitale Plattformen Halbtagen in der Schule waren. Der Be- vergeben beziehungsweise gepflegt. Auch treuungsbedarf ist während des Lock- SIMONA CATTANEO, Anregungen und Aufträge für tägliche downs stetig gestiegen. Ko-Schulleiterin und Fachlehrerin TTG Arbeiten im und rund ums Haus wurden Wie wir aus den Rückmeldungen Schule Kirchberg weitergegeben. So wurde gepflanzt, geba- schliessen können, haben die Schülerin- cken, es wurden Rezepte nachgekocht nen und Schüler, aber auch ihre Eltern «Es gibt doch einen Grund, warum wir oder alltägliche Haushaltsarbeiten erledigt. sehr positiv auf die verschiedensten An Lehrerpersonen den Beruf gewählt haben: Die Schülerinnen und Schüler konnten Lie- gebote zum Fernunterricht reagiert und Wir wollen die Schülerinnen und Schüler der, Geschichten, Tänze und Ähnliches auf fühlten sich unterstützt. Das Vertrauen begleiten und unterstützen. Ein grosser Videos aufnehmen und über die Padlet- wurde gestärkt und die Beziehungsqua Teil des Lernens und der Motivation läuft Pinnwand miteinander teilen. Auf diese lität intensiviert. Die meisten Kinder haben über persönliche Beziehung. Wenn diese Weise konnte der Klassenzusammenhalt sich flexibel auf die neue Situation einge- im Klassenzimmer über so lange Zeit weg- virtuell aufrecht erhalten werden. lassen und sehr viel geleistet, sich viel zu- fällt, muss der Kontakt anders aufrecht Eine grosse Herausforderung war es, getraut und Spass gehabt. Mit Stolz prä- erhalten werden. Darum setzten wir wäh- alle Beteiligten auf denselben technischen sentierten sie ihre zu Hause erledigten rend des Fernunterrichts auf wöchentliche EDUCATION 3.2019
Thema | Dossier Telefonate mit den Schülerinnen und Schü haben etwa nach zehn Tagen Fernunterricht der Coronazeit nun auffallend gesunken. lern. Während dieser konnte in Wechsel- alle Klassenlehrerinnen und -lehrer ange- So können sich zum Beispiel einige Kolle- wirkung erfragt, gelobt, erzählt, geklagt rufen, um nachzufragen, wie es ihnen geht. ginnen und Kollegen vorstellen, Lehrfilme oder erklärt werden. Und die Lehrperso- Sie nutzten dieses Gespräch, um das eine für die Erarbeitung wichtiger Kompetenzen nen konnten auf individuelle Bedürfnisse oder andere einzubringen, nachzufragen, auch künftig zu erstellen und sie für die eingehen. Diese Nähe hätten wir allein mit Bedenken zu deponieren und Erlebtes aus Klasse digital zugänglich zu machen. digitalen Medien nicht hingekriegt. dem neuen Berufsalltag zu erzählen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Die Lehrpersonen in unserem Kolle Die Grundpfeiler der Digitalisierung Fernunterricht den Unterricht verstärkt gium hatten von Anfang an auch regel- wurden bei uns an der Schule während der prägen wird. Wieso auch? Für Fernunter- mässigen persönlichen Kontakt mit den letzten Jahre sanft, stetig und bestimmt richt braucht es erhebliche Gründe, unsere Eltern. Schon nur die Länge der Telefonate eingeschlagen. Die Hemmschwelle, digi Schule soll ein Ort der Begegnung sein, lässt darauf schliessen, dass dies ge- tale Medien kennenzulernen, auszuprobie- und zwar der Begegnung im klassischen, schätzt wurden. Meine Ko-Leiterin und ich ren und im Unterricht einzusetzen, ist in altmodischen, aber auch bewährten Sinn.» Grandir avec la crise LES LEÇONS DE L’ENSEIGNE- MENT À DISTANCE Propos recueillis par Stefanie Christ J’ai personnellement largement profité des nouvelles fonctionna- lités mises en place par les concepteurs du site educlasse.ch, Durant le confinement, les dernières évolutions ont notamment du module d’échange simple et sécurisé de docu- été accélérées et les enseignants et enseignantes ments et de messages entre élèves et enseignant-e-s. Comme mes élèves connaissaient déjà bien le site pour l’avoir régulière- ont dû faire preuve de beaucoup de créativité pour ment utilisé en classe, il a été assez aisé pour moi de leur expli- mettre en place un nouvel enseignement sur une quer ‹ à distance › ce nouveau moyen de communication. D’autant base principalement numérique. Nous avons inter plus que les concepteurs avaient également mis à disposition des rogé des écoles pour savoir quelles expériences tutoriels d’explication clairs et précis sur leur site. Il a juste fallu prêter deux ordinateurs portables à deux familles qui n’en possé- ont le plus marqué les enseignants et enseignantes daient pas à la maison. et quels aspects pourraient se poursuivre à l’avenir Actuellement, ce module d’échange, qui a été lancé au début dans le contexte d’un retour à la normale. du confinement, est mon principal canal de transmission du tra- vail donné à la maison. Mes élèves y consultent le travail à faire, peuvent imprimer ou non les documents mis à disposition, écou- ter des audios ou voir des vidéos. Une autre partie très pratique EDUCLASSE.CH : MISE À L’ESSAI de ce module est la discussion privée avec l’enseignant-e. Les petits inconvénients sont dus au fait qu’il n’y a pas de possibilités MILENA MERAZZI, d’afficher certains travaux reçus en retour afin qu’ils soient visibles enseignante à l’école primaire de Reconvilier par toute la classe (dessins ou défis réalisés, par exemple), que l’enseignant-e ne peut pas publier plusieurs documents sur un « Je pense que l’ensemble des directions et enseignant-e-s ont été même travail, ou encore qu’il n’y a pas d’endroit spécifique pour très réactifs pour répondre à la demande de l’Instruction publique ‹ discuter › avec toute la classe. Malgré tout, les avantages de ce de mettre en place rapidement un enseignement à distance de site l’emportent largement sur ces légers inconvénients. qualité. Les deux premières semaines ont été très mouvementées Je pense qu’après la crise, ceux qui bénéficieront d’Edu- avec l’organisation de groupes de classe via WhatsApp et e-mails, classe sont ceux qui l’auront pratiqué régulièrement : les élèves la mise en place d’Educlasse avec l’attribution des codes d’accès et les enseignants seront très à l’aise avec ce site et l’utiliser pour les élèves et le choix des activités à proposer à ces derniers. comme ressource sera une évidence. » 20 EDUCATION 3.20
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