AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Landwirtschaft - BPB
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
72. Jahrgang, 15–17/2022, 11. April 2022 AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE Landwirtschaft Uta Ruge Kiran Klaus Patel DIE WELT IN DEN DÖRFERN MOTOR UND SPALTPILZ: UND DIE DÖRFER IN UNS AGRARPOLITIK IN DER GESCHICHTE Frank Uekötter DER EUROPÄISCHEN KURZE GESCHICHTE INTEGRATION DER LANDWIRTSCHAFT IN DEUTSCHLAND Stephan von Cramon-Taubadel · Sebastian Lakner · Carsten Holst Peter H. Feindt AKTUELLE BAUSTELLEN WARUM WANDEL DER GEMEINSAMEN IN DER AGRARPOLITIK AGRARPOLITIK DER SO SCHWIERIG IST EUROPÄISCHEN UNION Rolf G. Heinze Achim Spiller · Sarah Iweala BAUERNPROTESTE: IST BIO DIE ZUKUNFT? POLITIK SEISMOGRAFEN FÜR FÜR EINE NACHHALTIGERE TRANSFORMATIONSPROBLEME LANDWIRTSCHAFT ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Beilage zur Wochenzeitung
Landwirtschaft APuZ 15–17/2022 UTA RUGE KIRAN KLAUS PATEL DIE WELT IN DEN DÖRFERN MOTOR UND SPALTPILZ: UND DIE DÖRFER IN UNS AGRARPOLITIK IN DER GESCHICHTE Wie die Landwirtschaft hat sich auch das Leben DER EUROPÄISCHEN INTEGRATION auf dem Land grundlegend verändert. Am Die Gemeinsame Landwirtschaftspolitik war Beispiel einer Familie und zweier Dörfer in Ost über mehrere Jahrzehnte nicht nur das strittigste, und West werden 100 Jahre landwirtschaftlicher aufwendigste und kostspieligste Projekt im ver- und dörflicher Geschichte skizziert und in einten Europa, sondern auch Motor für weiteren Beziehung zur Gegenwart gesetzt. Zusammenschluss. Zugleich produzierte sie aber Seite 04–08 auch neue Konflikte und Trennlinien. Seite 27–32 FRANK UEKÖTTER KURZE GESCHICHTE DER LANDWIRTSCHAFT STEPHAN VON CRAMON-TAUBADEL · IN DEUTSCHLAND SEBASTIAN LAKNER · CARSTEN HOLST Über der Landwirtschaft lagert ein dichtes AKTUELLE BAUSTELLEN DER GEMEINSAMEN Netz aus politischen Verpflichtungen, sozialen AGRARPOLITIK DER EUROPÄISCHEN UNION Erwartungen und ökonomischen Regeln, in Manch populärer Reformvorschlag für die EU- dem Träume vom freien Unternehmertum rasch Agrarpolitik erweist sich bei wissenschaftlicher verblassen. Der Blick in die Geschichte hilft, die Betrachtung als kaum realisierbar. Das zeigen heutigen Pfadabhängigkeiten besser zu verstehen. etwa die drei Beispiele des Strukturwandels, der Seite 09–14 Subventionspolitik und des Zusammenhangs von Betriebsgröße und Umweltschutz. Seite 33–38 PETER H. FEINDT WARUM WANDEL IN DER AGRARPOLITIK SO SCHWIERIG IST ACHIM SPILLER · SARAH IWEALA Die deutsche Landwirtschaftspolitik ist fest ein- IST BIO DIE ZUKUNFT? POLITIK FÜR EINE gebunden in ein komplexes Mehrebenensystem NACHHALTIGERE LANDWIRTSCHAFT zwischen Bund, Ländern und EU. Dies führt zu Die Förderung der ökologischen Landwirtschaft langwierigen Entscheidungsfindungsprozessen ist eine zentrale Säule der Nachhaltigkeitspolitik. und erschwert die Weiterentwicklung von Doch ist der Beitrag des Ökolandbaus zur überholten agrarpolitischen Paradigmen. Nachhaltigkeit keineswegs unumstritten. Welche Seite 15–20 Stärken und Schwächen hat „bio“, und welche begleitenden Instrumente sind notwendig? Seite 39–46 ROLF G. HEINZE BAUERNPROTESTE: SEISMOGRAFEN FÜR TRANSFORMATIONSPROBLEME In den vergangenen Jahren haben Bäuerinnen und Bauern mit spektakulären Protestaktionen wie Sternfahrten mit Traktoren und Blockaden einige Aufmerksamkeit erregt. Was sind die Gründe für ihre Unzufriedenheit, und wo lassen sich die Protestierenden politisch verorten? Seite 21–26
EDITORIAL Landwirtschaft war stets mehr als nur agrarisches Unternehmertum. Sie hat über Jahrhunderte Kulturlandschaften und Gesellschaften geprägt. In den zurück- liegenden Jahrzehnten hat der Agrarsektor einen tiefgreifenden Strukturwandel durchlebt: Gab es 1950 in der Bundesrepublik noch 1,6 Millionen landwirt- schaftliche Betriebe, sind es heute nicht einmal mehr 300 000; entsprechend ist auch die Zahl der in der Landwirtschaft Beschäftigten massiv zurückgegangen. Im selben Zeitraum ist die durchschnittliche Betriebsgröße, gemessen an der bewirtschafteten Fläche, stark gewachsen, und der technologische Fortschritt hat enorme Produktivitätssteigerungen ermöglicht. Was der Gesellschaft insgesamt Ernährungssicherheit und Prosperität brachte, schlug sich im ländlichen Raum vielfach als „Höfesterben“ und im Ver- lust gewachsener dörflicher Lebensweisen nieder. Auch zeigen sich die negativen ökologischen Auswirkungen der intensiven Landnutzung immer deutlicher. So sehen sich Landwirtinnen und Landwirte heute nicht nur mit einem Verlust an Einfluss und Wertschätzung für ihre Branche konfrontiert, sondern zugleich mit gewachsenen Ansprüchen: Landwirtschaftliche Erzeugnisse sollen für alle ausreichend und preiswert sein, aber auch ökologisch nachhaltig und ethisch einwandfrei produziert. Gleichzeitig ist es vielen Bäuerinnen und Bauern kaum mehr möglich, ihre Höfe ohne Subventionen profitabel zu bewirtschaften. Die 2020 von der Bundesregierung eingesetzte „Zukunftskommission Land- wirtschaft“ hat die erforderliche Transformation hin zu mehr Umwelt- und Klimaverträglichkeit in ihrem Abschlussbericht 2021 als „gesamtgesellschaftli- che Aufgabe“ bezeichnet, mit der die landwirtschaftlichen Betriebe nicht allein- gelassen werden dürften. Unter anderem sei die Agrar- und Ernährungspolitik auf nationaler und europäischer Ebene gefordert, entsprechende Anreize zu setzen. Aber auch die Verbraucherinnen und Verbraucher können durch Konsu- mentscheidungen für weniger tierische Produkte einen Beitrag leisten. Johannes Piepenbrink 03
APuZ 15–17/2022 ESSAY DIE WELT IN DEN DÖRFERN UND DIE DÖRFER IN UNS Uta Ruge Meine Großmütter wuchsen an der Ostseeküs- rapeuten, Optikerinnen und eine Reinigung – wenn te auf. Sie waren keine Bauernmädchen, doch die man Glück hat, sogar eine Poststation im Super- Männer, in die sie sich verliebten, hatten Landwirt- markt. In den Dörfern stehen Autos für die tägli- schaft gelernt und erbten die Höfe ihrer Väter. Die chen Wege bereit, die man fahren muss, wenn man Väter der beiden jungen Frauen waren dagegen bei auf dem Land lebt. Große Bau- und Möbelmärk- der Kaiserlichen Marine zur See gefahren und hat- te samt Zentrallager dieser oder jener Auslieferung ten nach ihrem Dienst auf den Weltmeeren siche- sind zwischen den Dörfern aufs freie Feld gebaut, re Posten als Marinebeamte auf Rügen bekommen. wo sie, wie wir aus den Zugfenstern sehen können, Der eine wurde zum Lotsen der Postschiffe zwi- gänzlich unverbunden mit der Landschaft stehen, schen Ystad und Stralsund, der andere Chef des um sie herum riesige, asphaltierte Parkplätze. Selbst Leuchtfeuers und der Schiffsrettungs- und mete- die Dörfer haben keine so enge Verbindung mehr orologischen Station auf Kap Arkona. Marie, die mit dem Land. Denn die wenigen Landwirte, die Tochter des Leuchtturmchefs, heiratete den tuber- es noch gibt, haben ihre Höfe selten noch im Dorf, kulosekranken Bauern Otto, der einen einsam ge- vielmehr leben sie mit ihren Familien auf den in die legenen Hof südlich vom Kap am Nobbiner Hoch Felder ausgesiedelten Höfen. Und womöglich wird ufer besaß. Die Lotsentochter Friede wurde sich ein großer Teil der landwirtschaftlichen Flächen, die einig mit Waldemar, einem gut ausgebildeten Land- wir vom Zug aus sehen, von privaten Großgrund- wirt aus Breege, einem nahe der Lotsenstation ge- besitzern oder Agrarholdings bewirtschaftet, de- legenen Dorf. Friede und Marie mussten sich in die ren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Dör- Rolle der Bauersfrauen erst hineinfinden. Ihre vier, fern und Marktflecken der Umgebung leben – wenn respektive drei Kinder wuchsen auf mit mütterli- sie nicht als Saisonkräfte ohnehin aus dem Ausland chen Erzählungen von der Seefahrt und dem väter- kommen und in Containerdörfern irgendwo am lichen Wissen vom Ackerbau, nur eine der vielen Feld- oder Waldrand wohnen. besonderen Mischungen aus Welt und Dorf. Früher bestanden ganze Dörfer aus Bauern, In unseren Köpfen leben Dörfer meist nur als Winzern oder Fischern, und auch die zu ihnen ge- Orte der Vergangenheit. Und sie sind von eher sim- hörigen Handwerker, die Maurer und Zimmerleu- pler Art, großväterlich-patriarchale Lebenswelten te, Schlachter und Schneider, selbst die Kaufleu- voller Menschen, Tiere und Geschichten, wo alles te und der Lehrer hielten auf kleinen Feldstücken einen Vornamen hat, vor allem Kühe und Pferde. und in kleinen Ställen noch ein bisschen Vieh und Die real existierenden Dörfer liegen für die meis- bauten Gemüse an – vielmehr waren es natürlich ten von uns in jenen Landschaften, durch die wir ihre Frauen und Töchter, Schwestern und Nichten, mit Zug oder Auto hindurchfahren. Von ferne zei- Großmütter und Mägde, die diese Arbeit machten. gen Kirchtürme sie an, eine Schule und einen Kin- Was uns so hübsche Bilder in die Köpfe zaubert, dergarten aber gibt es, sieht man näher hin, nur noch wurde jahrhundertelang geschaffen, gepflegt und in jeder vierten oder fünften Ortschaft. Noch wei- aufrechterhalten durch wenig beachtete und sowie- ter entfernt sind Rat- und Krankenhäuser, manch- so unbezahlte Frauenarbeit. Inzwischen sind – in mal fast 100 Kilometer weit. Ladengeschäfte für die ganz Europa – ehemals landwirtschaftlich geprägte Dinge des täglichen Bedarfs liegen fast nie mehr in Dörfer entvölkert und entkernt. Global wirkende Fuß- oder Fahrradnähe, sondern erst in 10 oder 15 Industrialisierungswellen und Konzentrationspro- Kilometer entfernten Marktflecken. In denen gibt es zesse plus viel Landwirtschafts- und Kommunalre- dann auch Arztpraxen und Apotheken, Physiothe- formen haben den größten Teil der ländlichen Sied- 04
Landwirtschaft APuZ lungen zu Schlaf- und Freizeitdörfern gemacht. In de“ sagte man schon nicht mehr) sinnvoll auftei- diesen Veränderungszusammenhang gehört auch len können –, wie ihre Männer es mit den heran- die Befreiung der Frauen von den sozialen Rollen, wachsenden Söhnen und Landarbeitern machten. die Familie und Dorf ihnen zuwiesen. Selbst der kleinere der beiden Höfe war über die Dörfer haben immer ganz wesentlich daraus reine Subsistenzwirtschaft hinaus; man hatte Mit- gelebt, dass eine Handvoll Familien viele Genera- arbeiter und Mitarbeiterinnen und verkaufte, was tionen lang miteinander verbunden waren – durch nicht selbst gebraucht wurde – Getreide, Rüben, Heiraten und die Geschichten, die sie einander Kartoffeln und ab und zu ein Schwein. Der eige- und über sich selbst erzählten. Diese enggeknüpf- ne Speisezettel wurde bereichert durch Wild und ten Netze aus Erzählung und Gegenerzählung Fisch, den die Schwiegermütter so gut zubereiten tragen die Prägung, den Geschmack und Geruch konnten, was die jungen Bäuerinnen jetzt von ih- der Regionen in sich – Gerüche nach Fischen, nen lernen mussten. Das gehörte ebenso zu ihrer nach Roggenfeldern oder Rotweinmaische –, sie Rolle wie im schönen Ostseesommer das Vermie- sind Ausdruck des Selbstbildes ihrer Einwohner, ten der Kinderzimmer an Feriengäste. Nach No- ihres Stolzes wie ihrer Vorurteile, ihres Grimms bbin kamen, davon künden alte Fotoalben, viele und ihrer Trauer. Die Arbeitswelt der Bauern und Jahre zwei Lehrerinnen aus Leipzig – und so er- Bäuerinnen ist weitgehend eine mündliche Kultur fuhr man hier auch etwas aus der Welt einer gro- geblieben. Als in den 1960er Jahren eine Zeit lang ßen Handelsstadt. die industrielle Arbeitswelt als Gegenstand von Die Inflation der 1920er Jahre war auch für das Literatur diskursfähig wurde, blieb die bäuerliche Leben auf dem Land einschneidend: Da reichte zu- Gesellschaft ohne Stimme. Um die aktuelle Land- nächst nach einem Brand auf dem Hof am Hochu- wirtschaft kümmerte sich inzwischen „Brüssel“, fer die ausgezahlte Versicherungssumme nur noch und den historischen Gegenständen wurden liebe- für Fenster- und Türrahmen, und in Breege kauf- voll-nostalgisch Plätze eingeräumt in Museums- te Waldemar für den Gegenwert der gesamten Wei- dörfern aus traditionellen Haus- und Stallbauten, zenernte umgehend eine Ferienpension am nahege- Mistforken und Schubkarren. Die Erzählungen legenen Ostseestrand. Dort etablierte sich Friede ihrer Binnenwelten blieben bei denen, die weiter als Hausmutter, während ihr Mann einen großen Landwirtschaft, Fischerei, Winzerei betrieben. Teil der Ländereien verpachtete und auf bessere Zeiten hoffte. Er hatte ja, wie Friede einmal mo- * kant bemerkte, „Gutsbesitzer gelernt“. Tatsäch- lich arbeiteten gut situierte Landwirte wie mein Nach dem Ersten Weltkrieg war der verlorene Großvater Waldemar nach ihrer Ausbildung und Krieg das eine, das männliche Narrativ. Das ande- bis zum Antreten des Erbes meist als Wirtschaf- re war eines vom Zuwachs weiblicher Wirksam- ter auf pommerschen Gütern. Nach ihrer Lehre, keit – auch in der Landwirtschaft. Es wurde in der der Elevenzeit, machten sie nie mehr eigenhändig neuen Republik zunehmend als in Ordnung be- die zahllosen Arbeiten selber, sondern sie teilten sie funden, dass die Frauen nicht mehr nur die Frau- ein – das morgenfrühe Füttern der Arbeitspferde, en der Bauern oder auch der Maurer und Zim- Anspannen und Pflügen und Eggen, das Melken merleute, Schlachter, Schneider und Kaufleute und Wegbringen der Milch zur Molkerei. Aber mit und Lehrer sein wollten. Dass sie nicht nur lesen, dem Aufkommen der Arbeiterbewegung und ei- schreiben und rechnen lernten, sondern auch eine nes neuen Klassenbewusstseins verschwanden aus Ausbildung machten und einen Beruf ergriffen. den Dörfern jene Landarbeiter und -arbeiterinnen, Meine Großmütter waren zum Zeitpunkt der die über Generationen für die schmutzigen und Revolution von 1918 aber schon 32 und 21 Jahre schweren Tätigkeiten, ohne Wochenenden und bei alt, beide verheiratet und Mütter. Zwar hatten sie schlechter Bezahlung, zuständig gewesen waren. auf den „Töchterschulen“ ihrer Zeit das Haushal- Die Inflation untergrub jedoch nicht nur al- ten und Schlachten, das Wurstmachen und Gärt- lerorten die Wirtschaft, sondern auch familiäre nern für den Hausgebrauch gelernt, Kochen und und nachbarschaftliche Beziehungen. So musste Nähen sowieso. Jetzt jedoch saßen sie als Bauers- etwa Marie feststellen, dass der Nachbar, der ihr, frauen auf den Höfen ihrer Männer fest und muss- während ihr tuberkulosekranker Otto im Kran- ten die anfallende Arbeit bald unter ihren Töchtern kenhaus war, so hilfreich bei der Getreideernte und auch ein oder zwei Landmädchen („Mäg- beistand, viele Fuder in die eigene Scheune fuhr. 05
APuZ 15–17/2022 Bald war der kleine Hof am Hochufer bankrott – mit ein paar Familien in den Nachbardörfern ver- und immer mehr Landwirte traten in jene Partei heirateten und verschwägerten. Töchter und Söh- ein, die den von Zwangsversteigerungen gequäl- ne wechselten vom elterlichen auf den schwieger- ten Landwirten eine dramatische Besserung ihrer elterlichen Hof. In den Kirchenbüchern sind nicht Lage versprachen, die damals auf Rügen noch so wenige frühe Tode verzeichnet – durch Arbeitsun- genannte Hitler-Partei. fälle, Ertrinken in den Entwässerungskanälen oder Die furchtbare Geschichte, die daraus folgte, auch durch Krankheiten wie Rheuma, Pocken und und ihr furchtbares Ende sind bekannt. Nachzu- Marschenfieber (eine europäische Form der Mala- tragen ist, was auf familiärer Ebene geschah: Ma- ria); für die Frauen kamen Tode im Kindbett hinzu. ries Otto starb 1945 an Tuberkulose, sie selbst So wurden auch viele zweite und selbst dritte Ehen lebte noch zehn Jahre als Leiterin einer Großkü- eingegangen, die Höfe brauchten beide, Mann und che in der DDR, bis sie als Rentnerin legal in den Frau – und dazu noch lange viele Kinder als Ar- Westen gehen konnte. Waldemar und Friede wur- beitskräfte. Alle waren eingespannt in die täglichen, den als NSDAP-Mitglieder und „Kulaken“ von nie endenden Arbeiten, das Torfstechen und -um- der sowjetischen Besatzungsmacht enteignet. Die schichten, Schafescheren, Heumachen und Mist- folgende Generation, meine Eltern also, bewirt- ausbringen. Sobald neben den Schafen auch Horn- schafteten noch ein paar Jahre lang als „Neubau- vieh in den Mooren gehalten werden konnte – das ern“ einen kleinen Hof, der sich der Kampagne man wegen der größeren Mengen von Dung und „Junkerland in Bauernhand“ verdankte. Das da- ihrer Kraft als Spannvieh schätzte –, wurde auch das rauffolgende „Vom Ich zum Wir“ erzwang ein tägliche Melken und wöchentliche Buttern ein Teil kollektives Wirtschaften auch in der Landwirt- der besonders von Frauen geleisteten Arbeit. Den schaft. 1953 verließen sie die DDR und gingen il- Männern blieb das Pflügen und Eggen, Einsäen und legal über die Grenze in den Westen. Ernten – sobald der Boden dann ackerfähig war. Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts * machten sich auch in den niedersächsischen Moor- dörfern langsam Unterschiede bemerkbar. Seit sie Das Dorf, in dem sie sich niederließen und in dem die Höfe besaßen, konnten die Bauern Land kau- ich aufwuchs, war eine 1783 im Hannoverschen fen und verkaufen. Es gab zunehmend die größe- gegründete Moorkolonie in der Nähe der Elbmün- ren und die kleineren Betriebe und gut ausgebil- dung. Als wir dort in den 1950er Jahren ankamen, dete Landwirte. Aber viele gaben auch auf, gingen gab es neben Dorfschullehrer und Kneipenwirt nach Übersee und versuchten ihr Glück in Ame- nur Bauern. Einst waren hier auf 19 exakt gleich- rika. Besonders nach New York hatte es seit den großen Stellen Erbpächter eingesetzt worden. Ihre 1880er Jahren aus den nordhannoverschen Dör- vom Kurfürsten – dem damaligen britischen König fern eine starke Auswanderung gegeben. Ein- Georg III. – befohlene und beförderte Arbeit war drucksvolle Erzählungen vom Abfahren und An- die Urbarmachung der Moore, einer bisher brach- kommen wurden Teil der dörflichen Tradition, liegenden Landschaft. Das Moor sollte nicht nur und mancher Dollar hat hiesigen Wirtschaften zur Produktion von dringend benötigten Lebens- zum Aufschwung verholfen. Immer wieder kehr- mitteln beitragen, sondern auch zur Ansiedlung ei- ten Auswanderer und Auswanderinnen zurück – ner Bevölkerung, die der Obrigkeit sonst davon- und waren wegen ihrer amerikanischen Erspar- laufen würde – aus Angst vor Armut, Hunger und nisse auf dem lokalen Heiratsmarkt begehrt. Militärdienst. Innerhalb von 200 Jahren gelang den In der Weimarer Republik demokratisierte sich Bauernfamilien in größter Armut langsam und die seit Kaisers Zeiten auch für Frauen entwickelte mühselig die Entwässerung des tief liegenden Lan- landwirtschaftliche Ausbildung. Während einfache des und eine gewisse Selbstversorgung. In der Mit- Landmädchen damals höchstens durch Haushalts- te des 19. Jahrhunderts wurden sie durch die Bau- schulen und Dienstmädchenjahre ein Leben außer- ernbefreiung sogar zu selbständigen Hofbesitzern halb der elterlichen Höfe kennenlernten, konnten – wenn auch hochverschuldet von Anfang an, denn sich Absolventinnen höherer Schulstufen, meist die Ablösung haben sich die Grundherren, Adel, Gutsbesitzertöchter und Landadlige, landwirt- Staat und Kirche, teuer bezahlen lassen. schaftlich ausbilden lassen. Als 1933 die NS-Regie- Auch hier hatte sich die Substanz des Dorfes rung sämtliche Organisationen der Landwirtschaft aus Familien entwickelt, die sich untereinander und in den Reichsnährstand zwangen, wurde die Aus- 06
Landwirtschaft APuZ bildung der Frauen ebenfalls gleichgeschaltet. Die det. Land- und Forstarbeit galt als Strafe für die, Landmädchen der Bund-Deutscher-Mädel-Ge- die nichts weiter konnten und wollten. neration – wie etwa meine Mutter – lernten unter In den Dörfern des Westens lockten die wirt- dem Zeichen von Ähre und Hakenkreuz und mit schaftlich erstarkenden Städte die Menschen vom aggressiver Blut-und-Boden-Begleitung das Fach Lande fort und zu neuen, sicheren und womög- Landwirtschaftliche Hauswirtschaft. Trotz der lich sauberen Arbeitsplätzen. Einheimische und Durchtränkung ihres Alltags mit toxischer Ideo- Flüchtlinge, deren hohe Zahl die Dörfer eine Zeit- logie war es doch eine gründliche Ausbildung in lang hatte anschwellen lassen, zogen weg. Ein all jenen weiblichen Tätigkeiten, in denen Bauers- paar Jahre hatten Flüchtlinge, und vor allem wie- frauen traditionell gearbeitet hatten – oder hatten der Frauen, bei saisonalen Arbeiten gegen klei- arbeiten lassen. Das reichte vom Kochen und Ba- nen Lohn ausgeholfen, bei Aussaat und Ernte, cken über Gemüseanbau und -verarbeitung zum beim Schlachten und Rupfen des Geflügels, beim Schlachten und Verwerten von Kleinvieh ebenso Schweineschlachten und Wurstmachen. Aber bald wie zum Stricken und Weben und hörte auch mit waren auch sie gegangen. Auf den Feldern, in Stall Milchverarbeitung und Bienenzucht noch nicht und Küche brach die Zeit der Maschinen an – auf; Kranken-, Säuglings- und Altenpflege wa- Traktoren, Ernte- und Sämaschinen, Staubsauger, ren ebenfalls auf dem Plan. So geschah es, dass die Wasch- und Küchenmaschinen ersetzten immer Landmädchen unserer Müttergeneration oft die mehr die tierische und menschliche Arbeitskraft. gut ausgebildeten Wirtschafterinnen auf jenen gro- Auf den Dörfern wurden die Menschen noch ßen Höfen und Gütern waren, die nach dem Ende ein wenig knapper, vor allem die Frauen. Das Hei- des Zweiten Weltkriegs untergingen – und in der raten gestaltete sich zwar wie eh und je nach der DDR als Landwirtschaftliche Produktionsgenos- Faustregel: Grot to Grot und Lütt to Lütt (Groß senschaften (LPG) wieder auferstanden. zu Groß und Klein zu Klein). Aber manchmal Von der Landwirtschaft hatten nach dem Zwei- heiratete ein gar nicht so kleiner Bauer doch lieber ten Weltkrieg, so sieht es aus, die meisten Frauen al- ein Flüchtlingsmädchen, bevor er selbst allein und lerdings genug. Anfangs warteten sie vielleicht noch sein Hof ohne Zukunft blieb. Tatsächlich wurden darauf, dass die Männer aus der Gefangenschaft die Ausbildungs- und Heiratsentscheidungen der zurückkehrten. Der Schwarzmarkt für Kartoffeln Landmädchen zu einem immer wichtigeren Ele- und Eier, Fleisch und Butter bot kurze Zeit einen ment für die Fortführung bäuerlicher Betriebe. Nebenverdienst. Bald aber wurden im Osten durch den „Sozialismus auf dem Lande“ die Dörfer voll- * kommen umgestaltet. Während die „Altbauern“ massenhaft in den Westen flohen, entstanden an Das Element der Zukunftslosigkeit in der Land- den Ortsrändern bald Plattenbauten, in denen vor wirtschaft wird heute brutal medial verwertet allem jene unterkamen, die hier „Umsiedler“ hie- und in der Fernsehshow „Bauer sucht Frau“ auf ßen und aus den inzwischen polnischen Gebieten schamlose Weise lächerlich gemacht. Ernsthaft stammten. Für sie gab es zunehmend Arbeitsplätze analysiert hat die Frage der Ehelosigkeit von Bau- mit geregelten Arbeitszeiten in den LPG-Schwei- ern schon früh – seit den 1960er Jahren – einer der nezucht-, Melk- und Fischereibetrieben. Insgesamt ganz Großen der Sozialwissenschaft, Pierre Bour- richtete sich die Energie der meisten Menschen je- dieu. In dem Bändchen „Junggesellenball – Studi- doch bald auf den Ausbau kleiner Gänse- und Ka- en zum Niedergang der bäuerlichen Gesellschaft“ ninchenställe für eine gut bezahlte Fleischproduk- wurden seine vier Jahrzehnte umfassenden Studi- tion im Nebenerwerb sowie auch – auf Rügen und en 2008 postum herausgegeben. In ihnen wird der wohl überall in Küstennähe – auf die Pflege jener dramatische Bedeutungsverlust der agrarischen Zimmer und Hütten, die über den Freien Deut- Lebensweise nachgezeichnet und die soziale Ent- schen Gewerkschaftsbund an ganze Betriebe zum wertung aufgezeigt, die zunehmend all jene Men- Ferienmachen vermietet werden konnten. Der ehe- schen traf, die ihr Leben mit dem Anbau von Ge- malige Hof am Hochufer etwa diente viele Jah- treide und der Aufzucht von Vieh verbringen. re als Sommerdomizil des Dresdner Kreuzchores. In den 1950er und 1960er Jahren hielt das Er- Die landwirtschaftlichen Betriebsfunktionäre wa- zählen in den Dörfern noch an. Kaum jemand ren gut qualifiziert, aber wer vor Ort die schwe- hatte schon einen Fernsehapparat im Haus, der re Arbeit machte, war immer schlechter ausgebil- die Familien- und Dorferzählungen in den Hin- 07
APuZ 15–17/2022 tergrund hätte drängen können. Man traf sich mehr hat sie es zu großen Teilen dem Weltmarkt weiterhin bei Schützen- und Erntefesten, Hoch- preisgegeben und fordert gleichzeitig eine ökolo- zeiten, Kindstaufen und Beerdigungen, erzähl- gische Nachhaltigkeit, die sich mit niedrigen Er- te einander von den neuen Maschinen oder von zeugerpreisen immer schlechter verträgt. Ob die den nahegelegenen Häfen, in denen immer mehr jungen Bauern von heute ihren Eltern noch ein Landwirte zusätzlich zu arbeiten begannen. Die Altenteil werden bieten können, ist in vielen Fäl- Frauen sprachen von demnächst stattfindenden len fraglich geworden, und die Alten mögen mit Hochzeiten und hofften auf Schwangerschaften – heimlichem Kummer auf die inzwischen auch auf oder fürchteten sie. Und manchmal spottete einer dem Land aus dem Boden schießenden Altershei- über die Junggesellen des Dorfes – aber nur leise, me schauen. Denn dort werden sie einmal gepflegt denn immer öfter fand jemand keine Frau mehr, werden, wenn es keine Schwiegertöchter mehr gibt. die das schwere Leben als Bäuerin auf sich neh- Nur die Nicht-mehr-Landwirte wohnen ger- men wollte. Und dann verließ auch die Jugend die ne wieder in den Dörfern. Ihre Kinder und Enkel Dörfer. Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten bauen Häuser auf familieneigenem Land, alltäg- eröffneten ihnen neu entstehende Berufe im land- lich steigen sie in ihre Autos, um auf zwar langen, wirtschaftlichen Feld. Für junge Männer waren aber fein asphaltierten Wegen zur Arbeit zu fah- Landmaschinenschlosser oder Besamungstechni- ren. Die Aufrechterhaltung der Dorftraditionen ker interessant, junge Frauen lernten Kindergärt- ist ihnen oft kein Anliegen mehr. Die Wiederver- nerin, Altenpflegerin oder Wirtschafterin – Beru- nässung der Moore – für niedersächsische Moor- fe, die ihre Mütter noch als Teil ihrer unbezahlten bauern ein emotional unerträgliches Ansinnen Familienarbeit begriffen hatten. Jetzt konnte man und eine Existenzbedrohung ihrer Höfe – scheint mit diesen Fertigkeiten auch zu sauberen Arbeits- jenen eine eher angenehme Aussicht, sie wird den plätzen mit normalen Arbeitszeiten kommen. Freizeitwert der Dörfer erhöhen. Als es im Osten mit dem Sozialismus auf dem Lande – und im ganzen Land – vorbei war, entlie- * ßen die alten LPGs den größten Teil ihrer Arbei- ter und Arbeiterinnen. Sie selbst hatten im Laufe Seit der Zeit meiner Großmütter und nach dem Zer- von Jahrzehnten den Landbesitz vergrößert. Jetzt reißen der Erzählfäden durch Kriege und Verluste bildeten sich neue Gesellschaften verschiedener aller Art, nach Sozialismus, Wende und Weltmarkt Rechtsformen, Investoren aus dem Westen über- sind neue Erzählungen entstanden, neue Identitäten nahmen die Produktion. Auf den riesigen Flä- in den Dörfern. Sind die Bauern, wenn schon nicht chen – wir können sie vom Zug- und Autofenster mehr ihr Kern, überhaupt noch ein Teil davon? aus besonders in Brandenburg und Mecklenburg- Oder sind ohnehin alle Erzählbezüge versunken – Vorpommern sehen – beschäftigen sie nur noch in dem Gefühl, nicht mehr aufeinander angewiesen wenige Menschen, dafür aber große Maschinen. zu sein, wie es die Bauern sowohl bei Haus- und In der Schweinezucht und beim Melken mussten Stallbauten als auch an langen Erntetagen waren – sie nur die Ställe mit ihren mehreren hundert oder und immer noch sind? Haben die sogenannten so- tausend Kopf Vieh modernisieren. Die Nach- zialen Medien unsere wahre Gesellschaftlichkeit kommen mancher Altbesitzer zogen mit ihren und das Empfinden für sie vollkommen ersetzt? Familien wieder in die alten, mit viel Aufwand Schon Bourdieu schrieb von einer Folklorisierung und Geld neu hergerichteten Herrenhäuser – und der Bauern, „die die Bauernschaft ins Museum ab- dann wird ums Haus herum gerne mit einer klei- schiebt und die verbliebenen Bauern zu Hütern der nen Biolandwirtschaft experimentiert.1 in eine Landschaft für Städter verwandelten Natur In West und Ost bewirtschaften weniger Land- macht“.01 Eine von oben verordnete Agrarwende wirte und Landwirtinnen wesentlich mehr Fläche wird, so scheint mir, diese Tendenz nur verstärken. als ihre Eltern und Großeltern. Sie mästen mehr Tiere, melken mehr Kühe, um von den zumeist UTA RUGE sinkenden Erzeugerpreisen noch leben zu können. ist freie Autorin und Lektorin. Ihr Buch „Bauern, Die EU schützt ihr Einkommen nicht mehr, viel- Land – Die Geschichte meines Dorfes im Weltzu- sammenhang“ (München 2020) war 2021 für den 01 Pierre Bourdieu, Junggesellenball – Studien zum Nieder- Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. gang der bäuerlichen Gesellschaft, Konstanz 2008, S. 248. uta@uta-ruge.de 08
Landwirtschaft APuZ EIN DURCHAUS EIGENWILLIGES GEWERBE Kurze Geschichte der Landwirtschaft in Deutschland Frank Uekötter Es wäre alles ganz einfach, wenn Albrecht Da- fen, gegenwärtige Probleme als Resultat einer un- niel Thaer Recht gehabt hätte. „Die Landwirth- bewältigten Vergangenheit zu verstehen. schaft ist ein Gewerbe, welches zum Zweck hat, durch Produktion (zuweilen auch durch fernere MALTHUS’ ERBE Bearbeitung) vegetabilischer und thierischer Sub- stanzen Gewinn zu erzeugen oder Geld zu er- Während Thaer in Celle und Möglin nach rati- werben“, begann er seine „Grundsäze der ratio- onellen Wegen der Landbewirtschaftung such- nellen Landwirtschaft“ von 1810. 01 Hell strahlte te, schrieb der britische Ökonom Thomas Robert das Licht der Aufklärung, rationelles Wirtschaf- Malthus seine berühmten Warnungen vor Überbe- ten tat not, und Thaer sprach mit der Autorität völkerung. Seit mehr als zwei Jahrhunderten leben des vielleicht wichtigsten deutschen Agrarwis- moderne Gesellschaften deshalb mit der Vision ei- senschaftlers seiner Zeit. Er hatte sich mit einem ner Bevölkerung, die schneller wächst als die Nah- Versuchsgut bei Celle einen Namen gemacht und rungsmittelproduktion und darob ins Verderben bewirtschaftete auf Wunsch Preußens seit 1804 voranschreitet, und man kann die zwischenzeitlich das Rittergut Möglin bei Freienwalde, das als gewonnenen Erfahrungen recht einfach zusam- Landwirtschaftliche Akademie zum Vorbild für menfassen: Im Prinzip lässt sich mit dieser Visi- weitere Lehr- und Forschungsanstalten wurde, on ziemlich gut leben. Die Nahrungsmittel gingen die teilweise – so etwa in Weihenstephan und Ho- der Menschheit nicht aus, und längst konzentrieren henheim – bis heute existieren. Thaer machte frei- sich die Sorgen der Ernährungsforscher eher auf lich eine Erfahrung, die Universitätsdozenten öf- das Überangebot: Weltweit ist die Zahl der Über- ters widerfährt: Was im Prinzip ganz einfach war, gewichtigen heute größer ist als die der Hungern- wurde in der Praxis schrecklich kompliziert. den.02 Seit der Transportrevolution des 19. Jahr- Zwei Jahrhunderte nach Thaer lagert über der hunderts waren Missernten keine existenzielle Landwirtschaft ein dichtes Netz von politischen Bedrohung mehr, denn stets gab es Nahrungsmit- Verpflichtungen, sozialen Erwartungen und öko- telreserven, die in die betroffenen Regionen gelie- nomischen Regeln, in der Träume vom freien Un- fert werden konnten. Entscheidend war der Wille: ternehmertum rasch verblassen. Es gibt mehr als Entscheidungsträger konnten solche Lieferungen einen Grund, das moralisch zu kritisieren, aber aus Kalkül unterbinden oder durch Inkompetenz damit kommt man nicht weit: Wohlfeile Empö- verhindern – damit hing letztlich alles an Fragen rung prallt an den Systemzwängen der heutigen der politischen Verantwortung. Der Wirtschaftsno- Ernährungswirtschaft folgenlos ab. Die landwirt- belpreisträger Amartya Sen wurde für die These schaftliche Praxis ist in mehrfacher Hinsicht von berühmt, dass es noch keine Hungersnot in einer Pfadabhängigkeiten geprägt, die gerade dadurch funktionierenden Demokratie gegeben habe.03 ihre Wirkung entfalten, dass sie seit Jahrzehnten Aus diesem Blickwinkel ist die Geschichte der zu den unausgesprochenen Grundlagen politi- modernen Landwirtschaft eine grandiose Erfolgs- scher und betriebswirtschaftlicher Entscheidun- geschichte. Nicht nur in Deutschland gibt es ein gen zählen. Der Weg in die Geschichte muss des- reichhaltiges Angebot günstiger Lebensmittel, und halb nicht zwangsläufig in jenes vorindustrielle das ist welthistorisch gesehen eine Ausnahmesitu- Idyll führen, das heute in zahlreichen Bauernhof- ation. „Jahrhundertelang brechen mit solcher Re- museen zu besichtigen ist. Vielmehr kann er hel- gelmäßigkeit Hungersnöte aus, daß sie in den Le- 09
APuZ 15–17/2022 bensrhythmus der Menschen eingehen und mit zu fetischismus der agrarischen Wissensgesellschaft den Strukturen ihres Alltags zählen“, schrieb der auf jeder Landwirtschaftsmesse besichtigen. Die Historiker Fernand Braudel.04 Dahinter steckte Leistungsdaten der Nutztiere werden so selbstver- ein umfassender Wandel der Produktionsverfah- ständlich präsentiert, dass sich nur der Laie noch ren, der Hektarerträge und tierische Leistungen in wundert, wie viele Zahlen in eine Kuh passen. Es völlig neuartige Höhen wachsen ließ und zugleich gibt in der deutschen Landwirtschaft jedoch wei- eine hohe Qualität und Versorgungssicherheit ga- terhin Dinge, die sich einer nüchternen kalkulato- rantierte. Ein Mensch des Mittelalters würde die rischen Betrachtung entziehen. Das gilt zum Bei- heutigen Debatten über die Probleme der Land- spiel für die Frage, wer den Hof übernimmt, wenn wirtschaft mit ungläubigem Staunen verfolgen: die Kräfte des Betriebsleiters nachlassen. Seid Ihr sicher, dass Ihr Probleme habt?1234 Das Gespenst des Malthusianismus geht trotz- ES LEBE DER HOF dem weiter um, denn es wird gebraucht. Seit dem Zweiten Weltkrieg wächst die Bevölkerung vor Landwirtschaft ist in Deutschland Bauernsache. allem in den Ländern des Globalen Südens, und Die Berufsvertretung der Agrarproduzenten heißt deshalb ist Überbevölkerung ein beliebtes Thema Deutscher Bauernverband, und wer das für eine bei all jenen, die in Umweltdebatten von der über- unzeitgemäße Bezeichnung hält, wird schwer- wältigenden Verantwortung der Industrieländer lich einen Verbandsvertreter finden, der die Argu- ablenken wollen. Agrarlobbyisten verweisen auf mente hören möchte. Im betrieblichen Alltag sind die weiterhin wachsende Weltbevölkerung und Landwirte längst Teamplayer, die ihren Boden in verbinden das mit Warnungen vor ökologischen enger Abstimmung mit agrartechnischen Dienst- Experimenten: Die Welt braucht Lebensmittel, leistern und allerlei Aufsehern und Beratern be- und wir können sie auch produzieren, sofern uns wirtschaften. Die funktionale Ausdifferenzierung nicht sentimentale Menschen dazwischenfunken. von Berufsfeldern und Aufgabenprofilen steht je- Malthus markiert auch den Auftakt einer Moder- doch neben einem Begriff, der eine Einheit von ne, die sich mit Agrarfragen am liebsten in statis- beruflicher und lebensweltlicher Existenz sugge- tischer Form beschäftigte. Die Agrarhistorike- riert, die wie ein archaischer Überrest in den glo- rin Deborah Fitzgerald hat darauf hingewiesen, balen Kasinokapitalismus des 21. Jahrhunderts hi- dass Zahlen und nicht Narrative die bestimmende neinragt. Bauer ist man lebenslänglich. Sprache agrarischen Wissens wurden. 05 In der Agrargeschichte der Frühen Neuzeit ist Vor 100 Jahren zerbrachen sich Universitäts- die bäuerliche Familienwirtschaft eine von zwei dozenten noch die Köpfe, wie man die Bauern zur dominanten Betriebsformen. Sie stand in Kon- Buchführung animieren könnte und was überhaupt kurrenz zur Gutswirtschaft der Rittergutsbesit- die Zahlen waren, die für ordentliches Wirtschaften zer (Junker), die vor allem östlich der Elbe florier- entscheidend waren.06 Heute lässt sich der Zahlen- te, nicht selten auf Kosten bäuerlicher Existenzen. Man sprach von „Bauernlegen“, wenn Menschen zum Verkauf oder zur Aufgabe ihres Hofes ge- 01 Albrecht Daniel Thaer, Thaer’s Grundsäze der rationellen zwungen wurden und dem Arbeitskräftereservoir Landwirthschaft in einem für das Bedürfniß und die Verhältnisse eines Gutsbetriebs einverleibt wurden. Die Junker der Schweiz und des südlichen Deutschlands eingerichteten vollständigen Auszuge, Frauenfeld 1810, S. 1. waren in der deutschen Geschichte ein Bollwerk 02 Vgl. Majid Ezzati et al., Trends in Adult Body-Mass Index in gegen Demokratisierung und Rechtsstaatlichkeit, 200 Countries from 1975 to 2014. A Pooled Analysis of 1698 bis sie nach 1945 mit den Enteignungen in der so Population-Based Measurement Studies with 19.2 Million Partici- wjetischen Besatzungszone sang- und klanglos als pants, in: The Lancet 387/2016, S. 1377–1396. soziale Formation verschwanden. Wenn man be- 03 Vgl. Amartya Sen, Development as Freedom, Oxford 1999, S. 16. denkt, dass nach beiden Weltkriegen über eine Bo- 04 Fernand Braudel, Sozialgeschichte des 15.–18. Jahrhun- denreform diskutiert worden war und in der Wei- derts, Bd. 1: Der Alltag, München 1985, S. 68. marer Republik sogar ein Volksentscheid über die 05 Vgl. Deborah Fitzgerald, Every Farm a Factory. The Industri- Fürstenenteignung abgehalten wurde, waren die al Ideal in American Agriculture, New Haven 2003, S. 35. alten Eliten mit diesem Abgang noch ganz gut be- 06 Vgl. dazu etwa Juri Auderset/Peter Moser, Die Agrarfrage in der Industriegesellschaft. Wissenskulturen, Machtverhältnisse dient. Dass gegen die Folgen der sowjetischen Bo- und natürliche Ressourcen in der agrarisch-industriellen Wis- denreform nach der Wiedervereinigung Entschä- sensgesellschaft (1850–1950), Köln 2018, S. 49–102. digungsklagen lanciert wurden, war im Grunde 10
Landwirtschaft APuZ genommen ein Treppenwitz der deutschen Ge- wirt“ weiterhin im Handel ist und seit der 18. Auf- schichte, der wohl nur der Amnesie einer umfas- lage von 2018 ohne geschlechtliche Spezifizierung send urbanisierten Gesellschaft geschuldet war. In „junge Landwirte“ anspricht – freilich mit einem der vergangenen Welt der bäuerlichen Landwirt- Titelbild, das einen breit lächelnden Mann mit Tab- schaft wusste jeder, dass es beim Grundbesitz nicht let und kariertem Hemd zeigt. bloß um Eigentumstitel ging, sondern um Macht. Um einen Hof an die nächste Generation zu Historisch gab es gute Gründe für einen An- übergeben, brauchen männliche Betriebsleiter ei- tagonismus von Bauern und Junkern. Praktisch nen weiblichen Partner. Dass Bauern sich dabei merkte man davon seit dem späten 19. Jahrhun- mit berufsspezifischen Herausforderungen kon- dert nicht mehr viel: Die Landwirte verwandel- frontiert sehen, weiß der deutsche Fernsehzu- ten sich in eine imaginierte Gemeinschaft, in der schauer, seit sich die Doku-Soap „Bauer sucht Größe und Betriebsverfassung an Bedeutung ver- Frau“ zum Dauerbrenner entwickelt hat. Man loren gegenüber einer gemeinsamen agrarischen sollte sich freilich vor der Annahme hüten, dass Identität. Selbst in Ostelbien, wo es trotz der star- es in der Blütezeit des deutschen Bauerntums ro- ken Stellung der Gutsbesitzer weiterhin Vollbau- mantischer zugegangen wäre. Als die ideologi- ern gab, glaubte seit den 1880er Jahren eine Mehr- sche Verklärung des ewigen Bauern in der frühen heit „an eine Interessenidentität von Bauernschaft NS-Zeit ein schrilles rassenbiologisches Crescen- und Großgrundbesitz“.07 Zwar gab es in der länd- do erfuhr, veröffentlichte das Wochenblatt für lichen Gesellschaft weiterhin Statusunterschie- die Bauern Westfalens die folgende Kleinanzeige: de, die vom Heiratsverhalten bis zur Geselligkeit „Einheirat in schuldenfr. Bauernhof v. 120 Mrg. sorgsam markiert wurden, aber nach außen hin bietet Bauerntochter (einz. Kind), 25 J., kath., ei- herrschte seither eine Geschlossenheit, die nicht nem tüchtig. Bauernsohn m. Vermögen.“09 Zahl- selten Züge einer Wagenburgmentalität besaß. reiche weitere Heiratsanzeigen, in denen eben- Zum Selbstverständnis der Bauern gehörte, dass falls Vermögen und Betriebsgröße im Mittelpunkt der Hof, wenn irgend möglich, an die nächste Ge- standen, lassen erahnen, dass die Zeitgenossen mit neration übergeben werden sollte. Längst hat die dieser Art Rasterfahndung kein Problem hatten. sozialwissenschaftliche Forschung dokumentiert, dass Landwirte sogar bereit waren, für den Erhalt SCHRUMPFPROZESSE des Familienbetriebs das persönliche Glück zu- rückzustellen. In einer Studie über die Landjugend Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts gehört zur Welt um 1970 konfrontierte der Agrarsoziologe Ulrich der deutschen Landwirtschaft ein Gefühl des Nie- Planck seine Interviewpartner mit einem Szena- dergangs. Die Menschen strebten in die Großstäd- rio, in dem eine Frau ihre berufliche und private te des Industriezeitalters, zunächst in Einzelfäl- Existenz aufgeben musste, um den Familienbetrieb len, aber schon im Kaiserreich als breiter Strom, für ihren noch minderjährigen Bruder zu sichern, der ostelbische Gutsbesitzer über eine „Leute- und 68 Prozent der männlichen und 62 Prozent noth“ klagen ließ. In der Akademikerdebatte über der weiblichen Befragten gaben zu Protokoll, dass „Agrar- und Industriestaat“ in den 1890er Jahren der Erhalt des Hofes Vorrang habe.08 Darin spie- wurde verhandelt, was eigentlich längst sozioöko- gelt sich auch die rigide Geschlechterordnung der nomische Realität war: Die Industrie war der do- bäuerlichen Welt, obwohl es auch hier Zeichen des minante Sektor der deutschen Volkswirtschaft. Wandels gibt. Das Kompendium „1000 Fragen für Billiges Getreide aus Übersee konfrontierte zahl- die junge Landfrau“, das erstmals 1986 herauskam reiche Junker mit einer Konkurrenz, die den Ver- und 2005 in fünfter Auflage erschien, ist seither gleich mit den Globalisierungsschocks seit den nicht wieder verlegt worden, während das masku- 1970er Jahren nicht zu scheuen braucht. Betriebs- line Pendant „1000 Fragen für den jungen Land- leiter waren dieser Situation keineswegs hilflos aus- geliefert, denn billige Getreideimporte konnten für innovationsfreudige Landwirte auch eine Chance 07 Patrick Wagner, Bauern, Junker und Beamte. Lokale sein, in die Veredelungswirtschaft einzusteigen. Herrschaft und Partizipation im Ostelbien des 19. Jahrhunderts, Bei der Schweinefleischproduktion schwang sich Göttingen 2005, S. 405. 08 Vgl. Ulrich Planck, Landjugend im sozialen Wandel. Deutschland sogar noch in jüngster Vergangenheit Ergebnisse einer Trenduntersuchung über die Lebenslage der westdeutschen Landjugend, München 1970, S. 272. 09 Westfälischer Bauernstand 91/1934, S. 269. 11
APuZ 15–17/2022 zum führenden Exportland der Welt auf und er- SUBVENTIONEN reichte im November 2012 mit einem Bestand von 28,3 Millionen Tieren einen historischen Höchst- Der ländliche Raum war in der Moderne ein Syno- wert.10 Aber solche Produktionserfolge können nym für Rückständigkeit, aber deshalb waren die nur notdürftig davon ablenken, dass der Stellen- Methoden der Landwirte noch lange nicht rück- wert des Agrarischen in der Gesamtgesellschaft in ständig. Der 1893 gegründete Bund der Landwir- jeder nur denkbaren Hinsicht erodierte: bei den te konnte sogar eine Pionierrolle für das politische Arbeitskräften, dem Beitrag zum Bruttosozial- System des Kaiserreichs insgesamt reklamieren. produkt, der politischen Macht, dem kulturellen Er war die erste moderne pressure group, ein ag- Nimbus – Schritt für Schritt wurde die Landwirt- gressiv auftretender Interessenverband mit straffer schaft in Deutschland zur quantité négligeable, zu Verwaltung, intensiver Medienarbeit und einer Ba- einer zu vernachlässigenden Größe. sis, die schon im Jahr der Gründung auf 200 000 Der Niedergang beschleunigte sich in der Mitglieder anschwoll. Unterstützung kam aus dem Nachkriegszeit so rasant, dass die bäuerliche Welt gesamten agrarischen Spektrum vom Kleinbauern Alteuropas innerhalb einer Generation zur Ver- bis zu ostelbischen Grundbesitzern, obwohl Letz- gangenheit wurde. Nach gängiger Ansicht waren tere doch ziemlich häufig den Ausschlag gaben, es die 1960er Jahre, die nicht nur in der Bundes- was den Bund für Landwirte zu einem Lieblings- republik eine Wasserscheide markierten. „Wach- objekt der historischen Forschung machte. In den sen oder weichen“ hieß die Devise, und das lief 1970er Jahren hat Hans-Jürgen Puhle den Bund als für zahlreiche Betriebsleiter auf eine schicksalhafte präfaschistisch tituliert, inzwischen neigt die Zunft Alternative hinaus. Sie konnten aufgeben und ihre zu differenzierteren Urteilen.11 landwirtschaftlichen Nutzflächen an andere Be- Den Impuls zur Verbandsgründung lieferten triebe verkaufen oder verpachten, oder sie konnten Handelsverträge des Reichskanzlers Leo von Cap- versuchen, im Strudel einer Agrarrevolution den rivi, die den Zollschutz für die Landwirtschaft ab- Kopf über Wasser zu halten. Inzwischen liegt die bauten. Die Protektion der Landwirte war von An- Wachstumsschwelle in der deutschen Landwirt- fang an ein politisches Geschäft, in dem mit harten schaft bei 100 Hektar: Unterhalb dieser Schwel- Bandagen gekämpft wurde, und das lag in der Na- le nimmt die Zahl der Betriebe weiter ab, darüber tur der Sache. Es gab die Konkurrenz mit anderen steigt sie noch an. Die neuen Betriebsgrößen ver- Branchen – Handel und Industrie fanden Caprivis langten nach neuen Produktionsmethoden, und so Handelsverträge zum Beispiel ganz prima –, und waren es neben der bäuerlichen Folklore bald nur im internationalen System der Handelsbeziehun- noch die Eigentumsverhältnisse, die an vergange- gen war stets mit Vergeltungsmaßnahmen ande- ne Zeiten erinnerten. Bäuerliche Familienbetriebe rer Länder zu rechnen. Es gibt angenehmere Ver- blieben im Geschäft, schon deshalb, weil im Osten handlungspartner als Funktionäre einer kriselnden die kollektivierte Landwirtschaft als mahnender Branche, und die Gründung von Verbänden war Gegenentwurf zu besichtigen war. Das genügte auch nur einer von mehreren Wegen, den Interes- im Kalten Krieg, um allen Überlegungen zu neuen sen der Landwirtschaft Gehör zu verschaffen. In Betriebsformen einen Dämpfer zu verpassen. der Zeit zwischen den Weltkriegen entstanden in Seit Jahrzehnten klagen Landwirte, dass die ur- zahlreichen europäischen Ländern spezielle Bau- bane Gesellschaft den Respekt vor den Produzenten ernparteien, die sich sogar zu einer Grünen Inter- ihrer Lebensmittel vermissen lässt, und das gewiss nationale mit Sitz in Prag zusammenschlossen.12 nicht ohne Grund. „Bauer sucht Frau“ konnte wohl nur deshalb zu einer Erfolgsgeschichte des Trash-TV 11 Vgl. Hans-Jürgen Puhle, Agrarische Interessenpolitik und werden, weil Bauern eine der letzten gesellschaftli- preußischer Konservatismus im wilhelminischen Reich (1893– chen Gruppen sind, die man gefahrlos diskriminie- 1914). Ein Beitrag zur Analyse des Nationalismus in Deutsch- ren kann. Insgesamt gesehen verlief der Niedergang land am Beispiel des Bundes der Landwirte und der Deutsch- nach 1945 erstaunlich geräuschlos. Das hatte eine Konservativen Partei, Bonn 19752. Exemplarisch für die jüngere Menge damit zu tun, dass Bauern in dieser Zeit auf Forschung Rita Aldenhoff-Hübinger, Agrarpolitik und Protekti- onismus. Deutschland und Frankreich im Vergleich 1879–1914, die Unterstützung der Politik zählen konnten. Göttingen 2002, S. 105–112. 12 Vgl. Heinz Haushofer, Die internationale Organisation der 10 Vgl. Lisa Langbehn, Das Geschäftsmodell trägt nicht mehr, Bauernparteien, in: Heinz Gollwitzer (Hrsg.), Europäische Bau- in: DLG-Mitteilungen 2/2022, S. 68–71, S. 68. ernparteien im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1977, S. 668–690. 12
Landwirtschaft APuZ Der Protest der Landwirte wurde in mehr als zur automatischen Entsorgung der tierischen Ex- einem Land als demokratiegefährdend empfun- kremente. Der neue Landwirt war mit großtech- den, und das hatte in der Zeit nach 1945 Folgen. nischen Systemen vertraut und konnte bei Proble- Es war nicht nur die Erfahrung des Hungers in men rasch und eigenständig reagieren. Der neue Kriegs- und Nachkriegszeiten, die die Regierun- Landwirt war in aller Regel männlich, und das gen Westeuropas zu einer engagierten Unterstüt- nicht nur, weil viele der Hilfsarbeiten, die vor- zung der Agrarproduzenten animierte, sondern mals Sache der Landfrau gewesen waren, nun ent- auch die Angst vor dem ländlichen Protestpotenzi- weder wegfielen oder von Maschinen übernom- al. In der Bundesrepublik gipfelte diese Politik im men wurden. Für die neuen Aufgaben brauchte Landwirtschaftsgesetz von 1955, das den Bauern es Spezialwissen und auch eine gewisse physische Parität mit dem Rest der Gesellschaft versprach, und psychische Robustheit, und das lief auf einen und Agrarfunktionäre wurden seither nicht müde, Phänotypus hinaus, der durchaus soldatische Züge an das Versprechen zu erinnern. In den 1960er Jah- trug. Mütterliche Gefühle, wie man sie Frauen ger- ren wurde die Protektion der Landwirte dann in ne zuschrieb, waren im Massenstall nicht gefragt.14 der Gemeinsamen Agrarpolitik der Europäischen Traktoren ließen sich für vielfältige Aufgaben Wirtschaftsgemeinschaft zementiert. 13 nutzen. Das sah bei vielen Maschinen anders aus. Es lässt sich trefflich darüber streiten, ob das Wer mit großem Aufwand eine Melkmaschine in- eine gute Investition für die junge bundesdeutsche stalliert und zum Laufen gebracht hatte, konnte die Demokratie war. Tatsächlich wurde der radika- Investition nur in der Milchwirtschaft wieder he- le Strukturwandel damit zumindest in politischer rausholen, das Gleiche galt für Schweineställe mit Hinsicht abgefedert, aber das Kalkül verblasste Spaltenböden oder Legebatterien. Mit jeder neuen rasch und war spätestens in den 1970er Jahren ob- Maschine wuchs auch das betriebswirtschaftliche solet. Da kämpfte die bundesdeutsche Demokra- Risiko: Im Zuge der technologischen Aufrüstung tie längst mit ganz anderen Gefährdungen, und wurde die Landwirtschaft zu einem der kapital- außerdem war die Zahl der landwirtschaftlichen intensivsten Wirtschaftszweige überhaupt. Leicht Betriebsleiter für staatsgefährdenden Protest ir- geriet landwirtschaftliche Produktion da zu einem gendwann zu klein. Dafür waren durch die jahre- „Rattenrennen“, zumal die Zahl der Abnehmer lange Protektion Pfadabhängigkeiten entstanden, immer mehr zusammenschrumpfte. die dem politischen Willen enge Grenzen setzten. Supermarktketten und andere Großkonzer- Im Kaiserreich konnten viele Bauern noch flexi- ne kauften Agrarprodukte in großen Mengen bel reagieren, wenn der Getreidepreis absackte und spielten dabei ihre Marktmacht aus, oder sie oder Kartoffeln unverkäuflich waren: Dann ging setzten auf Vertragslandwirtschaft und trieben die eigene Ernte halt in den Trog der Schweine. die Landwirte mit genauen Vorgaben über An- Die spezialisierten Agrarproduzenten, die in der baumethoden und Preise in die Enge. Selbst gut Nachkriegszeit zum dominanten Betriebsmodell geführte Betriebe mussten mit knappen Margen wurden, hingen jedoch auf Gedeih und Verderb wirtschaften, und bei einzelnen Branchen – die an einem einzelnen Produkt. Milchbauern sind ein notorisches Beispiel – wur- de die Selbstausbeutung quasi zur Geschäfts- TECHNOLOGISCHE AUFRÜSTUNG grundlage. Das wäre auch dann eine prekäre Situ- ation gewesen, wenn die urbanen Konsumenten Mit der Agrarrevolution der Nachkriegszeit ver- seit den 1970er Jahren nicht immer mehr über änderte sich der Beruf des Landwirts. Die neuen Ökologie geredet hätten. Dimensionen verlangten nach großen Maschinen, zumal sich im Sog des „Wirtschaftswunders“ auch DIE SACHE MIT DER UMWELT zahlreiche Landarbeiter in Richtung Stadt verab- schiedeten und deren Arbeitskraft notgedrun- Bis ins 20. Jahrhundert waren die Landwirte Net- gen ersetzt werden musste. Auf den Feldern fuh- toproduzenten von Energie: Sie verwandelten ren Traktoren und Mähdrescher, und auch im Stall Sonnenstrahlen in agrarische Produkte. Heute regierte die Technik von den Melkmaschinen bis 14 Vgl. Frank Uekötter, Die Wahrheit ist auf dem Feld. Eine 13 Siehe hierzu den Beitrag von Kiran Klaus Patel in dieser Wissensgeschichte der deutschen Landwirtschaft, Göttingen Ausgabe. 2010, S. 345. 13
APuZ 15–17/2022 hängt die Landwirtschaft genauso an erschwing- UNBEWÄLTIGTE lichem Strom und Erdöl wie der Rest der Gesell- VERGANGENHEITEN schaft, hinzu kommen Methanemissionen, Nitra- te im Grundwasser, Verlust biologischer Vielfalt So wird Landwirtschaft im 21. Jahrhundert im und zahlreiche andere Umweltprobleme. Seit Schatten einer langen Geschichte betrieben, die Jahrzehnten stehen die Landwirte für die negati- sich nicht einfach auf einen Nenner bringen lässt. ven Folgen der industrieförmigen Produktions- Der heutige Betriebsleiter ist Subventionsempfän- methoden in der Kritik, und durchschlagende Er- ger und gewinnorientierter Unternehmer, er ar- folge der Umweltpolitik im Agrarbereich lassen beitet mit Zahlen und viel Fingerspitzengefühl, er noch auf sich warten. Die jüngsten Nachbesse- hantiert mit komplexer Technik und nicht minder rungen bei der Düngeverordnung, die durch ein komplexen Ökosystemen, er unterliegt einem bru- Urteil des Europäischen Gerichtshofs erzwun- talen Kostendruck und den Kontrollen diverser gen wurden, sind gleichsam eine Bankrotterklä- Aufsichtsorgane, und in Momenten der Muße sorgt rung der bundesdeutschen Agrarpolitik: Dass es er sich um seinen Platz in der Gesellschaft und den einen Zusammenhang zwischen Nitratbelastung Hofnachfolger. Es hat sich eine Menge angesam- und Überdüngung gibt, war seit Jahrzehnten be- melt, und zugleich hat sich erstaunlich wenig end- kannt. Und auch mit der neuen, mit heißer Nadel gültig erledigt. Selbst Malthus geistert weiter durch gestrickten Verordnung ist nun anscheinend nie- die einschlägigen Debatten, obwohl wir über Ka- mand glücklich. lorien im Überfluss verfügen und Demografen in- Die triste Bilanz liegt nicht nur im Kosten- zwischen mehr Angst vor der Überalterung haben. druck und in technologischen Pfadabhängigkeiten Es fällt nicht schwer, das gegenwärtige Agrar- begründet. Von Anfang an kam die Umweltde- system in Bausch und Bogen zu verdammen. Das batte in der Landwirtschaft von außen: Sie wur- Problem ist, dass wir auf absehbare Zeit auf die- de von urbanen Konsumenten geprägt, und das ses Agrarsystem angewiesen sein werden: Es gibt lief auf eine durchaus beschränkte Agenda hinaus. kein alternatives System, das sich „mal eben“ um- Seit Jahrzehnten stehen Pestizide im Mittelpunkt setzen ließe, auch wenn eine ausufernde Populärli- des öffentlichen Interesses – schon bei Herbizi- teratur gerne einen anderen Eindruck erweckt. Für den und Fungiziden nimmt die Aufmerksamkeit den Moment bleibt nur ein tastendes Vorgehen, spürbar ab –, und zwischen den Zeilen schimmert das gleichermaßen auf Umsicht und Entschlos- nicht selten das Klischee des Bauern durch, der senheit setzt, und vielleicht könnte dabei auch die verantwortungslos mit giftigen Chemikalien han- Geschichte einen Beitrag leisten. Der Blick in die tiert. Dabei bleibt meist ungesagt, dass kaum je ein Vergangenheit sensibilisiert für historische Vorbe- Betriebsleiter in die Landwirtschaft ging, um mit lastungen und Pfadabhängigkeiten, für unausge- der Giftspritze über Felder zu fahren. sprochene Erwartungen, dubiose Leitbilder und il- Zeitweise trug der Streit um die ökologischen lusionäre Hoffnungen auf gewerbliche Normalität, Probleme der Intensivlandwirtschaft Züge eines und sie erschließt einen Erfahrungsschatz, wenn es Glaubenskampfes. Inzwischen hat sich die De- um den Umgang mit divergenten Zielvorstellungen batte entspannt, auch weil viele Betriebsleiter das geht. Nicht zuletzt zeigt die Geschichte, dass Debat- Thema inzwischen aus der Ausbildung kennen ten über Landwirtschaft immer Teil des gesamtge- und Fragen nach der Düngebilanz nicht mehr als sellschaftlichen Gesprächs gewesen sind und wohl Beleidung der bäuerlichen Ehre empfinden. Al- auch in Zukunft bleiben werden. Vielleicht könnte ternativ wirtschaftende Betriebe beliefern einen die eine oder andere Diskussion etwas weniger ver- etablierten Markt, dessen Chancen und Risiken bissen geführt werden, wenn man merkt, dass sich ohne ideologische Scheuklappen taxiert werden. manche Fragen nicht zum ersten Mal stellen. Vorbei sind die Zeiten, in denen Ökolandwirte als Freaks oder Aussteigertypen galten und in sonn- FRANK UEKÖTTER täglichen Kneipengesprächen spekuliert wurde, ist Historiker mit den Schwerpunkten Umwelt-, ob die vielleicht nachts die Giftspritze heraushol- Landwirtschafts-, Technik- und Wissenschaftsge- ten. Der heutige Ökobetrieb kämpft vielmehr mit schichte. Er lehrt als Professor of Environmental einem Problem, das auch konventionellen Produ- Humanities an der University of Birmingham, zenten vertraut ist: Wie bringt man das alles un- Vereinigtes Königreich. ter einen Hut? f.uekoetter@bham.ac.uk 14
Sie können auch lesen