AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Festung Europa? - BPB

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AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Festung Europa? - BPB
72. Jahrgang, 42/2022, 17. Oktober 2022

    AUS POLITIK
UND ZEITGESCHICHTE
  Festung Europa?
        Gabriele Clemens                        Constantin Hruschka
 ENTWICKLUNGSGESCHICHTE                 GRENZKONTROLLEN AN DEN
    DER EUROPÄISCHEN                      GRENZEN DES RECHTS
       INTEGRATION
                                            Andreas Baur · Lisandra Flach
          Petra Bendel                          ÖKONOMISCHE
  GEMEINSAME EUROPÄISCHE                    RESILIENZ DURCH MEHR
        ASYLPOLITIK                           PROTEKTIONISMUS?
       Dietrich Thränhardt              Claudia Major · Nicolai von Ondarza
   VOM RESTRIKTIVEN ASYL-              ZEITENWENDE (AUCH) FÜR DIE
     ZUM KOOPERATIVEN                  EUROPÄISCHE SOUVERÄNITÄT
      AUFNAHMESYSTEM
         Laura Lambert
      WESTAFRIKANISCHE
 PERSPEKTIVEN AUF MIGRATION

                   ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE
                        FÜR POLITISCHE BILDUNG
               Beilage zur Wochenzeitung
AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Festung Europa? - BPB
Festung Europa?
                                   APuZ 42/2022
GABRIELE CLEMENS                                    CONSTANTIN HRUSCHKA
ENTWICKLUNGSGESCHICHTE                              GRENZKONTROLLEN AN DEN GRENZEN
DER EUROPÄISCHEN INTEGRATION                        DES RECHTS
Ein Blick auf die Geschichte der europäischen       Der durch das Schengener Abkommen geschaf-
Integration zeigt das Schwanken der Europäer        fene „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des
zwischen den Grundsätzen einer handelslibera-       Rechts“ wird unter Mithilfe von Frontex mit
len, Drittstaaten und ihren Bürgern gegenüber       zum Teil grundrechtswidrigen Mitteln geschützt.
offenen Gemeinschaft und dem Bestreben nach         Abhilfe schaffen könnten besseres Monitoring
Schutz des eigenen Raums.                           und ein integrierter Grundrechtsschutz.
Seite 04–10                                         Seite 35–40

PETRA BENDEL                                        ANDREAS BAUR · LISANDRA FLACH
GEMEINSAME EUROPÄISCHE ASYLPOLITIK                  ÖKONOMISCHE RESILIENZ DURCH
Die EU und ihre Mitgliedstaaten verfolgen           MEHR PROTEKTIONISMUS?
in der Asyl- und Migrationspolitik Ziele, die       In ihren handelspolitischen Leitlinien hat die
deutlich miteinander konfligieren. Dass sich die    EU-Kommission eine „offene strategische
EU angesichts der Fluchtzuwanderung aus der         Autonomie“ als Ziel ausgegeben. Doch stellt
Ukraine aus diesen Zielkonflikten befreien kann,    sich die Frage, ob die EU angesichts schwieriger
darf bezweifelt werden.                             geopolitischer Vorzeichen ihre handelspolitische
Seite 11–16                                         Offenheit einschränken sollte.
                                                    Seite 41–46
DIETRICH THRÄNHARDT
VOM RESTRIKTIVEN ASYL- ZUM                          CLAUDIA MAJOR · NICOLAI VON ONDARZA
KOOPERATIVEN AUFNAHMESYSTEM                         ZEITENWENDE (AUCH) FÜR DIE EUROPÄISCHE
Nach dem russischen Angriff haben die               SOUVERÄNITÄT
Menschen in Europa in kurzer Zeit mehr als          Spätestens seit dem russischen Angriffskrieg auf
vier Millionen Ukrainer aufgenommen. Diese          die Ukraine steht die Frage der verteidigungspo-
Selbststeuerung funktioniert effizienter, humaner   litischen Handlungsfähigkeit Europas und der
und motivierender als bürokratische Steuerung       EU auf der Tagesordnung. Bis zu einem Zustand
im traditionellen Asylsystem.                       „Europäischer Souveränität“ ist es jedoch noch
Seite 18–25                                         ein weiter Weg.
                                                    Seite 47–53
LAURA LAMBERT
WESTAFRIKANISCHE PERSPEKTIVEN
AUF MIGRATION
Die Perzeption afrikanischer Migration
nach Europa ist von vielen Mythen geprägt.
Ursächlich für diese Migration ist ein komplexes
Zusammenspiel von gesellschaftlichen Normen,
restriktiven Migrationspolitiken, kolonialem
Erbe und innerstaatlichen Konflikten.
Seite 28–33
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EDITORIAL
Eine Festung ist laut Duden eine „stark befestigte, strategischen Zwecken die-
nende Verteidigungsanlage“. Sie dient vor allem dem Schutz vor Gefahren von
außen. Zugleich schwingt in dem Begriff der Stolz auf etwas Errungenes mit; das
lateinische „fortis“ bezeichnet etwas, das stark und dauerhaft, mutig, energisch
und einflussreich ist. Von einer „Festung Europa“ ist heute vor allem in der
ersten Bedeutung die Rede – eher anklagend vonseiten der Kritikerinnen und
Kritiker europäischer Migrationspolitik, eher affirmativ von jenen, die sich eine
noch stärkere Sicherung von Europas Grenzen wünschen.
   Während die „Festung Europa“ zu Beginn der europäischen Integration
Frieden, Freiheit und Wohlstand verhieß, ist das Bild heute ein ambivalentes:
Trotz mancher protektionistischer Tendenzen gehört die EU wirtschaftlich zu
den offensten und am stärksten in den Weltmarkt integrierten Regionen – zum
Wohle ihrer Mitglieder und Handelspartner. Ihre Flüchtlings-, Asyl- und Migra-
tionspolitik hingegen steht in dem Ruf, vor allem der Abschottung nach außen
zu dienen: Stacheldrahtbewehrte Grenzzäune an mindestens 18 europäischen
Grenzen, moralisch wie rechtlich fragwürdige Einsätze ihrer Grenzschutzagen-
tur Frontex und mehr als 24 000 seit 2014 im Mittelmeer ertrunkene Flüchtlinge
werfen kein gutes Licht auf das Migrationsmanagement der EU. Vielleicht lässt
die bemerkenswerte Aufnahme so vieler Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine hier
ja ein Umdenken erkennen.
   Möchte Europa eine „Festung“ im positiven Sinne sein, ein starker und
einflussreicher Akteur in Zeiten weltpolitischer Unwägbarkeiten, muss es wohl
mutiger werden: in der Verteidigungspolitik, im gemeinsamen, menschenrechts-
konformen Umgang mit freiwilliger und erzwungener Migration, auch in der
solidarischen Mehrung und Verteilung wirtschaftlichen Wohlstands. Wann,
wenn nicht in Zeiten der Krise, wäre eine gute Gelegenheit dafür?

                                                      Sascha Kneip

                                                                               03
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                           FESTUNG EUROPA?
 Kleine Entwicklungsgeschichte der europäischen Integration
                                       Gabriele Clemens

Am 25. März 1957 unterzeichneten die sechs in       sich vermeintlich nach außen abschottende Eu-
der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und         ropäische Union, die unter anderem mittels ih-
Stahl (EGKS) zusammengeschlossenen Staa-            rer Wirtschafts-, Asyl- und Migrationspolitik
ten Belgien, Deutschland, Frankreich, Luxem-        egoistisch ihren Reichtum und ihr sicheres, sor-
burg, Italien und die Niederlande die Verträge      genfreies Leben gegenüber fremden Eindringlin-
zur Gründung einer Europäischen Wirtschafts-        gen verteidigen wolle. Politischer Moralismus im
gemeinschaft (EWG) und einer Europäischen           Sinne Hermann Lübbes tritt hier oft an die Stel-
Atomgemeinschaft (Euratom), die die Grund-          le rationaler Argumentation.03 Doch stimmt der
lage für die mehr als 30 Jahre später gegründete    Vorwurf, dass die Europäische Union die Gestalt
Europäische Union (EU) bildeten. Um die Bür-        einer nach außen abgeschotteten Festung ange-
ger Europas Ende der 1950er, Anfang der 1960er      nommen hat, überhaupt? Wer den Charakter der
Jahre vom Sinn und der Notwendigkeit dieses         Europäischen Union verstehen will, muss einen
neuen Europaprojekts zu überzeugen, wurden          genaueren Blick auf ihre Entwicklungsgeschich-
die politischen Entscheidungen von einer in-        te, ihre Ziele, ihre Ansprüche und ihr politisches
tensiven Werbekampagne begleitet, zu der ne-        Handeln werfen.
ben Zeitungsartikeln, Broschüren und Plakaten
auch Filme gehörten. In einigen der zu diesem                          ANFÄNGE
Zweck produzierten Animationsfilme wurde das
Bild einer von starken Mauern umgebenen Staa-       Dem Prozess der europäischen Integration, der
tengruppe (EWG-Staaten) gezeichnet, deren in-       nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Gründung
nere Mauern (Grenzen) nach und nach bröckel-        europäischer Institutionen einsetzte, lagen ver-
ten und schließlich ganz verschwanden (siehe        schiedene Motive zugrunde. Die durch den Mar-
­Abbildung).01                                      shallplan 1948 geschaffene Organization for Eu-
     Die hohen, dicken, an eine Festung erinnern-   ropean Economic Cooperation (OEEC) sollte
den Außenmauern, die die sechs Staaten um-          nach US-amerikanischer Vorstellung den Wie-
gaben, symbolisierten den Schutz dieses neu         deraufbau und den Wohlstand Europas durch
geschaffenen grenzfreien Raumes vor dem Ein-        freien Warenaustausch garantieren, den USA
dringen „unliebsamer Faktoren“. Sie wurden          damit als Absatz- und Handelspartner dienen
seinerzeit durchaus positiv konnotiert und soll-    und zugleich ein Bollwerk gegen den Kommu-
ten die Furcht vor dem Abbau innereuropäi-          nismus bilden. Abschottung war nur gegenüber
scher Grenzen infolge der geplanten Zolluni-        dem kommunistischen Osten geplant, während
on mindern. Anders als damals ist das Bild einer    in Bezug auf die westliche Welt eine Liberalisie-
„Festung Europa“ heute überwiegend nega-            rung des Handelsverkehrs durchgesetzt werden
tiv konnotiert und wird, gerade vonseiten eini-     sollte. Wenngleich die Europäer auch den ameri-
ger EU-kritischer Gruppierungen aus dem lin-        kanischen Vorstellungen nur begrenzt entgegen-
ken politischen Spektrum, als Anklage gegen         kamen und weder bereit waren, eine Zollunion
die Abschottung des „reichen Europas“ gegen-        noch eine supranationale Institution zu errich-
über ärmeren Teilen der Welt und ihren Bewoh-       ten, verfolgte die OEEC doch erste Ansätze zu
nern verwandt.02 Von den Medien verbreitete         einer Liberalisierung des europäischen Handels-
 Bilder, etwa von der Stürmung der Grenzbefes-      und Zahlungsverkehrs. Der ein Jahr später auf
 tigung in Melilla durch afrikanische Migranten,    Anregung der nicht-staatlichen „Europabewe-
 bestärken die moralische Empörung über eine        gung“ gegründete Europarat verstand sich als

04
AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Festung Europa? - BPB
Festung Europa? APuZ

Abbildung: Screenshots aus dem Film „European Community“, GB 1962/63.
Quelle: Historisches Archiv der EU (Florenz), HAEU-AE-1.3-63

 eine – mit Ausnahme der Verteidigungspolitik                      die daraus entstehende EGKS sich vornehmlich
 – sämtliche Bereiche umfassende Organisation,                     auf die westeuropäischen Staaten bezogen, hat-
 die den Frieden sichern, das Zusammenwach-                        te Schuman in seiner Rede gleichwohl den über
 sen der Europäer auf wirtschaftlichem, sozia-                     Europa hinausweisenden Charakter dieser Ge-
 lem und politischem Gebiet fördern und insbe-                     meinschaft betont, indem er hervorhob, dass
 sondere das kulturelle Erbe Europas bewahren                      diese Produktion „der gesamten Welt ohne Un-
­sollte.123                                                        terschied und Ausnahme zur Verfügung gestellt
     Der auf britisches Drängen hin lediglich in-                  werden [wird], um zur Hebung des Lebensstan-
 tergouvernemental strukturierte Europarat                         dards und zur Förderung der Werke des Frie-
 konnte allerdings das französische Bedürfnis                      dens beizutragen“.04 Explizit erwähnte er dabei
 nach dauerhafter Sicherheit vor Deutschland                       „die Entwicklung des afrikanischen Erdteils“.
 nicht befriedigen. Aus diesem Grund präsen-                       Doch trotz dieses verbalen Zugeständnisses an
 tierte der französische Außenminister Robert                      eine letztlich weltoffene Gemeinschaft diente
 Schuman im Mai 1950 den Plan zur Gründung                         die EGKS in erster Linie der Sicherung euro-
 einer Europäischen Gemeinschaft für Koh-                          päischer Wirtschaftsinteressen. Sie sollte durch
 le und Stahl, die die französische und deutsche                   die Zusammenarbeit auf dem Energiesektor die
 Kohle- und Stahlproduktion sowie die weiterer                     mit der Globalisierung des Energiemarktes ver-
 europäischer Staaten unter der Aufsicht einer                     bundenen Probleme der europäischen Energie-
 supranationalen „Hohen Behörde“ zusammen-                         wirtschaften lösen. Angesichts anderer billiger
 fassen und somit die französische Stahlindustrie                  Energieträger wie Rohöl und der immer billi-
 vor deutscher Konkurrenz schützen sowie den                       ger werdenden Importkohle vor allem aus den
 französischen Modernisierungsplan der Wirt-                       USA sahen sich die Europäer beziehungswei-
 schaft retten sollte. Wenngleich dieser Plan und                  se die europäische Kohlewirtschaft gezwungen,
                                                                   Maßnahmen zu ergreifen, um kostengünstiger
                                                                   zu produzieren und dem Wettbewerb standzu-
01 Siehe zum Beispiel die Filme „European Community“ (Regie:
                                                                   halten.05
Sean Graham), Großbritannien 1962/63 und „… weil es ver-
nünftig ist – Robert Schuman’s Idee nach 10 Jahren“ (Regie: Rolf
Vogel), Deutschland 1960. Vgl. dazu Gabriele Clemens (Hrsg.),      04 Erklärung der französischen Regierung über eine gemein-
Werben für Europa. Die mediale Konstruktion europäischer           same deutsch-französische Schwerindustrie vom 9. Mai 1950,
Identität durch Europafilme, Paderborn 2016.                       in: Europa. Dokumente zur Frage der Europäischen Einigung,
02 Beispielhaft dafür Nicholas Busch, Baustelle Festung            Teilband 2, hrsg. im Auftrag des Auswärtigen Amtes, München
Europa. Beobachtungen, Analysen, Reflexionen, Klagenfurt–Ce-       1962, S. 680 ff., hier S. 681.
lovec 2006.                                                        05 Vgl. Uwe Röndigs, Globalisierung und europäische Integra-
03 Vgl. Hermann Lübbe, Politischer Moralismus. Der Triumph         tion. Der Strukturwandel des Energiesektors und die Politik der
der Gesinnung über die Urteilskraft, Münster 2019.                 Montanunion, 1952–1962, Baden-Baden 2000.

                                                                                                                                05
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APuZ 42/2022

            ZWISCHEN WELTOFFENER                                    Kern der EWG war die Zollunion, die durch
             HANDELSPOLITIK UND                                 den Wegfall der Binnenzölle und mengenmäßigen
              PROTEKTIONISMUS                                   Beschränkungen sowie aller sonstigen den freien
                                                                Warenverkehr beeinträchtigenden Maßnahmen
Nach den Anfang der 1950er Jahre gescheiterten                  innerhalb von 12 bis 15 Jahren einen gemeinsamen
Versuchen, eine Europäische Verteidigungsge-                    Markt etablieren sollte. Zugleich war ein gemein-
meinschaft (EVG) sowie eine Europäische Poli-                   samer Außenzoll vorgesehen, der sich aus dem
tische Gemeinschaft (EPG) zu errichten,06 wurde                 arithmetischen Mittel der bisherigen Außenzölle
im Zuge der „relance européenne“ die europä-                    aller sechs Staaten errechnete. Für Staaten mit ei-
ische Integration auf dem für die staatliche Souve-             nem zuvor niedrigen Außenzoll, wie die Bundes-
ränität weniger sensibel erscheinenden Gebiet der               republik und die Niederlande, bedeutete dies eine
Wirtschaft fortgesetzt. Mehrere Gründe sprachen                 Erhöhung des Außenzolls gegenüber Drittstaa-
für die Fortführung der Integration: die enge Ver-              ten und damit eine potenzielle Beeinträchtigung
flechtung des bereits vergemeinschafteten Koh-                  des Handels mit diesen. In den Gemeinsamen
le- und Stahlsektors mit anderen Bereichen der                  Markt wurden auch die Landwirtschaft sowie
Energieversorgung sowie dem Transportsektor,                    der Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnis-
das Interesse weiterer Wirtschaftsbranchen an ei-               sen einbezogen, wobei konkrete Vereinbarun-
ner europäischen Zusammenarbeit zur Überwin-                    gen hierzu erst später getroffen wurden. Ferner
dung bestehender Handelshemmnisse und auch                      sah der EWG-Vertrag neben dem freien Waren-
weiterhin das politische Ziel, den westdeutschen                verkehr auch den ungehinderten Austausch von
Staat dauerhaft und eng in die westliche Gemein-                Dienstleistungen, den freien Personen- und Ka-
schaft einzubinden. Als Resultat längerer und                   pitalverkehr (die „vier Freiheiten“) sowie eine
schwieriger Verhandlungen, die die unterschiedli-               schrittweise Annäherung der Wirtschaftspolitik
chen Prioritäten und Interessen der sechs EGKS-                 der Mitgliedstaaten vor. Weitere Bestimmungen
Staaten offenbarten, einigte man sich im Juni 1955              des Vertrags betrafen die Koordinierung der Ver-
in Messina auf die Grundzüge einer zu errichten-                kehrs-, Konjunktur-, Wirtschafts-, Währungs-
den Wirtschaftsgemeinschaft und einer Euro-                     und Außenhandelspolitik, die Angleichung der
päischen Atomgemeinschaft, die nach weiteren                    Sozialpolitik sowie die Außenbeziehungen der
detaillierten Verhandlungen in den Römischen                    Gemeinschaft.
Verträgen mündeten.                                                 Da in den folgenden Jahrzehnten die Mit-
    Widerstand gegen den Plan einer auf die sechs               gliedstaaten aufgrund wirtschaftlicher Probleme
Staaten begrenzten Wirtschaftsgemeinschaft kam                  immer wieder zu protektionistischen, den freien
unter anderem vonseiten des deutschen Wirt-                     Handel begrenzenden Maßnahmen griffen, um
schaftsministers Ludwig Erhard, der eine solche,                ihre jeweils heimische Volkswirtschaft zu schüt-
von ihm als protektionistisch und dirigistisch be-              zen, und wenig europäischen „Gemeinschafts-
zeichnete Gemeinschaft als unvereinbar mit den                  geist“ zeigten, schienen neue Reformanstren-
weltweiten Handelsinteressen Deutschlands an-                   gungen nötig, um die Ziele des Gemeinsamen
sah. Erhards Ziel war die Schaffung eines von au-               Marktes umzusetzen. Diese erfolgten mit der
tarken Tendenzen, Isolationismus und Protekti-                  Verabschiedung der „Einheitlichen Europäischen
onismus befreiten Welthandels in einer offenen                  Akte“ (EEA) im Jahre 1986, die am 1. Juli 1987
internationalen Gesellschaft,07 doch musste sich                in Kraft trat und eine wichtige Etappe auf dem
der Wirtschaftsminister schließlich dem „Inte­                  Weg zur Europäischen Union darstellte. Haupt-
grationsbefehl“ von Bundeskanzler Konrad Ade-                   ziel der EEA08 war die Vollendung des Binnen-
nauer fügen und der Bildung der Europäischen
Wirtschaftsgemeinschaft zustimmen.                              08 Die Einheitliche Europäische Akte enthielt neben den
                                                                Bestimmungen zur Änderung und Ergänzung des EWG-Vertrags
06 Vgl. Gabriele Clemens/Alexander Reinfeldt/Gerhard Wille,     auch Bestimmungen über die außenpolitische Zusammenarbeit,
Geschichte der europäischen Integration. Ein Lehrbuch, Pader-   die sich außerhalb der Verträge im Rahmen der Europäischen
born 2008, S. 108–123.                                          Politischen Zusammenarbeit (EPZ) vollzogen hatte. In der EEA
07 Vgl. Tim Geiger, Ludwig Erhard und die Anfänge der           wurden EG und EPZ zueinander in Bezug gesetzt und zudem der
Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, in: Rudolf Hrbek/Volker   Wille bekundet, die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten
Schwarz (Hrsg.), 40 Jahre Römische Verträge: Der deutsche       in eine Europäische Union zu überführen; vgl. Clemens/Reinfeldt/
Beitrag, Baden-Baden 1998, S. 50–64.                            Wille (Anm. 6), S. 221–225.

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Festung Europa? APuZ

marktprojektes bis zum 31. Dezember 1992. Bei                dererseits aber war die EG als wichtigster Han-
diesem („Europa 92“) handelte es sich im Grunde              delspartner der Welt an einer möglichst libera-
genommen um die Erfüllung der Ziele des EWG-                 len Ausgestaltung der Handelspolitik gegenüber
Vertrags aus dem Jahr 1957: die Errichtung ei-               Drittstaaten interessiert. Die EG bewegte sich da-
nes Wirtschaftsraumes ohne Binnengrenzen, in                 mit ständig „auf einem schmalen Grat zwischen
dem der freie Verkehr von Waren, Dienstleistun-              ‚protection‘ einerseits und ‚protectionism‘ ande-
gen, Personen und Kapital gewährleistet ist. Die-            rerseits“.13 Gleichwohl legen detaillierte Analysen
se Ziele wurden mit der EEA wieder aufgegrif-                des EG-Handelsschutzrechts den Schluss nahe,
fen, präzisiert und mit einigen neuen Akzenten               dass trotz einer „potentiellen Tendenz zum Pro-
­versehen.                                                   tektionismus“ der vielfach erhobene Vorwurf ei-
     Wenngleich sich der Charakter der EWG                   ner „Festung Europa“ unberechtigt und die Ge-
durch die neue Vereinbarung nicht grundsätz-                 meinschaft sich ihrer Verantwortung gegenüber
lich änderte, wurden doch gerade jetzt Stim-                 den Handelspartnern bewusst gewesen ist.14 Die
men laut, die vor einer „Festung Europa“ warn-               aus der Selbstverpflichtung resultierende grund-
ten.09 Der damalige Kommissionspräsident der                 sätzliche Haltung der EG/EU zugunsten einer
 Europäischen Gemeinschaft(en) (EG), Jacques                 weltoffenen Handelspolitik war gesetzt, was gele-
 Delors, widersprach dieser Einschätzung: „Eu-               gentliche Neigungen zu einem EG-Protektionis-
 ropa ist keine Festung, sondern Partner der                 mus in bestimmten Bereichen, etwa im Agrarhan-
 Welt.“10 Schließlich war die EG zu diesem Zeit-             del, jedoch nicht ausschloss.15
 punkt der weltweit größte Importeur von Waren
 und mit ihrem Ausfuhr- und Einfuhranteil am                          VERHÄLTNIS ZU DRITTSTAATEN
 Welthandel einer der drei großen Welthandels-
 partner innerhalb der World Trade Organization              Dass sich Europa, in diesem Fall die Europä-
 (WTO).11 Zudem hatte sich die Gemeinschaft die              ische Gemeinschaft, keineswegs von der rest-
 Selbstverpflichtung zu einer grundsätzlich welt-            lichen Welt abschottete, geht auch aus anderen
 offenen Handelspolitik auferlegt. In Artikel 110            Bestimmungen des EWG-Vertrags hervor. Hier
 des EWG-Vertrags (ebenso später in Artikel 131              ist insbesondere auf das Instrument der Asso-
 EGV des 1993 in Kraft getretenen Vertrags über              ziierung hinzuweisen, das die Beziehungen zu
 die Europäische Union/EUV) hatten die Mit-                  Drittstaaten regelt. Laut EWG-Vertrag war der
 gliedstaaten ihre Absicht bekundet, „im gemein-             Beitritt zu den Europäischen Gemeinschaften
 samen Interesse zur harmonischen Entwicklung                nur „europäischen“ Staaten vorbehalten, wobei
 des Welthandels, zur schrittweisen Beseitigung              das Kriterium „europäisch“ aus gutem Grund
 der Beschränkungen im internationalen Han-                  nicht definiert wurde – unterlag doch die Vor-
 delsverkehr und zum Abbau der Zollschranken                 stellung davon, was Europa ist und wo seine
 beizutragen“.12                                             Grenzen liegen, im Laufe der Geschichte ei-
     Im Zentrum des EWG-Vertrags stand, wie er-              nem stetigen Wandel.16 Mit Staaten, für die eine
wähnt, der Gemeinsame Markt beziehungsweise                  EG-Mitgliedschaft ausgeschlossen war, sah der
der Binnenmarkt, der den Wohlstand der EG-Mit-               EWG-Vertrag in den Artikeln 131 bis 136 sowie
glieder mehren und zugleich durch außenhandels-              238 die Möglichkeit der Assoziierung vor.17 Die
politische Instrumente wie Zölle und Kontingen-              auf Basis dieser Artikel geschlossenen Assozia-
tierungen Schutz vor unliebsamer Konkurrenz                  tionsverträge konnten und können sehr vielge-
 bieten sollte. Diese Schutz­in­strumente bargen ei-
nerseits durchaus die Gefahr, zum Zwecke des
                                                             13 Wolfgang Müller-Huschke, Eine „Festung Europa“? Das EG-
Protektionismus missbraucht zu werden; an-
                                                             Handelsschutzrecht als Instrument zur Sicherung des Europäi-
                                                             schen Binnenmarktes, Baden-Baden 1991, S. 18.
09 Siehe dazu Michael Tolksdorf, Der Europäische Binnen-     14 Ebd., S. 270.
markt 1993. Vor- und Nachteile für Deutschland und seine     15 Vgl. Oppermann (Anm. 11), S. 783.
Partner, Opladen 1991, S. 82–89, S. 135–141.                 16 Vgl. Wolfgang Schmale, Geschichte Europas, Wien 2001,
10 Zit. nach Wirtschaftswoche Nr. 10, 3. 3. 1989, S. 14.     S. 14; Clemens/Reinfeldt/Wille (Anm. 6), S. 15–22.
11 Vgl. Tolksdorf (Anm. 9), S. 83; Thomas Oppermann, Euro-   17 Lediglich die sogenannte Beitrittsassoziierung ist für Staaten
parecht. Ein Studienbuch, München 19992, S. 783.             gedacht, die später die Mitgliedschaft erwerben können; solche
12 Thomas Läufer, EWG-Vertrag. Grundlage der Europäischen    Abkommen wurden unter anderem mit Griechenland und der
Gemeinschaft, Kap. 4, Art. 110, Bonn 1989, S. 68.            Türkei geschlossen.

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 staltig sein und sich zwischen „Handelsabkom-                      terentwickelte und Grundlage der heutigen
 men plus 1 % und Mitgliedschaft minus 1 %“                         EU-Entwicklungszusammenarbeit ist, bedeu-
­bewegen.18                                                         tete per se eine Öffnung der Gemeinschaft ge-
     Eine besondere Rolle spielten die sogenann-                    genüber dritten Staaten, „in Anerkennung ihrer
 ten Entwicklungsassoziationen, die sich auf die                    besonderen wirtschafts- und handelspolitischen
 außereuropäischen Kolonien bezogen, über die                       Probleme“,21 was zunächst einmal nicht mit dem
 1957/58 noch mehrere EG-Mitgliedstaaten, ins-                      Vorwurf einer „Festung Europa“ in Einklang zu
 besondere Frankreich, verfügten. Frankreich                        bringen ist. Allerdings war auch hier nicht al-
 hatte bei den Verhandlungen zu den Römischen                       les Gold, was glänzt. Auch wenn zwischen den
 Verträgen auf eine solche Einbeziehung seiner                      EWG-Staaten grundsätzlich Einvernehmen da-
 überseeischen Gebiete gedrängt, nicht zuletzt, um                  rüber bestand, den Entwicklungsländern durch
 sich die Kosten für die Entwicklung dieser Gebie-                  Maßnahmen wie Zollbefreiungen, Preisgaranti-
 te mit den anderen EG-Staaten teilen zu können.                    en für ihre agrarischen und mineralischen Roh-
 Als Ziel der Assoziierung nannte Artikel 131 des                   stoffe oder durch direkte Unterstützung aus dem
 EWG-Vertrags die „Förderung der wirtschaftli-                      Europäischen Entwicklungsfonds zu helfen, so
 chen und sozialen Entwicklung der Länder und                       überwogen in der Praxis doch die nationalen In-
 Hoheitsgebiete und die Herstellung enger Wirt-                     teressen der EG-Mitgliedstaaten zum Schutze
 schaftsbeziehungen zwischen ihnen und der ge-                      ihrer eigenen Volkswirtschaften. Dies zeigte sich
 samten Gemeinschaft“, wobei explizit betont                        unter anderem daran, dass vor allem die Mittel-
 wurde, dass „die Assoziierung in erster Linie den                  meerländer sich gegen freie Agrarexporte der
 Interessen der Einwohner dieser Länder und Ho-                     Lomé-Staaten in die EG sperrten und weiter-
 heitsgebiete dienen und ihren Wohlstand fördern“                   hin Einfuhrkontingente forderten. Ähnlich war
 sollte.19 Den assoziierten Ländern wurde deshalb                   es bei Industrieprodukten der Entwicklungslän-
 die Möglichkeit eingeräumt, ihre Waren zollfrei in                 der, die vielfältigen Einfuhrbeschränkungen un-
 den EWG-Raum zu exportieren, und sie durften                       terlagen, obwohl die Förderung der Industriali-
 ihrerseits Zölle auf Importe aus den EWG-Staaten                   sierung dieser Länder Ziel der EG-Staaten war.22
 zum Schutz ihrer entstehenden Industrien oder                      Insgesamt waren die faktischen Erfolge der EG-
 als Finanzzölle zur Finanzierung ihrer Haushalte                   Entwicklungspolitik bescheiden, und die Sche-
 erheben (Artikel 133 EWG-Vertrag).                                 re zwischen Nord und Süd öffnete sich immer
     Nach der Dekolonialisierung wandelten sich                     weiter.
 diese sogenannten konstitutionellen Assoziie-
 rungen in „vertragliche Assoziierungen“ mit den                           SCHUTZ ODER ABSCHOTTUNG?
 unabhängig gewordenen AKP-Staaten (afrikani-                              ASYL- UND MIGRATIONSPOLITIK
 sche, karibische, pazifische Staaten) gemäß Ar-
 tikel 238 des EWG-Vertrags. In der Folge wur-                      Die 1986 verabschiedete Einheitliche Europä-
 den verschiedene Abkommen mit diesen Staaten                       ische Akte, die den EWG-Vertrag in Teilen än-
 geschlossen, wie etwa Yaoundé I und II in den                      derte und ergänzte, stellte eine wichtige Etappe
 Jahren 1963 beziehungsweise 1969 sowie Lomé I                      auf dem Weg zur Europäischen Union dar. Die
 (1975), II (1979), III (1984) und IV (1989). Asso-                 Arbeit am Binnenmarktprojekt hatte erneut die
 ziationen wurden unter anderem auch mit den                        Vorteile einer verstärkten Integration, vor allem
 Mittelmeeranrainerstaaten des Maghreb (Ma-                         im Bereich der Wirtschafts- und Währungspo-
 rokko, Algerien, Tunesien) und des Maschrek                        litik, deutlich gemacht. Die Anfang der 1970er
 (Ägypten, Jordanien, Libanon, Syrien) verein-                      Jahre bereits anvisierte Errichtung einer Wirt-
 bart.20 Diese Form der EG-Entwicklungspoli-                        schafts- und Währungsunion („Werner-Plan“,
 tik, die sich in den folgenden Jahrzehnten wei-                    benannt nach dem damaligen luxemburgischen
                                                                    Premierminister Pierre Werner) war an den un-
                                                                    terschiedlichen Interessen der EG-Staaten ge-
18 Oppermann (Anm. 11), S. 814.                                     scheitert; Ende der 1980er Jahre strebte Frank-
19 Läufer (Anm. 12), Art. 131 EWG-Vertrag, S. 82 f.
                                                                    reich unter Präsident François Mitterrand eine
20 Vgl. Ulrike Keßler, 40 Jahre EU-Afrikapolitik – ein Rückblick,
in: Gisela Müller-Brandeck-Bocquet et al., Die Afrikapolitik der
Europäischen Union. Neue Ansätze und Perspektiven, Opladen–         21 Vgl. Oppermann (Anm. 11), S. 796.
Farmington Hills 2007, S. 17–92; Oppermann (Anm. 11), S. 756 f.     22 Tolksdorf (Anm. 9), S. 159 ff.

08
Festung Europa? APuZ

 Wiederaufnahme des Werner-Plans an, um die          die Bereiche Visa-, Asyl- und Einwanderungs-
 geld- und währungspolitische Dominanz der           politik mit dem Vertrag von Amsterdam von der
 deutschen Bundesbank in Westeuropa zu über-         dritten in die erste Säule überführt und unterla-
 winden. Dieser Plan erhielt einen wesentlichen      gen damit der supranationalen Entscheidungsme-
 Schub durch die politische Entwicklung in Mit-      thode. Auch das 1985 außerhalb der EG-Verträ-
 tel- und Osteuropa 1989/90 und die sich abzeich-    ge von einigen Staaten ausgehandelte Schengener
 nende Wiedervereinigung der beiden deutschen        Abkommen zum Wegfall der Personenkontrollen
 Staaten. Alle EG-Staaten, einschließlich der Bun-   an den Binnengrenzen wurde in den EU-Vertrag
 desrepublik, waren bestrebt, das wiedervereinig-    integriert. Regelungen zum Asylanspruch und
 te Deutschland politisch und wirtschaftlich eng     Asylverfahrensrecht sowie zur Anerkennung und
 in Europa einzubinden. Infolgedessen gab der        zum Schutz von Flüchtlingen wurden ebenso er-
 deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl, der kei-        lassen wie solche zum Einwanderungsrecht. 2004
 nen Zweifel an der europäischen Bindung des         schließlich wurde mit „Frontex“ eine Europä-
 wiedervereinigten Deutschlands aufkommen las-       ische Agentur für die Grenz- und Küstenwache
 sen wollte, nicht nur seinen anfänglichen Wider-    geschaffen, die in Zusammenarbeit mit den EU-
 stand gegen die Bildung einer Wirtschafts- und      Mitgliedstaaten für die Kontrolle der Außengren-
 Währungsunion (WWU) auf, sondern drängte            zen der EU zuständig ist.
 zugleich auch auf die Bildung einer Politischen         Die Notwendigkeit einer EU-weiten Rege-
 Union Europas. In der Folge wurden zwei Re-         lung der Asyl- und Einwanderungspolitik war
 gierungskonferenzen eingesetzt, deren Ergeb-        eine direkte Folge der Verwirklichung des Kon-
 nisse in den 1992 in Maastricht unterzeichneten     zepts der vier Grundfreiheiten im Binnenmarkt,
 und am 1. November 1993 in Kraft getretenen         des freien Waren-, Dienstleistungs-, Kapital-
 „Vertrag über die Europäische Union“ (EUV)          und Personenverkehrs, sowie des Wegfalls der
­mündeten.                                           Grenzkontrollen an den Binnengrenzen durch
     Dieser „Mantelvertrag“ änderte und ergänz-      das Schengener Übereinkommen. Diese Inte-
 te die bisherigen Verträge über die Europäischen    grationsschritte erforderten als Kompensation
 Gemeinschaften sowie die Einheitliche Europä-       für die Freizügigkeit im Inneren eine gemeinsa-
 ische Akte und führte die bestehenden Gemein-       me Politik gegenüber Nicht-Unionsbürgern an
 schaften mit den neuen Bereichen einer Politi-      den EU-Außengrenzen.23 Diese wird im derzeit
 schen Union zusammen. Illustriert wurde dies        gültigen Lissabon-Vertrag in verschiedenen Arti-
 in Form eines Tempels, der auf drei Säulen ruht,    keln des Titels IV, der einen „Raum der Freiheit,
 die mit unterschiedlichen Aufgabenfeldern und       der Sicherheit und des Rechts“ begründet, gere-
 Entscheidungsverfahren versehen und lediglich       gelt.24 Gemäß Artikel 78 strebt die Union „eine
 durch das Dach der Europäischen Union verbun-       gemeinsame Politik im Bereich Asyl, subsidiärer
 den sind. Die dritte Säule enthielt den neu auf-    Schutz und vorübergehender Schutz“ an, mit der
 genommenen Regelungsbereich der „Zusammen-          „jedem Drittstaatsangehörigen, der internatio-
 arbeit in den Bereichen Justiz und Inneres“, der    nalen Schutz benötigt, ein angemessener Schutz
 unter anderem die Asyl- und Einwanderungs-          angeboten und die Einhaltung des Grundsatzes
 politik sowie die Angleichung der Kontrollen an     der Nicht-Zurückweisung gewährleistet werden
 den Außengrenzen der Gemeinschaft umfasste.         soll“. Und in Artikel 79, der den Umgang mit le-
 Waren diese Bereiche bislang alleinige Angele-      galer und illegaler Einwanderung regelt, heißt
 genheit der Mitgliedstaaten gewesen, so wurden      es, dass die Union „eine gemeinsame Einwande-
 sie jetzt auf Gemeinschaftsebene, wenn auch zu-     rungspolitik [entwickelt], die in allen Phasen eine
 nächst nur im intergouvernementalen Entschei-
 dungsverfahren, geregelt.                           23 Vgl. Peter-Christian Müller-Graf/Friedemann Kainer, Asyl-,
     Der Vorwurf einer „Festung Europa“, die         Einwanderungs- und Visapolitik, in: Werner Weidenfeld/Wolf-
 sich vor fremden „Eindringlingen“ schützt, ent-     gang Wessels (Hrsg.), Europa von A bis Z. Taschenbuch der
 zündete sich jetzt vor allem an diesem Regelungs-   europäischen Integration, 201614, S. 82–89.
                                                     24 Asylpolitik: Art. 67 Abs. 2, Art. 78 und 80 des Vertrags über
 bereich, der mit den EU-Folgeverträgen (Ams-
                                                     die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV); Einwande-
 terdam 1999, Nizza 2003, Lissabon 2009) weiter      rungspolitik: Art. 79 und 80 AEUV; Schutz der EU-Außengren-
 vertieft und mit neuen Aufgaben und Struktu-        zen: Art. 67 und 77 AEUV sowie Art. 3 Abs. 2 des Vertrags über
 ren versehen wurde. So wurden unter anderem         die Europäische Union (EUV).

                                                                                                                  09
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wirksame Steuerung der Migrationsströme, eine                   Vorfällen, die ihr aus durchaus nachvollziehbaren
angemessene Behandlung von Drittstaatsangehö-                   Gründen den Vorwurf einbrachten, eine „Fes-
rigen, die sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat               tung“ zu sein. Doch wie dem auch sei: Europa
aufhalten, sowie die Verhütung und verstärk-                    als eine undurchdringbare, sich nach außen ab-
te Bekämpfung von illegaler Einwanderung und                    schottende und lediglich dem eigenen Wohl und
Menschenhandel gewährleisten soll“.                             Schutz verpflichtete Festung zu zeichnen, negiert
    Bislang hat sich jedoch noch keine umfassen-                nicht nur die skizzierten Ziele und Ansprüche eu-
de europäische Migrationspolitik herausgebildet.                ropäischer Politik, wie sie sich in den Verträgen
Vielmehr haben sich die Teilbereiche der Asyl-                  niederschlagen und im Grundsatz auch die eu-
und Einwanderungspolitik deutlich unterschied-                  ropäische Politik leiten, sondern wird auch der
lich entwickelt, und für einheitliche Regelungen                europäischen Integrationsgeschichte im Ganzen
ist noch viel zu tun.25 Von einer generellen Ab-                nicht gerecht.
schottung gegenüber Fremden, also Nicht-EU-
Bürgern, kann, wenn man sich die Regelungen
und Ziele der EU vor Augen führt, aber nicht die
Rede sein. Will man nicht argumentieren, wie es                 GABRIELE CLEMENS
etwa der Schweizer Philosoph Andreas Cassee in                  ist emeritierte Professorin für Neuere Westeuro-
seinem Buch „Globale Bewegungsfreiheit“ tut,26                  päische Geschichte am Historischen Seminar der
dass grundsätzlich jeder Mensch frei entschei-                  Universität Hamburg und war Inhaberin eines Jean
den können soll, in welchem Land er leben will,                 Monnet-Lehrstuhls für Europäische Integrationsge-
und Einwanderungsbeschränkungen daher nur in                    schichte und Europastudien.
Ausnahmefällen zulässig sind, so ist ein Schutz                 gabriele.clemens@uni-​hamburg.de
der EU-Außengrenzen durchaus notwendig und
nachvollziehbar. Dass es in der Praxis der Mi-
grationspolitik teils zu weitreichenden Abschre-
ckungskampagnen sowie mutmaßlich illegalen
Pushbacks von Migranten durch Frontex kommt,
wie einige NGOs beklagen, steht auf einem an-
deren Blatt.

                 FESTUNG EUROPA?

Als Resümee bleibt festzuhalten, dass die Euro-
päischen Gemeinschaften beziehungsweise die
Europäische Union insgesamt ein ambivalentes
Bild abgeben. Einerseits hat sich die EU in der
Vergangenheit stets dem Prinzip der weltweiten
Handelsliberalisierung verpflichtet gefühlt, an-
dererseits haben ihre Mitgliedstaaten regelmäßig
protektionistische Politiken zum Schutz ihrer ei-
genen Wirtschaft implementiert. Auch Nicht-
EU-Bürgern gegenüber zeigte sich die EU, unter
dem Vorbehalt des Schutzes der eigenen Grenzen
und Prinzipien, prinzipiell offen, in der Praxis
kam es gleichwohl mitunter zu Regelungen und

25 Siehe dazu Europäisches Parlament, Kurzdarstellungen
zur Europäischen Union. Asylpolitik, Einwanderungspolitik,
6. 1. 2022, www.europarl.europa.eu/factsheets/de/sheet/151/
asylpolitik.
26 Vgl. Andreas Cassee, Globale Bewegungsfreiheit. Ein philo-
sophisches Plädoyer für offene Grenzen, Berlin 2016.

10
Festung Europa? APuZ

            GEFANGEN IN ZIELKONFLIKTEN
                 Die Gemeinsame Europäische Asylpolitik
                                            Petra Bendel

Mit dem Vertrag von Amsterdam nahm im Jahr            fizierungssystem wurde in einer weiteren Verord-
1999 eine gemeinsame EU-Politik zu Flucht             nung, der EURODAC-Verordnung, fixiert.02 Die
und Asyl ihren Anfang, die sich über Richtli-         sogenannte Qualifikationsrichtlinie legte gemein-
nien und Verordnungen zunächst rasant entwi-          same Kriterien fest, nach denen eine Person fort-
ckelte.01 Das war durchaus erklärungsbedürftig,       an in der EU als Flüchtling gelten sollte. Die Ver-
denn bis dahin hatte die Innen- und Justizpoli-       fahrensrichtlinie wiederum hielt Mindestnormen
tik, der die Asylpolitik zugerechnet wurde, als       für die Asylverfahren fest und die Aufnahme­
ein ausschließlich den Mitgliedstaaten vorbe-         richtlinie die Bedingungen für die Registrierung
haltener Regulierungsbereich gegolten, der al-        und Unterbringung von Asylsuchenden.
lenfalls zur Bekämpfung von Kriminalität und              Aus diesem Gesetzeswerk lassen sich zwei
Terrorismus unter den Staaten koordiniert wor-        Leitmotive der EU-Asylpolitik ablesen: die Kon-
den war.                                              trolle von Migrationsbewegungen nach außen
    Vor allem drei Gründe waren für diesen In-        wie nach innen (Stichwort: Sekundärmigrati-
tegrationsschritt verantwortlich: Erstens war         on) sowie die Schutzgewährung für jene, die des
den Regierungen nach dem Wegfall der Binnen-          Schutzes bedürfen. Beide Ziele können miteinan-
grenzen und der dadurch möglichen Bewegung            der in Konflikt geraten – und tatsächlich sollte die
von Asylsuchenden im Inneren der Europäi-             daraus resultierende Politik zusehends Schlagsei-
schen Union beziehungsweise des Schengen-             te zugunsten der Kontrolle bekommen.
raums daran gelegen, die gemeinsamen Außen-
grenzen besser zu schützen. Zweitens wichen                   GEMEINSAMES ASYLSYSTEM
die Regeln für die Schutzgewährung unter den                  UND NATIONALSTAATLICHE
Mitgliedstaaten so stark voneinander ab, dass es                   ALLEINGÄNGE
für die Antragsteller*­innen und ihre Chancen,
Schutz zu erhalten, einen großen Unterschied          Denn trotz dieser gemeinsamen Gesetzge-
machte, in welchem Staat ein Asylgesuch ge-           bung stieß die tatsächliche Harmonisierung an
stellt wurde. Drittens schließlich sollte die Zu-     Grenzen. Die in Brüssel vereinbarten Richtlini-
ständigkeit der Staaten für die Asylverfahren         en mussten noch in nationales Recht überführt
klarer geregelt werden. Bislang war häufig un-        und durch die nationalen Verwaltungen umge-
klar, welcher Staat für ein bestimmtes Asylver-       setzt werden. Hier ergaben sich für die Staaten
fahren zuständig war.                                 beachtliche Spielräume, die oft zugunsten eines
    Aus dieser zunehmend vergemeinschafteten          „Wettbewerbs nach unten“ genutzt wurden, um
Politik entstand das Gemeinsame Europäische           möglichst wenige Asylsuchende aufnehmen zu
Asylsystem (GEAS). Dessen Kernstücke waren            müssen. Das ursprüngliche Ziel, eine „Schutzlot-
im Wesentlichen zwei Verordnungen und drei            terie“ zwischen den Mitgliedstaaten zu vermei-
Richtlinien: Die Dublin-Verordnung regelt seit-       den und stattdessen gemeinsame Standards für
her, welcher Staat für die Behandlung eines Asyl-     die Gewährung von Asyl zu etablieren, wurde
gesuchs zuständig ist – in der Regel derjenige, den   letztlich nicht erreicht.
ein Asylsuchender zuerst betreten hat. Ihr Ziel           Auch die Dublin-Regeln, nach denen nur je-
lag auch darin, Sekundärwanderungen zwischen          ner Staat für ein Asylgesuch zuständig ist, in den
den Staaten zu vermeiden. Gewährleistet wurde         eine schutzsuchende Person zuerst einreist, wa-
dies durch die Registrierung der Fingerabdrücke       ren zwar unmittelbar in den Mitgliedstaaten gül-
der Asylsuchenden; dieses Fingerabdruck-Identi-       tig, wurden in der Praxis aber oft unzureichend

                                                                                                        11
APuZ 42/2022

angewandt. Denn das Prinzip des Erstaufnahme-                     ten Standards. Ziel der Mitgliedstaaten war es,
staates belastete vor allem die EU-Staaten an den                 den jeweils eigenen Staat möglichst unattraktiv
Außengrenzen. Mit der starken Fluchtzuwande-                      erscheinen zu lassen. Auch flackerte die Debat-
rung der Jahre 2015/2016 kollabierte „Dublin“                     te um „mehr Sicherheit“ erneut auf. Nach den
vollends, als Registrierungen in den Außengrenz-                  Terrorattacken des 11. September 2001 und den
staaten oft unterblieben und Geflüchtete schlicht                 Anschlägen von Madrid 2004 hatten Asyl und
weiterwanderten – mit dem Resultat, dass neue                     Migration immer stärker im Zeichen einer Per-
Grenzen an den Einreisestaaten „nach außen“                       zeption von Neuzuwanderung als Sicherheits-
errichtet wurden. Der Versuch einer Reform in                     problem gestanden.03 Mit diesen Sicherheits-
Richtung einer fairen und solidarischen Vertei-                   diskursen – die der Idee der Schutzgewährung
lung der Asylsuchenden, die das ausschließlich                    tendenziell zuwiderliefen – ging als praktische
auf die Zuständigkeit des ersten Zutrittsstaats                   Folge die Aufstockung von Agenturen (zum
ausgerichtete Dublinsystem hatte ablösen sol-                     Beispiel der Europäischen Grenzschutzagen-
len, entzweite die Mitgliedstaaten im Inneren.                    tur Frontex) und die Stärkung sicherheitspoliti-
Die ohnehin zähen Reformansätze zu einer Ver-                     scher Praktiken (etwa eine zunehmende Techno-
besserung des GEAS und seiner Standards für die                   logisierung, Digitalisierung und Verstärkung der
Schutzsuchenden gerieten ganz und gar ins12 Sto-                  Grenzkontrollen) einher.
cken.                                                                 Flucht und Migration wurden in der Folge
    Letztlich manifestierte sich hier eine tief rei-              zusehends in ihrer „externen Dimension“ als ein
chende, normative Spaltung der Mitgliedstaa-                      außen-, entwicklungs- und sogar verteidigungs-
ten über die Frage der EU-Kompetenzen im Be-                      politisches Politikfeld begriffen: Die Bearbeitung
reich der Flüchtlings- und Migrationspolitik. Die                 von Fluchtursachen und die Kooperation mit
einst so schnell zugunsten gemeinsamer europä-                    Herkunfts- und Transitstaaten gerieten ebenso in
ischer Regelungen abgetretene Souveränität im                     das Blickfeld wie der Außengrenzschutz mitsamt
Bereich Asyl und Migration wurde wieder infra-                    einer Bekämpfung des Schmuggler- und Men-
ge gestellt: Welche Kompetenzen sollten der EU                    schenhändlerwesens, Fragen der Seenotrettung
mit ihren supranationalen Instanzen, welche hin-                  oder die Rückführung und Reintegration abge-
gegen (wieder) den Nationalstaaten zukommen?                      lehnter Asylsuchender. Die EU und ihre Mit-
Und wie sollte angesichts der starken Fluchtzu-                   gliedstaaten tendierten dabei mehr und mehr zu
wanderung und der folgenden Sekundärwande-                        einer Externalisierung,04 also einer Verlagerung
rungen im Inneren der EU mehr Verteilungsge-                      von staatlichen Funktionen an Drittstaaten, oft
rechtigkeit hergestellt werden?                                   weit außerhalb der Europäischen Union. Dies ge-
                                                                  schah gelegentlich mit dem Ziel, Migrant*­innen
               KONTROLLE DER                                      am Zugang zum Territorium von EU-Mitglied-
          MIGRATIONSBEWEGUNGEN                                    staaten zu hindern. Mehr noch: Sogenannte Mo-
         VERSUS SCHUTZGEWÄHRUNG                                   bilitätspartnerschaften und andere Formen der
                                                                  Kooperation verknüpften Maßnahmen der Ent-
Das Bemühen, möglichst kein „zweites 2015“                        wicklungskooperation vor allem mit der Rück-
mit einem so empfundenen Kontrollverlust der                      nahme von Migrant*­      innen und Geflüchteten
politischen Steuerungsfähigkeit zu riskieren,                     durch ihre Herkunftsländer – oder auch durch
führte zwischen den EU-Staaten zu einem wei-                      Staaten, die ihnen nur zur Durchreise gedient
teren Absenken der einst gemeinsam etablier-                      hatten. Immer wieder stand auch die höchst um-
                                                                  strittene Errichtung von Asylzentren außerhalb
                                                                  der Europäischen Union auf der Agenda, die Idee
01 Vgl. Petra Bendel, Contemporary Politics of Internatio-
nal Protection in Europe: From Protection to Prevention, in:
Agnieszka Weinar/Saskia Bonjour/Lyubov Zhyznomirska               03 Vgl. dazu z. B. Christian Kaunert/Ikrom Yakubov, Securiti-
(Hrsg.), The Routledge Handbook of the Politics of Migration in   zation: Turning an Approach Into a Framework for Research on
Europe, London 2018, S. 293–303; dies./Ariadna Ripoll Ser-        EU Justice and Home Affairs, in: Ripoll Servent/Trauner (Anm. 1),
vent, Asylum and Refugee Protection: EU Policies in Crisis, in:   S. 30–40.
Ariadna Ripoll Servent/Florian Trauner (Hrsg.), The Routledge     04 Zu einer jüngeren Auseinandersetzung mit dem Konzept
Handbook of Justice and Home Affairs Research, London             und seinen Implikationen vgl. David Cantor et al., Externali-
2018, S. 59–70.                                                   sation, Access to Territorial Asylum, and International Law, in:
02 EURODAC steht für „European Dactyloscopy“.                     International Journal of Refugee Law 1/2022, S. 120–156.

12
Festung Europa? APuZ

konnte sich letztlich aber aufgrund mangelnden                       neue Migrations- und Asylpaket vor, das nach
Interesses potenzieller Drittstaaten und men-                        und nach zwischen Parlament und Rat verhan-
schenrechtlicher Bedenken nicht in der vorgese-                      delt wird.06 Dessen Ziel war es, nach einer lan-
henen Form durchsetzen.                                              gen Phase tiefgreifender Dispute über die Flücht-
    Mit der von der Europäischen Kommis-                             lingspolitik das Vertrauen der Mitgliedstaaten in
sion vorgeschlagenen „Agenda für Migrati-                            die Funktionsfähigkeit des Gemeinsamen Euro-
on“ im Zuge der starken Fluchtzuwanderung                            päischen Asylsystems wiederzugewinnen, den
2015/2016 erhielt die Asylpolitik erneut eine                        „Abwärtsstrudel“ bei der Gewährung gemeinsa-
sicherheitspolitische Schlagseite, zugunsten ei-                     mer Schutzstandards zu stoppen und einen neu-
ner weiteren Externalisierung und mit starker                        en Rahmen für eine geordnete Migrationspoli-
Betonung der Rückkehrpolitik. Auch dies ging                         tik zu errichten – inklusive der seit Jahren höchst
tendenziell auf Kosten des Flüchtlingsschut-                         umstrittenen Frage, wie eine faire Verteilung der
zes.05 Ein erheblicher Teil der für Migration zur                    Schutzsuchenden unter den Mitgliedstaaten ge-
Verfügung stehenden Fonds und Maßnahmen                              währleistet werden kann.07
konzentrierte sich fortan auf den Ausbau des                             Zwischen dem grundlegenden Ziel, Flücht-
Grenzschutzes und auf eine Kooperation mit                           lings-, Grund- und Menschenrechte zu garantie-
(freilich vielfach autokratisch regierten) Dritt-                    ren, und dem Bestreben, Wanderungsbewegun-
staaten, die helfen sollten, irregulärer Migration                   gen zu steuern, bleibt das EU-Migrations- und
entgegenzutreten. Dazu zählte die – sehr spezi-                      Asylpaket allerdings weiterhin unausgewo-
fisch auf syrische Flüchtlinge bezogene und in                       gen.08 Denn der Pakt verharrt nach wie vor bei
ihrer Wirkung umstrittene – EU-Türkei-Erklä-                         einer externen Ausrichtung und bleibt bei men-
rung, dazu zählte ebenso die Kooperation mit                         schenrechtlichen Monitoring-Mechanismen für
der lybischen Küstenwache, gegen die zu Recht                        Flüchtlingsschutz und Flüchtlingsrechte beim
tiefgreifende menschenrechtliche Bedenken ins                        Zugang zum Territorium vage. So schweigt er
Feld geführt wurden. Auch EU-spezifische                             sich zum Beispiel über die künftige Zuständigkeit
Verhandlungsformate, etwa mit afrikanischen                          nach einer erfolgten Seenotrettung aus und über-
Staaten, und sogenannte Migrationspartner-                           lässt es den künftigen politischen Verhandlungen,
schaften wurden fortentwickelt: Diese verbin-                        wie der vorgeschlagene „neue Solidaritätsmecha-
den die Kooperation in der Migrationspolitik                         nismus“ für die Verteilung der Flüchtlinge inner-
mit anderen Politikfeldern wie Handels-, Ent-                        halb der EU aussehen soll.
wicklungs-, Wirtschafts- oder Umweltpolitik.                             Primär beabsichtigt der Pakt, die Kooperati-
Positive wie negative Anreize sollen die Her-                        on mit Partnerländern weiter auszubauen. Der
kunfts- und Transitstaaten dazu bewegen, irre-                       Fokus bleibt dabei auf der Ausführung von EU-
guläre Migration zu reduzieren und Rückfüh-                          Zielen in und durch Drittstaaten, inklusive der
rungen und Reintegration zu ermöglichen.
    Obwohl die Versicherheitlichung wie auch                         06 Das Paket mitsamt der Roadmap findet sich unter h­ ttps://
die Externalisierung der europäischen Migrati-                       ec.​europa.​eu/​info/​publications/​migration-​and-​asylum-​packa-
onspolitik schon seit Langem auf harsche Kritik                      ge-​new-​pact-​migration-​and-​asylum-​documents-​adopted-​23-​
                                                                     september-​2020_en. Zu den einzelnen Aspekten sind mehrere
von Wissenschaft und Nichtregierungsorganisa-
                                                                     (Online-)Kompendien entstanden. Siehe z. B. ASILE 2021 unter
tionen stoßen, weisen auch die Kommissionsvor-                       ­https://www.asileproject.​eu/​df_the-​new-​eu-​pact-​on-​migration-​
schläge von 2020 nur zu einem geringen Teil in                        and-​asylum und das Odysseus Network unter ­https://eumigra-
eine neue Richtung.                                                   tionlawblog.eu/​series-​on-​the-​migration-​pact-​published-​under-​
                                                                      the-​supervision-​of-​daniel-​thym.
                                                                      07 Vgl. Petra Bendel, Fresh Start Or False Start? The New Pact
         „NEUER“ PAKT FÜR MIGRATION
                                                                      on Migration and Asylum, in: Sergio Carrera/Andrew Geddes
               UND ASYL 2020:                                         (Hrsg.), The EU Pact on Migration and Asylum in Light of the
          EIN ETIKETTENSCHWINDEL?                                     United Nations Global Compact on Refugees. International
                                                                      Experiences on Containment and Mobility and Their Impacts on
Im September 2020 legte die Europäische Kom-                          Trust and Rights, Florenz 2021, S. 251–262.
                                                                      08 Vgl. Sachverständigenrat für Integration und Migration
mission zur Konkretisierung des GEAS das
                                                                      (SVR), SVR-Agenda für eine nachhaltige Integrations- und
                                                                      Migrationspolitik. Impulse für die Legislaturperiode 2021–2025,
05 Vgl. Petra Bendel, EU-Flüchtlingspolitik in der Krise – Blocka-    Berlin 2021, www.svr-​migration.de/wp-​content/uploads/​2021/​
den, Entscheidungen, Lösungen, Bonn 2017.                             09/SVR-​Agenda-​zu-​Integration-​M igration-​2021.pdf.

                                                                                                                                        13
APuZ 42/2022

Rückführung von abgelehnten Asylsuchenden.                            flüchtlingsrechtlich gebotenen Aufgaben nicht
Folgt man dem Rahmentext, geschieht dies al-                          hinreichend erfüllt hat.12 Der neue „independent
lerdings weitgehend, ohne die Interessen und                          mechanism for monitoring fundamental rights“,
Voraussetzungen nicht-europäischer Partner in                         wie ihn die Europäische Kommission in ihrem
ausreichendem Maße einzubeziehen. Zudem ist                           Pakt vorschlägt, soll nunmehr dafür sorgen, dass
bisher unklar, welche Anreize den Drittstaaten                        die EU und ihre Mitgliedstaaten entsprechendes
für die Kooperation geboten werden sollen.09                          EU-Recht und Völkerrecht einhalten. Allein: Er
    Reguläre humanitäre Zugangswege, Mög-                             ist nur auf die außerhalb der EU stattfindenden
lichkeiten zur wirtschaftlich motivierten Migra-                      „Pre-Screenings“ begrenzt, deckt weder die vor-
tion und – besonders vielversprechend – Ausbil-                       gelagerte Grenzüberwachung und das Grenz-
dungspartnerschaften sollen dem Pakt zufolge                          management noch die nachgelagerte Einreise in
ausgebaut werden. Wie und in welchem Umfang                           einen Mitgliedstaat und die dann erfolgenden
dies erfolgen soll, bleibt allerdings offen. Gera-                    Verfahren ab. Auch müsste für eine unabhängi-
de in solchen mit diplomatischem Feingefühl ge-                       ge Überwachung der nationalen Verwaltungen
führten migrationspolitischen Dialogformaten                          gesorgt und die Möglichkeit gewährt werden,
„auf Augenhöhe“ läge viel Potenzial – wenn eine                       einen Beschwerdemechanismus in Gang zu set-
solche Kooperation sich nicht, wie bisher, einsei-                    zen.13 Bezüglich der Seegrenzen drängt der Neue
tig auf Rückführungs- und Reintegrationsmaß-                          Pakt weiterhin die Drittstaaten dazu, Ausreisen
nahmen beschränkt. Politisches Einvernehmen                           zu verhindern. Auch einen Ansatz zur Entkri-
besteht bereits über einen seit 2016 vorliegen-                       minalisierung der privaten Seenotrettung sucht
den Verordnungsentwurf zum sogenannten Re-                            man bislang vergebens. Vage bleibt zudem der
settlement, der dauerhaften Aufnahme beson-                           Vorschlag, einen gemeinsamen Mechanismus für
ders schutzbedürftiger Personen.10 Allerdings                         die Seenotrettung zu errichten, der auch die Fra-
wäre es sinnvoll, angesichts der chronisch nied-                      ge umfassen müsste, welcher Staat jeweils für die
rigen Aufnahmezusagen höhere Kontingente zu                           Ausschiffung und die Aufnahme von Geretteten
planen, mehrjährige Zusagen zu geben, diese mit                       zuständig sein soll.14
Community-Sponsorship-Projekten wie etwa                                  Diese Verantwortungsfrage für die Schutzsu-
dem deutschen „Neustart im Team“-Pilotprojekt                         chenden leitet über zur „Ursünde“ des GEAS im
(NesT)11 zu koordinieren und die Transparenz                          Inneren der EU: der Tatsache, dass sich die Mit-
und Schnelligkeit der Programme zu verbessern.
    An den Grenzen hat sich in den vergangenen                        12 Vgl. z. B. die Kritik des Europäischen Parlaments, des
Jahren die Praxis illegaler Pushbacks als größtes                     Europäischen Rechnungshofs, des Europäischen Ombudsmanns
Hindernis zur Gewährung der Flüchtlingsrechte                         und der Anti-Betrugsbehörde OLAF. European Parliament,
                                                                      LIBE Committee on Civil Liberties, Justice and Home Affairs,
erwiesen, namentlich des Gebots der Nicht-Zu-
                                                                      Report on the Fact-finding Investigation on Frontex Concerning
rückweisung („non-refoulement“), des Verbots                          Alleged Fundamental Rights Violations, www.statewatch.org/
der kollektiven Ausweisung und des Rechts, um                         media/​2590/ep-​frontex-​scrutiny-​group-​final-​report-​14-​7-​21.pdf;
Asyl zu ersuchen. Diese Praxis ist in verschie-                       European Court of Auditors, Frontex’s Support to External
denen Mitgliedstaaten zu Recht scharf kritisiert                      Border Management: Not Sufficiently Effective to Date, Special
                                                                      Report 8/2021, www.eca.europa.eu/en/Pages/DocItem.aspx?​
worden. Außerdem haben sich die Hinweise ver-
                                                                      did=​58564; European Ombudsman, Ombudsman Asks Frontex
dichtet, dass Frontex von rechtswidrigen Zu-                          to Improve Its Accountability, 1/2022, www.ombudsman.europa.
rückweisungen wusste und seine menschen- und                          eu/en/news-​document/en/​151372; Giorgios Christides/Steffen
                                                                      Lüdke, Classified Report Reveals Full Extent of Frontex Scandal,
                                                                      29. 8. 2022, www.spiegel.de/​a-​cd749d04-​689d-​4 407-​8939-​
09 Vgl. Elspeth Guild, Negotiating With Third Countries in the        9e1bf55175fd.
New Pact: Carrots and Sticks?, 27. 11. 2020, h­ ttps://eumigrati-     13 Vgl. Marco Stefan/Roberto Cortinovis, Setting the Right
onlawblog.eu/negotiating-​with-​third-​countries-​under-​the-​new-​   Priorities: Is the New Pact on Migration and Asylum Addressing
pact-​carrots-​and-​sticks.                                           the Issue of Pushbacks at EU External Borders?, in: Carrera/
10 Vgl. Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen                Geddes (Anm. 7), S. 251–262, sowie den Beitrag von Constantin
Parlaments und des Rates zur Schaffung eines Neuansied-               Hruschka in diesem Heft.
lungsrahmens der Union und zur Änderung der Verordnung                14 Vgl. Violeta Moreno-Lax, A New Common European
(EU) Nr. 516/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates,          Approach to Search and Rescue? Entrenching Proactive Con-
COM(2016) 468, https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/            tainment, 3. 2. 2021, h­ ttps://eumigrationlawblog.eu/a-​new-​com-
ALL/?uri=CELEX%3A52016PC0468.                                         mon-​european-​approach-​to-​search-​and-​rescue-​entrenching-​
11 Siehe www.neustartimteam.de.                                       proactive-​containment.

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