Ist eZine Frag ee des E itmpfindens - Credit Suisse

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Ist eZine Frag ee des E itmpfindens - Credit Suisse
Das älteste Bankenmagazin der Welt. Seit 1895                                        Nummer 5
                                             Ausgabe Schweiz / Deutsch                                           Dezember 2011 / Januar 2012

                                                  Zeit
                                              ist eine Frage des Empfindens

Schwerpunkt Beim Lesen über die Zeit bleibt die Zeit stehen / Premium Uhren, Schokolade, Schönheit, Mode, Reisen. Alles nur vom Besten /
Sorgenbarometer Unentbehrlich seit über 30 Jahren / Leader Im Gespräch mit dem amerikanischen Physiker und Futurologen Michio Kaku
Ist eZine Frag ee des E itmpfindens - Credit Suisse
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2      Editorial

                                                                              ZeitFokus

Editorial
Glück ist, wenn die Zeit stillsteht
Das bulletin wurde 1895 als Effektenkursblatt der Schweizerischen
Kreditanstalt in Zürich gegründet. Vor 116 Jahren. Eine lange Zeit.
Gleichzeitig aber auch eine sehr kurze, denn das älteste Bankmagazin
der Welt ist immer mit der Zeit gegangen. Und dadurch jung geblieben.
Den Spagat zwischen Tradition und Innovation zu schaffen, ist eine
reizvolle Herausforderung. Auch in dieser Ausgabe. Sie enthält erst­
mals das Dossier Premium, in dem wir zeitgemässe Themen wie
Mode, Schönheit, Reisen oder Uhren bulletin gemäss darstellen. Und sie
beinhaltet das Sorgenbarometer, das es uns – und vielen Stützen der
Schweizer Gesellschaft – erlaubt, den Puls der Zeit zu fühlen. Seit weit
über 30 Jahren. Zeit, dem Sorgenbarometer wieder einmal ein neues
Kleid zu schenken.

Dass das bulletin alle Stürme – oder wie die Eidgenossen sagten
«Die Arglist der Zeit » – überstehen konnte, verdankt es allein seinen
treuen Leserinnen und Lesern. Deshalb möchten wir zum Jahresende
sagen, was wir das ganze Jahr über denken: «Danke!» Allerdings
geht es der bulletin Gemeinde kaum anders als dem übrigen Teil der
Menschheit: Es fehlt die Zeit. Wir kennen verschiedene Reaktionen          Verweilen in der Zeit Wie lange
darauf. Einige wenige resignieren nach kurzem Durchblättern, andere        dauert eigentlich die Gegenwart ?
vertiefen sich in die Lektüre und vergessen die Zeit, viele nehmen
das bulletin mehrmals in die Hand. Und immer häufiger hören wir, dass
                                                                           Drei Sekunden sagen manche,
das bulletin gesammelt wird. Die Artikel von «Holz», « Jugend» oder        denn nachher verlangt unser Gehirn
«Westen» sind zeitlos aktuell. Allerdings versteckt sich manchmal die      einen neuen Reiz. Doch es gibt
eine oder andere Nummer in den grossen Papierbergen. Damit Sie Ihre
                                                                           Situationen, in denen wir die Zeit
bulletin Sammlung vervollständigen können, haben wir den Talon
angepasst. Sie finden auf ihm weitere interessante Lektüremöglich­         vergessen, in denen die Zeit
keiten. Mit ein bisschen Glück auch einen Zeitmesser – von IWC.            stillsteht – und im Rückblick rasant
Wir schreiben, redigieren, produzieren. Und lesen zuletzt das ganze        vorbeigegangen ist. Nehmen Sie
bulletin noch einmal. Diesmal mit der Stoppuhr. Redaktorin Regula          sich Zeit, sich mit dem Empfinden
Brechbühl benötigte für den Artikel von Katrin Zeug 3 Minuten
                                                                           von Zeit zu beschäftigen.
15 Sekunden weniger lang als ich. Habe ich nun Zeit verloren? Oder
gewonnen, weil ich mich diesem interessanten Artikel länger widmen
durfte? Es ist alles eine Frage des Empfindens. Im Idealfall bleibt
unsere kleine Welt innerhalb der grossen eine Weile stehen. Das nennt
man Lebensqualität. Oder Glück. Und das wünschen wir Ihnen.
                                                                                                                                                           Coverfoto: Pia Zanetti | Foto: Cédric Widmer | Baris Guerkan | zvg

Andreas Schiendorfer, Chefredaktor

                                                                                                                                             Gold Winner

                                                                                                                                             Gold Winner
                                                                                                                          neutral
                                                                                                                       Drucksache
                                                                                          No. 01-11-598994 www.myclimate.org
                                                                                          © myclimate   The Climate Protection Partnership
Katrin Zeug                      Claudia Steinberg
publizierte mit Anne Kunze       bringt mit ihren Artikeln,
bei Rowohlt das Buch             unter anderem in der
«Ab 18 – Was junge               «Zeit », New York den
Menschen wirklich machen».       Europäern näher.
Ihr Artikel auf Seite 4          Ihr Artikel auf Seite 20                                                                                    Gold Winner
Ist eZine Frag ee des E itmpfindens - Credit Suisse
Inhalt        3

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                               Schwerpunkt Zeit
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                            4 Zeitempfi nden Die Verwendung von Lebenszeit ist
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              nicht identisch mit der Suche nach dem Lebenssinn
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                            8 Wert des Vergessens Wer nicht vergisst,
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              kann sich kein neues Wissen aneignen
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                          13 Wert des Verweilens Fotografi en, die zum
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                             Nachdenken und Geniessen einladen
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                          20 Wert des Alterns Mit dem Alter muss man Frieden
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                             schliessen und die zusätzliche Zeit nutzen

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                               Wirtschaft
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                          29 Reichtum Der Global Wealth Report gibt Aufschluss
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                             über das weltweite Privatvermögen
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                          33 Anlagestrategie Andreas Russenberger erklärt die
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                             Bedeutung des Faktors Zeit bei Geldanlagen
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                          34 Schwellenländer Wie reagieren die Schwellenländer
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                             in Lateinamerika und Asien auf die Krise?
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                          36 Lebensarbeitszeit Vielleicht arbeiten wir im Jahr
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                             2040 bis ins 73. Altersjahr. Wäre das schlimm?

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                               Credit Suisse
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                          39 Vorbildliche Unternehmer – Preisträger im Überblick
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                          40 Kunst im Geschäftsumfeld: Schaffhausen
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                          41 Hier finden Sie das Credit Suisse Sorgenbarometer
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                          42 Next Generation Network: Wo vernetzen sinnvoll ist
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                          45 Gastkommentar: Jubiläum der Bankiervereinigung
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                          46 CAST: Studenten begleiten das Zurich Film Festival
                                                             Wirtschaftsausblick Martin Neff
                                                             bewahrt seine Zuversicht.                                                                                                                                                                                                                                                                    48 Stimmungsvoll. Mitglieder des Orchestre de la Suisse
   26                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                        Romande spielen Kammermusik mitten auf der Rhone

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                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                               Leader
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                          60 Ewiges Leben? Der Physiker Michio Kaku befasst
                                                             Weihnachten Das Schweizerische
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                             sich mit Fragen über die Zukunft der Menschheit
                                                             Rote Kreuz zeigt, wie es für alle
   52                                                        Weihnachten wird.
Credit Suisse                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                  kooaba. Mit kooaba Paperboy können Sie weiterführende
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                               Informationen auf Ihr Smartphone holen.

                                                             Mikrofi nanz In Malawi überprüften
                                                             wir die positiven Auswirkungen
   57                                                        unserer Mikrofinanz-Initiative.
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                                                                                                                                                                                                                                                                                                               Invest             l

                                                                                                                                      Invest
                                                                                                                                      Wirtschaft, Märkte und Anlagen

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                           plus
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                  plus
                                                                                                                                      Konjunktur                    Zinsen und                      Währungen                    Aktien                         Rohstoffe                     Immobilien
                                                                                                                                                                    Obligationen
                                                                                                                                      Der Trend zur Konjunktur-     Die kurzfristigen Zinsen        Die Strukturprobleme des     Aktien sind attraktiv be-      Die zyklischen Rohstoffe      Schweizer Immobilienfonds
                                                                                                                                      verlangsamung hat in China    bleiben in den Hauptmärk-       USD sind ebenso gross        wertet, aber die politischen   bleiben im aktuellen          weisen ein grosses Agio                                                            Seit 1895 das Magazin der Credit Suisse
                                                                                                                                      und den USA nachgelassen,     ten (inkl. Schweiz) bei null.   wie jene des EUR . Wir er-   Probleme in Europa und         Umfeld riskant. Gold profi-   auf. Solange die Zinsen
                                                                                                                                      in Europa sich aber ver-      Die Verzinsung ist auf          warten eine Seitwärtsent-    die schwache globale           tiert von politischen         jedoch tief bleiben, emp-
                                                                                                                                      stärkt. Die mittelfristigen   Staatsanleihen sehr unat-       wicklung von EUR/USD.        Konjunktur begrenzen das       Unsicherheiten, tiefen        fehlen wir, diese Anlagen
                                                                                                                                      Wachstumsaussichten           traktiv, auf Unternehmens-      Gegenüber dem CHF sollte     Aufwärtspotenzial vorerst.     Zinsen und fehlendem          zu halten.
                                                                                                                                      bleiben verhalten.            anleihen leicht besser.         der EUR etwas zulegen.                                      Gegenparteirisiko.

                Ivo Pitanguy
                Michelangelo der Chirurgen                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                       Credit Suisse Sorgenbarometer 2011

                6
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                  Sorgenbarometer
                                                                                                                                      Dass der griechische Staat zahlungsunfähig
                                                                                                                                      ist, stellt keine Überraschung mehr dar.
                                                                                                                                      In der Zwischenzeit hat sich aber die Wirt-
                                                                                                                                      schafts- und Finanzlage anderer – grösserer –
                                                                                                                                      Länder verschlechtert. Frankreich, aber
                                                                                                                                      ganz besonders Spanien und Italien geben
                                                                                                                                      Anlass zur Sorge.

                                              Dossier                                                                                                                                                                                                                                                                                 Invest
                                                                                                                                           Das laufende Defizit in Italien ist mit etwa
                                                                                                                                      4,5% des BIP zwar geringer als in vielen

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                  Das Credit Suisse Sorgenbarometer
                          Hublot                                                                                                      anderen Industrieländern und der Primär-
                                                                                                                                      haushalt, d. h. das Defizit ohne Zinszahlungen,
                          Jean-Claude Biver                                                                                           ist sogar fast ausgeglichen. Weil die Regie-
                                                                                                                                      rung Berlusconi jedoch Sanierungsmass-

                          2                                                                                                           nahmen verschleppt hat, haben die Finanz-
                                                                                                                                      märkte zunehmend das Vertrauen verloren.
                                                                                                                                      Die Zinsen auf den italienischen Staatsan-
                                                                                                                                      leihen sind weit über ein nachhaltiges Niveau

                                              Premium                                                                                                                                                                                                                                                                                 Märkte und Anlagen
                                                                                                                                      hinaus gestiegen, und es droht eine Spirale,
                          Lindt & Sprüngli                                                                                            in der die Schulden wegen zunehmender

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                  zeigt auf, wo die Schweizerinnen
                                                                                                                                      Zinszahlungen unkontrolliert steigen.
                          Ernst Tanner                                                                                                     Das Vertrauen der Märkte zurückzuge-
                                                                                                                                      winnen ist viel schwieriger als es zu verlieren.
                          10                                                                                                          Auch entschlossene Massnahmen der neuen
                                                                                                                                      Regierung reichen womöglich nicht aus.
                                                                                                                                      Gleichzeitig sind die Mittel des europäischen
                                                                                                                                      Stabilitätsfonds (EFSF) zu gering, um

                          Burberry                                                                                                    die italienischen Anleihen zu garantieren.
                                                                                                                                      Es braucht schwereres Geschütz. Wer die
                          Angela Ahrendts                                                                                             Mittel hat, ist klar. Es ist die Europäische

                                              Uhren, Schokolade, Mode,                                                                                                                                                                                                                                                                Informationen des Global          Schweizer Sorgen                                          und Schweizer der Schuh drückt.
                                                                                                                                      Zentralbank. Wie radikal Notenbanken han-

                          14                                                                                                          deln müssen, um den Markt zu überzeugen,
                                                                                                                                      hat die SNB jüngst vorgemacht. Avanti,
                                                                                                                                      Signor Draghi !
                                                                           Fotos: dapd, Steffi Loos, Keystone | Udo Weitz, Keystone

                          Travel
                          Hongkong
                          16                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                Erkenntnis als erster Schritt zur Lösung

                                              Schönheit und Reisen.                                                                                                                                                                                                                                                                   Research der Credit Suisse.                                                                 Seite 41
                                                                                                                                      Dr. Oliver Adler
                                                                                                                                      Leiter Global Economics

                                                                                                                                                                                                                                                                                                    Credit Suisse bulletin 5/11
Ist eZine Frag ee des E itmpfindens - Credit Suisse
4        Zeit

                                                    uNSER ERLEBEN
                                                   BESTIMMT, WIE WIR
                                                   ZEIT WAHRNEHMEN
                                                     Der Mensch hat die uhr erst sehr spät als ein Werkzeug
                                                dafür entdeckt, seinen Alltag zu strukturieren und zu organisieren.
                                                        Niemand kommt mit der Art von Zeitempfinden, wie
                                                    wir es heute kennen, auf die Welt. Wir unterhielten uns mit
                                                        dem Zeitempfindungsforscher Frieder Lang darüber.

                                               Interview: Katrin Zeug

                                               Es ist Montagvormittag, zehn Uhr. Frieder Lang, Professor
                                               für Psychologie in Erlangen, hat gerade den Aufsatz einer
                                               Doktorandin zum Thema Selbstwert überarbeitet. Er sitzt in
                              6 Min. 25 Sek.
                       Die Lesezeit für
                                               seinem Zimmer in der Uni, es ist hell und so still, dass
                  diesen Artikel dauert        man nur das leise Ticken der Uhr hört, die an der weissen
                      im Durchschnitt
                        6 Minuten und          Wand gegenüber seinem Schreibtisch hängt. Während unseres
                          25 Sekunden.         Gesprächs wird er immer dann darauf schauen, wenn er
                                               über Minuten und Sekunden spricht, als müsse die Uhr ihn
                                               an diese kleinen Einheiten erinnern.
                                                     In seiner Forschung beschäftigt er sich mit einer anderen
                                               Zeit: mit der des Erlebens. Wann fühlt sich ein Moment
                                               lange an? Wie empfinden wir ablaufende Fristen, und warum
                                               vergeht die Zeit immer schneller, je älter wir werden? Mit
                                               den Minuten und Sekunden auf der Uhr hat das wenig zu tun.
                                               Trotzdem: Für das Gespräch gibt es ein Zeitfenster von
                                               genau zwei Stunden, und die Zeiger an der Wand kreisen.

bulletin 5/11 Credit Suisse
Ist eZine Frag ee des E itmpfindens - Credit Suisse
Zeit          5

                                                        Es war nicht leicht, einen Termin für dieses Gespräch zu finden.
                                                        Wünschten Sie manchmal, Sie hätten mehr Zeit?
                                                    Wenn ich mehr Zeit hätte, würde ich mehr Aufgaben übernehmen, und es würde
                                                    immer dasselbe herauskommen. Ich wünschte mir daher nicht mehr Zeit – aber
                                                    mehr Weisheit, das Richtige zu tun und Unwichtiges zu lassen. Es ist eine Frage der
                                                    Persönlichkeit, wie viel Zeit wir haben.
                                                        Was können wir tun, um mehr von unserer Zeit zu haben?                                            steht aus!
                                                    Nun, bekanntlich gibt es teure Zeitmanagement-Seminare, in denen man lernen soll,
                                                    seine eigenen Ziele zu formulieren und zu ordnen. Das sind in Wirklichkeit reine
                                                    Motivationstrainings, die weniger mit Zeit an sich zu tun haben als mit Sinnfindung.
                                                    Aber genau das verwechseln wir oft: die Verwendung von Lebenszeit mit der Suche                       Frieder R. Lang
                                                    nach Sinn im Leben. Wenn ich Sinnhaftes tue, dann spielt das Zeiterleben keine Rolle.               wurde 1962 geboren.
                                                                                                                                                    Er studierte Psychologie an
                                                    Wenn ich mich aber mit ganz viel Nebensächlichem und Unwichtigem beschäftige,                   der Technischen Universität
                                                    dann wird mir die Zeit lang – und im Rückblick leer.                                              Berlin und habilitierte
                                                        Kann man Zeit überhaupt fassen, wenn ihr Verlauf so wenig mit                                 2001 an der Humboldt-
                                                                                                                                                          Universität über
                                                        unserem Empfinden zu tun hat?                                                                 die Regulation sozialer
                                                    Das versuchen wir, aber das ist in der Psychologie recht neu. Bisher hat die Frage,                    Beziehungen.
                                                    was Zeit ist, in erster Linie Physiker beschäftigt. Ihre Definition basiert auf der Atom-
                                                                                                                                                        Anschliessend lehrte
                                                    physik: Elektromagnetische Wellen bestimmen die Zeit beim Übergang von einem                          er Entwicklungs-
                                                    zum anderen Energiezustand so exakt wie nie zuvor. Und nach dieser «Atomzeit» stan-              psychologie an der Martin-
                                                    dardisieren wir dann Maschinen, elektronische Geräte und richten unsere gesamte                  Luther-Universität Halle-
                                                    Moderne darauf aus. Aber das entspricht nicht unserem Erleben. Der Mensch hat die                Wittenberge. Seit 2006 ist
                                                                                                                                                    Lang Inhaber des Lehrstuhls
                                                    Uhr erst sehr spät als ein Werkzeug dafür entdeckt, seinen Alltag zu strukturieren und            und Leiter des Instituts
                                                    zu organisieren. Niemand kommt mit der Art von Zeitempfinden, wie wir es heute                    für Psychogerontologie
                                                    kennen, auf die Welt.                                                                           an der Friedrich-Alexander-
                                                                                                                                                        Universität Erlangen.
                                                        Aber der Mensch hat doch ein Zeitempfinden …
                                                    Ja, aber das ist ein ganz anderes, eher chronobiologisches, das sich nach Tag-Nacht-
                                                    Rhythmen und Jahreszeiten richtet. Darauf sind wir sehr sensibel eingestellt.
                                                    Wir merken es, wenn wir beispielsweise auf einer Reise in eine andere Zeitzone
                                                    wechseln und schon bei wenigen Stunden Differenz einen Jetlag bekommen.
                                                    Dieses Zeiterleben ist weit weg von dem, was wir in Sekunden und Minuten messen.
                                                    Es gibt keinen sensorischen «Zeitsinn» wie den für Hören oder Sehen. Unser
                                                    heutiges Verständnis von Zeit ist ein unnatürliches Konstrukt, allein unser Erleben
                                                    bestimmt, wie wir Dauer und Tempo wahrnehmen.
                                                        Wo im Gehirn findet diese Wahrnehmung statt?
                                                    So komplex, wie wir Zeit erleben, kann sie nur als ein Zusammenspiel verschiedener
                                                    Strukturen des Gehirns erklärt werden. Die älteste davon ist das Stammhirn, wo
                                                    die Zirbeldrüse sitzt und Melatonin ausgeschüttet wird. Dieses Hormon ist unter
                                                    a nderem für den circadianen Rhythmus verantwortlich, der uns schlafen und wachen
                                                    lässt. Aber bestimmend für unser Zeitempfinden ist beispielsweise auch, kausale
                                                    Zusammenhänge zu erkennen, also Ursachen und ihre Wirkungen. Dieses Aus-
                                                    werten der Vergangenheit ist überlebenswichtig und läuft über das Gedächtnis, eine
                                                    Gemeinschaftsleistung vieler verschiedener Areale. Stammesgeschichtlich erst viel
                                                    später kam dann die vorausschauende Zeitkognition dazu, also die Vorstellung von
                                                    Zeit als Zukunft. Sie ist vor allem in der Grosshirnrinde angesiedelt, wo Hand-
Illustration: Corbis Specter | Foto: Gerhard Lang

                                                    lungen gesteuert, aber auch Wunscherfüllungen aufgeschoben, Pläne durchgespielt
                                                    und Impulse kontrolliert werden. Kein anderes Hirnorgan ist in der jüngeren
                                                    Evolution so stark gewachsen wie dieses.
                                                        Ihr Kollege, der Neurologe Ernst Pöppel, sagt, die Gegenwart sei drei
                                                        Sekunden lang. So lange dauere ein Schluck, ein Händedruck,
                                                        ein Aufstampfen mit dem Fuss – dann frage das Gehirn nach Neuem.
                                                        Wie empfinden wir einen Moment, in dem wir verweilen?                                   >

                                                                                                                                                                Credit Suisse bulletin 5/11
Ist eZine Frag ee des E itmpfindens - Credit Suisse
6        Zeit

                                                Die Motivationspsychologie hat gezeigt, dass Menschen, die sich etwas leidenschaftlich
                                                hingeben – also beispielsweise ein Bergsteiger, der gerade an einer Bergwand hängt –
                                                so etwas wie einen Zeitverlust erleben. Sie sind vollkommen konzentriert und im Hier
                                                und Jetzt. Dieses Phänomen nennen wir Flow-Erleben. Im Nachhinein wird der
                                                Bergsteiger das Gefühl haben, dass die Zeit schnell vergangen ist, aber währenddessen,
                                                das ist das Merkwürdige, denkt er gar nicht über die Zeit nach, sein Zeitempfinden
                                                hat sich geradezu aufgelöst. Auf der anderen Seite kennen wir dieses zähe Gefühl, wenn
                                                uns eine Aufgabe unterfordert, wie sich die Zeit endlos auszudehnen scheint – wir
  «Wir verwechseln                              sehen öfter auf die Uhr, und es ist, als würden die Zeiger dahinschleichen. Wir emp-
                                                finden Lange-Weile.
oft die Verwendung                                  Abgesehen von diesen Extremen verbringen wir viel Zeit des Tages
     von Lebenszeit                                 mit Routinen. Wir stehen auf, putzen uns die Zähne, essen, gehen gewohnte
mit der Suche nach                                  Wege. Wie wirkt sich das auf unser Zeitempfinden aus?
   Sinn im Leben.»                              Routinen strukturieren den Alltag, die Woche, den Monat, vielleicht auch die Lebens-
                              Frieder R. Lang
                                                zeit. Um herauszufinden, wie sich das auswirkt, haben wir in einer Studie Menschen
                                                ihren gestrigen Tag rekonstruieren lassen, sie gefragt, was sie vom Aufstehen bis
                                                zum Schlafengehen getan und wie sie dabei die Zeit erlebt haben. Da zeigt sich, dass
                                                Ältere den Tag relativ gleichmässig bewerten, also in jeder Episode ein gleiches,
                                                schnelleres Zeitempfinden haben. Bei jüngeren Erwachsenen gibt es dagegen einen
                                                U-förmigen Verlauf: In der Mitte des Tages vergeht die Zeit für sie langsamer, und zwar
                                                unabhängig davon, ob sie berufstätig sind oder nicht.
                                                    Haben Sie da eine Erklärung?
                                                Wir nehmen an, dass Routinen und die Strukturierung des Alltags entscheidend für
                                                das Zeitempfinden sind. Jüngere Menschen probieren noch vieles aus, auferlegte
                                                Routinen erleben sie als Zwang oder Einschränkung, als lang-weilig. Den Morgen
                                                und den Abend dagegen erleben sie zwar oft auch eingespielt, aber selbstbestimmt –
                                                das lässt die Zeit schneller vergehen. Ältere Menschen dagegen haben sich in
                                                ihrem Leben und mit den Routinen schon eingerichtet. Sie scheinen die Langeweile
                                                bei Routinen so nicht zu kennen wie Jüngere.
                                                    Bleibt man also jung, wenn man Routinen vermeidet?
                                                Es könnte eine Hypothese sein, dass ältere Menschen, die sich immer wieder neue
                                                Aufgaben suchen, ihre Zeit erfüllter erleben. Die Generation der so genannten
                                                Silver Surfer, die heute 65- bis 75-Jährigen, versucht das gerade. Sie scheint beschäf-
                                                tigter zu sein als alle anderen Altersgruppen. In unserer Forschung haben wir den
                                                Eindruck gewonnen, dass sich ihr gutes Lebensgefühl aus der Abwehr der eigentlichen
                                                Erfahrungen des Alterns speist. Sie verlängern einfach die mittlere Lebensphase,
                                                nur ohne berufliche Zwänge und sagen: Man ist so alt, wie man sich fühlt. Allerdings
                                                führt das offensichtlich nicht dazu, dass sie das Gefühl haben, mehr Zeit zu haben.
                                                Im Gegenteil, gerade wer so denkt, so zeigen unsere Befunde, empf indet eine beson-
                                                dere Knappheit und den Druck, die noch verbleibende Zeit richtig zu verwenden.
                                                    Viele haben das Gefühl, die Zeit vergehe immer schneller, je älter sie werden.
                                                    Warum ist das so?
                                                Das Einfachste wäre zu sagen, dass es mit einer Abnahme der geistigen Leistungs-
                                                f ähigkeit zu tun hat. Unser Denken wird langsamer, je älter wir sind, und wir brauchen
                                                immer länger für die gleichen Prozesse. Allerdings können wir wohl nicht direkt von
                                                unserer Geschwindigkeit auf das Empfinden der Zeit schliessen – denn auch diejenigen
                                                älteren Menschen, die leistungsf ähiger sind als jüngere, haben das Gefühl, dass
                                                ihre Zeit schneller vergeht. In unseren Untersuchungen haben wir gezeigt, dass einen
                                                da vielmehr die schleichend zunehmende Erkenntnis leitet, dass die eigene Lebens-
                                                zeit knapper wird. Die Wirkung von Fristen auf das Zeitempfinden ist dramatisch. Das
                                                Besondere am Menschen ist ja, dass er das eigene Handeln nicht nur an dem in der
                                                Vergangenheit Gelernten, sondern auch an zukünftigen Ereignissen ausrichten kann.
                                                Kein anderes Lebewesen tut dies in ähnlicher Weise.

bulletin 5/11 Credit Suisse
Ist eZine Frag ee des E itmpfindens - Credit Suisse
Zeit          7

                                   Das ständige Betrachten der
                                         verfügbaren Zeit unter
                            dem Gesichtspunkt ihrer Nützlichkeit
                                       kann uns krank machen.
                              Man muss auch loslassen, die Zeit
                                             geniessen können.

                                Was ändert sich im Angesicht einer verstreichenden Frist?
                            Wir nehmen die Zeit beschleunigter wahr. Das ändert unsere Dringlichkeiten.
                            Mit einer Deadline in der Arbeit beispielsweise handeln wir meist zielstrebiger und
                            konzentrierter. Vermuten Menschen sich am Ende ihres Lebens, f ällt auf, dass
                            sie bei vielen Entscheidungen emotionsgesteuerter sind. Sie suchen positive Gefühle,
                            vielleicht auch schrecklich schöne wie Sehnsucht oder Wehmut. Glauben wir da-
                            gegen, noch viel Zeit im Leben zu haben, handeln wir eher strategisch-instrumentell.
                            Wir häufen zum Beispiel Wissen an, dessen Wert sich erst in der Zukunft zeigt –
                            wie bei einer viele Jahre dauernden Doktorarbeit.
                                Hat auch die Digitalisierung einen Einf luss auf unsere Zeitwahrnehmung?
                            Ich bin mir da nicht sicher. Unsere Wahrnehmung wird schneller, weil wir sie
                            von Kindheit an stark trainieren. Aus der Musikforschung weiss man, dass viele klassi-
                            sche Musikstücke heute viel schneller gespielt werden als zu der Zeit, in der sie
                            komponiert wurden. Auch der Filmschnitt ist schneller geworden. Aber die biologi-
                            schen und neuronalen Tatsachen, die unser Gehirn ausmachen, sind immer noch
                            die gleichen wie bei unseren Vorfahren zu Beginn der Zeitrechnung.
                                Glauben Sie, die Geschwindigkeit, mit der heute Reize auf
                                uns einprasseln, ist schädlich?
                            Es gab schon immer Diskussionen, ob technische Erneuerungen gesundheitsschädlich
                            sind, weil sie widernatürlich seien und den Takt des natürlichen Lebens stören
                            würden – bei der ersten Dampflok etwa, die mit 35 Stundenkilometern fuhr. Jedes
                            Mal wird geargwöhnt, dass der Mensch davon krank werden könne. Mein Ein-
                            druck ist, dass wir bislang aber immer gelernt haben, mit neuen Produkten so umzu-
                            gehen, dass sie für unsere Lebensqualität nützlich sind.
                                                                                                                      .....   Mehr zum Thema . . . . .
                                Haben Sie, weil Sie sich so viel damit beschäftigen,                                        www.geronto.uni-erlangen.de
                                                                                                                        www.credit-suisse.com/bulletin/zeit
                                einen anderen Umgang mit Zeit?                                                        .........................................
                            Ich habe da leider kein Geheimrezept, aber ich beobachte in meinem Umfeld, dass
                            dieses ständige Betrachten der verfügbaren Zeit unter dem Gesichtspunkt ihrer
                            Nützlichkeit nicht optimal ist. Wir müssen auch mal unnütze Zeit verbringen, loslassen,
Foto: Same Edwards, Getty

                            um nicht krank zu werden.
                                Können Sie das für sich, unnütze Zeit verbringen?
                            (Lacht) Ich versuche es manchmal, aber immer wenn ich gerade ausspannen will,
                            kommt eines meiner beiden Kinder und fragt, was wir jetzt tun könnten.

                                                                                                                                         Credit Suisse bulletin 5/11
Ist eZine Frag ee des E itmpfindens - Credit Suisse
8        Zeit

                                           DAS VERGESSEN ALS
                                             NOTWENDIGKEIT
                                                  Der Mensch ist ein Wissenssammler. Weil sein Speicher
                                            beschränkt ist, muss der Mensch vergessen, um Erkenntnisse und
                                                Erlebnisse laufend verarbeiten zu können. Das Vergessen
                                         ist eine uralte Kulturtechnik, die insbesondere die Religionen gefördert
                                                haben. In einer Gesellschaft voller Informationen steigt die
                                            Notwendigkeit, die Techniken des Vergessens wiederzuentdecken.

                                               Text: Joël Luc Cachelin
                                               Was unterscheidet den Menschen vom Tier? Es ist die Tatsache,
                                               dass unsere Realität relativ ist. Wir haben keine Triebe und
                                               Instinkte, die unser Verhalten in jeder Situation automatisch
                              8 Min. 52 Sek.
                                               vorschreiben. Stattdessen stellen wir Fragen an unsere Umwelt,
                     Die Lesezeit für
                diesen Artikel dauert          an unsere Mitmenschen und auch an uns selber. Wer bin ich,
                    im Durchschnitt
              8 Minuten 52 Sekunden.
                                               warum nimmt die Finanzkrise kein Ende und warum schnurrt
                                               die Katze auf meinem Bauch? Das Ref lektieren garantiert uns
                                               nicht nur das Überleben, es ermöglicht uns auch, die Natur
                                               immer mehr zu unseren Gunsten zu nutzen.
                                                     Durch Fragen lernen wir nicht nur die Welt und gleich-
                                               zeitig unser Ich kennen. Welt- und Selbsterkenntnis lassen sich
                                               genauso wenig trennen, wie sich der Mensch aus seiner
                                               Umwelt isolieren lässt. Das Fragen erlaubt uns, als Menschheit
                                               fortzuschreiten, immer neue Technologien und Produkte zu
                                               entwickeln. Letztlich münden die Fragen in eine Steigerung
                                               des Wohlstands, wobei wir mit dem Erreichten nie zufrieden
                                               sind. Stetig überlegen wir uns, wie unser Leben noch besser
                                               sein könnte. Der Mensch ist das fragende Tier, ein Tier,
                                               das nie zu abschliessenden Antworten f indet und immer
                                               wieder neu mit dem Fragen beginnt.

bulletin 5/11 Credit Suisse
Zeit          9

                                                   Der Mensch ist ein Wissenssammler. Mit     schwinden. Die moderne Hirnforschung
                                                   jedem absolvierten Lebensjahr staut        zeigt, dass das Gehirn vor allem jene
                                                   sich mehr Wissen in unserem Inneren an.    Erkenntnisse langfristig speichert, die das
                                                   Durch die eingesammelten Wissensbau-       Bewusstsein mit seinen Emotionen ver-
                                                   steine konstruiert sich das Ich seine Welt.knüpft. So weiss die Braut ein Leben lang,
                                                   Man könnte so weit gehen und sagen,        wo sie geheiratet hat und wie das Wetter
                                                   dass die Welt nur im Kopf kino des einzig- an ihrem Hochzeitstag war. Der Bräu-
                                                   artigen Individuums existiert. Alles ande- tigam wird nie vergessen, wie er wenige
                                                   re gehört zu den Kulissen und Requisiten.  Monate vor dem Bund fürs Leben
                                                   Der Beginn der Wissenssammlung liegt       momentelang in einen Mann verliebt war.
                                                   im frühsten Kindesalter, wenn wir               Dagegen werden sich beide nicht
                                                   mit Hilfe von Mama und Papa die ersten     mehr an die Namen oder die Gesichter al-
                                                   Worte lernen.                              ler Kinder erinnern, die mit ihnen
                                                        Mit den gelernten Worten formulie-    im Kindergarten waren. Diese Beschrän-
                                                   ren wir Sätze und können dadurch gegen-    kung auf das Nötigste ist kein Miss-
                                                   über den Mitmenschen unsere Bedürf nisse   geschick, sondern vielmehr zwingend, soll
                                                   zum Ausdruck bringen. Auf der Schul-       in der Fülle der Eindrücke der Überblick
                                                   bank findet die Wissensreise ihren Fort-   behalten werden. Das Gehirn ist trotz
                                                   gang, wo der noch fast wissensleere        seiner unglaublichen Eigenschaften be-
                                                   Mensch zuerst das Alphabet und dann das    schränkt. In seinem Innern gibt es zirka               Joël Luc Cachelin
                                                                                                                                             hat an der Universität St. Gallen
                                                   Einmaleins lernt. Es folgt die Grundaus-   85 Milliarden Neuronen, die aneinander-         studiert und zur Zukunft des
                                                   bildung in der Mathematik, den Sprachen,   gereiht eine Strecke von rund 5,8 Millio-        Managements promoviert.
                                                   der Geografie, der Geschichte, der Bio-    nen Kilometer ergeben, was wiederum             2009 hat er zum Analysieren,
                                                                                                                                                     Visualisieren und
                                                   logie. Nach und nach lernt der Mensch die  dem 145-fachen Erdumfang entspricht.
                                                                                                                                              Optimieren von wissensinten-
                                                   Welt zu verstehen. Er lernt die gesell-         Die Beschränkung des Gehirns ver-                siven Unternehmen
                                                   schaftlichen Gesetze und Regeln kennen     weist auf den zwingenden Zusammenhang           die Wissensfabrik gegründet.
                                                   und wie er sich innerhalb dieser zu ver-   zwischen Erinnern und Vergessen. Es ist
                                                                                                                                                Er publiziert regelmässig,
                                                   halten hat.                                weniger ein Nichtvergessendürfen als                nächstes Jahr erscheint
                                                        Nach der Schule werben sich die       vielmehr ein Vergessenmüssen. Damit sich         «Die Kraft des Vergessens –
                                                   einen in einer Lehre praktisches Wissen    der Mensch erinnern kann, muss er ab               Über die Notwendigkeit
                                                   an, während sich die anderen in den        und an seinen Speicher leeren, sonst ist da          und die gleichzeitige
                                                                                                                                                   Unmöglichkeit einer
                                                   Hörsälen der Wissenschaft einfinden, um    kein Platz, um Neues aufzunehmen.                vergessenen Kulturtechnik
                                                   sich noch mehr theoretisches Wissen        Die meisten Gedanken werden erst gar              am Rande der Digitalität».
                                                   anzueignen. Das ist nicht das Ende des     nicht abgespeichert und das Rechen-                     wissensfabrik.ch
                                                   Wissenserwerbs, längst hat sich die Nach-  zentrum muss in Sekundenbruchteilen                Buchvorbestellungen an
                                                   richt auf dem ganzen Planeten verbreitet,  entscheiden, was relevant ist. Es ist wie          cachelin@ wissensfabrik.ch
                                                   dass das Lernen eine lebenslängliche       in einer Bibliothek: Wenn die Bibliothe-
                                                   Beschäftigung ist, will man auch in Zu-    karinnen nicht regelmässig die nicht
                                                   kunft mit den Anforderungen der            mehr benötigten Bücher ausmisten, platzt
                                                   Wissensgesellschaft mithalten können.      die Bibliothek in wenigen Jahren aus allen
                                                                                              Nähten. Das Beispiel zeigt, dass nicht
                                                   Der menschliche Wissensspeicher automatisch die ältesten Bücher aussortiert
                                                   Erkenntnisse werden in unserem Gehirn      werden. Im Gegenteil: Über die Zeit
                                                   gespeichert. Das Gehirn ist ein Wissens-   h inweg kristallisieren sich Klassiker her-
                                                   reservoir, in dem neben dem praktischen    aus, die in keiner Bibliothek fehlen dürfen.
Illustration: Corbis Specter | Foto: Anja Schori

                                                   und dem theoretischen auch sämtliche       Diese sind dann so wichtig, dass spätere
                                                   alltäglichen Erkenntnisse abg espeichert   Bücher auf diese Werke Bezug nehmen.
                                                   werden. Nicht alle Erfahrungen ver-        Nicht anders ist es in unserem Gehirn. Es
                                                   bleiben in diesem Speicher. Gewisse Ein-   sind ein paar emotionsverknüpfte Schlüs-
                                                   sichten sind so kurz lebig, dass sie, kaum selgedanken, die das Ich ausmachen. Diese
                                                   als Gedanken entstanden, schon wieder im Ich-Klassiker nennen die Wissenschaften
                                                   schwarzen Loch des Nichtwissens ver-       dann «Identität». Was nicht in Bezug zu      >

                                                                                                                                                                Credit Suisse bulletin 5/11
10          Zeit

Die Verwandlung von Nichtwissen in Wissen ist die Grundlage von sozialem und ökonomischem Fortschritt. Das Wissen ist die wichtigste
Ressource aller Organisationen. Folgerichtig rückt die Aneignung und Speicherung von Wissen in den Mittelpunkt der Wissenschaft.

                                     ihr gesetzt werden kann, wird gar nicht           wie eine Reinigung der Seele, wie ein
                                     wahrgenommen oder verpufft zum Zeit-              gnädiges Leeren des Erinnerungsspeichers.
                                     punkt der Verarbeitung. So gesehen ist der             Die Vergebung ist eine Erlösung
                                     Mensch nicht nur ein Wissenssammler, er           auf Erden, die dem Ich die Last des Seins
                                     ist auch ein Meister des Vergessens.              nimmt. Durch das Beten steht den Gläubi-
                                                                                       gen eine weitere Technik des Vergessens
                                    Vergessen durch religiöse Rituale                  zur Verfügung. Im Gebet widmen wir uns
                                     Besondere Bedeutung hat das Vergessen             unserem intimen Ich, seinen Sorgen und
                                     in der Religion erlangt. Das Religiöse            Ängsten. Wir bitten um eine neue Stelle,
                                     unterstützt das Ich im Prozess der Kon-           um eine neue Liebe, um Segen für unsere
                                     zentration auf das Wesentliche. Die Tech-         Liebsten, um Hilfe für unsere Eltern, um
                                     niken des Vergessens unterscheiden sich           die Rückkehr der Grosseltern in die Arme
                                     zwar von Religion zu Religion, zielen             Gottes. Wir bitten Gott, die Last von
                                     aber doch immer auf dasselbe: auf das             uns zu nehmen, und erlangen Gelassenheit
                                     Loslassen von unliebsamen Erinnerungen.           für unsere Zukunft.
                                     In der christlichen Religion sucht der                 Die Religionen geben zudem Aus-
                                     Sündige den Pfarrer auf, der in der               blick auf das langfristige, auf das finale
                                                                                                                                       Illustration: Sascha Tittmann

                                     Beichte die Sünde von ihm nimmt. Dem              Vergessen. Es ist das Vergessen, das den
                                     Reuigen wird verziehen, seine Sünden              Speicher des Ichs komplett leeren wird
                                     werden durch Gott von ihm genommen.               und das Ich für ein Leben nach dem
                                     Das fühlt sich wie eine Befreiung an,             Dasein vorbereitet. Das Ich wird geräumt

   bulletin 5/11 Credit Suisse
Zeit           11

und neu programmiert. Dieses Vergessen         endliches und mit Mängeln behaftetes
zeigt sich im Christentum in der Vor-          Wesen ist. Um dieser Beschränktheit auch
stellung eines unendlichen, paradiesischen     in seinem Erinnerungsspeicher gerecht
Reich Gottes. Im Leben nach dem Tod            zu werden, hat er die Fähigkeit des be-
wird das Ich endgültig erlöst und erhält       wussten Vergessens. Dabei geht es immer
ein unendliches Leben, das ausschliesslich     darum, durch das Vergessen von Gedan-
aus seinen positiven Erinnerungswelten         ken, Erkenntnissen und Erinnerungen
besteht. Noch konsequenter wird das            Platz für das Neue zu schaffen.
Selbstvergessen im Buddhismus prakti-                Das Ich ist wie ein Zimmer, dessen       «Der Mensch ist
ziert. Hier ist die komplette Leerung des      Fenster man nach einer unruhigen Nacht         nicht nur ein
Wissensspeichers schon auf der Erde            öffnet. Lüftet man das Zimmer nicht,
das Ziel. Das Ich meditiert, lässt alles los   wird die Luft immer schlechter und das
                                                                                              Wissenssammler,
und strebt danach, keinen einzigen Ge-         Dasein unangenehmer. Es fehlt an Sauer-        er ist auch
danken mehr in sich zu tragen. Die Gläu-       stoff und frischem Wind. Wie bei den           ein Meister des
bigen streben nach dem Nirwana, in dem         religiösen Vergessenstechniken zielt auch
es nichts mehr, nur noch das Nichts gibt.      dieses weltliche Vergessen letztlich auf die
                                                                                              Vergessens.»
                                                                                              Joël Luc Cachelin
      Dann ist das Ich frei, frei von der      Erlösung des Ichs, auf die Erlösung von
Welt, aber auch frei von sich selbst. Dieser   Zweifel, Unglück und Trauer. Diese Be-
Zustand beschreibt nichts anderes als das      freiung fühlt sich wie ein Strecken
vollkommene Vergessen. Das Ich löst sich       der Gegenwart an. Es sind nicht mehr die
aus seiner Welt heraus und vergisst nicht      Erinnerungen an eine missratene Ver-
nur seine Sorgen, sondern auch seine           gangenheit oder die Ängste um die Zu-
Freunde und Feinde, seine Vergangenheit        kunft, die im Vordergrund stehen. Im
und seine Zukunft.                             Gegenteil: Das Ich gibt sich ganz seiner
                                               Gegenwart hin. Es lacht und tanzt, es
Kultivierung des Vergessens                    kocht und singt, es segelt und diskutiert.
Der Mensch hat gelernt, sich mit der           Die irdischen Techniken des Vergessens
Beschränktheit seiner Erinnerungen und         umfassen das Fantasieren, die Reise,
der Beschränktheit seines Wesens zu ar-        den Rausch und das Löschen. Im Fanta-
rangieren. Er ist sich bewusst, dass er ein    sieren wandelt das Ich in einfallsreichen, >

           DIE VIER TECHNIKEN DES VERGESSENS
 Unsere Multioptionsgesellschaft ist gleichzeitig eine Multiwissens­
      gesellschaft. Die sich aufgrund der Digitalität pausenlos
  mehrenden Möglichkeiten führen zu einer Verwirrung des Ichs.
       Verliert aber die Aussenwelt des Ichs an Stabilität, so
 wird auch seine Innenwelt instabil. Das macht das Ich anfällig für
    jede Form der Verführung, die Eindeutigkeit und Sicherheit
  verspricht. Zudem besteht die virulente Gefahr des Verzweifelns.
             Vier Techniken des Vergessens leisten einen
     Beitrag zur Reduktion der Welt­ und Selbstkomplexität:
     das Fantasieren, der Rausch, das Reisen und das Löschen.
          Mehr dazu unter www.credit­suisse.com/bulletin

                                                                                                           Credit Suisse bulletin 5/11
12          Zeit

                              fantastischen Gedankenwelten. Durch            Anfrage bei Google, jede Bestellung
                              Filme, Bücher und Erzählungen lässt es         in der Mediathek, jeden Besuch im digita-
                              sich treiben und inspirieren. Das Ich          len Reisebüro. Sie registriert aber
                              sieht sich aus neuen Perspektiven und lässt    auch das Anschauen eines unanständigen
                              das Alltags-Ich hinter sich. Ähnlich wir-      Videos oder den Beitrag in einem poli-
                              ken die Reise und der Rausch. Auch hier        tischen Forum.
                              distanziert sich das Ich für eine vorher            Das Internet nimmt das Ich gefangen
                              bestimmte Zeit von sich selbst und gibt        und lässt es nicht mehr los. Im Entstehen
                              sich ganz dem Moment hin.                      dieser Erinnerungsmaschine verwachsen
                                    Mit Hilfe der Vergessenstechniken        die Realität und die Virtualität, die Ver-
                              kultivieren wir jenes Ich, das in den          gangenheit und die Zukunft, der Mensch
                              Zwängen der Gewohnheit und Normen              und die Maschine. Es wird deutlich, dass
                              keinen Platz hat. Wer in den Urlaub f ährt     das Vergessen mehr denn je seine Berechti-
                              oder mit Freunden eine Flasche Wein            gung erhält. Gerade in einer digitalen
                              trinkt, vergisst, was ihn sonst quält und      Wissensgesellschaft lebt der Mensch nur
                              drängt. Man gibt sich dann ganz dem            dann unbekümmert in seiner Gegenwart,
                              Augenblick hin, ohne sich vom Vorher           wenn er sich regelmässig der Techniken
                              oder vom Nachher derangieren zu lassen.        des Vergessens bedient. Das Fantasieren,
                              Schliesslich kann das Ich versuchen            das Reisen, der Rausch und das Löschen
                              seine Erinnerungen zu löschen, indem es        erlösen das Ich von seinen Sorgen und
                              verdrängt, Dinge wegwirft oder Dateien         Zweifeln, von den Fragen, die den Genuss
                              löscht. Dieses bewusste Löschen ist            des Augenblicks unmöglich machen.
                              schwierig, weil in unserem Erinnerungs-        Vergisst das Ich zu vergessen, droht es in
                              speicher doch immer Reste an die un-           der Unendlichkeit seines Wissens verloren
                              angenehme Vergangenheit übrigbleiben.          zu gehen oder aber in seiner Hilflosigkeit
                              Erfolgsversprechender scheint es, darauf       als Maschinenmensch zu enden.
                              zu vertrauen, dass der natürliche Ver-
                              gessensprozess in Form des Alters nach
                              und nach die überschüssigen Erinnerun-
                              gen von uns nimmt.

                              Entstehen der Erinnerungsmaschine
                              Dieses Nachdenken über das Vergessen
                              findet in einer Zeit statt, in der wir
                              Tag für Tag an einer gigantischen Erinne-
                              rungsmaschine basteln. Die Rede ist
                              vom Internet, in dessen Netz wir alles
                              speichern, was Tag für Tag an Dokumen-
                              tation über uns anf ällt: unsere Fotos,
                              unseren elektronischen Briefverkehr,
                              unsere Ferienvideos und alle Dateien, die
                              im Berufsleben stündlich entstehen. Das
                              Internet wird mehr und mehr zu einem
                              symmetrischen Spiegel der Realität. Es ist
                              das Gehirn der gesamten Menschheit
                              oder, anders betrachtet, das Zuhause der
                              Menschen der nächsten Generation.
                                    Weil das Internet aber eine Maschine
                              ist, vergisst sie nicht. Sie speichert nicht
                              nur, was wir in den digitalen Raum
                              bewusst hochladen, sondern erinnert sich
                              vielmehr an jeden unserer Klicks, jede

bulletin 5/11 Credit Suisse
Tag
Nacht
 Tag
Nacht
0,001 Sek.
hlingSommerHerbstWinterFrühling
Jetzt
Geburt Leben Tod
Fotos: Fuse, Getty | Pia Zanetti ( 3 Bilder) | HISAO OSONO/amanaimagesRF, Getty | Bill Fritsch, Getty | Catherine Ledner, Getty | Ann Cutting, Getty
20          Zeit

                                                  DAS ALTER IST
                                               NICHTS ANDERES ALS
                                                  EIN NEuER TAG
                                               Von Japan bis Mexiko, von Europa bis Brasilien – die Weltbevölke-
                                                 rung altert rapide, doch für die meisten Planer ist die Zukunft
                                               ewig jung. Das Age Lab am Massachusetts Institute of Technology
                                                   entwickelt dagegen Visionen für einen Planeten, auf dem
                                                       Hundertjährige ein aktives, erfülltes Leben führen.

                                              Text: Claudia Steinberg
                                              Schon so häufig ist die 23-jährige Angelina Gennis in das
                                              Kostüm der um rund 50 Jahre älteren Agnes geschlüpft, dass ihr
                              7Min. 35 Sek.
                                              die Zeitreise in die Gebrechlichkeit innerhalb weniger
                     Die Lesezeit für
                                              Minuten gelingt.
                diesen Artikel dauert
                    im Durchschnitt
                                                   Für ihre Verwandlung in eine betagte Dame braucht
              7 Minuten 35 Sekunden.          die Studentin der Wirtschaftswissenschaft und Weltpolitik
                                              jedoch weder Perücke noch Schminke, vielmehr auferlegt sie
                                              sich mit engen Schaumstoffmanschetten um Hals, Knie und
                                              Ellbogen sowie zähen elastischen Bändern an Hand- und
                                              Fussg elenken freiwillig die Bewegungsbeschränkungen einer
                                              von etlichen degenerativen Krankheiten gezeichneten Frau.
                                              Handschuhe imitieren die Ungeschicklichkeit schlecht durch-
                                              bluteter Extremitäten, und an Taille und Sturzhelm befestigte
                                              Gurte zwingen Agnes in eine gekrümmte Position.

bulletin 5/11 Credit Suisse
Zeit           21

Bei einem Spaziergang durch das verregnete Cambridge f ällt es ihr schwer, ihren
Schirm gegen den Wind zu verteidigen und dabei den Zebrastreifen schnell genug zu
überqueren. Nur mit offensichtlicher Anstrengung gelingt es der gebeugten Greisin
mit dem jugendlichen Gesicht unter den neugierigen Seitenblicken von Passanten,
den Treppenaufgang zu einem der imposanten Tempel auf dem Campus des Massa-
chusetts Institute of Technology hochzusteigen.
     Doch im Supermarkt, wo sich Agnes mit grosser Anstrengung nach Waren in den
oberen Regalen reckt, ist sie dem Management längst bekannt – schon oft hat die
vermeintliche Seniorin Vertreter der Lebensmittel- und Verpackungsbranchen durch
die Gänge geführt, um ihnen die Unzugänglichkeit vieler Produkte zu demonstrieren.
Oder die Abgesandten durften den von Ergonomen, Psychologen und Sportphysio-
logen entwickelten Zwangsanzug am eigenen Leib erleben, um mehr Mitgefühl für
ältere Menschen aufzubringen.

        Unsere erhöhte Lebenserwartung bedeutet eine radikale
        demografische Veränderung – und eine immense Chance
Agnes steht für Age Gain Now Empathy System und repräsentiert eines der Grund-
konzepte des MIT Age Labs, das 1999 von Professor Joseph Coughlin mit dem Ziel
gegründet wurde, Designern, Wissenschaftlern und Politikern ein besseres Verständnis
des Alters zu vermitteln und sie zur Entwicklung innovativer Technologien und                  Joseph Coughlin
Strategien zu motivieren. Agnes kann Auto- ebenso wie Schuhherstellern zum Design         ist Gründer und Direktor
                                                                                         des Age Lab am Massachu-
von Modellen verhelfen, die auch für ältere Generationen funktionieren.                 setts Institute of Technology
     Zu viele Unternehmen in den USA , in Japan und Europa haben sich dem Age-                MIT in Cambridge.
Lab-Direktor zufolge auf ein nie versiegendes Reservoir jugendlicher Konsumenten
                                                                                        Das Age Lab, ursprünglich
verlassen – und sehen sich jetzt mit 85-Jährigen als dem am schnellsten wachsenden
                                                                                          Technology for Healthy
Bevölkerungsanteil konfrontiert. Mit seinem interdisziplinären Team von Ingenieuren,    Aging Laboratory, ist das
Psychologen, Soziologen und Geriatern will Coughlin das so genannte Langlebig-             erste interdisziplinäre
keitsparadox lösen: « Wir leben durchschnittlich 30 Jahre länger als vor 100 Jahren,    Forschungsprogramm mit
                                                                                          dem Ziel, das Verhalten
aber wir denken nicht darüber nach, was wir mit dieser zusätzlichen Zeit anfangen           der über 45-jährigen
sollen. Die Verlängerung unserer Lebensspanne ist die grösste Errungenschaft der           Bevölkerung besser zu
Menschheit, aber wir sehen sie in erster Linie unter dem Aspekt einer demog rafischen     verstehen und mit tech-
Krise anstatt als Chance. »                                                              nischen Innovationen die
                                                                                        Lebensqualität der älteren
     Tatsächlich sind die Zahlen über den Zeitzuwachs, den medizinische, techno-          Erwachsenen und ihrer
logische und soziale Faktoren den jüngeren Generationen bescheren, erstaunlich:           Familien zu verbessern.
Die Hälfte aller seit dem Beginn des dritten Jahrtausends geborenen Menschen darf
damit rechnen, 100 zu werden. Doch nur eine verschwindende Minderheit von
Städteplanern entwirft altersfreundliche Metropolen, und nur wenige Architekten
machen sich Gedanken über Häuser, die fragileren Individuen in ihrem Alltag assistie-
ren könnten. Zwar widmen sich zahlreiche Biologen der Untersuchung von Alters-
prozessen auf zellulärer Ebene, doch nur wenige Mediziner gehen in die Geriatrie.
« Ärzte ziehen es vor, Kinder zu behandeln und deren Lebensqualität für die nächsten
80 Jahre zu verbessern – das Alter wird dagegen unweigerlich mit Beeinträchtigung
assoziiert », erklärt Coughlin. Er sieht es hingegen nicht als eine Anhäufung von
Schmerzen und Verlusten, sondern einfach als « mehr Zeit ». Onkologen kämpfen oft
um viel kleinere Zeitspannen für ihre Patienten, doch « sie haben den Vorteil », so
Coughlin, « dass wir dem Krebs und einigen anderen Krankheiten den Krieg erklärt
haben ». Mit dem Alter dagegen muss man Frieden schliessen.

                      Noch nie gab es so lebenstüchtige,
           vielseitig gebildete und fordernde Rentner wie heute
Dazu sind die jüngsten Alten der ersten Welt nicht unbedingt bereit. Die geburten-
starke Nachkriegsgeneration, die jetzt ins Rentenalter tritt, bildet eine noch nie >

                                                                                                     Credit Suisse bulletin 5/11
22          Zeit

 Die 23-jährige Studentin Angelina Gennis verwandelt sich für Age Lab regelmässig in die 50 Jahre ältere Agnes (Agnes steht für
 Age Gain Now Empathy System), um Probleme im Alltag aufzuzeigen und damit technische Innovationen auszulösen.

     «Wir sehen die                         dagewesene Art der Bejahrten – « Sie sind mit schnelleren Autos, besserer Technologie
                                            und mehr Frieden als irgendjemand vor ihnen aufgewachsen », sagt Coughlin.
Verlängerung unserer                             Es handelt sich um die am besten ausgebildeten und effizientesten Pensionäre in
    Lebensspanne in                         der Menschheitsgeschichte und um die anspruchsvollsten Bürger aller Zeiten, die
      erster Linie als                      auch in einer Rezession davon ausgehen, « dass ihnen ein Produkt, ein Service oder
                                            eine staatliche Massnahme eine höhere Lebensqualität garantieren, als sie ihre Eltern
 demografische Krise                        im gleichen Alter genossen ». Diese Erwartungshaltung ist für Coughlin der ausschlag-
anstatt als Chance.»                        gebende Faktor – « wir müssen an eine bessere Zukunft glauben », meint er. Zugleich
                          Joseph Coughlin   stehen die neuen Rentner völlig unerforschten Problemen gegenüber, beispielsweise
                                            haben sie weniger Kinder als frühere Generationen, die sich um sie kümmern werden.
                                            Die Nachkommen dieser Babyboomer finden sich dank der hohen Scheidungsraten
                                            und Wiederverheiratungen der letzten Jahrzehnte immer öfter in der bizarren Situation,
                                            mehr Eltern als Kinder zu haben. « Da stellen sich ganz neue Loyalitätsfragen »,
                                            kommentiert Coughlin das ausgefranste soziale Gewebe.
                                                 Vorbilder gibt es für diese zeitgenössische Rentnergeneration keine, aber für
                                            Coughlin ist klar, dass der Ruhestand im bislang üblichen Alter weder für ihn in Frage
                                            kommt noch gesellschaftlich tragbar ist. « Wir orientieren uns noch immer an Verhält-
                                            nissen des 18. Jahrhunderts, aber ein Lebensplan, bei dem man 40 Jahre arbeitet und
                                            50 Jahre nichts tut, ist beispielsweise für Leute, die ihren Unterhalt am Computer
                                            verdienen, unhaltbar. » Tatsächlich war es die Antwort einer 119-jährigen Frau auf die
                                            Frage eines Reporters, warum sie noch am Leben hänge, die Coughlin zur Gründung
                                            des Age Lab animierte: « Ich bin gesund und habe zu tun. »
                                                 So untersucht sein Institut, wie Leute verschiedenen Alters neue Dinge lernen,
                                            denn in Zukunft werden wir mit 40 oder 50 nochmals studieren müssen, um für
                                            weitere 20 Jahre wettbewerbsf ähig zu bleiben. Der ungeheure Technologievorsprung,
                                                                                                                                     Fotos: Sigrid Rothe

                                            den ältere Menschen an Teenagern beneiden, wird Letzteren später wenig nutzen,
                                            denn das Tempo neuer Erfindungen eskaliert dermassen, dass es immer schwieriger
                                            wird mitzuhalten. « Meine 18-jährige Tochter ‹simmst› unentwegt und mit grösster

 bulletin 5/11 Credit Suisse
Zeit            23

Geschwindigkeit. Meine Achtjährige betrachtet ihre ältere Schwester längst
als Technofossil – sie bedient ihr Smartphone nur mit gesprochenen Kommandos »,
sagt Coughlin.

                       Das Alter ist nichts anderes als ein
                         neuer Tag, das Leben morgen
Umso erstaunlicher war es für die Age-Lab-Forscher, dass ältere Personen allen
Vorurteilen zum Trotz grosses Interesse an der Beherrschung aktueller Technologien
auf bringen. Sie mögen der Elektronik nicht so selbstverständlich vertrauen wie junge
Leute, doch insbesondere Frauen über 60 sind bereit, Zeit in das Erlernen von digitalen
Navigationssystemen zu investieren – unter der Voraussetzung, dass sie einen handfesten
Wert für sich und ihre Familie im Erwerb dieser Fertigkeiten erkennen. « Sich in die
Geheimnisse eines schlecht konzipierten Videorecorders einzuarbeiten, nur um einen
Film zu sehen, den man ohnehin schon kennt, ist die Mühe nicht wert », sagt Coughlin.
Wenn es aber um einen Bereich geht, der so untrennbar mit Lebensqualität und
Unabhängigkeit verbunden ist wie das Auto, ist die Lernwilligkeit dennoch beträchtlich.
     Dabei ist das Auto das komplexeste und schwierigste Umfeld unseres Alltags,
ein Instrument, das Brian Reimer zufolge auch den Wahrnehmungsapparat und das
Urteilsvermögen junger Fahrer überfordert. Für das Age Lab entwickelte der MIT-
Forscher in Kollaboration mit Ford ein mit Kameras und Sensoren ausgestattetes
Fahrzeug mit dem Spitznamen « Miss Daisy », das physiologische Faktoren wie Herz-
frequenz, Steuerkontrolle, Augenbewegungen und Mobilität beobachtet. Doch das
Auto hat in den letzten Jahren nicht nur Tausende von Daten über das Fahrverhalten
von Senioren gesammelt, sondern es hilft ihnen auch bei der Kompensation körper-
licher Behinderungen. So kann Miss Daisy ohne jede Berührung des Steuerrads
perfekt rückwärts einparken, ein Talent, das nicht nur Senioren mit steifem Nacken,
sondern natürlich auch jüngeren Fahrern zugutekommen kann.
     Doch es ist die ältere Generation, die über die Mittel verfügt und die Ambition
hat, ein Hightechfahrzeug zu kaufen – vorausgesetzt, es besitzt auch « Highstyle ».          .....      Mehr zum Thema                                   .....
Denn eines darf es unter keinen Umständen sein: ein Auto für alte Leute. « Das kauft
                                                                                                 Zeit, Demografie und Lebens-
weder ein junger noch ein alter Mensch », weiss Coughlin. Deshalb ist es auch so                qualität im Alter finden Sie unter
wichtig, jungen Automobildesignern Agnes vorzustellen, damit sie die von ihr gelern-                         http://agelab.mit.edu
ten Lektionen berücksichtigen können – für alle.                                                      (mit dem Blog Disruptive
                                                                                                     Demographics) sowie unter
                                                                                               www.credit-suisse.com/bulletin/zeit.
             Es gibt kein schlechtes Design für alte Menschen –                              ............... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
                            nur schlechtes Design                                                             kooaba Paperboy
Von Miss Daisy erhielten die Age-Lab-Forscher auch die unerwartete und höchst                       macht das bulletin interaktiv.
                                                                                              ............... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
bedeutsame Information, dass das Alter an sich nur in geringem Masse für mangel-
haftes Fahrverhalten verantwortlich sei. « Es sind Krankheiten wie Bluthochdruck,
Diabetes und Arthrose, die sich negativ auswirken », meint Reimer. Krankheiten, die
auch Agnes unsicher machen, wenn sie hinter dem Steuer sitzt, die ihr die Konzen-
tration rauben und ihre Beweglichkeit reduzieren. « Mir ist klar geworden, dass sich
alte Leute viel weniger beklagen, als man annehmen sollte, sie nehmen so viele
chronische Leiden einfach still hin – die Schmerzen folgen ihnen wie ein Schatten »,
sagt Angelina. Das Navigieren in einer Welt, die ohne Gedanken an alte Mitmenschen
gestaltet wurde, empfindet sie als ungemein erschöpfend – « es ist ein wirklicher Kampf ».
      Ihre häufige Transformation in eine alte Dame hat ihr Bewusstsein für gesunde
Ernährung und regelmässiges Fitnesstraining erhöht, und trotz ihres winzigen Budgets
als Studentin hat sie einen Pensionsplan erstellt. Die wichtigste Einsicht, die sie Agnes
und dem Age Lab verdankt, ist jedoch, « dass ältere Menschen keine anderen Wesen,
sondern wir selbst zu einem späteren Zeitpunkt sind. Wenn man ihnen Aufmerk sam-
keit schenkt, lernt man sehr viel darüber, wie man glücklicher sein kann. »

                                                                                                                           Credit Suisse bulletin 5/11
LES AMIS DU

DEr WhItE tUrf fASzInIErt UnS jEDES jAhr AUfS nEUE.
Die Credit Suisse engagiert sich seit über 20 jahren
für dieses spektakuläre Pferderennen.
Hochkarätiger Pferderennsport in einer einzigartigen Landschaft ist das Markenzeichen des White Turf.
Ausnahmesportler jagen Rekorde auf dem zugefrorenen St. Moritzer See und begeistern Tausende von
Zuschauern. Die Credit Suisse freut sich, den White Turf auch dieses Jahr zu unterstützen.

credit-suisse.com/sponsoring
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          Ivo Pitanguy
          Michelangelo der Chirurgen

          6

                 Hublot
                 Jean-Claude Biver
                 2
                 Lindt & Sprüngli
                 Ernst Tanner
                 10
                 Burberry
                 Angela Ahrendts
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                 Reisen
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BERLIN

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          2

  Von Uhren und Käse

 JEAN-

BEIRV
CLAuDE
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Foto: isifa, Getty Images

                                              3
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                                                                      gedachte Szenerie erübrigt sich. « Mein Pass
Text: Andreas Schiendorfer                                            liegt bei den Chinesen auf der Botschaft.
                                                                      Für mein Visum», lacht Biver. « Seit wir mit

S
               elbstverständlich dürfen Sie                           Hublot vor anderthalb Jahren in den chine-
               mich vor dem Miststock                                 sischen Markt eingetreten sind, fiege ich
               fotografieren. Das ist authen-                         einmal pro Monat zu − potenziellen − Kun-
               tisch. Wir sind auf einem                              den nach China. Und einmal pro Monat
               Bauernhof », zerstreut Jean-                           empfange ich chinesische Geschäftstouris-
Claude Biver sämtliche Zweifel. « Wie                                 ten auf La Poneyre und bewirte sie mit
wunderbar das riecht! » Aus dem genau                                 eigenem Käse und eigenem Wein. Die
gleichen Grund hat er zuvor entschieden,                              Chinesen stehen auf Luxus. Und sie stehen
nicht mit einer Heugabel in der Hand                                  auf starke Marken. Sie kaufen nichts, was
zu posieren oder in einem Bauernhemd.                                 sie nicht kennen. » Dass sich eine solche
« Nein, das wäre nicht ich. Ich liebe diesen                          Sonderbehandlung bezahlt macht, sieht
Bauernhof, doch gerade darum überlasse          « Mein Käse ist       man in den schon länger intensiv betreuten

                                                 unser bester
ich die Arbeit meinem Pächterehepaar.                                 Märkten Brasilien und Mexiko.
Meine Hände taugen zu nichts. »                                             « Luxus ist ein emotionales Geschäft.
      Ein paar wenige Tage nur sind wir zu
spät. Bei der Alpabfahrt im September
                                                 Botschafter. »       Luxus verlangt nach Nähe zum Kunden.
                                                                      Und ich bin gewissermassen der Enzo
lässt er es sich nämlich nicht nehmen, die                            Ferrari von Hublot », erklärt Biver lachend.
                                                  Jean-Claude Biver
16 Kilometer an der Spitze seiner Herde                               Immer wieder. Mitreissend. Meist unter-
zurückzulegen. Und das geht nur in der                                streicht er seine Botschaft, indem er mit
Sennentracht! Immerhin zeichnet er uns                                seinen Fäusten auf den Tisch klopft. Das
dieses farbenprächtige, glockenläutende                               ist bei unserem kurzen Fotoshooting auf
Bild mit einer Anekdote. « Bei meiner                                 dem Bauernhof nicht möglich. Doch Jean-
allerersten Désalpe de La Neuvaz trabte ich                           Claude Biver, der eine gute Stunde später
in bequemen Jeans und im Pullover an.                                 zum Nachtessen mit Hublot-Sammlern
Deshalb wollte mich der Senn partout                                  nach Bremen fiegt, versteht es ausgezeich-
nach hinten zu den Touristen schicken.                                net, die Zeit zum Stillstand zu bringen.
Zum Glück hatte er in seiner Alphütte noch                            Für Momente existiert nur der Moment.
eine zweite Hose samt Hemd, Gilet                                           Der Bauernhof lebt, eine feine Poesie
und Hut. Die Tracht passte mir zwar nicht                             liegt in der Luft. « Mann hört den Hahn
optimal und war auch nicht mehr ganz                                  krähen, hört das Pferd wiehern. Und ist zu
sauber, aber sie war eben doch passend.                               Hause. Das ist wahrer Luxus. » Als Kind be-
Ich schätze und respektiere die Traditionen                           suchte er regelmässig seine Grosseltern auf
meiner Heimat. »                                                      ihrem Bauernhof im Burgund. Deshalb
      Und provoziert damit die nächste                                lebt in Jean-Claude Biver seit eh und je ein
Neugierde, fernab der vorbereiteten Fragen:                           Bauer, seit 1975 ist er aber ein Uhren-Bauer
« Sind Sie nun Schweizer oder nicht? » « Ja,                          im doppelten Wortsinne.
natürlich, seit ein paar Wochen. Da ich                                     Das passt. Waren es nicht die im
seit meinem zehnten Altersjahr in der                                 Winter beschäftigungslosen jurassischen
Schweiz lebe, musste ich keine kniffigen                              Bauern, die sich der Uhrmacherkunst zu-
Fragen beantworten, sondern konnte mit                                wandten? Mit Fingerfertigkeit und Geduld?
dem Bürgermeister ein Glas Wein trinken »,                            « In der Schweiz haben Technologie und
meint der Bürger von La Tour-de-Peilz                                 Luxus immer etwas Bodenständiges. »
lachend. « Ich bin stolz darauf, nun Luxem-                           Seinen hauptberufichen Werdegang ver-
burger und auch Schweizer zu sein. Und                                dankt Biver übrigens ebenfalls seiner
motiviert, im Ausland auch meiner neuen                               Kindheit. Und seiner sportlichen Seite, die
Heimat als guter Botschafter zu dienen. »                             man bei ihm nicht unbedingt mehr ver-
      Ob das wohl zu kitschig wirken wür-                             muten würde: Der einsame Läufer in den
de? Biver mit seinem Schweizer Pass in der                            einsamen Weiten des Vallée de Joux be-
Hand vor seinem Bauernhof ? Die laut an-                              gegnete einem Seelenverwandten − Jacques
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