AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Festung Europa? - BPB
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72. Jahrgang, 42/2022, 17. Oktober 2022 AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE Festung Europa? Gabriele Clemens Constantin Hruschka ENTWICKLUNGSGESCHICHTE GRENZKONTROLLEN AN DEN DER EUROPÄISCHEN GRENZEN DES RECHTS INTEGRATION Andreas Baur · Lisandra Flach Petra Bendel ÖKONOMISCHE GEMEINSAME EUROPÄISCHE RESILIENZ DURCH MEHR ASYLPOLITIK PROTEKTIONISMUS? Dietrich Thränhardt Claudia Major · Nicolai von Ondarza VOM RESTRIKTIVEN ASYL- ZEITENWENDE (AUCH) FÜR DIE ZUM KOOPERATIVEN EUROPÄISCHE SOUVERÄNITÄT AUFNAHMESYSTEM Laura Lambert WESTAFRIKANISCHE PERSPEKTIVEN AUF MIGRATION ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Beilage zur Wochenzeitung
Festung Europa? APuZ 42/2022 GABRIELE CLEMENS CONSTANTIN HRUSCHKA ENTWICKLUNGSGESCHICHTE GRENZKONTROLLEN AN DEN GRENZEN DER EUROPÄISCHEN INTEGRATION DES RECHTS Ein Blick auf die Geschichte der europäischen Der durch das Schengener Abkommen geschaf- Integration zeigt das Schwanken der Europäer fene „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des zwischen den Grundsätzen einer handelslibera- Rechts“ wird unter Mithilfe von Frontex mit len, Drittstaaten und ihren Bürgern gegenüber zum Teil grundrechtswidrigen Mitteln geschützt. offenen Gemeinschaft und dem Bestreben nach Abhilfe schaffen könnten besseres Monitoring Schutz des eigenen Raums. und ein integrierter Grundrechtsschutz. Seite 04–10 Seite 35–40 PETRA BENDEL ANDREAS BAUR · LISANDRA FLACH GEMEINSAME EUROPÄISCHE ASYLPOLITIK ÖKONOMISCHE RESILIENZ DURCH Die EU und ihre Mitgliedstaaten verfolgen MEHR PROTEKTIONISMUS? in der Asyl- und Migrationspolitik Ziele, die In ihren handelspolitischen Leitlinien hat die deutlich miteinander konfligieren. Dass sich die EU-Kommission eine „offene strategische EU angesichts der Fluchtzuwanderung aus der Autonomie“ als Ziel ausgegeben. Doch stellt Ukraine aus diesen Zielkonflikten befreien kann, sich die Frage, ob die EU angesichts schwieriger darf bezweifelt werden. geopolitischer Vorzeichen ihre handelspolitische Seite 11–16 Offenheit einschränken sollte. Seite 41–46 DIETRICH THRÄNHARDT VOM RESTRIKTIVEN ASYL- ZUM CLAUDIA MAJOR · NICOLAI VON ONDARZA KOOPERATIVEN AUFNAHMESYSTEM ZEITENWENDE (AUCH) FÜR DIE EUROPÄISCHE Nach dem russischen Angriff haben die SOUVERÄNITÄT Menschen in Europa in kurzer Zeit mehr als Spätestens seit dem russischen Angriffskrieg auf vier Millionen Ukrainer aufgenommen. Diese die Ukraine steht die Frage der verteidigungspo- Selbststeuerung funktioniert effizienter, humaner litischen Handlungsfähigkeit Europas und der und motivierender als bürokratische Steuerung EU auf der Tagesordnung. Bis zu einem Zustand im traditionellen Asylsystem. „Europäischer Souveränität“ ist es jedoch noch Seite 18–25 ein weiter Weg. Seite 47–53 LAURA LAMBERT WESTAFRIKANISCHE PERSPEKTIVEN AUF MIGRATION Die Perzeption afrikanischer Migration nach Europa ist von vielen Mythen geprägt. Ursächlich für diese Migration ist ein komplexes Zusammenspiel von gesellschaftlichen Normen, restriktiven Migrationspolitiken, kolonialem Erbe und innerstaatlichen Konflikten. Seite 28–33
EDITORIAL Eine Festung ist laut Duden eine „stark befestigte, strategischen Zwecken die- nende Verteidigungsanlage“. Sie dient vor allem dem Schutz vor Gefahren von außen. Zugleich schwingt in dem Begriff der Stolz auf etwas Errungenes mit; das lateinische „fortis“ bezeichnet etwas, das stark und dauerhaft, mutig, energisch und einflussreich ist. Von einer „Festung Europa“ ist heute vor allem in der ersten Bedeutung die Rede – eher anklagend vonseiten der Kritikerinnen und Kritiker europäischer Migrationspolitik, eher affirmativ von jenen, die sich eine noch stärkere Sicherung von Europas Grenzen wünschen. Während die „Festung Europa“ zu Beginn der europäischen Integration Frieden, Freiheit und Wohlstand verhieß, ist das Bild heute ein ambivalentes: Trotz mancher protektionistischer Tendenzen gehört die EU wirtschaftlich zu den offensten und am stärksten in den Weltmarkt integrierten Regionen – zum Wohle ihrer Mitglieder und Handelspartner. Ihre Flüchtlings-, Asyl- und Migra- tionspolitik hingegen steht in dem Ruf, vor allem der Abschottung nach außen zu dienen: Stacheldrahtbewehrte Grenzzäune an mindestens 18 europäischen Grenzen, moralisch wie rechtlich fragwürdige Einsätze ihrer Grenzschutzagen- tur Frontex und mehr als 24 000 seit 2014 im Mittelmeer ertrunkene Flüchtlinge werfen kein gutes Licht auf das Migrationsmanagement der EU. Vielleicht lässt die bemerkenswerte Aufnahme so vieler Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine hier ja ein Umdenken erkennen. Möchte Europa eine „Festung“ im positiven Sinne sein, ein starker und einflussreicher Akteur in Zeiten weltpolitischer Unwägbarkeiten, muss es wohl mutiger werden: in der Verteidigungspolitik, im gemeinsamen, menschenrechts- konformen Umgang mit freiwilliger und erzwungener Migration, auch in der solidarischen Mehrung und Verteilung wirtschaftlichen Wohlstands. Wann, wenn nicht in Zeiten der Krise, wäre eine gute Gelegenheit dafür? Sascha Kneip 03
APuZ 42/2022 FESTUNG EUROPA? Kleine Entwicklungsgeschichte der europäischen Integration Gabriele Clemens Am 25. März 1957 unterzeichneten die sechs in sich vermeintlich nach außen abschottende Eu- der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und ropäische Union, die unter anderem mittels ih- Stahl (EGKS) zusammengeschlossenen Staa- rer Wirtschafts-, Asyl- und Migrationspolitik ten Belgien, Deutschland, Frankreich, Luxem- egoistisch ihren Reichtum und ihr sicheres, sor- burg, Italien und die Niederlande die Verträge genfreies Leben gegenüber fremden Eindringlin- zur Gründung einer Europäischen Wirtschafts- gen verteidigen wolle. Politischer Moralismus im gemeinschaft (EWG) und einer Europäischen Sinne Hermann Lübbes tritt hier oft an die Stel- Atomgemeinschaft (Euratom), die die Grund- le rationaler Argumentation.03 Doch stimmt der lage für die mehr als 30 Jahre später gegründete Vorwurf, dass die Europäische Union die Gestalt Europäische Union (EU) bildeten. Um die Bür- einer nach außen abgeschotteten Festung ange- ger Europas Ende der 1950er, Anfang der 1960er nommen hat, überhaupt? Wer den Charakter der Jahre vom Sinn und der Notwendigkeit dieses Europäischen Union verstehen will, muss einen neuen Europaprojekts zu überzeugen, wurden genaueren Blick auf ihre Entwicklungsgeschich- die politischen Entscheidungen von einer in- te, ihre Ziele, ihre Ansprüche und ihr politisches tensiven Werbekampagne begleitet, zu der ne- Handeln werfen. ben Zeitungsartikeln, Broschüren und Plakaten auch Filme gehörten. In einigen der zu diesem ANFÄNGE Zweck produzierten Animationsfilme wurde das Bild einer von starken Mauern umgebenen Staa- Dem Prozess der europäischen Integration, der tengruppe (EWG-Staaten) gezeichnet, deren in- nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Gründung nere Mauern (Grenzen) nach und nach bröckel- europäischer Institutionen einsetzte, lagen ver- ten und schließlich ganz verschwanden (siehe schiedene Motive zugrunde. Die durch den Mar- Abbildung).01 shallplan 1948 geschaffene Organization for Eu- Die hohen, dicken, an eine Festung erinnern- ropean Economic Cooperation (OEEC) sollte den Außenmauern, die die sechs Staaten um- nach US-amerikanischer Vorstellung den Wie- gaben, symbolisierten den Schutz dieses neu deraufbau und den Wohlstand Europas durch geschaffenen grenzfreien Raumes vor dem Ein- freien Warenaustausch garantieren, den USA dringen „unliebsamer Faktoren“. Sie wurden damit als Absatz- und Handelspartner dienen seinerzeit durchaus positiv konnotiert und soll- und zugleich ein Bollwerk gegen den Kommu- ten die Furcht vor dem Abbau innereuropäi- nismus bilden. Abschottung war nur gegenüber scher Grenzen infolge der geplanten Zolluni- dem kommunistischen Osten geplant, während on mindern. Anders als damals ist das Bild einer in Bezug auf die westliche Welt eine Liberalisie- „Festung Europa“ heute überwiegend nega- rung des Handelsverkehrs durchgesetzt werden tiv konnotiert und wird, gerade vonseiten eini- sollte. Wenngleich die Europäer auch den ameri- ger EU-kritischer Gruppierungen aus dem lin- kanischen Vorstellungen nur begrenzt entgegen- ken politischen Spektrum, als Anklage gegen kamen und weder bereit waren, eine Zollunion die Abschottung des „reichen Europas“ gegen- noch eine supranationale Institution zu errich- über ärmeren Teilen der Welt und ihren Bewoh- ten, verfolgte die OEEC doch erste Ansätze zu nern verwandt.02 Von den Medien verbreitete einer Liberalisierung des europäischen Handels- Bilder, etwa von der Stürmung der Grenzbefes- und Zahlungsverkehrs. Der ein Jahr später auf tigung in Melilla durch afrikanische Migranten, Anregung der nicht-staatlichen „Europabewe- bestärken die moralische Empörung über eine gung“ gegründete Europarat verstand sich als 04
Festung Europa? APuZ Abbildung: Screenshots aus dem Film „European Community“, GB 1962/63. Quelle: Historisches Archiv der EU (Florenz), HAEU-AE-1.3-63 eine – mit Ausnahme der Verteidigungspolitik die daraus entstehende EGKS sich vornehmlich – sämtliche Bereiche umfassende Organisation, auf die westeuropäischen Staaten bezogen, hat- die den Frieden sichern, das Zusammenwach- te Schuman in seiner Rede gleichwohl den über sen der Europäer auf wirtschaftlichem, sozia- Europa hinausweisenden Charakter dieser Ge- lem und politischem Gebiet fördern und insbe- meinschaft betont, indem er hervorhob, dass sondere das kulturelle Erbe Europas bewahren diese Produktion „der gesamten Welt ohne Un- sollte.123 terschied und Ausnahme zur Verfügung gestellt Der auf britisches Drängen hin lediglich in- werden [wird], um zur Hebung des Lebensstan- tergouvernemental strukturierte Europarat dards und zur Förderung der Werke des Frie- konnte allerdings das französische Bedürfnis dens beizutragen“.04 Explizit erwähnte er dabei nach dauerhafter Sicherheit vor Deutschland „die Entwicklung des afrikanischen Erdteils“. nicht befriedigen. Aus diesem Grund präsen- Doch trotz dieses verbalen Zugeständnisses an tierte der französische Außenminister Robert eine letztlich weltoffene Gemeinschaft diente Schuman im Mai 1950 den Plan zur Gründung die EGKS in erster Linie der Sicherung euro- einer Europäischen Gemeinschaft für Koh- päischer Wirtschaftsinteressen. Sie sollte durch le und Stahl, die die französische und deutsche die Zusammenarbeit auf dem Energiesektor die Kohle- und Stahlproduktion sowie die weiterer mit der Globalisierung des Energiemarktes ver- europäischer Staaten unter der Aufsicht einer bundenen Probleme der europäischen Energie- supranationalen „Hohen Behörde“ zusammen- wirtschaften lösen. Angesichts anderer billiger fassen und somit die französische Stahlindustrie Energieträger wie Rohöl und der immer billi- vor deutscher Konkurrenz schützen sowie den ger werdenden Importkohle vor allem aus den französischen Modernisierungsplan der Wirt- USA sahen sich die Europäer beziehungswei- schaft retten sollte. Wenngleich dieser Plan und se die europäische Kohlewirtschaft gezwungen, Maßnahmen zu ergreifen, um kostengünstiger zu produzieren und dem Wettbewerb standzu- 01 Siehe zum Beispiel die Filme „European Community“ (Regie: halten.05 Sean Graham), Großbritannien 1962/63 und „… weil es ver- nünftig ist – Robert Schuman’s Idee nach 10 Jahren“ (Regie: Rolf Vogel), Deutschland 1960. Vgl. dazu Gabriele Clemens (Hrsg.), 04 Erklärung der französischen Regierung über eine gemein- Werben für Europa. Die mediale Konstruktion europäischer same deutsch-französische Schwerindustrie vom 9. Mai 1950, Identität durch Europafilme, Paderborn 2016. in: Europa. Dokumente zur Frage der Europäischen Einigung, 02 Beispielhaft dafür Nicholas Busch, Baustelle Festung Teilband 2, hrsg. im Auftrag des Auswärtigen Amtes, München Europa. Beobachtungen, Analysen, Reflexionen, Klagenfurt–Ce- 1962, S. 680 ff., hier S. 681. lovec 2006. 05 Vgl. Uwe Röndigs, Globalisierung und europäische Integra- 03 Vgl. Hermann Lübbe, Politischer Moralismus. Der Triumph tion. Der Strukturwandel des Energiesektors und die Politik der der Gesinnung über die Urteilskraft, Münster 2019. Montanunion, 1952–1962, Baden-Baden 2000. 05
APuZ 42/2022 ZWISCHEN WELTOFFENER Kern der EWG war die Zollunion, die durch HANDELSPOLITIK UND den Wegfall der Binnenzölle und mengenmäßigen PROTEKTIONISMUS Beschränkungen sowie aller sonstigen den freien Warenverkehr beeinträchtigenden Maßnahmen Nach den Anfang der 1950er Jahre gescheiterten innerhalb von 12 bis 15 Jahren einen gemeinsamen Versuchen, eine Europäische Verteidigungsge- Markt etablieren sollte. Zugleich war ein gemein- meinschaft (EVG) sowie eine Europäische Poli- samer Außenzoll vorgesehen, der sich aus dem tische Gemeinschaft (EPG) zu errichten,06 wurde arithmetischen Mittel der bisherigen Außenzölle im Zuge der „relance européenne“ die europä- aller sechs Staaten errechnete. Für Staaten mit ei- ische Integration auf dem für die staatliche Souve- nem zuvor niedrigen Außenzoll, wie die Bundes- ränität weniger sensibel erscheinenden Gebiet der republik und die Niederlande, bedeutete dies eine Wirtschaft fortgesetzt. Mehrere Gründe sprachen Erhöhung des Außenzolls gegenüber Drittstaa- für die Fortführung der Integration: die enge Ver- ten und damit eine potenzielle Beeinträchtigung flechtung des bereits vergemeinschafteten Koh- des Handels mit diesen. In den Gemeinsamen le- und Stahlsektors mit anderen Bereichen der Markt wurden auch die Landwirtschaft sowie Energieversorgung sowie dem Transportsektor, der Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnis- das Interesse weiterer Wirtschaftsbranchen an ei- sen einbezogen, wobei konkrete Vereinbarun- ner europäischen Zusammenarbeit zur Überwin- gen hierzu erst später getroffen wurden. Ferner dung bestehender Handelshemmnisse und auch sah der EWG-Vertrag neben dem freien Waren- weiterhin das politische Ziel, den westdeutschen verkehr auch den ungehinderten Austausch von Staat dauerhaft und eng in die westliche Gemein- Dienstleistungen, den freien Personen- und Ka- schaft einzubinden. Als Resultat längerer und pitalverkehr (die „vier Freiheiten“) sowie eine schwieriger Verhandlungen, die die unterschiedli- schrittweise Annäherung der Wirtschaftspolitik chen Prioritäten und Interessen der sechs EGKS- der Mitgliedstaaten vor. Weitere Bestimmungen Staaten offenbarten, einigte man sich im Juni 1955 des Vertrags betrafen die Koordinierung der Ver- in Messina auf die Grundzüge einer zu errichten- kehrs-, Konjunktur-, Wirtschafts-, Währungs- den Wirtschaftsgemeinschaft und einer Euro- und Außenhandelspolitik, die Angleichung der päischen Atomgemeinschaft, die nach weiteren Sozialpolitik sowie die Außenbeziehungen der detaillierten Verhandlungen in den Römischen Gemeinschaft. Verträgen mündeten. Da in den folgenden Jahrzehnten die Mit- Widerstand gegen den Plan einer auf die sechs gliedstaaten aufgrund wirtschaftlicher Probleme Staaten begrenzten Wirtschaftsgemeinschaft kam immer wieder zu protektionistischen, den freien unter anderem vonseiten des deutschen Wirt- Handel begrenzenden Maßnahmen griffen, um schaftsministers Ludwig Erhard, der eine solche, ihre jeweils heimische Volkswirtschaft zu schüt- von ihm als protektionistisch und dirigistisch be- zen, und wenig europäischen „Gemeinschafts- zeichnete Gemeinschaft als unvereinbar mit den geist“ zeigten, schienen neue Reformanstren- weltweiten Handelsinteressen Deutschlands an- gungen nötig, um die Ziele des Gemeinsamen sah. Erhards Ziel war die Schaffung eines von au- Marktes umzusetzen. Diese erfolgten mit der tarken Tendenzen, Isolationismus und Protekti- Verabschiedung der „Einheitlichen Europäischen onismus befreiten Welthandels in einer offenen Akte“ (EEA) im Jahre 1986, die am 1. Juli 1987 internationalen Gesellschaft,07 doch musste sich in Kraft trat und eine wichtige Etappe auf dem der Wirtschaftsminister schließlich dem „Inte Weg zur Europäischen Union darstellte. Haupt- grationsbefehl“ von Bundeskanzler Konrad Ade- ziel der EEA08 war die Vollendung des Binnen- nauer fügen und der Bildung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zustimmen. 08 Die Einheitliche Europäische Akte enthielt neben den Bestimmungen zur Änderung und Ergänzung des EWG-Vertrags 06 Vgl. Gabriele Clemens/Alexander Reinfeldt/Gerhard Wille, auch Bestimmungen über die außenpolitische Zusammenarbeit, Geschichte der europäischen Integration. Ein Lehrbuch, Pader- die sich außerhalb der Verträge im Rahmen der Europäischen born 2008, S. 108–123. Politischen Zusammenarbeit (EPZ) vollzogen hatte. In der EEA 07 Vgl. Tim Geiger, Ludwig Erhard und die Anfänge der wurden EG und EPZ zueinander in Bezug gesetzt und zudem der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, in: Rudolf Hrbek/Volker Wille bekundet, die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten Schwarz (Hrsg.), 40 Jahre Römische Verträge: Der deutsche in eine Europäische Union zu überführen; vgl. Clemens/Reinfeldt/ Beitrag, Baden-Baden 1998, S. 50–64. Wille (Anm. 6), S. 221–225. 06
Festung Europa? APuZ marktprojektes bis zum 31. Dezember 1992. Bei dererseits aber war die EG als wichtigster Han- diesem („Europa 92“) handelte es sich im Grunde delspartner der Welt an einer möglichst libera- genommen um die Erfüllung der Ziele des EWG- len Ausgestaltung der Handelspolitik gegenüber Vertrags aus dem Jahr 1957: die Errichtung ei- Drittstaaten interessiert. Die EG bewegte sich da- nes Wirtschaftsraumes ohne Binnengrenzen, in mit ständig „auf einem schmalen Grat zwischen dem der freie Verkehr von Waren, Dienstleistun- ‚protection‘ einerseits und ‚protectionism‘ ande- gen, Personen und Kapital gewährleistet ist. Die- rerseits“.13 Gleichwohl legen detaillierte Analysen se Ziele wurden mit der EEA wieder aufgegrif- des EG-Handelsschutzrechts den Schluss nahe, fen, präzisiert und mit einigen neuen Akzenten dass trotz einer „potentiellen Tendenz zum Pro- versehen. tektionismus“ der vielfach erhobene Vorwurf ei- Wenngleich sich der Charakter der EWG ner „Festung Europa“ unberechtigt und die Ge- durch die neue Vereinbarung nicht grundsätz- meinschaft sich ihrer Verantwortung gegenüber lich änderte, wurden doch gerade jetzt Stim- den Handelspartnern bewusst gewesen ist.14 Die men laut, die vor einer „Festung Europa“ warn- aus der Selbstverpflichtung resultierende grund- ten.09 Der damalige Kommissionspräsident der sätzliche Haltung der EG/EU zugunsten einer Europäischen Gemeinschaft(en) (EG), Jacques weltoffenen Handelspolitik war gesetzt, was gele- Delors, widersprach dieser Einschätzung: „Eu- gentliche Neigungen zu einem EG-Protektionis- ropa ist keine Festung, sondern Partner der mus in bestimmten Bereichen, etwa im Agrarhan- Welt.“10 Schließlich war die EG zu diesem Zeit- del, jedoch nicht ausschloss.15 punkt der weltweit größte Importeur von Waren und mit ihrem Ausfuhr- und Einfuhranteil am VERHÄLTNIS ZU DRITTSTAATEN Welthandel einer der drei großen Welthandels- partner innerhalb der World Trade Organization Dass sich Europa, in diesem Fall die Europä- (WTO).11 Zudem hatte sich die Gemeinschaft die ische Gemeinschaft, keineswegs von der rest- Selbstverpflichtung zu einer grundsätzlich welt- lichen Welt abschottete, geht auch aus anderen offenen Handelspolitik auferlegt. In Artikel 110 Bestimmungen des EWG-Vertrags hervor. Hier des EWG-Vertrags (ebenso später in Artikel 131 ist insbesondere auf das Instrument der Asso- EGV des 1993 in Kraft getretenen Vertrags über ziierung hinzuweisen, das die Beziehungen zu die Europäische Union/EUV) hatten die Mit- Drittstaaten regelt. Laut EWG-Vertrag war der gliedstaaten ihre Absicht bekundet, „im gemein- Beitritt zu den Europäischen Gemeinschaften samen Interesse zur harmonischen Entwicklung nur „europäischen“ Staaten vorbehalten, wobei des Welthandels, zur schrittweisen Beseitigung das Kriterium „europäisch“ aus gutem Grund der Beschränkungen im internationalen Han- nicht definiert wurde – unterlag doch die Vor- delsverkehr und zum Abbau der Zollschranken stellung davon, was Europa ist und wo seine beizutragen“.12 Grenzen liegen, im Laufe der Geschichte ei- Im Zentrum des EWG-Vertrags stand, wie er- nem stetigen Wandel.16 Mit Staaten, für die eine wähnt, der Gemeinsame Markt beziehungsweise EG-Mitgliedschaft ausgeschlossen war, sah der der Binnenmarkt, der den Wohlstand der EG-Mit- EWG-Vertrag in den Artikeln 131 bis 136 sowie glieder mehren und zugleich durch außenhandels- 238 die Möglichkeit der Assoziierung vor.17 Die politische Instrumente wie Zölle und Kontingen- auf Basis dieser Artikel geschlossenen Assozia- tierungen Schutz vor unliebsamer Konkurrenz tionsverträge konnten und können sehr vielge- bieten sollte. Diese Schutzinstrumente bargen ei- nerseits durchaus die Gefahr, zum Zwecke des 13 Wolfgang Müller-Huschke, Eine „Festung Europa“? Das EG- Protektionismus missbraucht zu werden; an- Handelsschutzrecht als Instrument zur Sicherung des Europäi- schen Binnenmarktes, Baden-Baden 1991, S. 18. 09 Siehe dazu Michael Tolksdorf, Der Europäische Binnen- 14 Ebd., S. 270. markt 1993. Vor- und Nachteile für Deutschland und seine 15 Vgl. Oppermann (Anm. 11), S. 783. Partner, Opladen 1991, S. 82–89, S. 135–141. 16 Vgl. Wolfgang Schmale, Geschichte Europas, Wien 2001, 10 Zit. nach Wirtschaftswoche Nr. 10, 3. 3. 1989, S. 14. S. 14; Clemens/Reinfeldt/Wille (Anm. 6), S. 15–22. 11 Vgl. Tolksdorf (Anm. 9), S. 83; Thomas Oppermann, Euro- 17 Lediglich die sogenannte Beitrittsassoziierung ist für Staaten parecht. Ein Studienbuch, München 19992, S. 783. gedacht, die später die Mitgliedschaft erwerben können; solche 12 Thomas Läufer, EWG-Vertrag. Grundlage der Europäischen Abkommen wurden unter anderem mit Griechenland und der Gemeinschaft, Kap. 4, Art. 110, Bonn 1989, S. 68. Türkei geschlossen. 07
APuZ 42/2022 staltig sein und sich zwischen „Handelsabkom- terentwickelte und Grundlage der heutigen men plus 1 % und Mitgliedschaft minus 1 %“ EU-Entwicklungszusammenarbeit ist, bedeu- bewegen.18 tete per se eine Öffnung der Gemeinschaft ge- Eine besondere Rolle spielten die sogenann- genüber dritten Staaten, „in Anerkennung ihrer ten Entwicklungsassoziationen, die sich auf die besonderen wirtschafts- und handelspolitischen außereuropäischen Kolonien bezogen, über die Probleme“,21 was zunächst einmal nicht mit dem 1957/58 noch mehrere EG-Mitgliedstaaten, ins- Vorwurf einer „Festung Europa“ in Einklang zu besondere Frankreich, verfügten. Frankreich bringen ist. Allerdings war auch hier nicht al- hatte bei den Verhandlungen zu den Römischen les Gold, was glänzt. Auch wenn zwischen den Verträgen auf eine solche Einbeziehung seiner EWG-Staaten grundsätzlich Einvernehmen da- überseeischen Gebiete gedrängt, nicht zuletzt, um rüber bestand, den Entwicklungsländern durch sich die Kosten für die Entwicklung dieser Gebie- Maßnahmen wie Zollbefreiungen, Preisgaranti- te mit den anderen EG-Staaten teilen zu können. en für ihre agrarischen und mineralischen Roh- Als Ziel der Assoziierung nannte Artikel 131 des stoffe oder durch direkte Unterstützung aus dem EWG-Vertrags die „Förderung der wirtschaftli- Europäischen Entwicklungsfonds zu helfen, so chen und sozialen Entwicklung der Länder und überwogen in der Praxis doch die nationalen In- Hoheitsgebiete und die Herstellung enger Wirt- teressen der EG-Mitgliedstaaten zum Schutze schaftsbeziehungen zwischen ihnen und der ge- ihrer eigenen Volkswirtschaften. Dies zeigte sich samten Gemeinschaft“, wobei explizit betont unter anderem daran, dass vor allem die Mittel- wurde, dass „die Assoziierung in erster Linie den meerländer sich gegen freie Agrarexporte der Interessen der Einwohner dieser Länder und Ho- Lomé-Staaten in die EG sperrten und weiter- heitsgebiete dienen und ihren Wohlstand fördern“ hin Einfuhrkontingente forderten. Ähnlich war sollte.19 Den assoziierten Ländern wurde deshalb es bei Industrieprodukten der Entwicklungslän- die Möglichkeit eingeräumt, ihre Waren zollfrei in der, die vielfältigen Einfuhrbeschränkungen un- den EWG-Raum zu exportieren, und sie durften terlagen, obwohl die Förderung der Industriali- ihrerseits Zölle auf Importe aus den EWG-Staaten sierung dieser Länder Ziel der EG-Staaten war.22 zum Schutz ihrer entstehenden Industrien oder Insgesamt waren die faktischen Erfolge der EG- als Finanzzölle zur Finanzierung ihrer Haushalte Entwicklungspolitik bescheiden, und die Sche- erheben (Artikel 133 EWG-Vertrag). re zwischen Nord und Süd öffnete sich immer Nach der Dekolonialisierung wandelten sich weiter. diese sogenannten konstitutionellen Assoziie- rungen in „vertragliche Assoziierungen“ mit den SCHUTZ ODER ABSCHOTTUNG? unabhängig gewordenen AKP-Staaten (afrikani- ASYL- UND MIGRATIONSPOLITIK sche, karibische, pazifische Staaten) gemäß Ar- tikel 238 des EWG-Vertrags. In der Folge wur- Die 1986 verabschiedete Einheitliche Europä- den verschiedene Abkommen mit diesen Staaten ische Akte, die den EWG-Vertrag in Teilen än- geschlossen, wie etwa Yaoundé I und II in den derte und ergänzte, stellte eine wichtige Etappe Jahren 1963 beziehungsweise 1969 sowie Lomé I auf dem Weg zur Europäischen Union dar. Die (1975), II (1979), III (1984) und IV (1989). Asso- Arbeit am Binnenmarktprojekt hatte erneut die ziationen wurden unter anderem auch mit den Vorteile einer verstärkten Integration, vor allem Mittelmeeranrainerstaaten des Maghreb (Ma- im Bereich der Wirtschafts- und Währungspo- rokko, Algerien, Tunesien) und des Maschrek litik, deutlich gemacht. Die Anfang der 1970er (Ägypten, Jordanien, Libanon, Syrien) verein- Jahre bereits anvisierte Errichtung einer Wirt- bart.20 Diese Form der EG-Entwicklungspoli- schafts- und Währungsunion („Werner-Plan“, tik, die sich in den folgenden Jahrzehnten wei- benannt nach dem damaligen luxemburgischen Premierminister Pierre Werner) war an den un- terschiedlichen Interessen der EG-Staaten ge- 18 Oppermann (Anm. 11), S. 814. scheitert; Ende der 1980er Jahre strebte Frank- 19 Läufer (Anm. 12), Art. 131 EWG-Vertrag, S. 82 f. reich unter Präsident François Mitterrand eine 20 Vgl. Ulrike Keßler, 40 Jahre EU-Afrikapolitik – ein Rückblick, in: Gisela Müller-Brandeck-Bocquet et al., Die Afrikapolitik der Europäischen Union. Neue Ansätze und Perspektiven, Opladen– 21 Vgl. Oppermann (Anm. 11), S. 796. Farmington Hills 2007, S. 17–92; Oppermann (Anm. 11), S. 756 f. 22 Tolksdorf (Anm. 9), S. 159 ff. 08
Festung Europa? APuZ Wiederaufnahme des Werner-Plans an, um die die Bereiche Visa-, Asyl- und Einwanderungs- geld- und währungspolitische Dominanz der politik mit dem Vertrag von Amsterdam von der deutschen Bundesbank in Westeuropa zu über- dritten in die erste Säule überführt und unterla- winden. Dieser Plan erhielt einen wesentlichen gen damit der supranationalen Entscheidungsme- Schub durch die politische Entwicklung in Mit- thode. Auch das 1985 außerhalb der EG-Verträ- tel- und Osteuropa 1989/90 und die sich abzeich- ge von einigen Staaten ausgehandelte Schengener nende Wiedervereinigung der beiden deutschen Abkommen zum Wegfall der Personenkontrollen Staaten. Alle EG-Staaten, einschließlich der Bun- an den Binnengrenzen wurde in den EU-Vertrag desrepublik, waren bestrebt, das wiedervereinig- integriert. Regelungen zum Asylanspruch und te Deutschland politisch und wirtschaftlich eng Asylverfahrensrecht sowie zur Anerkennung und in Europa einzubinden. Infolgedessen gab der zum Schutz von Flüchtlingen wurden ebenso er- deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl, der kei- lassen wie solche zum Einwanderungsrecht. 2004 nen Zweifel an der europäischen Bindung des schließlich wurde mit „Frontex“ eine Europä- wiedervereinigten Deutschlands aufkommen las- ische Agentur für die Grenz- und Küstenwache sen wollte, nicht nur seinen anfänglichen Wider- geschaffen, die in Zusammenarbeit mit den EU- stand gegen die Bildung einer Wirtschafts- und Mitgliedstaaten für die Kontrolle der Außengren- Währungsunion (WWU) auf, sondern drängte zen der EU zuständig ist. zugleich auch auf die Bildung einer Politischen Die Notwendigkeit einer EU-weiten Rege- Union Europas. In der Folge wurden zwei Re- lung der Asyl- und Einwanderungspolitik war gierungskonferenzen eingesetzt, deren Ergeb- eine direkte Folge der Verwirklichung des Kon- nisse in den 1992 in Maastricht unterzeichneten zepts der vier Grundfreiheiten im Binnenmarkt, und am 1. November 1993 in Kraft getretenen des freien Waren-, Dienstleistungs-, Kapital- „Vertrag über die Europäische Union“ (EUV) und Personenverkehrs, sowie des Wegfalls der mündeten. Grenzkontrollen an den Binnengrenzen durch Dieser „Mantelvertrag“ änderte und ergänz- das Schengener Übereinkommen. Diese Inte- te die bisherigen Verträge über die Europäischen grationsschritte erforderten als Kompensation Gemeinschaften sowie die Einheitliche Europä- für die Freizügigkeit im Inneren eine gemeinsa- ische Akte und führte die bestehenden Gemein- me Politik gegenüber Nicht-Unionsbürgern an schaften mit den neuen Bereichen einer Politi- den EU-Außengrenzen.23 Diese wird im derzeit schen Union zusammen. Illustriert wurde dies gültigen Lissabon-Vertrag in verschiedenen Arti- in Form eines Tempels, der auf drei Säulen ruht, keln des Titels IV, der einen „Raum der Freiheit, die mit unterschiedlichen Aufgabenfeldern und der Sicherheit und des Rechts“ begründet, gere- Entscheidungsverfahren versehen und lediglich gelt.24 Gemäß Artikel 78 strebt die Union „eine durch das Dach der Europäischen Union verbun- gemeinsame Politik im Bereich Asyl, subsidiärer den sind. Die dritte Säule enthielt den neu auf- Schutz und vorübergehender Schutz“ an, mit der genommenen Regelungsbereich der „Zusammen- „jedem Drittstaatsangehörigen, der internatio- arbeit in den Bereichen Justiz und Inneres“, der nalen Schutz benötigt, ein angemessener Schutz unter anderem die Asyl- und Einwanderungs- angeboten und die Einhaltung des Grundsatzes politik sowie die Angleichung der Kontrollen an der Nicht-Zurückweisung gewährleistet werden den Außengrenzen der Gemeinschaft umfasste. soll“. Und in Artikel 79, der den Umgang mit le- Waren diese Bereiche bislang alleinige Angele- galer und illegaler Einwanderung regelt, heißt genheit der Mitgliedstaaten gewesen, so wurden es, dass die Union „eine gemeinsame Einwande- sie jetzt auf Gemeinschaftsebene, wenn auch zu- rungspolitik [entwickelt], die in allen Phasen eine nächst nur im intergouvernementalen Entschei- dungsverfahren, geregelt. 23 Vgl. Peter-Christian Müller-Graf/Friedemann Kainer, Asyl-, Der Vorwurf einer „Festung Europa“, die Einwanderungs- und Visapolitik, in: Werner Weidenfeld/Wolf- sich vor fremden „Eindringlingen“ schützt, ent- gang Wessels (Hrsg.), Europa von A bis Z. Taschenbuch der zündete sich jetzt vor allem an diesem Regelungs- europäischen Integration, 201614, S. 82–89. 24 Asylpolitik: Art. 67 Abs. 2, Art. 78 und 80 des Vertrags über bereich, der mit den EU-Folgeverträgen (Ams- die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV); Einwande- terdam 1999, Nizza 2003, Lissabon 2009) weiter rungspolitik: Art. 79 und 80 AEUV; Schutz der EU-Außengren- vertieft und mit neuen Aufgaben und Struktu- zen: Art. 67 und 77 AEUV sowie Art. 3 Abs. 2 des Vertrags über ren versehen wurde. So wurden unter anderem die Europäische Union (EUV). 09
APuZ 42/2022 wirksame Steuerung der Migrationsströme, eine Vorfällen, die ihr aus durchaus nachvollziehbaren angemessene Behandlung von Drittstaatsangehö- Gründen den Vorwurf einbrachten, eine „Fes- rigen, die sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat tung“ zu sein. Doch wie dem auch sei: Europa aufhalten, sowie die Verhütung und verstärk- als eine undurchdringbare, sich nach außen ab- te Bekämpfung von illegaler Einwanderung und schottende und lediglich dem eigenen Wohl und Menschenhandel gewährleisten soll“. Schutz verpflichtete Festung zu zeichnen, negiert Bislang hat sich jedoch noch keine umfassen- nicht nur die skizzierten Ziele und Ansprüche eu- de europäische Migrationspolitik herausgebildet. ropäischer Politik, wie sie sich in den Verträgen Vielmehr haben sich die Teilbereiche der Asyl- niederschlagen und im Grundsatz auch die eu- und Einwanderungspolitik deutlich unterschied- ropäische Politik leiten, sondern wird auch der lich entwickelt, und für einheitliche Regelungen europäischen Integrationsgeschichte im Ganzen ist noch viel zu tun.25 Von einer generellen Ab- nicht gerecht. schottung gegenüber Fremden, also Nicht-EU- Bürgern, kann, wenn man sich die Regelungen und Ziele der EU vor Augen führt, aber nicht die Rede sein. Will man nicht argumentieren, wie es GABRIELE CLEMENS etwa der Schweizer Philosoph Andreas Cassee in ist emeritierte Professorin für Neuere Westeuro- seinem Buch „Globale Bewegungsfreiheit“ tut,26 päische Geschichte am Historischen Seminar der dass grundsätzlich jeder Mensch frei entschei- Universität Hamburg und war Inhaberin eines Jean den können soll, in welchem Land er leben will, Monnet-Lehrstuhls für Europäische Integrationsge- und Einwanderungsbeschränkungen daher nur in schichte und Europastudien. Ausnahmefällen zulässig sind, so ist ein Schutz gabriele.clemens@uni-hamburg.de der EU-Außengrenzen durchaus notwendig und nachvollziehbar. Dass es in der Praxis der Mi- grationspolitik teils zu weitreichenden Abschre- ckungskampagnen sowie mutmaßlich illegalen Pushbacks von Migranten durch Frontex kommt, wie einige NGOs beklagen, steht auf einem an- deren Blatt. FESTUNG EUROPA? Als Resümee bleibt festzuhalten, dass die Euro- päischen Gemeinschaften beziehungsweise die Europäische Union insgesamt ein ambivalentes Bild abgeben. Einerseits hat sich die EU in der Vergangenheit stets dem Prinzip der weltweiten Handelsliberalisierung verpflichtet gefühlt, an- dererseits haben ihre Mitgliedstaaten regelmäßig protektionistische Politiken zum Schutz ihrer ei- genen Wirtschaft implementiert. Auch Nicht- EU-Bürgern gegenüber zeigte sich die EU, unter dem Vorbehalt des Schutzes der eigenen Grenzen und Prinzipien, prinzipiell offen, in der Praxis kam es gleichwohl mitunter zu Regelungen und 25 Siehe dazu Europäisches Parlament, Kurzdarstellungen zur Europäischen Union. Asylpolitik, Einwanderungspolitik, 6. 1. 2022, www.europarl.europa.eu/factsheets/de/sheet/151/ asylpolitik. 26 Vgl. Andreas Cassee, Globale Bewegungsfreiheit. Ein philo- sophisches Plädoyer für offene Grenzen, Berlin 2016. 10
Festung Europa? APuZ GEFANGEN IN ZIELKONFLIKTEN Die Gemeinsame Europäische Asylpolitik Petra Bendel Mit dem Vertrag von Amsterdam nahm im Jahr fizierungssystem wurde in einer weiteren Verord- 1999 eine gemeinsame EU-Politik zu Flucht nung, der EURODAC-Verordnung, fixiert.02 Die und Asyl ihren Anfang, die sich über Richtli- sogenannte Qualifikationsrichtlinie legte gemein- nien und Verordnungen zunächst rasant entwi- same Kriterien fest, nach denen eine Person fort- ckelte.01 Das war durchaus erklärungsbedürftig, an in der EU als Flüchtling gelten sollte. Die Ver- denn bis dahin hatte die Innen- und Justizpoli- fahrensrichtlinie wiederum hielt Mindestnormen tik, der die Asylpolitik zugerechnet wurde, als für die Asylverfahren fest und die Aufnahme ein ausschließlich den Mitgliedstaaten vorbe- richtlinie die Bedingungen für die Registrierung haltener Regulierungsbereich gegolten, der al- und Unterbringung von Asylsuchenden. lenfalls zur Bekämpfung von Kriminalität und Aus diesem Gesetzeswerk lassen sich zwei Terrorismus unter den Staaten koordiniert wor- Leitmotive der EU-Asylpolitik ablesen: die Kon- den war. trolle von Migrationsbewegungen nach außen Vor allem drei Gründe waren für diesen In- wie nach innen (Stichwort: Sekundärmigrati- tegrationsschritt verantwortlich: Erstens war on) sowie die Schutzgewährung für jene, die des den Regierungen nach dem Wegfall der Binnen- Schutzes bedürfen. Beide Ziele können miteinan- grenzen und der dadurch möglichen Bewegung der in Konflikt geraten – und tatsächlich sollte die von Asylsuchenden im Inneren der Europäi- daraus resultierende Politik zusehends Schlagsei- schen Union beziehungsweise des Schengen- te zugunsten der Kontrolle bekommen. raums daran gelegen, die gemeinsamen Außen- grenzen besser zu schützen. Zweitens wichen GEMEINSAMES ASYLSYSTEM die Regeln für die Schutzgewährung unter den UND NATIONALSTAATLICHE Mitgliedstaaten so stark voneinander ab, dass es ALLEINGÄNGE für die Antragsteller*innen und ihre Chancen, Schutz zu erhalten, einen großen Unterschied Denn trotz dieser gemeinsamen Gesetzge- machte, in welchem Staat ein Asylgesuch ge- bung stieß die tatsächliche Harmonisierung an stellt wurde. Drittens schließlich sollte die Zu- Grenzen. Die in Brüssel vereinbarten Richtlini- ständigkeit der Staaten für die Asylverfahren en mussten noch in nationales Recht überführt klarer geregelt werden. Bislang war häufig un- und durch die nationalen Verwaltungen umge- klar, welcher Staat für ein bestimmtes Asylver- setzt werden. Hier ergaben sich für die Staaten fahren zuständig war. beachtliche Spielräume, die oft zugunsten eines Aus dieser zunehmend vergemeinschafteten „Wettbewerbs nach unten“ genutzt wurden, um Politik entstand das Gemeinsame Europäische möglichst wenige Asylsuchende aufnehmen zu Asylsystem (GEAS). Dessen Kernstücke waren müssen. Das ursprüngliche Ziel, eine „Schutzlot- im Wesentlichen zwei Verordnungen und drei terie“ zwischen den Mitgliedstaaten zu vermei- Richtlinien: Die Dublin-Verordnung regelt seit- den und stattdessen gemeinsame Standards für her, welcher Staat für die Behandlung eines Asyl- die Gewährung von Asyl zu etablieren, wurde gesuchs zuständig ist – in der Regel derjenige, den letztlich nicht erreicht. ein Asylsuchender zuerst betreten hat. Ihr Ziel Auch die Dublin-Regeln, nach denen nur je- lag auch darin, Sekundärwanderungen zwischen ner Staat für ein Asylgesuch zuständig ist, in den den Staaten zu vermeiden. Gewährleistet wurde eine schutzsuchende Person zuerst einreist, wa- dies durch die Registrierung der Fingerabdrücke ren zwar unmittelbar in den Mitgliedstaaten gül- der Asylsuchenden; dieses Fingerabdruck-Identi- tig, wurden in der Praxis aber oft unzureichend 11
APuZ 42/2022 angewandt. Denn das Prinzip des Erstaufnahme- ten Standards. Ziel der Mitgliedstaaten war es, staates belastete vor allem die EU-Staaten an den den jeweils eigenen Staat möglichst unattraktiv Außengrenzen. Mit der starken Fluchtzuwande- erscheinen zu lassen. Auch flackerte die Debat- rung der Jahre 2015/2016 kollabierte „Dublin“ te um „mehr Sicherheit“ erneut auf. Nach den vollends, als Registrierungen in den Außengrenz- Terrorattacken des 11. September 2001 und den staaten oft unterblieben und Geflüchtete schlicht Anschlägen von Madrid 2004 hatten Asyl und weiterwanderten – mit dem Resultat, dass neue Migration immer stärker im Zeichen einer Per- Grenzen an den Einreisestaaten „nach außen“ zeption von Neuzuwanderung als Sicherheits- errichtet wurden. Der Versuch einer Reform in problem gestanden.03 Mit diesen Sicherheits- Richtung einer fairen und solidarischen Vertei- diskursen – die der Idee der Schutzgewährung lung der Asylsuchenden, die das ausschließlich tendenziell zuwiderliefen – ging als praktische auf die Zuständigkeit des ersten Zutrittsstaats Folge die Aufstockung von Agenturen (zum ausgerichtete Dublinsystem hatte ablösen sol- Beispiel der Europäischen Grenzschutzagen- len, entzweite die Mitgliedstaaten im Inneren. tur Frontex) und die Stärkung sicherheitspoliti- Die ohnehin zähen Reformansätze zu einer Ver- scher Praktiken (etwa eine zunehmende Techno- besserung des GEAS und seiner Standards für die logisierung, Digitalisierung und Verstärkung der Schutzsuchenden gerieten ganz und gar ins12 Sto- Grenzkontrollen) einher. cken. Flucht und Migration wurden in der Folge Letztlich manifestierte sich hier eine tief rei- zusehends in ihrer „externen Dimension“ als ein chende, normative Spaltung der Mitgliedstaa- außen-, entwicklungs- und sogar verteidigungs- ten über die Frage der EU-Kompetenzen im Be- politisches Politikfeld begriffen: Die Bearbeitung reich der Flüchtlings- und Migrationspolitik. Die von Fluchtursachen und die Kooperation mit einst so schnell zugunsten gemeinsamer europä- Herkunfts- und Transitstaaten gerieten ebenso in ischer Regelungen abgetretene Souveränität im das Blickfeld wie der Außengrenzschutz mitsamt Bereich Asyl und Migration wurde wieder infra- einer Bekämpfung des Schmuggler- und Men- ge gestellt: Welche Kompetenzen sollten der EU schenhändlerwesens, Fragen der Seenotrettung mit ihren supranationalen Instanzen, welche hin- oder die Rückführung und Reintegration abge- gegen (wieder) den Nationalstaaten zukommen? lehnter Asylsuchender. Die EU und ihre Mit- Und wie sollte angesichts der starken Fluchtzu- gliedstaaten tendierten dabei mehr und mehr zu wanderung und der folgenden Sekundärwande- einer Externalisierung,04 also einer Verlagerung rungen im Inneren der EU mehr Verteilungsge- von staatlichen Funktionen an Drittstaaten, oft rechtigkeit hergestellt werden? weit außerhalb der Europäischen Union. Dies ge- schah gelegentlich mit dem Ziel, Migrant*innen KONTROLLE DER am Zugang zum Territorium von EU-Mitglied- MIGRATIONSBEWEGUNGEN staaten zu hindern. Mehr noch: Sogenannte Mo- VERSUS SCHUTZGEWÄHRUNG bilitätspartnerschaften und andere Formen der Kooperation verknüpften Maßnahmen der Ent- Das Bemühen, möglichst kein „zweites 2015“ wicklungskooperation vor allem mit der Rück- mit einem so empfundenen Kontrollverlust der nahme von Migrant* innen und Geflüchteten politischen Steuerungsfähigkeit zu riskieren, durch ihre Herkunftsländer – oder auch durch führte zwischen den EU-Staaten zu einem wei- Staaten, die ihnen nur zur Durchreise gedient teren Absenken der einst gemeinsam etablier- hatten. Immer wieder stand auch die höchst um- strittene Errichtung von Asylzentren außerhalb der Europäischen Union auf der Agenda, die Idee 01 Vgl. Petra Bendel, Contemporary Politics of Internatio- nal Protection in Europe: From Protection to Prevention, in: Agnieszka Weinar/Saskia Bonjour/Lyubov Zhyznomirska 03 Vgl. dazu z. B. Christian Kaunert/Ikrom Yakubov, Securiti- (Hrsg.), The Routledge Handbook of the Politics of Migration in zation: Turning an Approach Into a Framework for Research on Europe, London 2018, S. 293–303; dies./Ariadna Ripoll Ser- EU Justice and Home Affairs, in: Ripoll Servent/Trauner (Anm. 1), vent, Asylum and Refugee Protection: EU Policies in Crisis, in: S. 30–40. Ariadna Ripoll Servent/Florian Trauner (Hrsg.), The Routledge 04 Zu einer jüngeren Auseinandersetzung mit dem Konzept Handbook of Justice and Home Affairs Research, London und seinen Implikationen vgl. David Cantor et al., Externali- 2018, S. 59–70. sation, Access to Territorial Asylum, and International Law, in: 02 EURODAC steht für „European Dactyloscopy“. International Journal of Refugee Law 1/2022, S. 120–156. 12
Festung Europa? APuZ konnte sich letztlich aber aufgrund mangelnden neue Migrations- und Asylpaket vor, das nach Interesses potenzieller Drittstaaten und men- und nach zwischen Parlament und Rat verhan- schenrechtlicher Bedenken nicht in der vorgese- delt wird.06 Dessen Ziel war es, nach einer lan- henen Form durchsetzen. gen Phase tiefgreifender Dispute über die Flücht- Mit der von der Europäischen Kommis- lingspolitik das Vertrauen der Mitgliedstaaten in sion vorgeschlagenen „Agenda für Migrati- die Funktionsfähigkeit des Gemeinsamen Euro- on“ im Zuge der starken Fluchtzuwanderung päischen Asylsystems wiederzugewinnen, den 2015/2016 erhielt die Asylpolitik erneut eine „Abwärtsstrudel“ bei der Gewährung gemeinsa- sicherheitspolitische Schlagseite, zugunsten ei- mer Schutzstandards zu stoppen und einen neu- ner weiteren Externalisierung und mit starker en Rahmen für eine geordnete Migrationspoli- Betonung der Rückkehrpolitik. Auch dies ging tik zu errichten – inklusive der seit Jahren höchst tendenziell auf Kosten des Flüchtlingsschut- umstrittenen Frage, wie eine faire Verteilung der zes.05 Ein erheblicher Teil der für Migration zur Schutzsuchenden unter den Mitgliedstaaten ge- Verfügung stehenden Fonds und Maßnahmen währleistet werden kann.07 konzentrierte sich fortan auf den Ausbau des Zwischen dem grundlegenden Ziel, Flücht- Grenzschutzes und auf eine Kooperation mit lings-, Grund- und Menschenrechte zu garantie- (freilich vielfach autokratisch regierten) Dritt- ren, und dem Bestreben, Wanderungsbewegun- staaten, die helfen sollten, irregulärer Migration gen zu steuern, bleibt das EU-Migrations- und entgegenzutreten. Dazu zählte die – sehr spezi- Asylpaket allerdings weiterhin unausgewo- fisch auf syrische Flüchtlinge bezogene und in gen.08 Denn der Pakt verharrt nach wie vor bei ihrer Wirkung umstrittene – EU-Türkei-Erklä- einer externen Ausrichtung und bleibt bei men- rung, dazu zählte ebenso die Kooperation mit schenrechtlichen Monitoring-Mechanismen für der lybischen Küstenwache, gegen die zu Recht Flüchtlingsschutz und Flüchtlingsrechte beim tiefgreifende menschenrechtliche Bedenken ins Zugang zum Territorium vage. So schweigt er Feld geführt wurden. Auch EU-spezifische sich zum Beispiel über die künftige Zuständigkeit Verhandlungsformate, etwa mit afrikanischen nach einer erfolgten Seenotrettung aus und über- Staaten, und sogenannte Migrationspartner- lässt es den künftigen politischen Verhandlungen, schaften wurden fortentwickelt: Diese verbin- wie der vorgeschlagene „neue Solidaritätsmecha- den die Kooperation in der Migrationspolitik nismus“ für die Verteilung der Flüchtlinge inner- mit anderen Politikfeldern wie Handels-, Ent- halb der EU aussehen soll. wicklungs-, Wirtschafts- oder Umweltpolitik. Primär beabsichtigt der Pakt, die Kooperati- Positive wie negative Anreize sollen die Her- on mit Partnerländern weiter auszubauen. Der kunfts- und Transitstaaten dazu bewegen, irre- Fokus bleibt dabei auf der Ausführung von EU- guläre Migration zu reduzieren und Rückfüh- Zielen in und durch Drittstaaten, inklusive der rungen und Reintegration zu ermöglichen. Obwohl die Versicherheitlichung wie auch 06 Das Paket mitsamt der Roadmap findet sich unter h ttps:// die Externalisierung der europäischen Migrati- ec.europa.eu/info/publications/migration-and-asylum-packa- onspolitik schon seit Langem auf harsche Kritik ge-new-pact-migration-and-asylum-documents-adopted-23- september-2020_en. Zu den einzelnen Aspekten sind mehrere von Wissenschaft und Nichtregierungsorganisa- (Online-)Kompendien entstanden. Siehe z. B. ASILE 2021 unter tionen stoßen, weisen auch die Kommissionsvor- https://www.asileproject.eu/df_the-new-eu-pact-on-migration- schläge von 2020 nur zu einem geringen Teil in and-asylum und das Odysseus Network unter https://eumigra- eine neue Richtung. tionlawblog.eu/series-on-the-migration-pact-published-under- the-supervision-of-daniel-thym. 07 Vgl. Petra Bendel, Fresh Start Or False Start? The New Pact „NEUER“ PAKT FÜR MIGRATION on Migration and Asylum, in: Sergio Carrera/Andrew Geddes UND ASYL 2020: (Hrsg.), The EU Pact on Migration and Asylum in Light of the EIN ETIKETTENSCHWINDEL? United Nations Global Compact on Refugees. International Experiences on Containment and Mobility and Their Impacts on Im September 2020 legte die Europäische Kom- Trust and Rights, Florenz 2021, S. 251–262. 08 Vgl. Sachverständigenrat für Integration und Migration mission zur Konkretisierung des GEAS das (SVR), SVR-Agenda für eine nachhaltige Integrations- und Migrationspolitik. Impulse für die Legislaturperiode 2021–2025, 05 Vgl. Petra Bendel, EU-Flüchtlingspolitik in der Krise – Blocka- Berlin 2021, www.svr-migration.de/wp-content/uploads/2021/ den, Entscheidungen, Lösungen, Bonn 2017. 09/SVR-Agenda-zu-Integration-M igration-2021.pdf. 13
APuZ 42/2022 Rückführung von abgelehnten Asylsuchenden. flüchtlingsrechtlich gebotenen Aufgaben nicht Folgt man dem Rahmentext, geschieht dies al- hinreichend erfüllt hat.12 Der neue „independent lerdings weitgehend, ohne die Interessen und mechanism for monitoring fundamental rights“, Voraussetzungen nicht-europäischer Partner in wie ihn die Europäische Kommission in ihrem ausreichendem Maße einzubeziehen. Zudem ist Pakt vorschlägt, soll nunmehr dafür sorgen, dass bisher unklar, welche Anreize den Drittstaaten die EU und ihre Mitgliedstaaten entsprechendes für die Kooperation geboten werden sollen.09 EU-Recht und Völkerrecht einhalten. Allein: Er Reguläre humanitäre Zugangswege, Mög- ist nur auf die außerhalb der EU stattfindenden lichkeiten zur wirtschaftlich motivierten Migra- „Pre-Screenings“ begrenzt, deckt weder die vor- tion und – besonders vielversprechend – Ausbil- gelagerte Grenzüberwachung und das Grenz- dungspartnerschaften sollen dem Pakt zufolge management noch die nachgelagerte Einreise in ausgebaut werden. Wie und in welchem Umfang einen Mitgliedstaat und die dann erfolgenden dies erfolgen soll, bleibt allerdings offen. Gera- Verfahren ab. Auch müsste für eine unabhängi- de in solchen mit diplomatischem Feingefühl ge- ge Überwachung der nationalen Verwaltungen führten migrationspolitischen Dialogformaten gesorgt und die Möglichkeit gewährt werden, „auf Augenhöhe“ läge viel Potenzial – wenn eine einen Beschwerdemechanismus in Gang zu set- solche Kooperation sich nicht, wie bisher, einsei- zen.13 Bezüglich der Seegrenzen drängt der Neue tig auf Rückführungs- und Reintegrationsmaß- Pakt weiterhin die Drittstaaten dazu, Ausreisen nahmen beschränkt. Politisches Einvernehmen zu verhindern. Auch einen Ansatz zur Entkri- besteht bereits über einen seit 2016 vorliegen- minalisierung der privaten Seenotrettung sucht den Verordnungsentwurf zum sogenannten Re- man bislang vergebens. Vage bleibt zudem der settlement, der dauerhaften Aufnahme beson- Vorschlag, einen gemeinsamen Mechanismus für ders schutzbedürftiger Personen.10 Allerdings die Seenotrettung zu errichten, der auch die Fra- wäre es sinnvoll, angesichts der chronisch nied- ge umfassen müsste, welcher Staat jeweils für die rigen Aufnahmezusagen höhere Kontingente zu Ausschiffung und die Aufnahme von Geretteten planen, mehrjährige Zusagen zu geben, diese mit zuständig sein soll.14 Community-Sponsorship-Projekten wie etwa Diese Verantwortungsfrage für die Schutzsu- dem deutschen „Neustart im Team“-Pilotprojekt chenden leitet über zur „Ursünde“ des GEAS im (NesT)11 zu koordinieren und die Transparenz Inneren der EU: der Tatsache, dass sich die Mit- und Schnelligkeit der Programme zu verbessern. An den Grenzen hat sich in den vergangenen 12 Vgl. z. B. die Kritik des Europäischen Parlaments, des Jahren die Praxis illegaler Pushbacks als größtes Europäischen Rechnungshofs, des Europäischen Ombudsmanns Hindernis zur Gewährung der Flüchtlingsrechte und der Anti-Betrugsbehörde OLAF. European Parliament, LIBE Committee on Civil Liberties, Justice and Home Affairs, erwiesen, namentlich des Gebots der Nicht-Zu- Report on the Fact-finding Investigation on Frontex Concerning rückweisung („non-refoulement“), des Verbots Alleged Fundamental Rights Violations, www.statewatch.org/ der kollektiven Ausweisung und des Rechts, um media/2590/ep-frontex-scrutiny-group-final-report-14-7-21.pdf; Asyl zu ersuchen. Diese Praxis ist in verschie- European Court of Auditors, Frontex’s Support to External denen Mitgliedstaaten zu Recht scharf kritisiert Border Management: Not Sufficiently Effective to Date, Special Report 8/2021, www.eca.europa.eu/en/Pages/DocItem.aspx? worden. Außerdem haben sich die Hinweise ver- did=58564; European Ombudsman, Ombudsman Asks Frontex dichtet, dass Frontex von rechtswidrigen Zu- to Improve Its Accountability, 1/2022, www.ombudsman.europa. rückweisungen wusste und seine menschen- und eu/en/news-document/en/151372; Giorgios Christides/Steffen Lüdke, Classified Report Reveals Full Extent of Frontex Scandal, 29. 8. 2022, www.spiegel.de/a-cd749d04-689d-4 407-8939- 09 Vgl. Elspeth Guild, Negotiating With Third Countries in the 9e1bf55175fd. New Pact: Carrots and Sticks?, 27. 11. 2020, h ttps://eumigrati- 13 Vgl. Marco Stefan/Roberto Cortinovis, Setting the Right onlawblog.eu/negotiating-with-third-countries-under-the-new- Priorities: Is the New Pact on Migration and Asylum Addressing pact-carrots-and-sticks. the Issue of Pushbacks at EU External Borders?, in: Carrera/ 10 Vgl. Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Geddes (Anm. 7), S. 251–262, sowie den Beitrag von Constantin Parlaments und des Rates zur Schaffung eines Neuansied- Hruschka in diesem Heft. lungsrahmens der Union und zur Änderung der Verordnung 14 Vgl. Violeta Moreno-Lax, A New Common European (EU) Nr. 516/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates, Approach to Search and Rescue? Entrenching Proactive Con- COM(2016) 468, https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/ tainment, 3. 2. 2021, h ttps://eumigrationlawblog.eu/a-new-com- ALL/?uri=CELEX%3A52016PC0468. mon-european-approach-to-search-and-rescue-entrenching- 11 Siehe www.neustartimteam.de. proactive-containment. 14
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