Internationale Zeitschrift für christliche Sozialethik - Amosinternational

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Internationale Zeitschrift für christliche Sozialethik - Amosinternational
Internationale Zeitschrift für
                            christliche Sozialethik

Inklusion und Behinderung   Franziska Felder
                            Gerechte Teilhabe und Freiheitsanspruch

                            Andreas Lob-Hüdepohl
                            Gemeinsam arbeiten – Inklusion im Erwerbsleben

                            Kai-Uwe Schablon
                            Sozialraumkonzept Community care

                            Christof Breitsameter
                            Das Körperbild der Neuzeit und die Biomedizin

                            Nadia Primc
                            Diskriminierung bei Organtransplantationen?

                            Marco Bonacker
                            Gerechtigkeit durch inklusive Bildung

                            Sozialinstitut Kommende Dortmund
                            3/2016
Internationale Zeitschrift für christliche Sozialethik - Amosinternational
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10. Jahrgang                     2016       Heft 3                 Verlag und Anzeigenverwaltung
                                                                   Aschendorff Verlag GmbH & Co. KG
Herausgeber                                                        D–48135 Münster
Prälat Dr. Peter Klasvogt, Dortmund                                Tel. (0251) 69 01 31
    Sozialinstitut Kommende                                        Anzeigen: Petra Landsknecht, Tel. (0251) 69 01 33
Prof. Dr. Christian Spieß, Linz                                    Anzeigenschluss: am 20. vor dem jeweiligen Erscheinungsmonat
Prof. Dr. Joachim Wiemeyer, Bochum                                 Erfüllungsort und Gerichtsstand: Münster
    Arbeitsgemeinschaft der deutschsprachigen Sozialethiker
Prof. Dr. Peter Schallenberg, Mönchengladbach                      Bezugsbedingungen
    Katholische Sozialwissenschaftliche Zentralstelle              Preis im Abonnement jährlich: 49,80 c/sFr 85,-
Stefan Lunte, F-Besson/B-Brüssel                                   Vorzugspreis für Studenten, Assistenten, Referendare:
                                                                   39,80 c/sFr 69,20
Redaktion                                                          Einzelheft: 12,80 c/sFr 23,30; jeweils zzgl. Versandkosten
Dr. phil. Dr. theol. Richard Geisen (Kommende, Dortmund)           Alle Preise enthalten die gesetzliche Mehrwertsteuer.
Dipl.-Theol. Detlef Herbers (Kommende, Dortmund)                   Abonnements gelten, sofern nicht befristet, jeweils bis auf Widerruf.
Dr. phil. Wolfgang Kurek (KSZ, Mönchengladbach)                    Kündigungen sind mit Ablauf des Jahres möglich, sie müssen bis
                                                                   zum 15. November des laufenden Jahres eingehen.
Konzept Schwerpunktthema
Prof. Dr. Monika Bobbert                                           Bestellungen und geschäftliche Korrespondenz
                                                                   Aschendorff Verlag GmbH & Co. KG
Redaktionsanschrift                                                D–48135 Münster
Sozialinstitut Kommende, Redaktion Amosinternational,              Tel. (0251) 69 01 36
Brackeler Hellweg 144, D–44309 Dortmund
Mail       redaktion@amosinternational.de                          Druck
Internet amosinternational.de                                      Druckhaus Aschendorff, Münster
                                                                   Printed in Germany
Erscheinungsweise
Die Zeitschrift erscheint vierteljährlich                          Umschlaggestaltung
(Februar, Mai, August, November)                                   freistil – Büro für Visuelle Kommunikation, Werl

ISSN 1867–6421
Internationale Zeitschrift für christliche Sozialethik - Amosinternational
Inhalt

             Editorial   Christian Spieß (Linz)
                         Inklusion und Autonomie statt Integration und Fürsorge                      2
                         Zu diesem Heft

Schwerpunktthema         Monika Bobbert (Münster)
                         Was behindert ein gutes und gerechtes Zusammenleben?                        3
                         Eine Einführung

                         Franziska Felder (Sydney und Zürich)
                         Gerechte Teilhabe und Freiheitsanspruch                                     4
                         Begründung und Grenzen eines Rechts auf Inklusion

                         Andreas Lob-Hüdepohl (Berlin)
                         Gemeinsam arbeiten                                                         10
                         Sozialethische Anmerkungen zur menschenrechtsbasierten Inklusion
                         im Arbeitsmarkt

                         Kai-Uwe Schablon (Münster)
                         Sozialraumkonzept Community Care                                           17
                         Möglichkeiten kirchlichen Engagements zur Inklusion behinderter Menschen

                         Christof Breitsameter (München)
                         Das Körperbild der Neuzeit als ethisches Dispositiv                        25
                         Überlegungen zur biomedizinischen Verbesserbarkeit des Menschen

                         Nadia Primc (Heidelberg)
                         Organtransplantation bei Menschen mit geistiger Beeinträchtigung           33
                         Die Gefahren einer verdeckten Diskriminierung

                         Marco Bonacker (Fulda)
                         Inklusion als theologisch-sozialethische Leitkategorie                     38
                         Bildung für alle als Schlüssel zu einer gerechten Gesellschaft

                         Ursula Kreutz (Fürth)
                         re: blick                                                                  28
                         Rauminstallation

Buchbesprechungen        Den Kapitalismus bändigen                                                  43
                         Der Dritte Weg                                                             44
                         Das Europaverständnis christlicher Kirchen                                 46
                         Pflege-Ausbeutung in den eigenen vier Wänden                                47
                         Tierethik                                                                  49

     Tagungsbericht      Christoph Krauß, Wolfgang Kurek (Mönchengladbach)
                         Flucht, Migration und Integration – Bewährungsprobe für Europa             51
                         Sozialethische Gespräche in Mönchengladbach am 12./13. Mai 2016

       Der Überblick     Summaries                                                                  54
                         Résumés                                                                    55
                         Bisherige Schwerpunktthemen und Vorschau                                   56

          Impressum                                                                                 U2

MOSINTERNATIONAL 10. Jg. (2016) Heft 3                                                               1
Internationale Zeitschrift für christliche Sozialethik - Amosinternational
Editorial

                          E    s ist jene berühmte Re-
                              gierungserklärung des
                          deutschen Bundeskanzlers
                                                         Inklusion und Autonomie
                          Willy Brandt vom 28. Ok-
                          tober 1969, in der er an-      statt Integration
                          kündigte, „mehr Demo-
                          kratie wagen“ zu wollen,
                          in der auch zum ersten
                                                         und Fürsorge
                          Mal das Ziel einer „Behin-
                          dertenpolitik“ formuliert      menwechsel erklärt: weg von einer „in-        grenzung eines normativen Inklusions-
Christian   Spieß         wurde: Die sozialliberale      tegrierenden“ Politik der Fürsorge, die       begriffs von einem deskriptiven Inklusi-
                          Regierung werde „um ver-       Defizite von Menschen mit Behinde-             onsbegriff informiert vor allem der Bei-
             stärkte Maßnahmen bemüht sein, die          rung ausgleichen soll, hin zu einer in-       trag von Andreas Lob-Hüdepohl.
             den Benachteiligten und Behinderten in      klusiven Politik der Autonomie, die ei-           Aus der Perspektive einer Sozial-
             Beruf und Gesellschaft, wo immer dies       ne Gesellschaft bzw. ein politisches Ge-      ethik der Inklusion geht es um die
             möglich ist, Chancen eröffnen“. Demo-       meinwesen so gestaltet, dass Menschen         Würde und um die Rechte jener Men-
             kratisierung wurde auch als Verbesse-       mit Beeinträchtigung selbstbestimmt           schen, die sich durch körperliche oder
             rung der Lebensqualität Benachteilig-       und soweit möglich ohne Behinderung           kognitive Beeinträchtigungen aus-
             ter verstanden, als „Humanisierung“,        von außen gut leben können.                   zeichnen. Das Ziel einer inklusiven
             wie es Walter Arendt, der Bundesmi-             Es besteht aber beileibe kein Grund       Ethik ist grundsätzlich die Ermögli-
             nister für Arbeit und Sozialordnung je-     zur Euphorie. Der Ausdruck „behindert“        chung weitreichender gesellschaftli-
             ner Zeit (1969 bis 1976), formulierte:      wurde zu einem verbreiteten Schimpf-          cher Teilhabe aller Menschen, unab-
             „Die Qualität des Lebens für die Behin-     wort und der Schwangerschaftsabbruch          hängig von ihrer individuellen Ausstat-
             derten in unserer Gesellschaft ist ein      nach Trisomie-21-Diagnose zu einem            tung. Inklusion nimmt nicht die Form
             Spiegel der Qualität der Gesellschaft.“     Normalfall (wie auch immer man die            des gütigen Mitleids oder der fürsorg-
             Etabliert wurde freilich zunächst ein       Statistik dreht und wendet). Und wäh-         lichen Zuwendung an, sondern respek-
             Fürsorgesystem, das Menschen mit Be-        rend Inklusion in weiten Bereichen der        tiert die personale Autonomie in un-
             hinderung überwiegend separierte, in-       Politik zur prägenden sozialpolitischen       terschiedlichen Lebensformen, betont
             dem es für sie eine – wohlwollend für-      Orientierung wurde, hat sich im Bil-          Teilhabeansprüche und nicht zuletzt
             sorgliche und einhegende – Sonderbe-        dungsbereich, in dem sich „Behinder-          die Leistungen von Menschen mit Be-
             handlung realisierte. „Sonderschulen“       tenpolitik“ und Bildungspolitik über-         einträchtigungen. Dies wurde bereits in
             und „Werkstätten für behinderte Men-        schneiden, eine scharfe Debatte über die      der eingangs erwähnten Regierungs-
             schen“ breiteten sich aus, die auch heu-    gemeinsame Beschulung von Kindern             erklärung Willy Brandts als Ziel be-
             te noch teilweise die Soziale Arbeit mit    mit und ohne kognitive Beeinträch-            stimmt: An die Stelle von Marginali-
             Menschen mit Beeinträchtigungen prä-        tigung entwickelt. Und außerhalb je-          sierung und Separierung („Bürger, die
             gen. Wie die Formulierung von Arendt        ner Bereiche, die sich intensiv mit dem       im Schatten leben müssen“) sollte ei-
             zeigt, gab es im Grunde aber bereits die    Phänomen „Behinderung“ befassen, ist          ne besondere politische Rücksicht auf
             Einsicht, dass Behindertenpolitik nicht     bisweilen kaum ein Bewusstsein davon          benachteiligte Menschen treten – üb-
             am Individuum ansetzt, sondern an der       vorhanden, was unter Inklusion – im           rigens in Kooperation mit den Kirchen:
             Gesellschaft und an den äußeren Be-         Unterschied etwa zu Normalisierung            „Es kann nicht darum gehen, ledig-
             dingungen, in denen Menschen leben –        und Integration – zu verstehen ist. In-       lich hinzunehmen, was durch die Kir-
             Jahrzehnte also, bevor der Slogan „Be-      soweit bietet dieses Heft auch die Mög-       chen für die Familie, in der Jugend-
             hindert ist man nicht, behindert wird       lichkeit, die Vorstellung davon zu schär-     arbeit oder auf dem Sektor der Bildung
             man“ populär wurde. Vor allem mit           fen, was Inklusion überhaupt bedeutet.        geleistet wird. Wir sehen die gemein-
             dem Übereinkommen der Vereinten Na-         Über die Entwicklung von der Normali-         samen Aufgaben, besonders, wo Alte,
             tionen vom 13. Dezember 2006 über die       sierung über die Integration zur Inklu-       Kranke, körperlich oder geistig Behin-
             Rechte von Menschen mit Behinderun-         sion, über notwendige Differenzierun-         derte in ihrer Not nicht nur materielle
             gen wurde dann ein sowohl sozial- als       gen innerhalb einer Ethik der Inklusion       Unterstützung, sondern auch mensch-
             auch gesellschaftspolitischer Paradig-      sowie nicht zuletzt über die präzise Ab-      liche Solidarität brauchen.“

             2                                                                                       MOSINTERNATIONAL 10. Jg. (2016) Heft 3
Internationale Zeitschrift für christliche Sozialethik - Amosinternational
Schwerpunktthema

Was behindert ein gutes und
gerechtes Zusammenleben?
Eine Einführung

                                                                                                      Monika Bobbert

K    ennen Sie aus ihrem persönlichen
     Umfeld Menschen mit einer kör-
perlichen, geistigen oder psychischen
                                           Problemkonstellationen berühren auch
                                           die Inklusion anderer Gruppen, etwa
                                           Migrantinnen und Migranten, Hochbe-
                                                                                    denke auch an soziologische oder pä-
                                                                                    dagogische Fragestellungen der Entste-
                                                                                    hung und Weitergabe von Vorurteilen
Behinderung? Haben Sie konkrete Er-        tagte oder sozial benachteiligte Men-    und Abwertungen oder der Entwick-
fahrungen aus der Interaktion mit be-      schen aus „bildungsfernen Schichten“.    lung von Strukturen und Kompeten-
hinderten Menschen?                        Zweifelsohne hat jede Gesellschaft die   zen, die der Integration dienen.
    Die Inklusion von Menschen mit ei-     Aufgabe, von Benachteiligung oder            Schließlich, und dies führt in die
ner Behinderung, oder besser gesagt,       Stigmatisierung betroffene Rand-         so genannte Normalität unserer Ge-
das gute und gerechte Zusammenle-          gruppen zu integrieren, um der mo-       sellschaft, ließen sich auch Fragen an
ben von Bürgerinnen und Bürgern un-        ralischen und demokratischem Norm        die üblichen Strukturen und implizi-
geachtet ihrer Eigenheiten und unge-       sozialer Gerechtigkeit zu entsprechen.   ten Wertungen in Beruf, Freizeit und
achtet ihres Wertes für andere, gilt es        Worum es dabei im Einzelnen geht,    Familie herantragen: Was hindert ein
noch weiter zu verbessern. In der theo-    lässt sich insbesondere den Beiträgen    Gelingen des Lebens und Zusammen-
logischen und philosophischen Ethik        von Marco Bonacker zur Erwachse-         lebens? Ein hohes Arbeitstempo, „Frei-
und in der Rechtswissenschaft werden       nenbildung, von Andreas Lob-Hüde-        zeitstress“, ja „Zeitverdichtung“ und
die normativen Ansprüche auf Ach-          pohl zu Arbeit und Behinderung, von      eine große Fülle von Informationen
tung der Selbstbestimmung, auf Teil-       Nadia Primc zu Organtransplantation      beschäftigen uns so, dass für „Abwei-
habe und Bedürfnisgerechtigkeit be-        und von Kai-Uwe Schablon zu Commi-       chungen“ und „Störungen“ nur mehr
gründet und ausdifferenziert. In den       ty Care, die auch in Kirchengemeinden    wenig Aufnahmekapazitäten und Fle-
Sozialwissenschaften und in der So-        möglich ist, entnehmen. Konzeptuelle     xibilitätsspielräume bleiben. Normali-
zialpolitik werden neue Formen der In-     Erörterungen von Franziska Felder zu     tät und Standardisierung können auch
klusion entwickelt und erprobt.            Inklusion und Gerechtigkeit und von      Freiheit beschränken und neue Erfah-
    Das Amosinternational-Themenheft       Christof Breitsameter zur Abhängigkeit   rungen, die sich erst durch Abweichung
bietet einen Einblick in den derzeitigen   unseres Körperbilds von Konstruktio-     und Vielfalt bieten, verbauen.
Stand der Debatte zur Inklusion von        nen der Natürlichkeit und Künstlich-         Das Themenfeld „Inklusion und Be-
Menschen mit Behinderung. Auto-            keit führen in die Grundlagen des The-   hinderung“ ist also zwischen dem An-
r(inn)en aus Deutschland und der           menfelds ein.                            liegen sozialer Gerechtigkeit, dem Stre-
Schweiz konnten gewonnen werden,               Viele andere Konzepte und Frage-     ben nach Gelingen und Heilung und
um aktuelle Konzepte und Reflexionen        stellungen aus der Debatte um „Inklu-    einem „Möglichkeitssinn“ (Robert Mu-
zu Inklusion und Behinderung mehr als      sion und Behinderung“ bzw. um „Ethik     sil) aufgespannt.
bisher in sozialethische Diskussionen      und Behinderung“ konnten im Rahmen
und Forschungsarbeiten einzutragen –       des vorliegenden Themenhefts nicht
und zur verstärkten Umsetzung von In-      in den Blick genommen werden. Man                   KURZBIOGRAPHIE
klusion im Alltag, im Berufsleben und      denke etwa an Fragen des Wohnens         Monika Bobbert (*1963) Dr. theol,
in der Bildungsarbeit und der Gesund-      von Menschen mit Behinderung oder        Dipl.-Psych., lehrt als Professorin für
heitsversorgung anzuregen.                 an psychologische und institutionelle    Moraltheologie in Münster. E-Mail:
    Zahlreiche theoretische Fragestel-     Fragen der Betreuung von Menschen        M.Bobbert@uni-muenster.de
lungen und Konzepte sowie praktische       mit kognitiven Einschränkungen. Man

  MOSINTERNATIONAL 10. Jg. (2016) Heft 3                                                                                  3
Internationale Zeitschrift für christliche Sozialethik - Amosinternational
Schwerpunktthema

Gerechte Teilhabe und
Freiheitsanspruch
Begründung und Grenzen eines Rechts auf Inklusion

                                          Die Forderung nach Inklusion im Kontext von Behinderung hat in den letzten Jah-
                                          ren deutlich an Fahrt gewonnen. Zu verdanken ist das vor allem dem Zugzwang, der
                                          durch die UN Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderung entstanden
                                          ist. Allerdings bleibt trotz ihrer hohen politischen Relevanz unklar, was Inklusion ge-
                                          nau bedeutet und welche Aspekte von Inklusion rechtlich abgesichert werden kön-
                                          nen. Der Beitrag thematisiert drei Aspekte von Inklusion: Inklusion als basale Ach-
                                          tung, Inklusion als Teilhabe an gesellschaftlichen Verteilungs- und Entscheidungs-
                                          prozessen sowie Inklusion als Freiheitsanspruch. Anschließend geht es um die Frage,
                                          welche Formen von Inklusion sich rechtlich durchsetzen lassen. Dabei zeigt sich, dass
                                          die Grenzen eines Rechts auf Inklusion weniger in der institutionell-gesellschaftli-
         Franziska Felder                 chen Sphäre liegen, als vielmehr im Bereich der zwischenmenschlichen Gemeinschaft.

D    er Ruf nach Inklusion ist eine der
     zentralen politischen Forderungen
der letzten Zeit, die auch, aber nicht
                                             die Schule, in Freizeitangebote, in
                                             die Politik, um nur einige Beispie-
                                             le zu nennen.
                                                                                        damit auch in Bezug auf den norma-
                                                                                        tiven Gehalt in legalen Bezügen wie
                                                                                        der UN-BRK – zentral sind:
nur, im Kontext von Behinderung auf-                                                    • Inklusion als basale Achtung,
gestellt werden. Rechtliche Unterfütte-   Angesichts der Breite und Tiefe des           • Inklusion als Teilhabe an gesell-
rung hat die Forderung durch die Kon-     Konzepts der Inklusion sowie der zu-             schaftlichen Verteilungs- und Ent-
vention für die Rechte von Menschen       mindest indirekten Absicherung durch             scheidungsprozessen und
mit Behinderungen der Vereinten Na-       Rechte ist die Frage virulent, was In-        • Inklusion als Freiheitsanspruch.
tionen von 2006, kurz UN-BRK, erhal-      klusion eigentlich genau bedeutet und
ten. Die Konvention selbst nennt zwar     inwiefern sich unterschiedliche Aspek-        Anschließend frage ich danach, worauf
kein Recht auf Inklusion, und Inklusion   te von Inklusion durch Rechte abde-           nun genau ein moralischer und – noch
wird auch nicht näher definiert. Den-      cken lassen. Genau diesen Fragen wid-         stärker – ein legaler Anspruch in Form
noch zieht sich Inklusion in zweifacher   met sich der vorliegende Beitrag. Da-         von Rechten fußt. Dabei wird in einem
Hinsicht wie ein roter Faden durch die    bei will ich in einem ersten Schritt drei     letzten Schritt deutlich, wo die Gren-
ganze UN-Konvention:                      Aspekte von Inklusion beleuchten, die         zen eines Rechts auf Inklusion liegen.
• zum einen vertikal oder lebenslau-      in einem Gerechtigkeitskontext – und
   forientiert, indem die verschiede-
   nen Inklusionsformen, denen Men-
   schen im Laufe ihres Lebens begeg-     Inklusion als basale Achtung
   nen, thematisiert werden – von der
   Inklusion in die Ursprungsfamilie,     Eine erste, grundlegende Form der In-         men von Exklusion können den Cha-
   über Schule bis hin zum Arbeits-       klusion ist die basale Achtung einer          rakter eines basalen Ausschlusses auf-
   leben;                                 Person und ihre Aufnahme in die Ge-           weisen: Dies ist beispielsweise der Fall,
• zum anderen horizontal oder le-         meinschaft von Menschen respekti-             wenn sie Menschen entwürdigen und
   bensbereichsorientiert, indem die      ve in die Menschenfamilie. Eine ganz          sie in ganz grundlegendem Sinne als
   verschiedenen Lebensbereiche von       fundamentale Form des Ausschlusses            Menschen zweiter Klasse oder gar als
   Menschen thematisiert werden –         aus der Gemeinschaft der Menschen             Nicht-Menschen oder Tiere ansehen
   Inklusion in den Arbeitsbereich, in    ist die Tötung. Aber auch andere For-         und behandeln.

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Internationale Zeitschrift für christliche Sozialethik - Amosinternational
Inklusion und Behinderung

    Menschen mit Behinderung haben         Exklusion. Aus diesen Gründen ist seit      ihr Augenmerk demgegenüber auf das
lange unter Ausschluss gelitten, so-       einigen Jahren auch aus den Reihen der      Ziel einer gerechten Gesellschaft, das
wohl theoretisch als auch lebensprak-      Philosophie Kritik an solchen Gerech-       allen Menschen ein würdiges Leben er-
tisch. Lebenspraktisch zeigt sich dieser   tigkeitsansätzen zu vernehmen (Nuss-        möglicht. Das Ziel einer würdigen Ge-
basale Ausschluss besonders deutlich       baum 2006; Wolff 2009). Ihnen wird          sellschaft wird gesetzt, und es wird da-
in historischer Perspektive. So wurden     ein anderer, subjektorientierter Gerech-    nach gefragt, wie eine solche Gesell-
Kinder mit Behinderungen in der An-        tigkeitsansatz entgegengestellt. Inklusi-   schaft aussehen müsste. Es versteht sich
tike oftmals nach der Geburt getötet.      ve Gerechtigkeitsvorstellungen, wie sie     von selbst, dass damit die Grundlagen
Im Mittelalter wurden Menschen mit         etwa von Jonathan Wolff oder Martha         und Konturen von Gerechtigkeit selbst
Behinderung oder Entstellungen aus-        Nussbaum vertreten werden, richten          in das Zentrum des Interesses rücken.
gesetzt und vor die Tore der Städte ge-
jagt. Aber auch heute noch finden sich
solche massiven Verstöße gegen Men-        Subjektorientierte Gerechtigkeit
schenrechte in vielen Teilen der Welt.
    Auch in theoretischer Hinsicht wa-     Ein subjektorientierter Gerechtigkeits-     fen auch alle des Schutzes durch den
ren Menschen mit Behinderung lange         ansatz, wie ihn Wolff oder Nussbaum         Einschluss in die Gemeinschaft der Mo-
Zeit ausgeschlossen, beispielsweise aus    vertreten, geht von der fundamenta-         ralsubjekte.
Gerechtigkeitsdebatten (Goodlad/Rid-       len moralischen (also letztlich normati-         Ein weiterer Grund kommt hinzu:
                                           ven, nicht deskriptiven) Gleichheit aller   Ob man in einer Gesellschaft oder an-
      Menschen mit                         Menschen aus. Er basiert auf der Über-      deren Menschen gegenüber Pflichten
      Behinderung                          zeugung, dass Phasen der Abhängig-          übernehmen kann, hat nicht nur mit
      waren lange aus                      keit von Hilfe und damit nicht-autono-      individuellen Fähigkeiten zu tun, son-
      Gerechtigkeitsdebatten               me Lebensabschnitte zur Existenz jedes      dern auch mit der Ausgestaltung der
      ausgeschlossen                       Menschen gehören. Aus dieser Sicht          Gesellschaft und den Anforderungen,
                                           richtet sich die Forderung der Gerech-      die an ihre Mitglieder gestellt wer-
dell 2005). Aus Sicht der Gerechtig-       tigkeit nicht nur auf das strategische      den. Etwas zu einem gesellschaftli-
keitstheoretiker erfüllten sie die Auf-    Vermögen der Subjekte (beispielswei-        chen Mehrwert beitragen zu können,
nahmebedingungen Rationalität, Ver-        se Rationalität oder Vernunft), sondern     ist relativ zur Gestaltung eben jener Ge-
nunft, Zukunftsgerichtetheit etc. nicht.   auch auf das nichtstrategische, also auf    sellschaft. Daher sind die Auffassungen
Versteht man Gerechtigkeit nämlich als     Grundbedürfnisse und die Verletzlich-       darüber, was relevante Fähigkeiten sind
Tausch- oder Verteilungsgerechtigkeit      keit des Menschen. Der Hintergrund          oder was von gesellschaftlichem Nut-
und damit als reziprokes Verhältnis un-    hierfür ist die fundamentale Gleich-        zen ist, ihrerseits gesellschaftlich ge-
ter Gleichen, dann muss derjenige, der     heit aller Menschen in ihren jeweils        prägt und damit auch gesellschaftlich
Rechte hat, selbst auch Pflichten über-     gleichen Grundbedürfnissen. Gerade          gestalt- und veränderbar. Mit dieser
nehmen können (Buchanan 1990).             weil Menschen in der Befriedigung ih-       zweiten Erkenntnis geraten die Struk-
Menschen in Abhängigkeitsverhältnis-       rer fundamentalen Bedürfnisse nach          turen einer Gesellschaft und indirekt
sen, wie z. B. Personen mit schweren       Nahrung, Obdach, Schlaf, zwischen-          auch die Spielregeln, die über Ein-
kognitiven Beeinträchtigungen, kön-        menschlicher Zuwendung etc. von an-         schluss oder Ausschluss entscheiden,
nen nicht in einem engeren Sinne           deren Menschen abhängig sind, bedür-        in den Blickpunkt des Interesses.
Pflichten übernehmen. Ergo erfüllten
diese Menschen in den Augen be-
stimmter Gerechtigkeitsansätze die Be-     Konturen basaler Inklusion
dingungen für die Inklusion in Gerech-
tigkeitsüberlegungen nicht. Ihre wei-      In der Annäherung über das negati-          handelt zu werden und damit Subjekt
tergehenden       Forderungen      nach    ve Phänomen des grundlegenden Aus-          einer bestimmten Einstellung zu sein
Inklusion können nicht – oder zumin-       schlusses gewinnen wir eine Vorstel-        (Margalit 1997). Es umfasst auch das
dest nicht direkt – als Forderungen der    lung davon, was es heißt, in basalem        Anrecht auf bestimmte Ressourcen, die
Gerechtigkeit betrachtet werden.           Sinne inkludiert zu sein. Eine sol-         es erst erlauben, ein menschenwürdi-
    Es liegt nahe, dass mit diesem Aus-    che Inklusion meint Einschluss in die       ges menschliches Leben zu führen. Da-
schluss ein prekärer moralischer Sta-      menschliche Gemeinschaft und damit          mit wiederum ist mehr gemeint als die
tuts verbunden ist. Der Anspruch auf       einen Anspruch auf basale Achtung.          ganz grundlegenden Ressourcen, die
umfassende Gleichstellung ist gefähr-      Diese Achtung umfasst nicht nur den         ein Mensch braucht, um überleben zu
det und die Folge ist eine weitgehende     Anspruch, als Mensch gesehen und be-        können. Diese grundlegende Form der

  MOSINTERNATIONAL 10. Jg. (2016) Heft 3                                                                                      5
Internationale Zeitschrift für christliche Sozialethik - Amosinternational
Schwerpunktthema

Inklusion ist vielmehr auch die Ein-        meinschaft der Menschen notwendig            ler Wertschätzung, aber auch in Form
trittsvoraussetzung für weitere Formen      ist. Zu einem Teil unterliegt dies kul-      schädlichen, ungewollten Mitleids.
der Inklusion und muss daher an diese       turellen wie historischen Wandlungen         Nun ist dieses gefühlsmäßige Erleben
anschlussfähig sein. Inklusion in einem     und muss daher immer konkret inter-          von Zurückweisung, Kränkung, Ver-
elementaren Sinn umfasst all das, was       pretiert werden.                             letzung und Nicht-ernst-genommen-
zum minimalen Anschluss an die Ge-                                                       werden zwar für sich allein noch kei-
                                                                                         ne Gerechtigkeitsverletzung. Es ist aber
                                                                                         damit zu rechnen, dass viele dieser Er-
Inklusion als Teilhabe an gesellschaftlichen Verteilungs-                                lebnisse auf realen und zudem immer
und Entscheidungsprozessen                                                               wieder erlebten Vorgängen beruhen
                                                                                         und damit gerechtigkeitsrelevante Ver-
Vertritt man also eine subjektorientier-    dungsprozesse, deren Strukturen und          stöße gegen Inklusionsinteressen dar-
te Gerechtigkeitsauffassung, die als ba-    Vorgängen, sowie aus Prozessen funk-         stellen, selbst wenn sie von den Aus-
sale Forderung der Gerechtigkeit die        tionaler Differenzierung bzw. Un-            führenden vielleicht nicht beabsichtigt
Deckung von Grundbedürfnissen hat,          gleichverteilung von ökonomischem,           sind. Auch können verschiedene Erfah-
ist damit bezüglich Inklusion noch          sozialem und kulturellem Kapital             rungen von Demütigung oder Abwer-
nicht viel gewonnen. Es fehlt vor al-       (Bourdieu 1983). Indirekt ist diese Form     tung, von Verweigerung sozialer Wert-
lem an Macht, an Entscheidungs- und         auch deshalb, weil den betroffenen           schätzung und anderem dazu führen,
Verteilprozessen beteiligt zu sein. Ge-     Menschen die substanziellen Möglich-         dass ein Lebensgefühl von Hilflosigkeit
rade in modernen und komplexen Ge-          keiten fehlen, Einfluss auf gesellschaft-     und Depression einsetzt, das wiederum
sellschaften zeigt sich, dass die Erfah-    liche Entscheidungsprozesse zu neh-          zahlreiche andere Benachteiligungen
rung, an Entscheidungs- und Vertei-         men, selbst wenn sie formal Zugang           bewirken kann. Viele Menschen mit
lungsprozessen nicht beteiligt zu sein,     zu den Foren und Prozeduren der Ent-         Behinderung berichten beispielswei-
ein wesentliches Moment von Aus-            scheidung haben. Die Betroffenen fal-        se, dass sie aus Angst, ausgelacht zu
schluss darstellt. Armut beispielswei-      len damit nicht aus der Wechselseitig-       werden, ihr Haus nicht mehr verlas-
se besteht in dieser Hinsicht nicht nur     keit von – auch moralisch-rechtlichen        sen. Diese „selbst gewählte“ Isolation
aus einem Mangel an Ressourcen, son-        –Anerkennungsverhältnissen, die in           führt nicht nur zu Vereinsamung durch
dern auch aus einem Mangel an Mit-          der Gesellschaft stattfinden. Dies hat        einen Mangel an sozialen Kontakten.
wirkungs- und Mitbestimmungsmög-            zur Folge, dass sie zwar Teil der Ge-        Sie führt auch zu einer Verarmung der
lichkeiten und damit einhergehender         sellschaft sind, nicht aber an den Mög-      Teilhabe an gesellschaftlichen Mitwir-
Marginalisierung in der Gesellschaft.       lichkeiten und wechselseitigen sozia-        kungs- und Entscheidungsprozessen,
    Entsprechend ist die Herausforde-       len Beziehungen oder Institutionen der       wenn Menschen mit Behinderung in
rung der Inklusion respektive das Pro-      Gesellschaft teilhaben können.               der Öffentlichkeit kaum präsent sind
blem der Exklusion anders gelagert als                                                   und das öffentliche Leben nicht mitprä-
im ersten, basalen Verständnis. Dort              Viele Menschen mit                     gen. Im Effekt können solche ausgren-
ging es um die Beschreibung der Ver-              Behinderung verlassen                  zenden Erfahrungen zu weitgehendem
weigerung eines grundlegenden mo-                 ihr Haus nicht, weil sie               Ausschluss bei gleichzeitiger Absiche-
ralischen Anspruchs. Die im ersten                befürchten, ausgelacht                 rung basaler Lebensstandards führen.
Abschnitt beschriebene Form der Ex-               oder gedemütigt zu                     Damit erhalten sie, sozusagen auf lange
klusion kann man auch externe Exklu-              werden                                 Sicht, Gerechtigkeitsrelevanz.
sion nennen. Menschen fallen in dieser                                                       Auf theoretischer Ebene werden
Sichtweise sozusagen „aus“ der Gesell-          Diese subtilere Form von Exklusion       diese Form von Exklusion respektive
schaft, zumindest in der Hinsicht, dass     kann sich beispielsweise dadurch voll-       die Forderung nach Inklusion in ver-
sie nicht als Subjekte von Gerechtig-       ziehen, dass den betroffenen Menschen        schiedenen Modellen von Behinderung
keitsüberlegungen betrachtet werden.        nicht geglaubt, ihnen nicht zugehört         reflektiert. Vertritt man die Sichtwei-
    Das Problem vieler Menschen mit         oder ihre Perspektive und Meinung            se eines sozialen Modells von Behin-
Behinderung ist allerdings keine ex-        nicht ernst genommen wird. Prozes-           derung (und seine diversen Weiterent-
terne, sondern eine interne Exklusion.      se interner Exklusion sind schwieriger       wicklungen), dann entsteht eine Be-
Diese Form von Exklusion ist indirekt,      zu fassen und zu beschreiben als ex-         hinderung im umfassenden Sinn erst
denn aus gesellschaftlicher Sicht ist sie   pliziter Ausschluss oder offene Diskri-      durch gesellschaftlich konstruierte Bar-
oft nicht direkt gewollt oder angestrebt.   minierung. Betroffene erfahren sie oft       rieren. Letztere sind es, welche Men-
Sie entsteht vielmehr meist indirekt aus    als subtile Zurückweisung, Kränkung,         schen daran hindern, als Gleichwertige
den Folgen demokratischer Entschei-         Verletzung oder Verweigerung sozia-          am kulturellen, politischen und wirt-

6                                                                                      MOSINTERNATIONAL 10. Jg. (2016) Heft 3
Internationale Zeitschrift für christliche Sozialethik - Amosinternational
Inklusion und Behinderung

schaftlichen Leben teilzunehmen. So         Die Forderung, die insbesondere in         bereits genannt. Auf andere werde ich
betrachtet ist Behinderung ein Problem      den Disability Studies vertreten wird,     im Folgenden noch zu sprechen kom-
gesellschaftlicher Unterdrückung und        ist folgerichtig die nach Inklusion in     men.
Diskriminierung. In der Sprache der In-     die unterschiedlichen gesellschaftli-          Zuerst einmal ist aber eine in der
klusion ausgedrückt kann man sagen,         chen Teilbereiche respektive die nach      philosophischen Diskussion übliche
dass eine Behinderung eine Form (in-        Mitsprache in gesellschaftlichen Ent-      Unterscheidung zwischen sogenannt
ner-)gesellschaftlicher Exklusion ist.      scheidungs- und Verteilungsprozessen.      negativer und positiver Freiheit für den
                                                                                       vorliegenden Zusammenhang wichtig.
                                                                                       Die Unterscheidung wurde von Isaiah
Inklusion als Freiheitsanspruch                                                        Berlin (1969) eingeführt. Negative Frei-
                                                                                       heit meint dabei Freiheit von etwas, al-
Die bisherige Reflexion hat vor allem        klusionskontexte ausschließen. Sowohl      so beispielsweise Freiheit von Gewalt
zwei Dinge gezeigt: Gerechtigkeit und       aus moralischen als auch lebensweltli-     oder Unterdrückung. Sie ist die weni-
Inklusion geraten in zweierlei Hinsicht     chen Gründen macht es aber einen Un-       ger weitgehende Form von Freiheit, da
in ein wechselseitiges Verhältnis. Zum      terschied, ob eine echte Wahl möglich      sie einzig verlangt, ein bestimmtes Han-
ersten verbinden sie sich im Anspruch,      ist oder ob Kontexte und Ressourcen        deln zu unterlassen, also beispielswei-
alle Menschen mit Behinderung als           einfach vorgegeben sind.                   se jemanden nicht zu foltern oder in
Subjekt von Gerechtigkeitsforderungen           Der indische Philosoph Amartya         anderer Form zu unterdrücken. Die an-
anzunehmen und damit deren Bedürf-          Sen (1992) war einer der ersten Ge-        dere Form der Freiheit, die positive Frei-
nisse und Interessen als solche von Ge-     rechtigkeitstheoretiker, die auf die Be-   heit, ist mit weitergehenden Forderun-
rechtigkeit auszuweisen. Zum zweiten        deutung von Freiheit für gesellschaft-     gen verbunden. Sie meint Freiheit zu
treten sie in ein wechselseitiges Ver-      liche Teilhabe hingewiesen haben.          etwas. Im Kontext von Inklusion und
hältnis, indem die Norm der Gerechtig-      Zwei Aspekte sind für ihn von be-          Exklusion könnte man argumentieren,
keit unter dem Gesichtspunkt von In-        sonderer Bedeutung: erstens die Fest-      dass Freiheit von Exklusion das nega-
klusion fordert, Menschen mit Behin-        stellung, dass es nicht nur einfach        tive Freiheitsverständnis umfasst. Die-
derung an Prozessen der Mitsprache          um das Ergebnis – hier gesellschaft-       se Forderung würde umfassen, dass je-
zu beteiligen und als Gleichwertige in      liche Teilhabe oder Inklusion – ge-        mand nicht unberechtigterweise vom
Verteilungsprozessen wahrzunehmen.          hen kann, wenn man dieses unter Ge-        Zugang zu wichtigen gesellschaftlichen
Aber es gehört noch mehr zu diesem          rechtigkeitsüberlegungen betrachtet.       Ressourcen – beispielsweise der Bil-
wechselseitigen Bezug von Gerechtig-        Man muss auch darauf schauen, wie          dung – ausgeschlossen wird. Freiheit
keit und Inklusion. Denn sowohl der         dieses Ergebnis entstanden ist. Es ist     zu Inklusion wiederum würde die po-
erste wie auch der zweite Anspruch al-      beispielsweise bedeutsam, ob ein ge-       sitive Freiheit meinen – die Freiheit, sich
leine sind nicht in der Lage, alle Grund-   hörloses Kind eine Sonderschule be-        zu inkludieren und Bildung in einem
lagen abzudecken, die notwendig sind,       suchen möchte, dabei aber die Wahl-        umfassenden Sinn in Anspruch neh-
um gesellschaftlich substanziell teil-      freiheit zwischen einer spezialisierten    men zu können. Die Gerechtigkeitsfor-
haben zu können. Dazu gehört mehr:          Gehörlosenschule und einer integra-        derung nach Inklusion umfasst also ei-
beispielsweise die Freiheit, Inklusions-    tiv arbeitenden Sonderschule hat, oder     nen weiten Bereich positiver und nicht
kontexte selbst auszuwählen sowie eine      nicht. Zwar ermöglichen beide in ge-       nur negativer Freiheit.
inhaltlich gehaltvolle – nicht nur for-     wissem Sinne Inklusion. Aber im ei-
male – Beteiligung an gesellschaftli-       nen Fall kommt sie durch einen Pro-               Das Recht behinderter
chen Entscheidungsprozessen.                zess der Freiheit zustande, und im an-            Menschen auf Teilhabe
    Die Bedeutung der Entscheidung,         deren Fall nicht. Zweitens schlägt Sen            setzt voraus, dass ihre
wo man sich inkludieren, welche Art         vor, diese Freiheitsräume als Verwirk-            jeweiligen Bedürfnisse als
von Mitsprache man genießen möch-           lichungschancen (im Original: capabi-             gleichberechtigt anerkannt
te oder wie die benötigten Ressour-         lities) zu betrachten. Versteht man die-          werden
cen oder Hilfsmittel (wie Lesegeräte,       se Verwirklichungschancen als Inklu-
Rollstühle, aber auch heilpädagogische      sionschancen, dann sind damit auch            Mit einem Nicht-Ausschluss, wie es
Unterstützung) ausgestaltet sein müs-       die vielschichtigen Voraussetzungen        eine negative Freiheitsforderung um-
sen, wirft nun Licht auf die Bedeu-         oder Bedingungen von Inklusion ge-         schreibt, ist nicht bereits Teilhabe oder
tung von Freiheit für die Inklusion von     meint. Einige, unter anderem gesell-       Inklusion sichergestellt. Und auch die
Menschen. Im negativen Fall kann In-        schaftliche Mitsprache und Teilhabe        Forderung, nicht daran gehindert zu
klusion auf Zwang beruhen bzw. jede         an demokratischen Willensbildungs-         werden, sich selbst zu inkludieren, ge-
Wahlfreiheit bezüglich möglicher In-        und Entscheidungsprozessen, wurden         nügt nicht für umfassende Inklusion.

  MOSINTERNATIONAL 10. Jg. (2016) Heft 3                                                                                        7
Internationale Zeitschrift für christliche Sozialethik - Amosinternational
Schwerpunktthema

Menschen benötigen dazu bestimm-                ziale Freiheit deutliche Konturen. Denn          keitsüberlegungen – zumindest in di-
te Formen von Anerkennung, Hilfen,              sie weist darauf hin, dass Menschen in           rekter Weise – weitgehend entzieht. Die-
Förderung und so weiter. Auch diese             der Verfolgung ihrer Lebenspläne und             sen Bereich zwischenmenschlicher oder
müssen durch Gerechtigkeitsansprü-              -ziele auf die Hilfe und Unterstützung           gemeinschaftlicher Inklusion, der für
che nach Inklusion abgedeckt werden.            anderer angewiesen sind. Menschen be-            Gerechtigkeitsforderungen betreffend
   Und man könnte noch hinzufügen,              nötigen, so Honneths Punkt, Anerken-             Inklusion aus mehreren Gründen eine
dass eine weitergehende, dritte Art von         nung der Gleichberechtigung ihrer Be-            Herausforderung ist, möchte ich im fol-
Freiheit wichtig ist, die von Axel Hon-         dürfnisse. Erst dann sind sie in sozialem        genden Abschnitt genauer betrachten.
neth (2011) als soziale Freiheit verstan-       Sinne frei. Diese Freiheit ist in gewis-             Folgt man den soziologischen Stu-
den wird. Frei sind Menschen in diesem          sem Sinne grundlegender, da sie darauf           dien von Ferdinand Tönnies (2005),
Sinne nur dann, wenn Freiheit in An-            hinweist, dass die Freiheit jedes Men-           Max Weber (1922), Emile Durkheim
erkennung ihrer wechselseitigen, sozia-         schen – ob negativ oder positiv – letzt-         (1992) und anderen, dann stellt man –
len Bedingtheit gelebt werden kann. Im          lich sozial ermöglicht und legitimiert           bei allen Unterschieden in den Theo-
Kontext von Behinderung erhält die so-          werden muss.                                     rien der verschiedenen Gründervä-
                                                                                                 ter der Soziologie – fest, dass sich im
                                                                                                 Verhältnis von Menschen zueinander,
Gemeinschaftliche Inklusion als Überforderung                                                    zur Gesellschaft und zu ihren Institu-
rechtlicher Garantien                                                                            tionen die kategoriale Unterscheidung
                                                                                                 von Gemeinschaft und Gesellschaft
Im Verlauf der bisherigen Ausführun-                der Inklusion selbstbestimmt tref-           durchzieht. Während die gesellschaft-
gen sind drei Verhältnisse zwischen                 fen zu können und die notwendigen            liche Inklusion Strukturen, Institutio-
Gerechtigkeit und Inklusion angespro-               Ressourcen, Hilfen und Förderun-             nen und abstrakte Beziehungen zwi-
chen worden:                                        gen für gesellschaftliche Inklusion          schen Menschen umfasst, begegnen
• erstens der Anspruch, als Subjekt                 zu erhalten.                                 sich bei der gemeinschaftlichen In-
   der Moral zu gelten und damit ba-                                                             klusion Individuen als konkrete Ande-
   sale Achtung zu erhalten,                    Es ist nicht schwierig, diese Aspekte            re. Und während in der ersten Sphäre
• zweitens gesellschaftliche Mitspra-           von Inklusion unter moralischen wie              zwischenmenschliche Gefühle und Be-
   che und Teilhabe zu haben und                legalen Gesichtspunkten durch Rech-              ziehungen nicht zwingend vorhanden
• drittens einen möglichst großen               te gestärkt zu sehen.                            sein müssen, sind sie für die zweite
   Raum an Freiheit zu genießen, ins-              Nun existiert aber auch ein Bereich           konstitutiv. Dies bedeutet, dass sich
   besondere dahingehend, in seinen             von Inklusion, der in den Kategorien             gemeinschaftliche Inklusion maßgeb-
   Bedürfnissen sozial anerkannt zu             der Gerechtigkeit oder des Rechts kaum           lich über Zugehörigkeitsgefühle und
   sein, Entscheidungen über Formen             zu fassen ist, weil er sich Gerechtig-           zwischenmenschliche Anerkennungs-

                                                               LITERATUR

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Inklusion und Behinderung

prozesse bildet. Sind Menschen in Ge-      den im gemeinschaftlichen Bereich be-                  KURZBIOGRAPHIE
meinschaften inkludiert, begegnen sie      deuten würde, wird rasch klar, dass         Franziska Felder (*1976), Dr. phil., ar-
sich als konkrete Individuen mit ei-       hier ein wichtiges Grundrecht ver-          beitet aktuell an der University of New
ner Geschichte, einem Charakter, be-       letzt würde. Es würde nämlich bedeu-        South Wales (Sydney, Australien) an
stimmten Eigenschaften, Fähigkeiten,       ten, dass jeder Mensch, ohne Angabe         ihrer Habilitation zur Frage der nor-
Interessen, Plänen und Zielen. Wech-       weiterer Gründe, ein prima facie Recht      mativen Grundlagen einer inklusiven
selseitig zollen sie sich entsprechende    auf Zugehörigkeit zu jeder x-beliebi-       Schule. Sie studierte in Zürich Son-
Anerkennung.                               gen Gemeinschaft hätte. Dass ein sol-       derpädagogik, Betriebswirtschaft und
    Gerade in gemeinschaftlicher Hin-      ches nicht erstrebenswert ist, ist offen-   Filmwissenschaft. Am Ethikzentrum
sicht zeigt sich nun die Grenze eines      sichtlich. Eine solche Gesellschaft hät-    der Universität Zürich und am Univer-
Rechts auf Inklusion deutlich. Gemein-     te stark totalitäre Züge. In ihr hätten     sity College London verfasste sie ihre
schaftliche Inklusion würde durch ei-      Menschen unter anderem wenig Pri-           Dissertation, die 2012 unter dem Ti-
ne ausschließlich rechtliche, gerech-      vatsphäre und kaum Autonomie, ihre          tel „Inklusion und Gerechtigkeit – Das
tigkeitsbasierte Implementierung Ge-       eigenen Pläne und Ziele in von ihnen        Recht behinderter Menschen auf Teil-
fahr laufen, genau das Gut zu verletzen,   gewählten Gemeinschaften zu verwirk-        habe“ bei Campus, Frankfurt a. M., er-
das abgesichert werden soll. Am deut-      lichen sowie solche Beziehungen frei-       schienen ist. Weiteres unter: www.ife.
lichsten wird dies am Beispiel Freund-     willig einzugehen.                          uzh.ch/de/research/sbi/mitarbeitende2/
schaft. Es macht Freundschaft gerade           Gerechtigkeit und Inklusion ver-        felderfranziska.html.
                                           lieren also in der gemeinschaftlichen
      Die von direkten                     Sphäre ihren engen Zusammenhang.
      zwischenmenschlichen                 Mit anderen Worten: Inklusion wird
      Beziehungen getragene                hier nicht mehr durch Gerechtigkeits-         Menschen wären darin einsam, apa-
      gemeinschaftliche                    überlegungen gedeckt, und es besteht          thisch und würden ihr Leben zumin-
      Inklusion ist auf rechtlich          kein Gerechtigkeitsanspruch auf ge-           dest unter sozialen Gesichtspunkten
      nicht erzwingbare                    meinschaftliche Inklusion, jedenfalls         als leer oder vielleicht gar als sinn-
      Freiwilligkeit angewiesen            kein direkter. Damit öffnet sich aller-       los erachten. Rechte und der Respekt
                                           dings ein Dilemma. Denken wir an In-          vor Rechten wäre dann vollkom-
aus (neben Gefühlen der Nähe und Ver-      klusion respektive an Orte und Kon-           men kompatibel mit einem schlech-
trautheit), dass sie freiwillig erbracht   texte, wo wir inkludiert sind oder sein       ten Leben im Sinne einer sozialen
wird, denn Freundschaft ist zentral an     möchten, kommen uns wohl augen-               und moralischen Verarmung (Baier
persönliche Zu- und Hinwendung ge-         blicklich eine Reihe von Gemeinschaf-         1995; 1987).
bunden. Und allgemein bezogen auf          ten in den Sinn (beispielsweise unse-       • Die Politik der Inklusion braucht
Formen gemeinschaftlicher Inklusion        re Freunde und unsere Familie). Meist         also eine breitere Agenda als die
gilt: Selektivität und Exklusivität ge-    denken wir erst nachrangig an die ge-         der Gerechtigkeit oder der Rechte,
hören charakteristischerweise zu all       sellschaftliche Inklusion, die unser ge-      wie sie in internationalen Vereinba-
diesen Formen von Inklusion. Ich kann      meinschaftliches und individuelles Le-        rungen wie der UN-BRK abgebildet
zwar mit Hans und Lotta und einigen        ben ebenfalls prägt.                          werden. Was Menschen mit Behin-
wenigen anderen befreundet sein, aber                                                    derung brauchen, ist zwar all das.
nicht mit allen Menschen, mit denen                                                      Aber es genügt nicht. Menschen
ich bekannt bin oder die mir – in ei-      Fazit                                         müssen sich einander freiwillig zu-
nem sehr weiten Sinne – bekannt sind.                                                    wenden und nicht nur deshalb, weil
Engere und weitere zwischenmensch-         • Wir sind in unseren Leben auch              sie aus Gerechtigkeitsgründen dazu
liche Beziehungen sind zentral von           bezüglich Inklusion abhängig von            verpflichtet sind.
subjektiven Interessen und Präferen-         Quellen, die sich nicht aus morali-       • Die Moral der Gerechtigkeit kann
zen gesteuert und lassen sich nicht über     schen und/oder juridischen Rech-            also nicht in jede Ecke unseres Le-
Gerechtigkeitsansprüche verpflichtend         ten und Gerechtigkeitsbezügen er-           bens dringen. Sie deckt daher kon-
durchsetzen. Wäre dies so, bestünde          geben. Würde sich unser Leben               sequenterweise auch nicht alle For-
die Gefahr einer Zwangsvergemein-            einzig darin erstrecken, dass Recht         derungen ab, die berechtigterweise
schaftung bzw. eines Zwangs, be-             und Gerechtigkeit herrschten, hät-          mit Inklusion verbunden sind. Sie
stimmte Gefühle empfinden und erwi-           ten Menschen untereinander auch             umfasst diejenigen Bereiche mora-
dern zu müssen.                              keine anderen Beziehungen als die,          lischer Forderungen, die über Rech-
    Wenn man bedenkt, was ein Recht          die benötigt werden, eine liberale          te und Pflichten fassbar sind. Nicht
auf Inklusion aus Gerechtigkeitsgrün-        Gesellschaft aufrecht zu erhalten.          weniger, aber auch nicht mehr.

  MOSINTERNATIONAL 10. Jg. (2016) Heft 3                                                                                     9
Schwerpunktthema

Gemeinsam arbeiten
Sozialethische Anmerkungen zur
menschenrechtsbasierten Inklusion im Arbeitsmarkt

Menschen mit Behinderung sind häufig vom Erwerbsleben ausgeschlossen. Ihr Wunsch,
einer regulären Erwerbstätigkeit nachzugehen, bleibt oft unerfüllt, weil viele Arbeit-
geber lieber Ausgleichszahlungen leisten, als betriebliche Abläufe im erforderlichen
Umfang zu verändern. Dennoch gibt es auch gegenteilige positive Beispiele. Der fol-
gende Beitrag setzt zunächst das menschenrechtsbasierte Verständnis von Inklusion
von einem bloß funktional-systemtheoretischen Verständnis von Inklusion ab. Vor
diesem Hintergrund werden unterschiedliche Grade der Teilhabe an weiteren gesell-

                                                                                                                                      Deutscher Ethrikrat (DER)
schaftlichen Teilsystemen und insbesondere am regulären Arbeitsmarkt erläutert. Aus-
gehend von der Achtung jener Würde, die jedem Menschen als Mensch innewohnt,
werden rechtliche und soziale, berufliche und private Bedingungen für eine gleich-
wertige Zugehörigkeit dargelegt. Die ambivalenten Auswirkungen des geschützten
zweiten Arbeitsmarktes für Menschen mit Behinderung werden ebenso thematisiert
wie die Frage, ob es gerechtfertigt ist, ihre Arbeitskraft in das Kalkül einer profit-
orientierten Wirtschaft einzubeziehen.                                                          Andreas Lob-Hüdepohl

„Autisten bei SAP“ – ein paradigmatisches Beispiel                                         dienen, die in einem offenen, integra-
für gelingende Inklusion?                                                                  tiven und für Menschen mit Behinde-
                                                                                           rungen zugänglichen Arbeitsmarkt und
Am 21.5.2013 meldete Spiegelonline           tenqualitätssicherung einsetzen.“ Da-         Arbeitsumfeld freigewählt oder ange-
unter der Überschrift „Super-Talente         bei macht es aus Sicht der IT-Branche,        nommen wird.“ (Art. 27 UN-BRK) Mehr
mit Überraschungseffekt“ eine weithin        so begründet SAP sein Engagement,             noch: Mit der geplanten Einstellungs-
beachtete personalpolitische Initiative      „Sinn, auf Autisten zu setzen. Sie ha-        politik von SAP erfahren die betroffe-
des Software-Konzerns SAP. Dieses in-        ben oftmals ein besseres Gefühl für De-       nen Menschen die Anerkennung und
ternational hoch erfolgreiche und in-        tails. Lange Zahlenkombinationen zu           Wertschätzung jener „Fertigkeiten,
novative Unternehmen beabsichtigt die        überprüfen, ist beispielsweise für Au-        Verdienste und Fähigkeiten“, die Men-
Einstellung von hunderten von Frauen         tisten kein Problem. Für Unternehmen,         schen mit Behinderungen in den Ar-
und Männern mit „Störungen“ aus dem          die im Zeitalter der ständigen techno-        beitsmarkt einbringen und mit denen
Autismus-Spektrum – „Störungen“, die         logischen Veränderungen immer wie-            sie die Arbeitswelt insgesamt berei-
es üblicherweise verhindern, dass die        der neue Programme und Produkte ent-          chern. (Art. 8 UN-BRK) Während Men-
betroffenen Frauen und Männer halb-          wickeln müssen, um konkurrenzfähig            schen mit Behinderungen bislang
wegs erfolgreich auf dem „normalen“          zu bleiben, sind sie ein Glücksgriff.“        dadurch qualifiziert wurden, ihre De-
(Ersten) Arbeitsmarkt reüssieren kön-        (SAP 2013, Hervor. ALH)                       fizite in Richtung so genannter „Auch-
nen; „Störungen“ aber auch, die ihnen            Auch aus Sicht des Bundesverban-          Kompetenzen“, die sie wie andere Men-
und vor allem den einstellenden Un-          des Autismus Deutschland ist diese per-       schen auch besitzen, zu überwinden,
ternehmen jetzt zum (ökonomischen)           sonalpolitische Initiative fast schon ein     stehen jetzt ihre „Nur-Kompetenzen“
Segen werden sollen: „Nun hat auch           Paradebeispiel für gelingende Inklu-          im Zentrum der Aufmerksamkeit –
SAP“, wie es in der Pressemitteilung         sion und für die praktische Umsetzung         Kompetenzen also, die im Gegensatz
des Unternehmens heißt, „diese Ar-           der UN-Behindertenrechtskonvention            zu anderen auf Grund ihrer spezifi-
beitnehmergruppe in Deutschland für          von 2006 (BRK). Denn diese fordert für        schen Lebensumstände und Lebenswei-
sich entdeckt und will bis 2020 Hun-         jeden Menschen mit Behinderungen              se nur sie besitzen. Damit wird der Kern
derte Autisten als Softwaretester, Pro-      das „Recht auf die Möglichkeit, den           aller inklusiven Prozesse berührt: Die
grammierer und Spezialisten für Da-          Lebensunterhalt durch Arbeit zu ver-          Mitarbeiter*innen aus dem Autismus-

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Inklusion und Behinderung

spektrum werden nicht in bereits be-        men des gemeinsamen Arbeitens befä-        psychisch kranke Menschen, die als „Ir-
stehende Arbeitsabläufe integriert, al-     higt werden. Es kommt zu dem, was          re“ in Käfigen ausgestellt wurden, ei-
so eingepasst; sondern das Bestehende       man die Enthinderung auf Seiten der        ne zugkräftige Attraktion für jeden
                                            Mehrheitsgesellschaft nennen kann.         Jahrmarkt und Zirkus. Beide Personen-
       Gelingende Inklusion                 Bestand bisher die Behinderung behin-      gruppen hatten eine Funktion und An-
       beschränkt sich nicht                derter Menschen darin, dass ihnen die      teil am gesellschaftlichen Leben; sie
       auf die Einpassung                   unproblematische Teilhabe am öffent-       waren in systemtheoretischer Zuspit-
       in bestehende                        lichen Leben durch umwelt- und ein-        zung inkludiert – aber in einer Art und
       Arbeitsabläufe, sondern              stellungsbedingte Barrieren erschwert,     Weise, die heute als zutiefst unwürdig
       bedarf der umfassenden               wenn nicht sogar verunmöglicht wur-        und menschenverachtend gebrand-
       Transformation des                   de, so ermöglicht das gemeinsam ge-        markt werden würde.
       Bestehenden                          staltete, gleichberechtigte Arbeiten den       Freilich kennt selbst Niklas Luh-
                                            Abbau von „Klischees, Vorurteilen und      mann die Möglichkeit einer gesell-
wird in einem umfassenden Sinne in          schädlichen Praktiken“ hin zu einer        schaftlichen Exklusion in einem um-
einer Weise transformiert, dass alle Sei-   „positiven Wahrnehmung von Men-            fassenden Sinne. Denn Ausschlüsse aus
ten, also auch die bereits vorfindlichen     schen mit Behinderungen“. (Art. 8 UN-      mehreren wichtigen Teilsystemen be-
Mitarbeiter*innen, für die neuen For-       BRK)                                       dingen sich wechselseitig und können
                                                                                       unheilvoll kumulieren: „keine Ausbil-
                                                                                       dung, keine Arbeit, kein Einkommen,
„Mittendrin statt nur dabei!“ – zwei Weisen der Inklusion                              keine regulären Ehen, (…) keine Betei-
                                                                                       ligung an der Politik, kein Zugang zu
Natürlich ist die Initiative von SAP vor-   Unterstützung besitzt, kompensiert der     Rechtsberatung, zur Polizei oder zu Ge-
erst nur ein Programm. Aber es knüpft       Einschluss (Inklusion) in das Netz so-     richten – die Liste ließe sich verlängern
an erfolgreiche Modelle inklusiver Er-      zialer Sicherungen den (zumindest vo-      und sie betrifft, je nach Umständen,
werbsarbeit an, wie sie prominent et-       rübergehenden) Ausschluss (Exklusion)      Marginalisierungen bis hin zum gänz-
wa durch das Unternehmen auticon seit       aus einem anderen gesellschaftlichen       lichen Ausschluss“ (Luhmann 1995,
vielen Jahren entwickelt und mit Er-        Teilsystem (Arbeitsmarkt). In ähnlicher    148). Die Wechselwirkungen zwischen
folg praktiziert werden. Unter sozial-      Weise sind auch Menschen mit Behin-        • der Sphäre der Erwerbsbeteiligung
ethischer Rücksicht ist besonders auf-      derungen bereits dann gesellschaftlich         (einschließlich der in ihnen gene-
schlussreich, welches Verständnis von       inkludiert, wenn sie in einen der prin-        rierten sozialen Bezüge und Wert-
Inklusion all diesen Bemühungen zu          zipiell möglichen Gesellschaftsbezüge          schätzungen),
Grunde liegt.                               eingebunden sind. Wenn sie etwa in         • der Sphäre des Rechts bzw. des
    Inklusion ist mittlerweile ein zu-      Werkstätten für behinderte Menschen            rechtlich verbrieften sozialen Sta-
gleich prominenter wie sehr schillern-      ausgebildet und beschäftigt sind, wä-          tus und
der Begriff und muss deshalb erläutert      ren sie in diesem Sinne in die Gesell-     • der Sphäre von Freundschaften, von
werden. Er changiert zwischen einer         schaft inkludiert. Welche Qualität der         sozialen Nähen und von Solidar-
deskriptiv-funktionalen und einer em-                                                      bündnissen
phatisch-normativen Bedeutung. Eine               Die bloße Einbindung
funktional-deskriptive Bedeutung be-              von Menschen in                      können sich zu einer Form des Ausschlus-
sitzt „Inklusion“ in der sozialwissen-            gesellschaftliche Bezüge             ses verdichten, in der sich die Betroffe-
schaftlichen Armutsforschung. Spezi-              gibt keine Auskunft                  nen nicht mehr nur als in dieser oder je-
ell die klassische Systemtheorie Niklas           über die Qualität                    ner Hinsicht Ausgeschlossene, sondern als
Luhmanns (Luhmann 2005) nutzt ihn                 der entsprechenden                   schlechthin Überflüssige erleben. Über-
als Gegenbegriff zur Exklusion. Eine              Partizipation                        flüssige spielen gesellschaftlich aber kei-
Person gilt dann als inkludiert, wenn                                                  ne Rolle mehr. Ihnen fehlen jene Kompe-
sie in mindestens ein zentrales Teilsys-    Einschluss und die damit verbundene        tenzen, die verhindern könnten, „wegen
tem der Gesellschaft einbezogen ist und     Teilhabe am gesellschaftlichen Leben       ungenügender Erfüllung anspruchsvol-
dort eine Funktion besitzt. Zwar mag        besitzen, ist in einer funktional-de-      ler ‚moderner‘ Teilnahmevoraussetzun-
ein Erwerbsloser aus dem Teilsystem         skriptiven Betrachtungsweise dagegen       gen ‚aussortiert‘ und so als Angehörige
des Arbeitsmarktes (vorübergehend)          ohne Belang. So hatten in früheren Zei-    der ‚gesellschaftlichen Gemeinschaft‘
exkludiert sein. Insofern er aber im        ten die verunglimpften „Dorftrottel“ in    disqualifiziert [zu] werden“ (Offe 1996,
Netz der sozialen Sicherung Ansprü-         der dörflichen Gemeinschaft eine wich-      274). Diese funktionale Charakterisierung
che auf materielle oder immaterielle        tige soziale Funktion. Ähnlich waren       von Ausgeschlossenen und Überflüssigen

  MOSINTERNATIONAL 10. Jg. (2016) Heft 3                                                                                     11
Schwerpunktthema

trifft die Lebenssituation und das Lebens-   grund einer Höhenphobie jegliche Klet-      Lebens. Ausschlüsse in diesen Berei-
gefühl vieler Menschen mit Behinderun-       tersteige meidet, ist der Zugang zum        chen beeinträchtigen tatsächlich eine
gen. Schon die Debatten über die Prä-        Klub der Extrembergsportler ebenso          der Menschenwürde entsprechende Le-
nataldiagnostik (PND) oder die Präim-        versperrt wie der religiös Unmusikali-      bensführung. Hier fordert Inklusion –
plantationsdiagnostik (PID) müssen sie       sche aus dem Kreis derer ausgeschlos-       nunmehr normativ-emphatisch auf-
beispielweise als Beitrag zur Vermeidung     sen ist, die sich allwöchentlich in die     geladen – reale Beteiligungschancen
Überflüssiger interpretieren. Denn PND        Tiefe meditativer Gottesdienste einsen-     an all jenen privaten wie öffentlichen
wie PID dienen ausdrücklich der Ver-         ken und daraus Lebenskraft schöpfen.        Gütern, die für ein würdevolles Leben
hinderung von Menschen mit geneti-           Die Liste alltäglicher Ausschlüsse lie-     essentiell sind. Inklusion schützt und
schen Dispositionen, die zu leiblichen       ße sich beliebig verlängern. Solche Ex-     gestaltet solche privaten wie öffent-
und/oder geistigen Beeinträchtigungen        klusionen verhindern keinesfalls auto-      lichen Arrangements, in denen Men-
führen können.                               matisch ein Leben in Menschenwürde.         schen unterschiedlichster Besonderhei-
    Die Behinderten(rechts)bewegung          Dagegen gibt es Exklusionen, die die        ten in den sozialen Netzen ihrer Le-
setzt gegen die Exklusion behinderter        Bedingungen der Möglichkeit würde-          benswelten als eigenständige Akteure
Menschen einen markanten Kontra-             voller Lebensführungen unmittelbar          ihrer Lebensführung befähigt werden
punkt: Maßstab ihrer gesellschaftlichen      berühren. Solche Exklusionen betref-        und dabei lernen, sich zu bewähren.
Inklusion ist nicht mehr ihre Funktio-       fen vor allem öffentliche wie private       Inklusion im normativ-emphatischen
nalität in irgendeinem gesellschaftli-       Bereiche, in denen menschenrechtli-         Sinne beschreibt folglich weniger ei-
chen (Teil-)System, sondern die effek-       che Ansprüche residieren. Freiheits-,       nen (soziologisch feststellbaren) Zu-
tive Gewährleistung ihrer Rechte als         Partizipations- sowie Wirtschafts-,         stand, denn eine (persönliche) Haltung
Bürgerinnen und Bürger eines men-            Sozial- und Kulturrechte formulie-          und einen fortwährenden (gesellschaft-
                                             ren gewissermaßen Bedingungen der           lichen) Prozess.
       Inklusion heißt, die                  Möglichkeit eines menschenwürdigen
       Rechte der Menschen
       mit Behinderung
       in allen relevanten                   Würdig leben durch Inklusion und Partizipation –
       Lebensbereichen zu                    die Kernlogik der Behindertenrechtskonvention
       respektieren und zu
       fördern                               Besonders die öffentliche Diskussion        • die Achtung vor der Unterschied-
                                             rezipiert die UN-BRK gleichsam als            lichkeit von Menschen mit Behin-
schenrechtlich ambitionierten Gemein-        „Inklusionskonvention“. Dabei läuft           derungen und die Akzeptanz dieser
wesens und damit ihrer Würde als             sie Gefahr, die konstitutiven Wechsel-        Menschen als Teil der menschlichen
Mensch. Darin besteht der grundlegen-        bezüge des Paradigmas Inklusion zu            Vielfalt und der Menschheit; (…)
de Perspektivenwechsel einer norma-          anderen Paradigmen aus dem Auge             • die Achtung vor den sich entwi-
tiv-emphatischen Bedeutung von In-           zu verlieren. Zu Recht muss Inklusion         ckelnden Fähigkeiten von Kindern
klusion. Inkludiert sind Menschen mit        als zentrale „Leitidee mit visionärem         mit Behinderungen und die Ach-
Behinderungen dann, wenn ihre fun-           Charakter“ (Theunissen 2010, 13) ge-          tung ihres Rechts auf Wahrung ih-
damentalen Rechte als Menschen in            sehen werden. Andere Paradigmen in            rer Identität.“
allen relevanten Lebensbereichen res-        der Förderung behinderter Menschen
pektiert, geschützt und gefördert wer-       wie das Empowerment oder die Parti-         Daraus folgt: Die Einbeziehung in die Ge-
den – und zwar unabhängig davon, ob          zipation werden aber keinesfalls über-      sellschaft („inclusion“) muss mit der vol-
sie in ihrer spezifischen Lebenslage ge-      flüssig. Die UN-Behindertenkonvention        len und wirksamen Teilhabe („participa-
sellschaftlich funktionstüchtig oder         zählt dementsprechend in Art. 3 zu ih-      tion“) an der Gesellschaft, mit der
mehrwertsteigernd sind.                      ren „allgemeinen Grundsätzen“               Achtung vor der (bleibenden!) Unter-
    Vom funktional-deskriptiven lernt        • „die Achtung der dem Menschen in-         schiedlichkeit („difference“) der Men-
das normativ-emphatische Inklusi-                newohnenden Würde, seiner indivi-       schen mit Behinderungen als Teil der
onsverständnis die Einsicht, dass nie-           duellen Autonomie, einschließlich       menschlichen Vielfalt („diversity“) so-
mand in alle denkbaren Teilsysteme,              der Freiheit, eigene Entscheidungen     wie mit der Achtung vor den intrinsi-
die sich in einer funktional differen-           zu treffen, sowie seiner Unabhän-       schen Entwicklungspotentialen von Kin-
zierten Gesellschaft ausbilden, einbe-           gigkeit; (…)                            dern mit Behinderungen als Teil deren je
zogen sein kann. Er muss es auch nicht       • die volle und wirksame Teilhabe an        spezifischer Identität („identity“) einher-
sein, um ein würdevolles Leben füh-              der Gesellschaft und Einbeziehung       gehen. Diese Grundsätze gestalten ihrer-
ren zu können. Demjenigen, der auf-              in die Gesellschaft;                    seits alle Prozesse der Inklusion qualitativ

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