Internationale Zeitschrift für christliche Sozialethik - Amosinternational
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Internationale Zeitschrift für christliche Sozialethik Inklusion und Behinderung Franziska Felder Gerechte Teilhabe und Freiheitsanspruch Andreas Lob-Hüdepohl Gemeinsam arbeiten – Inklusion im Erwerbsleben Kai-Uwe Schablon Sozialraumkonzept Community care Christof Breitsameter Das Körperbild der Neuzeit und die Biomedizin Nadia Primc Diskriminierung bei Organtransplantationen? Marco Bonacker Gerechtigkeit durch inklusive Bildung Sozialinstitut Kommende Dortmund 3/2016
BIG DIREKT GESUND IST DEUTSCHLANDS ERSTE DIREKTKRANKENKASSE. 1996 gegründet, verfolgt die BIG konsequent das Konzept Direktprinzip: niedrige Verwaltungskosten, ein sehr gutes Preis-Leistungs-Verhältnis und ausgezeichneter Service mit klarer Online-Ausrichtung. BIG direkt gesund zählt zu den finanz- und leistungsstärksten Krankenkassen Deutschlands. big-direkt.de 0800/5456 5456 Impressum 10. Jahrgang 2016 Heft 3 Verlag und Anzeigenverwaltung Aschendorff Verlag GmbH & Co. KG Herausgeber D–48135 Münster Prälat Dr. Peter Klasvogt, Dortmund Tel. (0251) 69 01 31 Sozialinstitut Kommende Anzeigen: Petra Landsknecht, Tel. (0251) 69 01 33 Prof. Dr. Christian Spieß, Linz Anzeigenschluss: am 20. vor dem jeweiligen Erscheinungsmonat Prof. Dr. Joachim Wiemeyer, Bochum Erfüllungsort und Gerichtsstand: Münster Arbeitsgemeinschaft der deutschsprachigen Sozialethiker Prof. Dr. Peter Schallenberg, Mönchengladbach Bezugsbedingungen Katholische Sozialwissenschaftliche Zentralstelle Preis im Abonnement jährlich: 49,80 c/sFr 85,- Stefan Lunte, F-Besson/B-Brüssel Vorzugspreis für Studenten, Assistenten, Referendare: 39,80 c/sFr 69,20 Redaktion Einzelheft: 12,80 c/sFr 23,30; jeweils zzgl. Versandkosten Dr. phil. Dr. theol. Richard Geisen (Kommende, Dortmund) Alle Preise enthalten die gesetzliche Mehrwertsteuer. Dipl.-Theol. Detlef Herbers (Kommende, Dortmund) Abonnements gelten, sofern nicht befristet, jeweils bis auf Widerruf. Dr. phil. Wolfgang Kurek (KSZ, Mönchengladbach) Kündigungen sind mit Ablauf des Jahres möglich, sie müssen bis zum 15. November des laufenden Jahres eingehen. Konzept Schwerpunktthema Prof. Dr. Monika Bobbert Bestellungen und geschäftliche Korrespondenz Aschendorff Verlag GmbH & Co. KG Redaktionsanschrift D–48135 Münster Sozialinstitut Kommende, Redaktion Amosinternational, Tel. (0251) 69 01 36 Brackeler Hellweg 144, D–44309 Dortmund Mail redaktion@amosinternational.de Druck Internet amosinternational.de Druckhaus Aschendorff, Münster Printed in Germany Erscheinungsweise Die Zeitschrift erscheint vierteljährlich Umschlaggestaltung (Februar, Mai, August, November) freistil – Büro für Visuelle Kommunikation, Werl ISSN 1867–6421
Inhalt Editorial Christian Spieß (Linz) Inklusion und Autonomie statt Integration und Fürsorge 2 Zu diesem Heft Schwerpunktthema Monika Bobbert (Münster) Was behindert ein gutes und gerechtes Zusammenleben? 3 Eine Einführung Franziska Felder (Sydney und Zürich) Gerechte Teilhabe und Freiheitsanspruch 4 Begründung und Grenzen eines Rechts auf Inklusion Andreas Lob-Hüdepohl (Berlin) Gemeinsam arbeiten 10 Sozialethische Anmerkungen zur menschenrechtsbasierten Inklusion im Arbeitsmarkt Kai-Uwe Schablon (Münster) Sozialraumkonzept Community Care 17 Möglichkeiten kirchlichen Engagements zur Inklusion behinderter Menschen Christof Breitsameter (München) Das Körperbild der Neuzeit als ethisches Dispositiv 25 Überlegungen zur biomedizinischen Verbesserbarkeit des Menschen Nadia Primc (Heidelberg) Organtransplantation bei Menschen mit geistiger Beeinträchtigung 33 Die Gefahren einer verdeckten Diskriminierung Marco Bonacker (Fulda) Inklusion als theologisch-sozialethische Leitkategorie 38 Bildung für alle als Schlüssel zu einer gerechten Gesellschaft Ursula Kreutz (Fürth) re: blick 28 Rauminstallation Buchbesprechungen Den Kapitalismus bändigen 43 Der Dritte Weg 44 Das Europaverständnis christlicher Kirchen 46 Pflege-Ausbeutung in den eigenen vier Wänden 47 Tierethik 49 Tagungsbericht Christoph Krauß, Wolfgang Kurek (Mönchengladbach) Flucht, Migration und Integration – Bewährungsprobe für Europa 51 Sozialethische Gespräche in Mönchengladbach am 12./13. Mai 2016 Der Überblick Summaries 54 Résumés 55 Bisherige Schwerpunktthemen und Vorschau 56 Impressum U2 MOSINTERNATIONAL 10. Jg. (2016) Heft 3 1
Editorial E s ist jene berühmte Re- gierungserklärung des deutschen Bundeskanzlers Inklusion und Autonomie Willy Brandt vom 28. Ok- tober 1969, in der er an- statt Integration kündigte, „mehr Demo- kratie wagen“ zu wollen, in der auch zum ersten und Fürsorge Mal das Ziel einer „Behin- dertenpolitik“ formuliert menwechsel erklärt: weg von einer „in- grenzung eines normativen Inklusions- Christian Spieß wurde: Die sozialliberale tegrierenden“ Politik der Fürsorge, die begriffs von einem deskriptiven Inklusi- Regierung werde „um ver- Defizite von Menschen mit Behinde- onsbegriff informiert vor allem der Bei- stärkte Maßnahmen bemüht sein, die rung ausgleichen soll, hin zu einer in- trag von Andreas Lob-Hüdepohl. den Benachteiligten und Behinderten in klusiven Politik der Autonomie, die ei- Aus der Perspektive einer Sozial- Beruf und Gesellschaft, wo immer dies ne Gesellschaft bzw. ein politisches Ge- ethik der Inklusion geht es um die möglich ist, Chancen eröffnen“. Demo- meinwesen so gestaltet, dass Menschen Würde und um die Rechte jener Men- kratisierung wurde auch als Verbesse- mit Beeinträchtigung selbstbestimmt schen, die sich durch körperliche oder rung der Lebensqualität Benachteilig- und soweit möglich ohne Behinderung kognitive Beeinträchtigungen aus- ter verstanden, als „Humanisierung“, von außen gut leben können. zeichnen. Das Ziel einer inklusiven wie es Walter Arendt, der Bundesmi- Es besteht aber beileibe kein Grund Ethik ist grundsätzlich die Ermögli- nister für Arbeit und Sozialordnung je- zur Euphorie. Der Ausdruck „behindert“ chung weitreichender gesellschaftli- ner Zeit (1969 bis 1976), formulierte: wurde zu einem verbreiteten Schimpf- cher Teilhabe aller Menschen, unab- „Die Qualität des Lebens für die Behin- wort und der Schwangerschaftsabbruch hängig von ihrer individuellen Ausstat- derten in unserer Gesellschaft ist ein nach Trisomie-21-Diagnose zu einem tung. Inklusion nimmt nicht die Form Spiegel der Qualität der Gesellschaft.“ Normalfall (wie auch immer man die des gütigen Mitleids oder der fürsorg- Etabliert wurde freilich zunächst ein Statistik dreht und wendet). Und wäh- lichen Zuwendung an, sondern respek- Fürsorgesystem, das Menschen mit Be- rend Inklusion in weiten Bereichen der tiert die personale Autonomie in un- hinderung überwiegend separierte, in- Politik zur prägenden sozialpolitischen terschiedlichen Lebensformen, betont dem es für sie eine – wohlwollend für- Orientierung wurde, hat sich im Bil- Teilhabeansprüche und nicht zuletzt sorgliche und einhegende – Sonderbe- dungsbereich, in dem sich „Behinder- die Leistungen von Menschen mit Be- handlung realisierte. „Sonderschulen“ tenpolitik“ und Bildungspolitik über- einträchtigungen. Dies wurde bereits in und „Werkstätten für behinderte Men- schneiden, eine scharfe Debatte über die der eingangs erwähnten Regierungs- schen“ breiteten sich aus, die auch heu- gemeinsame Beschulung von Kindern erklärung Willy Brandts als Ziel be- te noch teilweise die Soziale Arbeit mit mit und ohne kognitive Beeinträch- stimmt: An die Stelle von Marginali- Menschen mit Beeinträchtigungen prä- tigung entwickelt. Und außerhalb je- sierung und Separierung („Bürger, die gen. Wie die Formulierung von Arendt ner Bereiche, die sich intensiv mit dem im Schatten leben müssen“) sollte ei- zeigt, gab es im Grunde aber bereits die Phänomen „Behinderung“ befassen, ist ne besondere politische Rücksicht auf Einsicht, dass Behindertenpolitik nicht bisweilen kaum ein Bewusstsein davon benachteiligte Menschen treten – üb- am Individuum ansetzt, sondern an der vorhanden, was unter Inklusion – im rigens in Kooperation mit den Kirchen: Gesellschaft und an den äußeren Be- Unterschied etwa zu Normalisierung „Es kann nicht darum gehen, ledig- dingungen, in denen Menschen leben – und Integration – zu verstehen ist. In- lich hinzunehmen, was durch die Kir- Jahrzehnte also, bevor der Slogan „Be- soweit bietet dieses Heft auch die Mög- chen für die Familie, in der Jugend- hindert ist man nicht, behindert wird lichkeit, die Vorstellung davon zu schär- arbeit oder auf dem Sektor der Bildung man“ populär wurde. Vor allem mit fen, was Inklusion überhaupt bedeutet. geleistet wird. Wir sehen die gemein- dem Übereinkommen der Vereinten Na- Über die Entwicklung von der Normali- samen Aufgaben, besonders, wo Alte, tionen vom 13. Dezember 2006 über die sierung über die Integration zur Inklu- Kranke, körperlich oder geistig Behin- Rechte von Menschen mit Behinderun- sion, über notwendige Differenzierun- derte in ihrer Not nicht nur materielle gen wurde dann ein sowohl sozial- als gen innerhalb einer Ethik der Inklusion Unterstützung, sondern auch mensch- auch gesellschaftspolitischer Paradig- sowie nicht zuletzt über die präzise Ab- liche Solidarität brauchen.“ 2 MOSINTERNATIONAL 10. Jg. (2016) Heft 3
Schwerpunktthema Was behindert ein gutes und gerechtes Zusammenleben? Eine Einführung Monika Bobbert K ennen Sie aus ihrem persönlichen Umfeld Menschen mit einer kör- perlichen, geistigen oder psychischen Problemkonstellationen berühren auch die Inklusion anderer Gruppen, etwa Migrantinnen und Migranten, Hochbe- denke auch an soziologische oder pä- dagogische Fragestellungen der Entste- hung und Weitergabe von Vorurteilen Behinderung? Haben Sie konkrete Er- tagte oder sozial benachteiligte Men- und Abwertungen oder der Entwick- fahrungen aus der Interaktion mit be- schen aus „bildungsfernen Schichten“. lung von Strukturen und Kompeten- hinderten Menschen? Zweifelsohne hat jede Gesellschaft die zen, die der Integration dienen. Die Inklusion von Menschen mit ei- Aufgabe, von Benachteiligung oder Schließlich, und dies führt in die ner Behinderung, oder besser gesagt, Stigmatisierung betroffene Rand- so genannte Normalität unserer Ge- das gute und gerechte Zusammenle- gruppen zu integrieren, um der mo- sellschaft, ließen sich auch Fragen an ben von Bürgerinnen und Bürgern un- ralischen und demokratischem Norm die üblichen Strukturen und implizi- geachtet ihrer Eigenheiten und unge- sozialer Gerechtigkeit zu entsprechen. ten Wertungen in Beruf, Freizeit und achtet ihres Wertes für andere, gilt es Worum es dabei im Einzelnen geht, Familie herantragen: Was hindert ein noch weiter zu verbessern. In der theo- lässt sich insbesondere den Beiträgen Gelingen des Lebens und Zusammen- logischen und philosophischen Ethik von Marco Bonacker zur Erwachse- lebens? Ein hohes Arbeitstempo, „Frei- und in der Rechtswissenschaft werden nenbildung, von Andreas Lob-Hüde- zeitstress“, ja „Zeitverdichtung“ und die normativen Ansprüche auf Ach- pohl zu Arbeit und Behinderung, von eine große Fülle von Informationen tung der Selbstbestimmung, auf Teil- Nadia Primc zu Organtransplantation beschäftigen uns so, dass für „Abwei- habe und Bedürfnisgerechtigkeit be- und von Kai-Uwe Schablon zu Commi- chungen“ und „Störungen“ nur mehr gründet und ausdifferenziert. In den ty Care, die auch in Kirchengemeinden wenig Aufnahmekapazitäten und Fle- Sozialwissenschaften und in der So- möglich ist, entnehmen. Konzeptuelle xibilitätsspielräume bleiben. Normali- zialpolitik werden neue Formen der In- Erörterungen von Franziska Felder zu tät und Standardisierung können auch klusion entwickelt und erprobt. Inklusion und Gerechtigkeit und von Freiheit beschränken und neue Erfah- Das Amosinternational-Themenheft Christof Breitsameter zur Abhängigkeit rungen, die sich erst durch Abweichung bietet einen Einblick in den derzeitigen unseres Körperbilds von Konstruktio- und Vielfalt bieten, verbauen. Stand der Debatte zur Inklusion von nen der Natürlichkeit und Künstlich- Das Themenfeld „Inklusion und Be- Menschen mit Behinderung. Auto- keit führen in die Grundlagen des The- hinderung“ ist also zwischen dem An- r(inn)en aus Deutschland und der menfelds ein. liegen sozialer Gerechtigkeit, dem Stre- Schweiz konnten gewonnen werden, Viele andere Konzepte und Frage- ben nach Gelingen und Heilung und um aktuelle Konzepte und Reflexionen stellungen aus der Debatte um „Inklu- einem „Möglichkeitssinn“ (Robert Mu- zu Inklusion und Behinderung mehr als sion und Behinderung“ bzw. um „Ethik sil) aufgespannt. bisher in sozialethische Diskussionen und Behinderung“ konnten im Rahmen und Forschungsarbeiten einzutragen – des vorliegenden Themenhefts nicht und zur verstärkten Umsetzung von In- in den Blick genommen werden. Man KURZBIOGRAPHIE klusion im Alltag, im Berufsleben und denke etwa an Fragen des Wohnens Monika Bobbert (*1963) Dr. theol, in der Bildungsarbeit und der Gesund- von Menschen mit Behinderung oder Dipl.-Psych., lehrt als Professorin für heitsversorgung anzuregen. an psychologische und institutionelle Moraltheologie in Münster. E-Mail: Zahlreiche theoretische Fragestel- Fragen der Betreuung von Menschen M.Bobbert@uni-muenster.de lungen und Konzepte sowie praktische mit kognitiven Einschränkungen. Man MOSINTERNATIONAL 10. Jg. (2016) Heft 3 3
Schwerpunktthema Gerechte Teilhabe und Freiheitsanspruch Begründung und Grenzen eines Rechts auf Inklusion Die Forderung nach Inklusion im Kontext von Behinderung hat in den letzten Jah- ren deutlich an Fahrt gewonnen. Zu verdanken ist das vor allem dem Zugzwang, der durch die UN Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderung entstanden ist. Allerdings bleibt trotz ihrer hohen politischen Relevanz unklar, was Inklusion ge- nau bedeutet und welche Aspekte von Inklusion rechtlich abgesichert werden kön- nen. Der Beitrag thematisiert drei Aspekte von Inklusion: Inklusion als basale Ach- tung, Inklusion als Teilhabe an gesellschaftlichen Verteilungs- und Entscheidungs- prozessen sowie Inklusion als Freiheitsanspruch. Anschließend geht es um die Frage, welche Formen von Inklusion sich rechtlich durchsetzen lassen. Dabei zeigt sich, dass die Grenzen eines Rechts auf Inklusion weniger in der institutionell-gesellschaftli- Franziska Felder chen Sphäre liegen, als vielmehr im Bereich der zwischenmenschlichen Gemeinschaft. D er Ruf nach Inklusion ist eine der zentralen politischen Forderungen der letzten Zeit, die auch, aber nicht die Schule, in Freizeitangebote, in die Politik, um nur einige Beispie- le zu nennen. damit auch in Bezug auf den norma- tiven Gehalt in legalen Bezügen wie der UN-BRK – zentral sind: nur, im Kontext von Behinderung auf- • Inklusion als basale Achtung, gestellt werden. Rechtliche Unterfütte- Angesichts der Breite und Tiefe des • Inklusion als Teilhabe an gesell- rung hat die Forderung durch die Kon- Konzepts der Inklusion sowie der zu- schaftlichen Verteilungs- und Ent- vention für die Rechte von Menschen mindest indirekten Absicherung durch scheidungsprozessen und mit Behinderungen der Vereinten Na- Rechte ist die Frage virulent, was In- • Inklusion als Freiheitsanspruch. tionen von 2006, kurz UN-BRK, erhal- klusion eigentlich genau bedeutet und ten. Die Konvention selbst nennt zwar inwiefern sich unterschiedliche Aspek- Anschließend frage ich danach, worauf kein Recht auf Inklusion, und Inklusion te von Inklusion durch Rechte abde- nun genau ein moralischer und – noch wird auch nicht näher definiert. Den- cken lassen. Genau diesen Fragen wid- stärker – ein legaler Anspruch in Form noch zieht sich Inklusion in zweifacher met sich der vorliegende Beitrag. Da- von Rechten fußt. Dabei wird in einem Hinsicht wie ein roter Faden durch die bei will ich in einem ersten Schritt drei letzten Schritt deutlich, wo die Gren- ganze UN-Konvention: Aspekte von Inklusion beleuchten, die zen eines Rechts auf Inklusion liegen. • zum einen vertikal oder lebenslau- in einem Gerechtigkeitskontext – und forientiert, indem die verschiede- nen Inklusionsformen, denen Men- schen im Laufe ihres Lebens begeg- Inklusion als basale Achtung nen, thematisiert werden – von der Inklusion in die Ursprungsfamilie, Eine erste, grundlegende Form der In- men von Exklusion können den Cha- über Schule bis hin zum Arbeits- klusion ist die basale Achtung einer rakter eines basalen Ausschlusses auf- leben; Person und ihre Aufnahme in die Ge- weisen: Dies ist beispielsweise der Fall, • zum anderen horizontal oder le- meinschaft von Menschen respekti- wenn sie Menschen entwürdigen und bensbereichsorientiert, indem die ve in die Menschenfamilie. Eine ganz sie in ganz grundlegendem Sinne als verschiedenen Lebensbereiche von fundamentale Form des Ausschlusses Menschen zweiter Klasse oder gar als Menschen thematisiert werden – aus der Gemeinschaft der Menschen Nicht-Menschen oder Tiere ansehen Inklusion in den Arbeitsbereich, in ist die Tötung. Aber auch andere For- und behandeln. 4 MOSINTERNATIONAL 10. Jg. (2016) Heft 3
Inklusion und Behinderung Menschen mit Behinderung haben Exklusion. Aus diesen Gründen ist seit ihr Augenmerk demgegenüber auf das lange unter Ausschluss gelitten, so- einigen Jahren auch aus den Reihen der Ziel einer gerechten Gesellschaft, das wohl theoretisch als auch lebensprak- Philosophie Kritik an solchen Gerech- allen Menschen ein würdiges Leben er- tisch. Lebenspraktisch zeigt sich dieser tigkeitsansätzen zu vernehmen (Nuss- möglicht. Das Ziel einer würdigen Ge- basale Ausschluss besonders deutlich baum 2006; Wolff 2009). Ihnen wird sellschaft wird gesetzt, und es wird da- in historischer Perspektive. So wurden ein anderer, subjektorientierter Gerech- nach gefragt, wie eine solche Gesell- Kinder mit Behinderungen in der An- tigkeitsansatz entgegengestellt. Inklusi- schaft aussehen müsste. Es versteht sich tike oftmals nach der Geburt getötet. ve Gerechtigkeitsvorstellungen, wie sie von selbst, dass damit die Grundlagen Im Mittelalter wurden Menschen mit etwa von Jonathan Wolff oder Martha und Konturen von Gerechtigkeit selbst Behinderung oder Entstellungen aus- Nussbaum vertreten werden, richten in das Zentrum des Interesses rücken. gesetzt und vor die Tore der Städte ge- jagt. Aber auch heute noch finden sich solche massiven Verstöße gegen Men- Subjektorientierte Gerechtigkeit schenrechte in vielen Teilen der Welt. Auch in theoretischer Hinsicht wa- Ein subjektorientierter Gerechtigkeits- fen auch alle des Schutzes durch den ren Menschen mit Behinderung lange ansatz, wie ihn Wolff oder Nussbaum Einschluss in die Gemeinschaft der Mo- Zeit ausgeschlossen, beispielsweise aus vertreten, geht von der fundamenta- ralsubjekte. Gerechtigkeitsdebatten (Goodlad/Rid- len moralischen (also letztlich normati- Ein weiterer Grund kommt hinzu: ven, nicht deskriptiven) Gleichheit aller Ob man in einer Gesellschaft oder an- Menschen mit Menschen aus. Er basiert auf der Über- deren Menschen gegenüber Pflichten Behinderung zeugung, dass Phasen der Abhängig- übernehmen kann, hat nicht nur mit waren lange aus keit von Hilfe und damit nicht-autono- individuellen Fähigkeiten zu tun, son- Gerechtigkeitsdebatten me Lebensabschnitte zur Existenz jedes dern auch mit der Ausgestaltung der ausgeschlossen Menschen gehören. Aus dieser Sicht Gesellschaft und den Anforderungen, richtet sich die Forderung der Gerech- die an ihre Mitglieder gestellt wer- dell 2005). Aus Sicht der Gerechtig- tigkeit nicht nur auf das strategische den. Etwas zu einem gesellschaftli- keitstheoretiker erfüllten sie die Auf- Vermögen der Subjekte (beispielswei- chen Mehrwert beitragen zu können, nahmebedingungen Rationalität, Ver- se Rationalität oder Vernunft), sondern ist relativ zur Gestaltung eben jener Ge- nunft, Zukunftsgerichtetheit etc. nicht. auch auf das nichtstrategische, also auf sellschaft. Daher sind die Auffassungen Versteht man Gerechtigkeit nämlich als Grundbedürfnisse und die Verletzlich- darüber, was relevante Fähigkeiten sind Tausch- oder Verteilungsgerechtigkeit keit des Menschen. Der Hintergrund oder was von gesellschaftlichem Nut- und damit als reziprokes Verhältnis un- hierfür ist die fundamentale Gleich- zen ist, ihrerseits gesellschaftlich ge- ter Gleichen, dann muss derjenige, der heit aller Menschen in ihren jeweils prägt und damit auch gesellschaftlich Rechte hat, selbst auch Pflichten über- gleichen Grundbedürfnissen. Gerade gestalt- und veränderbar. Mit dieser nehmen können (Buchanan 1990). weil Menschen in der Befriedigung ih- zweiten Erkenntnis geraten die Struk- Menschen in Abhängigkeitsverhältnis- rer fundamentalen Bedürfnisse nach turen einer Gesellschaft und indirekt sen, wie z. B. Personen mit schweren Nahrung, Obdach, Schlaf, zwischen- auch die Spielregeln, die über Ein- kognitiven Beeinträchtigungen, kön- menschlicher Zuwendung etc. von an- schluss oder Ausschluss entscheiden, nen nicht in einem engeren Sinne deren Menschen abhängig sind, bedür- in den Blickpunkt des Interesses. Pflichten übernehmen. Ergo erfüllten diese Menschen in den Augen be- stimmter Gerechtigkeitsansätze die Be- Konturen basaler Inklusion dingungen für die Inklusion in Gerech- tigkeitsüberlegungen nicht. Ihre wei- In der Annäherung über das negati- handelt zu werden und damit Subjekt tergehenden Forderungen nach ve Phänomen des grundlegenden Aus- einer bestimmten Einstellung zu sein Inklusion können nicht – oder zumin- schlusses gewinnen wir eine Vorstel- (Margalit 1997). Es umfasst auch das dest nicht direkt – als Forderungen der lung davon, was es heißt, in basalem Anrecht auf bestimmte Ressourcen, die Gerechtigkeit betrachtet werden. Sinne inkludiert zu sein. Eine sol- es erst erlauben, ein menschenwürdi- Es liegt nahe, dass mit diesem Aus- che Inklusion meint Einschluss in die ges menschliches Leben zu führen. Da- schluss ein prekärer moralischer Sta- menschliche Gemeinschaft und damit mit wiederum ist mehr gemeint als die tuts verbunden ist. Der Anspruch auf einen Anspruch auf basale Achtung. ganz grundlegenden Ressourcen, die umfassende Gleichstellung ist gefähr- Diese Achtung umfasst nicht nur den ein Mensch braucht, um überleben zu det und die Folge ist eine weitgehende Anspruch, als Mensch gesehen und be- können. Diese grundlegende Form der MOSINTERNATIONAL 10. Jg. (2016) Heft 3 5
Schwerpunktthema Inklusion ist vielmehr auch die Ein- meinschaft der Menschen notwendig ler Wertschätzung, aber auch in Form trittsvoraussetzung für weitere Formen ist. Zu einem Teil unterliegt dies kul- schädlichen, ungewollten Mitleids. der Inklusion und muss daher an diese turellen wie historischen Wandlungen Nun ist dieses gefühlsmäßige Erleben anschlussfähig sein. Inklusion in einem und muss daher immer konkret inter- von Zurückweisung, Kränkung, Ver- elementaren Sinn umfasst all das, was pretiert werden. letzung und Nicht-ernst-genommen- zum minimalen Anschluss an die Ge- werden zwar für sich allein noch kei- ne Gerechtigkeitsverletzung. Es ist aber damit zu rechnen, dass viele dieser Er- Inklusion als Teilhabe an gesellschaftlichen Verteilungs- lebnisse auf realen und zudem immer und Entscheidungsprozessen wieder erlebten Vorgängen beruhen und damit gerechtigkeitsrelevante Ver- Vertritt man also eine subjektorientier- dungsprozesse, deren Strukturen und stöße gegen Inklusionsinteressen dar- te Gerechtigkeitsauffassung, die als ba- Vorgängen, sowie aus Prozessen funk- stellen, selbst wenn sie von den Aus- sale Forderung der Gerechtigkeit die tionaler Differenzierung bzw. Un- führenden vielleicht nicht beabsichtigt Deckung von Grundbedürfnissen hat, gleichverteilung von ökonomischem, sind. Auch können verschiedene Erfah- ist damit bezüglich Inklusion noch sozialem und kulturellem Kapital rungen von Demütigung oder Abwer- nicht viel gewonnen. Es fehlt vor al- (Bourdieu 1983). Indirekt ist diese Form tung, von Verweigerung sozialer Wert- lem an Macht, an Entscheidungs- und auch deshalb, weil den betroffenen schätzung und anderem dazu führen, Verteilprozessen beteiligt zu sein. Ge- Menschen die substanziellen Möglich- dass ein Lebensgefühl von Hilflosigkeit rade in modernen und komplexen Ge- keiten fehlen, Einfluss auf gesellschaft- und Depression einsetzt, das wiederum sellschaften zeigt sich, dass die Erfah- liche Entscheidungsprozesse zu neh- zahlreiche andere Benachteiligungen rung, an Entscheidungs- und Vertei- men, selbst wenn sie formal Zugang bewirken kann. Viele Menschen mit lungsprozessen nicht beteiligt zu sein, zu den Foren und Prozeduren der Ent- Behinderung berichten beispielswei- ein wesentliches Moment von Aus- scheidung haben. Die Betroffenen fal- se, dass sie aus Angst, ausgelacht zu schluss darstellt. Armut beispielswei- len damit nicht aus der Wechselseitig- werden, ihr Haus nicht mehr verlas- se besteht in dieser Hinsicht nicht nur keit von – auch moralisch-rechtlichen sen. Diese „selbst gewählte“ Isolation aus einem Mangel an Ressourcen, son- –Anerkennungsverhältnissen, die in führt nicht nur zu Vereinsamung durch dern auch aus einem Mangel an Mit- der Gesellschaft stattfinden. Dies hat einen Mangel an sozialen Kontakten. wirkungs- und Mitbestimmungsmög- zur Folge, dass sie zwar Teil der Ge- Sie führt auch zu einer Verarmung der lichkeiten und damit einhergehender sellschaft sind, nicht aber an den Mög- Teilhabe an gesellschaftlichen Mitwir- Marginalisierung in der Gesellschaft. lichkeiten und wechselseitigen sozia- kungs- und Entscheidungsprozessen, Entsprechend ist die Herausforde- len Beziehungen oder Institutionen der wenn Menschen mit Behinderung in rung der Inklusion respektive das Pro- Gesellschaft teilhaben können. der Öffentlichkeit kaum präsent sind blem der Exklusion anders gelagert als und das öffentliche Leben nicht mitprä- im ersten, basalen Verständnis. Dort Viele Menschen mit gen. Im Effekt können solche ausgren- ging es um die Beschreibung der Ver- Behinderung verlassen zenden Erfahrungen zu weitgehendem weigerung eines grundlegenden mo- ihr Haus nicht, weil sie Ausschluss bei gleichzeitiger Absiche- ralischen Anspruchs. Die im ersten befürchten, ausgelacht rung basaler Lebensstandards führen. Abschnitt beschriebene Form der Ex- oder gedemütigt zu Damit erhalten sie, sozusagen auf lange klusion kann man auch externe Exklu- werden Sicht, Gerechtigkeitsrelevanz. sion nennen. Menschen fallen in dieser Auf theoretischer Ebene werden Sichtweise sozusagen „aus“ der Gesell- Diese subtilere Form von Exklusion diese Form von Exklusion respektive schaft, zumindest in der Hinsicht, dass kann sich beispielsweise dadurch voll- die Forderung nach Inklusion in ver- sie nicht als Subjekte von Gerechtig- ziehen, dass den betroffenen Menschen schiedenen Modellen von Behinderung keitsüberlegungen betrachtet werden. nicht geglaubt, ihnen nicht zugehört reflektiert. Vertritt man die Sichtwei- Das Problem vieler Menschen mit oder ihre Perspektive und Meinung se eines sozialen Modells von Behin- Behinderung ist allerdings keine ex- nicht ernst genommen wird. Prozes- derung (und seine diversen Weiterent- terne, sondern eine interne Exklusion. se interner Exklusion sind schwieriger wicklungen), dann entsteht eine Be- Diese Form von Exklusion ist indirekt, zu fassen und zu beschreiben als ex- hinderung im umfassenden Sinn erst denn aus gesellschaftlicher Sicht ist sie pliziter Ausschluss oder offene Diskri- durch gesellschaftlich konstruierte Bar- oft nicht direkt gewollt oder angestrebt. minierung. Betroffene erfahren sie oft rieren. Letztere sind es, welche Men- Sie entsteht vielmehr meist indirekt aus als subtile Zurückweisung, Kränkung, schen daran hindern, als Gleichwertige den Folgen demokratischer Entschei- Verletzung oder Verweigerung sozia- am kulturellen, politischen und wirt- 6 MOSINTERNATIONAL 10. Jg. (2016) Heft 3
Inklusion und Behinderung schaftlichen Leben teilzunehmen. So Die Forderung, die insbesondere in bereits genannt. Auf andere werde ich betrachtet ist Behinderung ein Problem den Disability Studies vertreten wird, im Folgenden noch zu sprechen kom- gesellschaftlicher Unterdrückung und ist folgerichtig die nach Inklusion in men. Diskriminierung. In der Sprache der In- die unterschiedlichen gesellschaftli- Zuerst einmal ist aber eine in der klusion ausgedrückt kann man sagen, chen Teilbereiche respektive die nach philosophischen Diskussion übliche dass eine Behinderung eine Form (in- Mitsprache in gesellschaftlichen Ent- Unterscheidung zwischen sogenannt ner-)gesellschaftlicher Exklusion ist. scheidungs- und Verteilungsprozessen. negativer und positiver Freiheit für den vorliegenden Zusammenhang wichtig. Die Unterscheidung wurde von Isaiah Inklusion als Freiheitsanspruch Berlin (1969) eingeführt. Negative Frei- heit meint dabei Freiheit von etwas, al- Die bisherige Reflexion hat vor allem klusionskontexte ausschließen. Sowohl so beispielsweise Freiheit von Gewalt zwei Dinge gezeigt: Gerechtigkeit und aus moralischen als auch lebensweltli- oder Unterdrückung. Sie ist die weni- Inklusion geraten in zweierlei Hinsicht chen Gründen macht es aber einen Un- ger weitgehende Form von Freiheit, da in ein wechselseitiges Verhältnis. Zum terschied, ob eine echte Wahl möglich sie einzig verlangt, ein bestimmtes Han- ersten verbinden sie sich im Anspruch, ist oder ob Kontexte und Ressourcen deln zu unterlassen, also beispielswei- alle Menschen mit Behinderung als einfach vorgegeben sind. se jemanden nicht zu foltern oder in Subjekt von Gerechtigkeitsforderungen Der indische Philosoph Amartya anderer Form zu unterdrücken. Die an- anzunehmen und damit deren Bedürf- Sen (1992) war einer der ersten Ge- dere Form der Freiheit, die positive Frei- nisse und Interessen als solche von Ge- rechtigkeitstheoretiker, die auf die Be- heit, ist mit weitergehenden Forderun- rechtigkeit auszuweisen. Zum zweiten deutung von Freiheit für gesellschaft- gen verbunden. Sie meint Freiheit zu treten sie in ein wechselseitiges Ver- liche Teilhabe hingewiesen haben. etwas. Im Kontext von Inklusion und hältnis, indem die Norm der Gerechtig- Zwei Aspekte sind für ihn von be- Exklusion könnte man argumentieren, keit unter dem Gesichtspunkt von In- sonderer Bedeutung: erstens die Fest- dass Freiheit von Exklusion das nega- klusion fordert, Menschen mit Behin- stellung, dass es nicht nur einfach tive Freiheitsverständnis umfasst. Die- derung an Prozessen der Mitsprache um das Ergebnis – hier gesellschaft- se Forderung würde umfassen, dass je- zu beteiligen und als Gleichwertige in liche Teilhabe oder Inklusion – ge- mand nicht unberechtigterweise vom Verteilungsprozessen wahrzunehmen. hen kann, wenn man dieses unter Ge- Zugang zu wichtigen gesellschaftlichen Aber es gehört noch mehr zu diesem rechtigkeitsüberlegungen betrachtet. Ressourcen – beispielsweise der Bil- wechselseitigen Bezug von Gerechtig- Man muss auch darauf schauen, wie dung – ausgeschlossen wird. Freiheit keit und Inklusion. Denn sowohl der dieses Ergebnis entstanden ist. Es ist zu Inklusion wiederum würde die po- erste wie auch der zweite Anspruch al- beispielsweise bedeutsam, ob ein ge- sitive Freiheit meinen – die Freiheit, sich leine sind nicht in der Lage, alle Grund- hörloses Kind eine Sonderschule be- zu inkludieren und Bildung in einem lagen abzudecken, die notwendig sind, suchen möchte, dabei aber die Wahl- umfassenden Sinn in Anspruch neh- um gesellschaftlich substanziell teil- freiheit zwischen einer spezialisierten men zu können. Die Gerechtigkeitsfor- haben zu können. Dazu gehört mehr: Gehörlosenschule und einer integra- derung nach Inklusion umfasst also ei- beispielsweise die Freiheit, Inklusions- tiv arbeitenden Sonderschule hat, oder nen weiten Bereich positiver und nicht kontexte selbst auszuwählen sowie eine nicht. Zwar ermöglichen beide in ge- nur negativer Freiheit. inhaltlich gehaltvolle – nicht nur for- wissem Sinne Inklusion. Aber im ei- male – Beteiligung an gesellschaftli- nen Fall kommt sie durch einen Pro- Das Recht behinderter chen Entscheidungsprozessen. zess der Freiheit zustande, und im an- Menschen auf Teilhabe Die Bedeutung der Entscheidung, deren Fall nicht. Zweitens schlägt Sen setzt voraus, dass ihre wo man sich inkludieren, welche Art vor, diese Freiheitsräume als Verwirk- jeweiligen Bedürfnisse als von Mitsprache man genießen möch- lichungschancen (im Original: capabi- gleichberechtigt anerkannt te oder wie die benötigten Ressour- lities) zu betrachten. Versteht man die- werden cen oder Hilfsmittel (wie Lesegeräte, se Verwirklichungschancen als Inklu- Rollstühle, aber auch heilpädagogische sionschancen, dann sind damit auch Mit einem Nicht-Ausschluss, wie es Unterstützung) ausgestaltet sein müs- die vielschichtigen Voraussetzungen eine negative Freiheitsforderung um- sen, wirft nun Licht auf die Bedeu- oder Bedingungen von Inklusion ge- schreibt, ist nicht bereits Teilhabe oder tung von Freiheit für die Inklusion von meint. Einige, unter anderem gesell- Inklusion sichergestellt. Und auch die Menschen. Im negativen Fall kann In- schaftliche Mitsprache und Teilhabe Forderung, nicht daran gehindert zu klusion auf Zwang beruhen bzw. jede an demokratischen Willensbildungs- werden, sich selbst zu inkludieren, ge- Wahlfreiheit bezüglich möglicher In- und Entscheidungsprozessen, wurden nügt nicht für umfassende Inklusion. MOSINTERNATIONAL 10. Jg. (2016) Heft 3 7
Schwerpunktthema Menschen benötigen dazu bestimm- ziale Freiheit deutliche Konturen. Denn keitsüberlegungen – zumindest in di- te Formen von Anerkennung, Hilfen, sie weist darauf hin, dass Menschen in rekter Weise – weitgehend entzieht. Die- Förderung und so weiter. Auch diese der Verfolgung ihrer Lebenspläne und sen Bereich zwischenmenschlicher oder müssen durch Gerechtigkeitsansprü- -ziele auf die Hilfe und Unterstützung gemeinschaftlicher Inklusion, der für che nach Inklusion abgedeckt werden. anderer angewiesen sind. Menschen be- Gerechtigkeitsforderungen betreffend Und man könnte noch hinzufügen, nötigen, so Honneths Punkt, Anerken- Inklusion aus mehreren Gründen eine dass eine weitergehende, dritte Art von nung der Gleichberechtigung ihrer Be- Herausforderung ist, möchte ich im fol- Freiheit wichtig ist, die von Axel Hon- dürfnisse. Erst dann sind sie in sozialem genden Abschnitt genauer betrachten. neth (2011) als soziale Freiheit verstan- Sinne frei. Diese Freiheit ist in gewis- Folgt man den soziologischen Stu- den wird. Frei sind Menschen in diesem sem Sinne grundlegender, da sie darauf dien von Ferdinand Tönnies (2005), Sinne nur dann, wenn Freiheit in An- hinweist, dass die Freiheit jedes Men- Max Weber (1922), Emile Durkheim erkennung ihrer wechselseitigen, sozia- schen – ob negativ oder positiv – letzt- (1992) und anderen, dann stellt man – len Bedingtheit gelebt werden kann. Im lich sozial ermöglicht und legitimiert bei allen Unterschieden in den Theo- Kontext von Behinderung erhält die so- werden muss. rien der verschiedenen Gründervä- ter der Soziologie – fest, dass sich im Verhältnis von Menschen zueinander, Gemeinschaftliche Inklusion als Überforderung zur Gesellschaft und zu ihren Institu- rechtlicher Garantien tionen die kategoriale Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft Im Verlauf der bisherigen Ausführun- der Inklusion selbstbestimmt tref- durchzieht. Während die gesellschaft- gen sind drei Verhältnisse zwischen fen zu können und die notwendigen liche Inklusion Strukturen, Institutio- Gerechtigkeit und Inklusion angespro- Ressourcen, Hilfen und Förderun- nen und abstrakte Beziehungen zwi- chen worden: gen für gesellschaftliche Inklusion schen Menschen umfasst, begegnen • erstens der Anspruch, als Subjekt zu erhalten. sich bei der gemeinschaftlichen In- der Moral zu gelten und damit ba- klusion Individuen als konkrete Ande- sale Achtung zu erhalten, Es ist nicht schwierig, diese Aspekte re. Und während in der ersten Sphäre • zweitens gesellschaftliche Mitspra- von Inklusion unter moralischen wie zwischenmenschliche Gefühle und Be- che und Teilhabe zu haben und legalen Gesichtspunkten durch Rech- ziehungen nicht zwingend vorhanden • drittens einen möglichst großen te gestärkt zu sehen. sein müssen, sind sie für die zweite Raum an Freiheit zu genießen, ins- Nun existiert aber auch ein Bereich konstitutiv. Dies bedeutet, dass sich besondere dahingehend, in seinen von Inklusion, der in den Kategorien gemeinschaftliche Inklusion maßgeb- Bedürfnissen sozial anerkannt zu der Gerechtigkeit oder des Rechts kaum lich über Zugehörigkeitsgefühle und sein, Entscheidungen über Formen zu fassen ist, weil er sich Gerechtig- zwischenmenschliche Anerkennungs- LITERATUR Baier, Annette C. (1995 (1987)): The Need for More than Justice. Honneth, Axel (2011): Das Recht der Freiheit, Frankfurt a. M. In: Held, Virginia (Hg.): Justice and Care, Boulder, S. 47–58. Margalit, Avishai (1997): Politik der Würde – Über Achtung und Berlin, Isaiah (1969): Two Concepts of Liberty. In: ders. (Hg.): Li- Verachtung, Berlin. berty, Oxford, S. 166–217. Nussbaum, Martha C. (2006): Frontiers of Justice: Disability, Na- Bourdieu, Pierre (1983): Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, tionality, Species Membership, Cambridge MA. soziales Kapital. In: Kreckel, Reinhard (Hg.): Soziale Ungleich- Sen, Amartya (1992): Inequality Reexamined, Oxford. heiten, Göttingen, S. 183–198. Tönnies, Ferdinand (2005): Gemeinschaft und Gesellschaft: Grund- Buchanan, Allen (1990): Justice as Reciprocity versus Subject-Cen- begriffe der reinen Soziologie, Darmstadt. tered Justice. In: Philosophy and Public Affairs 19(3), S. 227– United Nations (2006): Convention on the Rights of Persons with 252. Disabilities, Genf. Durkheim, Emile (1992): Über soziale Arbeitsteilung: Studie über Weber, Max (1922): Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen. die Organisation höherer Gesellschaften, Frankfurt a. M. Wolff, Jonathan (2009): Cognitive Disability in a Society of Equals. Goodlad, Robina; Riddell, Sheila (2005): Introduction: Disabled In: Metaphilosophy 40(3–4), S. 402–415. People and Social Justice. In: Social Policy and Society 4(1), S. 43–44. 8 MOSINTERNATIONAL 10. Jg. (2016) Heft 3
Inklusion und Behinderung prozesse bildet. Sind Menschen in Ge- den im gemeinschaftlichen Bereich be- KURZBIOGRAPHIE meinschaften inkludiert, begegnen sie deuten würde, wird rasch klar, dass Franziska Felder (*1976), Dr. phil., ar- sich als konkrete Individuen mit ei- hier ein wichtiges Grundrecht ver- beitet aktuell an der University of New ner Geschichte, einem Charakter, be- letzt würde. Es würde nämlich bedeu- South Wales (Sydney, Australien) an stimmten Eigenschaften, Fähigkeiten, ten, dass jeder Mensch, ohne Angabe ihrer Habilitation zur Frage der nor- Interessen, Plänen und Zielen. Wech- weiterer Gründe, ein prima facie Recht mativen Grundlagen einer inklusiven selseitig zollen sie sich entsprechende auf Zugehörigkeit zu jeder x-beliebi- Schule. Sie studierte in Zürich Son- Anerkennung. gen Gemeinschaft hätte. Dass ein sol- derpädagogik, Betriebswirtschaft und Gerade in gemeinschaftlicher Hin- ches nicht erstrebenswert ist, ist offen- Filmwissenschaft. Am Ethikzentrum sicht zeigt sich nun die Grenze eines sichtlich. Eine solche Gesellschaft hät- der Universität Zürich und am Univer- Rechts auf Inklusion deutlich. Gemein- te stark totalitäre Züge. In ihr hätten sity College London verfasste sie ihre schaftliche Inklusion würde durch ei- Menschen unter anderem wenig Pri- Dissertation, die 2012 unter dem Ti- ne ausschließlich rechtliche, gerech- vatsphäre und kaum Autonomie, ihre tel „Inklusion und Gerechtigkeit – Das tigkeitsbasierte Implementierung Ge- eigenen Pläne und Ziele in von ihnen Recht behinderter Menschen auf Teil- fahr laufen, genau das Gut zu verletzen, gewählten Gemeinschaften zu verwirk- habe“ bei Campus, Frankfurt a. M., er- das abgesichert werden soll. Am deut- lichen sowie solche Beziehungen frei- schienen ist. Weiteres unter: www.ife. lichsten wird dies am Beispiel Freund- willig einzugehen. uzh.ch/de/research/sbi/mitarbeitende2/ schaft. Es macht Freundschaft gerade Gerechtigkeit und Inklusion ver- felderfranziska.html. lieren also in der gemeinschaftlichen Die von direkten Sphäre ihren engen Zusammenhang. zwischenmenschlichen Mit anderen Worten: Inklusion wird Beziehungen getragene hier nicht mehr durch Gerechtigkeits- Menschen wären darin einsam, apa- gemeinschaftliche überlegungen gedeckt, und es besteht thisch und würden ihr Leben zumin- Inklusion ist auf rechtlich kein Gerechtigkeitsanspruch auf ge- dest unter sozialen Gesichtspunkten nicht erzwingbare meinschaftliche Inklusion, jedenfalls als leer oder vielleicht gar als sinn- Freiwilligkeit angewiesen kein direkter. Damit öffnet sich aller- los erachten. Rechte und der Respekt dings ein Dilemma. Denken wir an In- vor Rechten wäre dann vollkom- aus (neben Gefühlen der Nähe und Ver- klusion respektive an Orte und Kon- men kompatibel mit einem schlech- trautheit), dass sie freiwillig erbracht texte, wo wir inkludiert sind oder sein ten Leben im Sinne einer sozialen wird, denn Freundschaft ist zentral an möchten, kommen uns wohl augen- und moralischen Verarmung (Baier persönliche Zu- und Hinwendung ge- blicklich eine Reihe von Gemeinschaf- 1995; 1987). bunden. Und allgemein bezogen auf ten in den Sinn (beispielsweise unse- • Die Politik der Inklusion braucht Formen gemeinschaftlicher Inklusion re Freunde und unsere Familie). Meist also eine breitere Agenda als die gilt: Selektivität und Exklusivität ge- denken wir erst nachrangig an die ge- der Gerechtigkeit oder der Rechte, hören charakteristischerweise zu all sellschaftliche Inklusion, die unser ge- wie sie in internationalen Vereinba- diesen Formen von Inklusion. Ich kann meinschaftliches und individuelles Le- rungen wie der UN-BRK abgebildet zwar mit Hans und Lotta und einigen ben ebenfalls prägt. werden. Was Menschen mit Behin- wenigen anderen befreundet sein, aber derung brauchen, ist zwar all das. nicht mit allen Menschen, mit denen Aber es genügt nicht. Menschen ich bekannt bin oder die mir – in ei- Fazit müssen sich einander freiwillig zu- nem sehr weiten Sinne – bekannt sind. wenden und nicht nur deshalb, weil Engere und weitere zwischenmensch- • Wir sind in unseren Leben auch sie aus Gerechtigkeitsgründen dazu liche Beziehungen sind zentral von bezüglich Inklusion abhängig von verpflichtet sind. subjektiven Interessen und Präferen- Quellen, die sich nicht aus morali- • Die Moral der Gerechtigkeit kann zen gesteuert und lassen sich nicht über schen und/oder juridischen Rech- also nicht in jede Ecke unseres Le- Gerechtigkeitsansprüche verpflichtend ten und Gerechtigkeitsbezügen er- bens dringen. Sie deckt daher kon- durchsetzen. Wäre dies so, bestünde geben. Würde sich unser Leben sequenterweise auch nicht alle For- die Gefahr einer Zwangsvergemein- einzig darin erstrecken, dass Recht derungen ab, die berechtigterweise schaftung bzw. eines Zwangs, be- und Gerechtigkeit herrschten, hät- mit Inklusion verbunden sind. Sie stimmte Gefühle empfinden und erwi- ten Menschen untereinander auch umfasst diejenigen Bereiche mora- dern zu müssen. keine anderen Beziehungen als die, lischer Forderungen, die über Rech- Wenn man bedenkt, was ein Recht die benötigt werden, eine liberale te und Pflichten fassbar sind. Nicht auf Inklusion aus Gerechtigkeitsgrün- Gesellschaft aufrecht zu erhalten. weniger, aber auch nicht mehr. MOSINTERNATIONAL 10. Jg. (2016) Heft 3 9
Schwerpunktthema Gemeinsam arbeiten Sozialethische Anmerkungen zur menschenrechtsbasierten Inklusion im Arbeitsmarkt Menschen mit Behinderung sind häufig vom Erwerbsleben ausgeschlossen. Ihr Wunsch, einer regulären Erwerbstätigkeit nachzugehen, bleibt oft unerfüllt, weil viele Arbeit- geber lieber Ausgleichszahlungen leisten, als betriebliche Abläufe im erforderlichen Umfang zu verändern. Dennoch gibt es auch gegenteilige positive Beispiele. Der fol- gende Beitrag setzt zunächst das menschenrechtsbasierte Verständnis von Inklusion von einem bloß funktional-systemtheoretischen Verständnis von Inklusion ab. Vor diesem Hintergrund werden unterschiedliche Grade der Teilhabe an weiteren gesell- Deutscher Ethrikrat (DER) schaftlichen Teilsystemen und insbesondere am regulären Arbeitsmarkt erläutert. Aus- gehend von der Achtung jener Würde, die jedem Menschen als Mensch innewohnt, werden rechtliche und soziale, berufliche und private Bedingungen für eine gleich- wertige Zugehörigkeit dargelegt. Die ambivalenten Auswirkungen des geschützten zweiten Arbeitsmarktes für Menschen mit Behinderung werden ebenso thematisiert wie die Frage, ob es gerechtfertigt ist, ihre Arbeitskraft in das Kalkül einer profit- orientierten Wirtschaft einzubeziehen. Andreas Lob-Hüdepohl „Autisten bei SAP“ – ein paradigmatisches Beispiel dienen, die in einem offenen, integra- für gelingende Inklusion? tiven und für Menschen mit Behinde- rungen zugänglichen Arbeitsmarkt und Am 21.5.2013 meldete Spiegelonline tenqualitätssicherung einsetzen.“ Da- Arbeitsumfeld freigewählt oder ange- unter der Überschrift „Super-Talente bei macht es aus Sicht der IT-Branche, nommen wird.“ (Art. 27 UN-BRK) Mehr mit Überraschungseffekt“ eine weithin so begründet SAP sein Engagement, noch: Mit der geplanten Einstellungs- beachtete personalpolitische Initiative „Sinn, auf Autisten zu setzen. Sie ha- politik von SAP erfahren die betroffe- des Software-Konzerns SAP. Dieses in- ben oftmals ein besseres Gefühl für De- nen Menschen die Anerkennung und ternational hoch erfolgreiche und in- tails. Lange Zahlenkombinationen zu Wertschätzung jener „Fertigkeiten, novative Unternehmen beabsichtigt die überprüfen, ist beispielsweise für Au- Verdienste und Fähigkeiten“, die Men- Einstellung von hunderten von Frauen tisten kein Problem. Für Unternehmen, schen mit Behinderungen in den Ar- und Männern mit „Störungen“ aus dem die im Zeitalter der ständigen techno- beitsmarkt einbringen und mit denen Autismus-Spektrum – „Störungen“, die logischen Veränderungen immer wie- sie die Arbeitswelt insgesamt berei- es üblicherweise verhindern, dass die der neue Programme und Produkte ent- chern. (Art. 8 UN-BRK) Während Men- betroffenen Frauen und Männer halb- wickeln müssen, um konkurrenzfähig schen mit Behinderungen bislang wegs erfolgreich auf dem „normalen“ zu bleiben, sind sie ein Glücksgriff.“ dadurch qualifiziert wurden, ihre De- (Ersten) Arbeitsmarkt reüssieren kön- (SAP 2013, Hervor. ALH) fizite in Richtung so genannter „Auch- nen; „Störungen“ aber auch, die ihnen Auch aus Sicht des Bundesverban- Kompetenzen“, die sie wie andere Men- und vor allem den einstellenden Un- des Autismus Deutschland ist diese per- schen auch besitzen, zu überwinden, ternehmen jetzt zum (ökonomischen) sonalpolitische Initiative fast schon ein stehen jetzt ihre „Nur-Kompetenzen“ Segen werden sollen: „Nun hat auch Paradebeispiel für gelingende Inklu- im Zentrum der Aufmerksamkeit – SAP“, wie es in der Pressemitteilung sion und für die praktische Umsetzung Kompetenzen also, die im Gegensatz des Unternehmens heißt, „diese Ar- der UN-Behindertenrechtskonvention zu anderen auf Grund ihrer spezifi- beitnehmergruppe in Deutschland für von 2006 (BRK). Denn diese fordert für schen Lebensumstände und Lebenswei- sich entdeckt und will bis 2020 Hun- jeden Menschen mit Behinderungen se nur sie besitzen. Damit wird der Kern derte Autisten als Softwaretester, Pro- das „Recht auf die Möglichkeit, den aller inklusiven Prozesse berührt: Die grammierer und Spezialisten für Da- Lebensunterhalt durch Arbeit zu ver- Mitarbeiter*innen aus dem Autismus- 10 MOSINTERNATIONAL 10. Jg. (2016) Heft 3
Inklusion und Behinderung spektrum werden nicht in bereits be- men des gemeinsamen Arbeitens befä- psychisch kranke Menschen, die als „Ir- stehende Arbeitsabläufe integriert, al- higt werden. Es kommt zu dem, was re“ in Käfigen ausgestellt wurden, ei- so eingepasst; sondern das Bestehende man die Enthinderung auf Seiten der ne zugkräftige Attraktion für jeden Mehrheitsgesellschaft nennen kann. Jahrmarkt und Zirkus. Beide Personen- Gelingende Inklusion Bestand bisher die Behinderung behin- gruppen hatten eine Funktion und An- beschränkt sich nicht derter Menschen darin, dass ihnen die teil am gesellschaftlichen Leben; sie auf die Einpassung unproblematische Teilhabe am öffent- waren in systemtheoretischer Zuspit- in bestehende lichen Leben durch umwelt- und ein- zung inkludiert – aber in einer Art und Arbeitsabläufe, sondern stellungsbedingte Barrieren erschwert, Weise, die heute als zutiefst unwürdig bedarf der umfassenden wenn nicht sogar verunmöglicht wur- und menschenverachtend gebrand- Transformation des de, so ermöglicht das gemeinsam ge- markt werden würde. Bestehenden staltete, gleichberechtigte Arbeiten den Freilich kennt selbst Niklas Luh- Abbau von „Klischees, Vorurteilen und mann die Möglichkeit einer gesell- wird in einem umfassenden Sinne in schädlichen Praktiken“ hin zu einer schaftlichen Exklusion in einem um- einer Weise transformiert, dass alle Sei- „positiven Wahrnehmung von Men- fassenden Sinne. Denn Ausschlüsse aus ten, also auch die bereits vorfindlichen schen mit Behinderungen“. (Art. 8 UN- mehreren wichtigen Teilsystemen be- Mitarbeiter*innen, für die neuen For- BRK) dingen sich wechselseitig und können unheilvoll kumulieren: „keine Ausbil- dung, keine Arbeit, kein Einkommen, „Mittendrin statt nur dabei!“ – zwei Weisen der Inklusion keine regulären Ehen, (…) keine Betei- ligung an der Politik, kein Zugang zu Natürlich ist die Initiative von SAP vor- Unterstützung besitzt, kompensiert der Rechtsberatung, zur Polizei oder zu Ge- erst nur ein Programm. Aber es knüpft Einschluss (Inklusion) in das Netz so- richten – die Liste ließe sich verlängern an erfolgreiche Modelle inklusiver Er- zialer Sicherungen den (zumindest vo- und sie betrifft, je nach Umständen, werbsarbeit an, wie sie prominent et- rübergehenden) Ausschluss (Exklusion) Marginalisierungen bis hin zum gänz- wa durch das Unternehmen auticon seit aus einem anderen gesellschaftlichen lichen Ausschluss“ (Luhmann 1995, vielen Jahren entwickelt und mit Er- Teilsystem (Arbeitsmarkt). In ähnlicher 148). Die Wechselwirkungen zwischen folg praktiziert werden. Unter sozial- Weise sind auch Menschen mit Behin- • der Sphäre der Erwerbsbeteiligung ethischer Rücksicht ist besonders auf- derungen bereits dann gesellschaftlich (einschließlich der in ihnen gene- schlussreich, welches Verständnis von inkludiert, wenn sie in einen der prin- rierten sozialen Bezüge und Wert- Inklusion all diesen Bemühungen zu zipiell möglichen Gesellschaftsbezüge schätzungen), Grunde liegt. eingebunden sind. Wenn sie etwa in • der Sphäre des Rechts bzw. des Inklusion ist mittlerweile ein zu- Werkstätten für behinderte Menschen rechtlich verbrieften sozialen Sta- gleich prominenter wie sehr schillern- ausgebildet und beschäftigt sind, wä- tus und der Begriff und muss deshalb erläutert ren sie in diesem Sinne in die Gesell- • der Sphäre von Freundschaften, von werden. Er changiert zwischen einer schaft inkludiert. Welche Qualität der sozialen Nähen und von Solidar- deskriptiv-funktionalen und einer em- bündnissen phatisch-normativen Bedeutung. Eine Die bloße Einbindung funktional-deskriptive Bedeutung be- von Menschen in können sich zu einer Form des Ausschlus- sitzt „Inklusion“ in der sozialwissen- gesellschaftliche Bezüge ses verdichten, in der sich die Betroffe- schaftlichen Armutsforschung. Spezi- gibt keine Auskunft nen nicht mehr nur als in dieser oder je- ell die klassische Systemtheorie Niklas über die Qualität ner Hinsicht Ausgeschlossene, sondern als Luhmanns (Luhmann 2005) nutzt ihn der entsprechenden schlechthin Überflüssige erleben. Über- als Gegenbegriff zur Exklusion. Eine Partizipation flüssige spielen gesellschaftlich aber kei- Person gilt dann als inkludiert, wenn ne Rolle mehr. Ihnen fehlen jene Kompe- sie in mindestens ein zentrales Teilsys- Einschluss und die damit verbundene tenzen, die verhindern könnten, „wegen tem der Gesellschaft einbezogen ist und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ungenügender Erfüllung anspruchsvol- dort eine Funktion besitzt. Zwar mag besitzen, ist in einer funktional-de- ler ‚moderner‘ Teilnahmevoraussetzun- ein Erwerbsloser aus dem Teilsystem skriptiven Betrachtungsweise dagegen gen ‚aussortiert‘ und so als Angehörige des Arbeitsmarktes (vorübergehend) ohne Belang. So hatten in früheren Zei- der ‚gesellschaftlichen Gemeinschaft‘ exkludiert sein. Insofern er aber im ten die verunglimpften „Dorftrottel“ in disqualifiziert [zu] werden“ (Offe 1996, Netz der sozialen Sicherung Ansprü- der dörflichen Gemeinschaft eine wich- 274). Diese funktionale Charakterisierung che auf materielle oder immaterielle tige soziale Funktion. Ähnlich waren von Ausgeschlossenen und Überflüssigen MOSINTERNATIONAL 10. Jg. (2016) Heft 3 11
Schwerpunktthema trifft die Lebenssituation und das Lebens- grund einer Höhenphobie jegliche Klet- Lebens. Ausschlüsse in diesen Berei- gefühl vieler Menschen mit Behinderun- tersteige meidet, ist der Zugang zum chen beeinträchtigen tatsächlich eine gen. Schon die Debatten über die Prä- Klub der Extrembergsportler ebenso der Menschenwürde entsprechende Le- nataldiagnostik (PND) oder die Präim- versperrt wie der religiös Unmusikali- bensführung. Hier fordert Inklusion – plantationsdiagnostik (PID) müssen sie sche aus dem Kreis derer ausgeschlos- nunmehr normativ-emphatisch auf- beispielweise als Beitrag zur Vermeidung sen ist, die sich allwöchentlich in die geladen – reale Beteiligungschancen Überflüssiger interpretieren. Denn PND Tiefe meditativer Gottesdienste einsen- an all jenen privaten wie öffentlichen wie PID dienen ausdrücklich der Ver- ken und daraus Lebenskraft schöpfen. Gütern, die für ein würdevolles Leben hinderung von Menschen mit geneti- Die Liste alltäglicher Ausschlüsse lie- essentiell sind. Inklusion schützt und schen Dispositionen, die zu leiblichen ße sich beliebig verlängern. Solche Ex- gestaltet solche privaten wie öffent- und/oder geistigen Beeinträchtigungen klusionen verhindern keinesfalls auto- lichen Arrangements, in denen Men- führen können. matisch ein Leben in Menschenwürde. schen unterschiedlichster Besonderhei- Die Behinderten(rechts)bewegung Dagegen gibt es Exklusionen, die die ten in den sozialen Netzen ihrer Le- setzt gegen die Exklusion behinderter Bedingungen der Möglichkeit würde- benswelten als eigenständige Akteure Menschen einen markanten Kontra- voller Lebensführungen unmittelbar ihrer Lebensführung befähigt werden punkt: Maßstab ihrer gesellschaftlichen berühren. Solche Exklusionen betref- und dabei lernen, sich zu bewähren. Inklusion ist nicht mehr ihre Funktio- fen vor allem öffentliche wie private Inklusion im normativ-emphatischen nalität in irgendeinem gesellschaftli- Bereiche, in denen menschenrechtli- Sinne beschreibt folglich weniger ei- chen (Teil-)System, sondern die effek- che Ansprüche residieren. Freiheits-, nen (soziologisch feststellbaren) Zu- tive Gewährleistung ihrer Rechte als Partizipations- sowie Wirtschafts-, stand, denn eine (persönliche) Haltung Bürgerinnen und Bürger eines men- Sozial- und Kulturrechte formulie- und einen fortwährenden (gesellschaft- ren gewissermaßen Bedingungen der lichen) Prozess. Inklusion heißt, die Möglichkeit eines menschenwürdigen Rechte der Menschen mit Behinderung in allen relevanten Würdig leben durch Inklusion und Partizipation – Lebensbereichen zu die Kernlogik der Behindertenrechtskonvention respektieren und zu fördern Besonders die öffentliche Diskussion • die Achtung vor der Unterschied- rezipiert die UN-BRK gleichsam als lichkeit von Menschen mit Behin- schenrechtlich ambitionierten Gemein- „Inklusionskonvention“. Dabei läuft derungen und die Akzeptanz dieser wesens und damit ihrer Würde als sie Gefahr, die konstitutiven Wechsel- Menschen als Teil der menschlichen Mensch. Darin besteht der grundlegen- bezüge des Paradigmas Inklusion zu Vielfalt und der Menschheit; (…) de Perspektivenwechsel einer norma- anderen Paradigmen aus dem Auge • die Achtung vor den sich entwi- tiv-emphatischen Bedeutung von In- zu verlieren. Zu Recht muss Inklusion ckelnden Fähigkeiten von Kindern klusion. Inkludiert sind Menschen mit als zentrale „Leitidee mit visionärem mit Behinderungen und die Ach- Behinderungen dann, wenn ihre fun- Charakter“ (Theunissen 2010, 13) ge- tung ihres Rechts auf Wahrung ih- damentalen Rechte als Menschen in sehen werden. Andere Paradigmen in rer Identität.“ allen relevanten Lebensbereichen res- der Förderung behinderter Menschen pektiert, geschützt und gefördert wer- wie das Empowerment oder die Parti- Daraus folgt: Die Einbeziehung in die Ge- den – und zwar unabhängig davon, ob zipation werden aber keinesfalls über- sellschaft („inclusion“) muss mit der vol- sie in ihrer spezifischen Lebenslage ge- flüssig. Die UN-Behindertenkonvention len und wirksamen Teilhabe („participa- sellschaftlich funktionstüchtig oder zählt dementsprechend in Art. 3 zu ih- tion“) an der Gesellschaft, mit der mehrwertsteigernd sind. ren „allgemeinen Grundsätzen“ Achtung vor der (bleibenden!) Unter- Vom funktional-deskriptiven lernt • „die Achtung der dem Menschen in- schiedlichkeit („difference“) der Men- das normativ-emphatische Inklusi- newohnenden Würde, seiner indivi- schen mit Behinderungen als Teil der onsverständnis die Einsicht, dass nie- duellen Autonomie, einschließlich menschlichen Vielfalt („diversity“) so- mand in alle denkbaren Teilsysteme, der Freiheit, eigene Entscheidungen wie mit der Achtung vor den intrinsi- die sich in einer funktional differen- zu treffen, sowie seiner Unabhän- schen Entwicklungspotentialen von Kin- zierten Gesellschaft ausbilden, einbe- gigkeit; (…) dern mit Behinderungen als Teil deren je zogen sein kann. Er muss es auch nicht • die volle und wirksame Teilhabe an spezifischer Identität („identity“) einher- sein, um ein würdevolles Leben füh- der Gesellschaft und Einbeziehung gehen. Diese Grundsätze gestalten ihrer- ren zu können. Demjenigen, der auf- in die Gesellschaft; seits alle Prozesse der Inklusion qualitativ 12 MOSINTERNATIONAL 10. Jg. (2016) Heft 3
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