Leben in der Erinnerung - Vivre avec Alzheimer - Université de Fribourg
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DAS MAGAZIN DER UNIVERSITÄT FREIBURG, SCHWEIZ | LE MAGAZINE DE L’UNIVERSITÉ DE FRIBOURG, SUISSE 01 | 2016/17 Les mécaniques de l’art 42 Nouvelles monnaies 44 Europa, wir brauchen dich 48 Beaux-arts, littérature et cinéma Analyse des nouvelles pratiques d’échange Forschung in den Händen der Politik Leben in der Erinnerung Vivre avec Alzheimer
Impressum Editorial universitas Das Wissenschaftsmagazin Therese starb im Juli 2013 mit 64 Jahren an Alzheimer. der Universität Freiburg Le magazine scientifique Ihr Leiden dauerte an die 15 Jahre, niemand weiss, wann de l’Université de Fribourg genau es angefangen hat – bis auf sie selber. Therese Herausgeberin | Editeur kannte den Teufel, der in ihr wohnte ganz genau. Als es Universität Freiburg Unicom Kommunikation & Medien ihr noch gut ging, hat sie jahrelang ihren ebenfalls an www.unifr.ch/unicom Alzheimer erkrankten Vater gepflegt. Wann hat sie ge- Chefredaktion | Rédaction en chef Claudia Brülhart | claudia.bruelhart@unifr.ch merkt, dass ihre Schussligkeit nicht mehr als solche zu Farida Khali (Stv. / adj.) | farida.khali@unifr.ch erklären ist? Wann hat sie es gewagt, diesen Gedanken Adresse zuzulassen? Wie alleine sie sich dabei gefühlt haben Universität Freiburg Unicom Kommunikation & Medien muss. Therese brachte es nicht über sich, den sicherlich Avenue de l’Europe 20, 1700 Freiburg www.unifr.ch wachsenden Verdacht mit ihren Nächsten zu teilen. Autorinnen und Autoren | Auteurs Im Gegenteil: Mit viel Fantasie hat sie lange und immer Jean-Christophe Emmenegger | info@thot-redaction.ch wieder neu versucht, bestimmte von der Familie bemerk- Roland Fischer | wissenschaft@gmx.ch Elsbeth Flüeler | elsbeth.flueler@bluewin.ch te Verhaltensweisen zu erklären und zu überspielen. Anne-Sylvie Mariéthoz | asmariethoz@netplus.ch Patricia Michaud | info@patricia-michaud.ch Wie lange musste sie dieses Verstecken des Unaussprech- Phillippe Neyroud | phneyroud@gmail.com lichen erdulden? Hat sie es gewusst? Oder nur geahnt? Astrid Tomczak-Plewka | astrid@tomczak.ch Martin Zimmermann | maz1@gmx.net Oder gänzlich verdrängt? Die Frage, wie es ihr in dieser Konzept & Gestaltung | Concept & graphisme Zeit der ersten Krankheitssymptome ergangen ist, wird Stephanie Brügger | stephanie.bruegger@unifr.ch Daniel Wynistorf | daniel.wynistorf@unifr.ch nie eine Antwort erhalten. Aber sie lässt mich nicht los, Fotos | Photos gerade weil die Früherkennung bei Alzheimer von grosser Aldo Ellena | agila@bluewin.ch Wichtigkeit ist, wie unser Themendossier «Leben in Charly Rappo | crappo@bluewin.ch Nicolas Brodard | nicolasbrodard@nicolasbrodard.com Erinnerung» aus verschiedenen Perspektiven aufzeigt. Titelbild | Photo couverture In wissenschaftlicher Hinsicht sind diesbezüglich enorme Getty Images Fortschritte gemacht worden; mittlerweile ist es möglich Sekretariat | Secrétariat anhand von Biomarkern, über Speichel oder Blut etwa, Marie-Claude Clément | marie-claude.clement@unifr.ch Antonia Rodriguez | antonia.rodriguez@unifr.ch gewisse Veränderungen im Gehirn sehr früh zu erkennen Druck | Impression und die betroffene Person entsprechend zu therapieren. Imprimerie MTL SA Rte du Petit Moncor 12 1752 Villars-sur-Glâne Was früh erkannt werden soll, darf nicht versteckt Auflage | Tirage werden. Alzheimer ist nicht peinlich; es ist eine Krankheit 9500 Exemplare | viermal jährlich und keine Schande. Noch ist leider keine Heilung mög- 9500 exemplaires | trimestriel lich. Eine Therapie ist aber in der Lage, den Krankheitsver- ISSN 1663 8026 lauf zu verlangsamen; Symptome können behandelt wer- Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck nur mit Genehmigung der Redaktion. den. Nicht zuletzt befreit der Gang zum Arzt sowohl die Tous droits réservés. Betroffenen wie auch deren Umfeld von einer grossen Last. La réimpression n’est autorisée qu’avec l’accord de la rédaction. Mit einem besonderen Gedanken an meine Tante. Die nächste Ausgabe erscheint Anfang April 2017. La prochaine édition paraîtra début avril 2017. Claudia Brülhart Chefredaktorin universitas | Editorial 3
News 6 Dies academicus Discours remarqué du Prix Nobel Mario Vargas Llosa Porträt 8 Theo von Fellenberg Zwischen Bern und Sri Lanka 8 Dossier 10 – 35 Leben in der Erinnerung 12 Ein Gespenst geht um Was schon Shakespeare über Alzheimer wusste Vergiss es! 18 Vergessen ist wie aufräumen: Es schafft Platz für Neues 21 L’oubli, un mal nécessaire? Perte de mémoire ne rime pas forcément avec Alzheimer 24 Wer ist schuld? Ein Indizienprozess ohne (absehbares) Ende 28 Chronique d’une disparition Où va la personne quand la mémoire ne répond plus? 30 Gymnastique du cerveau Jongler avec deux langues retarde l’apparition d’Alzheimer 32 Docteur, j’ai la mémoire qui flanche En cas de doutes, la Consultation Mémoire du HFR propose son expertise 4 universitas | Inhalt
Forschung 37Dr Hansjakobli und ds Babettli War Mani Matter ein Sexist? 41Good News für Stevie Wonder? Oder anders gefragt: Wie blind ist blind? 42 Le train de l’avant-garde L’apparition du cinéma a bousculé les frontières artistiques 44 Interview 44 Dis-moi comment tu achètes … Les nouvelles pratiques sociales en lien avec l’argent vues par la sociologue Caroline Henchoz et l’économiste Jonathan Massonnet Fokus 48Quo vadis, Forschungsplatz Schweiz? Bundesbern stellt die Weichen für die Forschungszukunft Publications 51Invitation à l’éthique de la migration Un ouvrage du juriste Johan Rochel Question d’enfant 52 Pourquoi la coccinelle a-t-elle des points? Réponse d’expert Red & Antwort 54 Damir Skenderovic Professor für Zeitgeschichte universitas | Sommaire 5
Lors du Dies academicus 2016, Mario Vargas Llosa a improvisé un discours dans la langue de Molière, afin de remercier l’Université de Fribourg au nom de tous les docteurs honoris causa. En plus du Prix Nobel de littérature, ont été nommés cette année le Dr Timothy Radcliffe OP, ancien maître de l’Ordre des Prêcheurs; le Secrétaire d’Etat négociateur en chef pour les négociations avec l’UE Jacques de Watteville; le journaliste et pionnier du monde des médias suisses, Roger Schawinski et le Professeur Albert W. Bally, géologue, expert reconnu mondialement pour ses interprétations des études sismiques. www.unifr.ch/news 6 universitas | News
Die wunderliche Geschichte einer Dissertation Seine Triebfeder ist die bessere Zukunft dieser Welt. Theodor von Fellenberg über sich und seine Dissertation, die auch nach 50 Jahren Wirkung zeigt. Elsbeth Flüeler Sein Gang ist bestimmt, kraftvoll, elegant. zufälligen Begegnungen viele lebenslange das Projekt jedoch aufgeben. Fellenberg Wie Theo von Fellenberg zum Rednerpult Freundschaften entstanden. wandte sich in der Folge ganz der Natur zu, schreitet, sieht man ihm seine 81 Jahre Zurück in Bern wurde er vom Dienst wurde Ökobauer und Umweltaktivist. nicht an. Schon mit dem ersten Satz wissen für technische Zusammenarbeit (DftZ) an- Aus dem Stegreif erzählt Fellenberg, wie die Zuhörer: dieser Mann ist nicht gekom- gefragt, der heutigen Direktion für Ent- er sich damals für seine soziologische Dis- men, um sich nur für den Goldenen Doktor wicklungszusammenarbeit (DEZA). «Wir sertation wehrte. Etwas närrisch Überra- zu bedanken, der ihm 50 Jahre nach seiner mussten keine Stellen suchen», sagt Fellen- schendes hat, wie versprochen, seine Rede Promotion von der Wirtschafts- und So- berg. Die damalige Haltung des DftZ aber, tatsächlich, wie er so beiläufig vom Entste- zialwissenschaftlichen Fakultät verliehen dass der Fortschritt vorwiegend durch ex- hen der Diss. überleitet zu deren Erfolg. wird. Das Privileg des Alters, sagt er, gäbe terne staatliche Hilfe initiiert werde und Denn vor zwei Jahren war Fellenberg ihm das Recht, länger als die drei ihm zuge- nicht von den Partnern vor Ort, die störte wieder in Sri Lanka, im selben Dorf Higgo- standenen Minuten zu reden. «Narrenfrei- da. Diesmal als Ehrengast. Zum dritten Mal heit» nennt er es und legt seine Notizen bei- «Weder wollte ich hatten die Dorfbewohner ihre Geschichten seite. Über 700 Personen sind versammelt, um an der Promotionsfeier die Bachelors, Manager werden, aufgeschrieben. 1994, das zweite Mal, hat- ten sie ein Buch in singalesischer Sprache Masters und Promovierten zu feiern. Eben noch Professor» herausgegeben mit dem Titel «Gama pipi- hat der Dekan ihnen eine goldene Zukunft de» (Ein Dorf meldet sich zu Wort) und es versprochen mit viel Geld und Wohlstand. ihn. So entstand die Idee zu einer Dissertati- der Premierministerin überreicht. «Die «Die Dissertation habe ich meinem Va- on über die Ursprünge der «Dynamisierung Ehre des goldenen Doktors gebührt eigent- ter zulieb gemacht», beginnt Fellenberg sei- traditioneller Sozialgebilde». Sie erlaubte lich den Dorfbewohnern», sagt Fellenberg. ne Rede und: «Sie hat mir nichts genützt. ihm, 1964 den Rucksack erneut zu packen, Sie seien es, die seit fünfzig Jahren über die Weder wollte ich Manager werden, noch noch einmal auf Reisen zu gehen, zurück Sonn- und Schattseiten ihrer Entwicklung Professor.» Wer ist dieser Mann, der sich nach Sri Lanka, zu seinen Freunden, mit de- reflektieren würden; ein soziales Labor, ein mit entwaffnender Ehrlichkeit weigert, nen er zwei Jahre zuvor in den Reisfeldern lernendes Dorf sei aus Higgoda geworden. schöne Reden über sich und seine Ehrung gearbeitet und Strassen gebaut hatte. Sagt einer, der sich ein Leben lang weigerte, zum Goldenen Doktor zu halten? Es sollte eine rein soziologische Arbeit sich mit den Privilegien seiner Herkunft zu Die Fellenbergs waren Kirchenmän- werden: Statt eine herkömmliche Disserta- begnügen und hartnäckig auf der Suche ner, Juristen und Reformer. Viele Genera- tion zu schreiben und mit Zahlen und Sta- nach einem besseren Leben blieb. tionen lang strebten sie nach Amt und tistiken die Fortschritte der ländlichen Ent- Würde, Bernburger eben. Theodor hätte wicklung zu erheben, bat Fellenberg die in ihre Fussstapfen treten sollen. Leute aus dem Dorf Higgoda, ihre Sicht Elsbeth Flüeler ist freischaffende Journalistin Doch er brach nach dem Studium der zum Wandel in ihrem Dorf aufzuschreiben. und Geographin. Nationalökonomie an der Universität St. Nach der Promotion von 1966 arbeitete er Gallen mit den Erwartungen seiner Eltern weitere vier Jahre bei der DftZ, um dann, Theo von Fellenberg wurde 1935 in Bern und ging, statt eine aussichtsreiche Stelle wie schon einmal, den vorgespurten Weg zu geboren. Er studierte von 1955 bis 1959 anzutreten, ins Ausland, um mit dem Ser- verlassen. Er ging zurück zum SCI, als des- Nationalökonomie an den Universitäten vice Civil International (SCI) in Indien sen internationaler Koordinator, quittierte Bern, Genf und St. Gallen und promo- und Sri Lanka als Freiwilliger Arbeitsein- auch diese Stelle nach sechs Jahren, um – vierte im Jahr 1966 an der Universität sätze zu leisten. Es folgte eine Reise rund nun zusammen mit seiner Familie – auf ei- Freiburg. Fellenberg ist verheiratet mit um die Welt, «immer der Sonne entgegen». nem Monti in der Leventina die Vision einer Theres. Sie haben vier Kinder und sieben Ein Lernwanderer sei er gewesen, sagt internationalen Begegnungsstätte zu reali- Enkelkinder. Fellenberg von dieser Zeit, in der aus sieren. Die multikulturelle Gruppe musste 8 universitas | Porträt
Leben in der Erinnerung Mais qu’étais-je donc venu faire à la cuisine? La maladie d’Alzheimer s’insinue insidieusement dans le quotidien des personnes qui en souffrent. Tel un virus dans un ordinateur, elle endommage peu à peu les mémoires du cerveau, confinant les patients dans leurs souvenirs. 10 universitas | Dossier
Ein Gespenst geht um Neurodegenerative Krankheiten sind zur Seuche unserer Zeit geworden. Sie greifen unser teuerstes Gut an: die Autonomie. Roland Fischer Es ist die eigenartigste Bushaltestelle der Welt. Hier kommt darf man die Täuschung sogar noch weitertreiben? Damit nie ein Bus vorbei, hier wartet man lang, und länger, und demente Patienten sich gar nicht erst davonmachen kön- noch länger – bis einen jemand abholt. Oder bis man ver- nen, werden in manchen Heimen Türen als Bücherregal gessen hat, wohin man überhaupt wollte und wieder um- oder mit Vorhängen getarnt. Und in schön euphemistisch kehrt. Auch eine Strasse führt hier keine vorbei; die Hal- benannten geschützten Gärten setzt man Hecken vor die testelle steht auf einer Wiese im Innenhof der Münchner Tore, so dass die Spazierwege endlos im Kreis gehen und Pflegeanstalt Münchenstift. Dass nicht weiterkommt, wer sich keine «Ausfahrten» anbieten. Neben solchen freund- hier wartet, ist durchaus Absicht: Hier machen Demenz- lich gemeinten Tarnstrategien mutet die Massnahme fast kranke Halt, die sich von ihrer Station aufgemacht haben, schon zynisch an, Türen mit Zahlencodes zu versehen. auf unbestimmte Wanderschaft. Früher hat das Personal Die dürfen zwar auch die Patienten wissen, doch gehen sie häufig an der nächsten Bushaltestelle draussen vor sie – naturgemäss – rasch vergessen. dem Pflegeheim wiedergefunden, heute bleiben sie schon auf dem Areal selber hängen. Eine grosse Erleichterung für den Heimalltag – aber ist diese bewusste Täuschung Darf man dementen ein würdevoller Umgang mit Patienten? Genau zehn Jah- re ist es her, dass in Deutschland die erste Haltestellen- Patienten eine Attrappe aufgebaut wurde – viele Spitäler und Pflegeheime Maschine in den Arm in Deutschland und Österreich machten es nach. In der Schweiz gibt es bislang keine Phantom-Haltestellen, hier drücken, damit lässt man Patienten lieber zum Schein verreisen, wie im sie sich beruhigen? Domicil Bethlehemacker in Bern, wo sie in einem Zug abteil Platz nehmen und per Videoprojektion einen Aus- flug nach Brig machen können. Wer nun an Kindergarten Anderes Beispiel, selbes Problemfeld: Japan, wo der demo- denkt, der liegt gar nicht mal so falsch, das wusste schon grafische Wandel zu noch grösseren Betreuungsengpässen Shakespeare. Aber dazu später. führt als bei uns. Man setzt da traditionell lieber auf Tech- Der schöne Schein in der Betreuung von Menschen nologie als auf gesellschaftliche Öffnung, durch Migrati- mit Demenz sorgt für Diskussionen. Darf man das? Und on beispielsweise. Also hilft in Pflegeheimen seit einigen 12 universitas | Dossier
Jahren ein Plüschtier bei der Betreuung, die Robbe Paro. gern. Ein klarer Schnitt, ein kurzes Ende, ein möglichst Paro ist viel mehr als ein Knuddelspielzeug, die weisse unbeeinträchtigtes Sein bis zum plötzlichen Schluss – so kleine Robbe gilt als der erste «Pflegeroboter» der Welt. Sie wird heute idealerweise gestorben. reagiert auf Berührung und Sprache und hat – wie zahl- In einem Porträt der Zeitung «Die Zeit» zitierte Ruth reiche Studien gezeigt haben – einen durchaus positiven Schäubli, Witwe eines Demenzkranken und Streiterin da- Effekt auf die Heimbewohner. Versuche mit Paro gibt es für, dass Sterbehilfe auch in solchen Fällen akzeptiert wird, auch in der Schweiz, und auch hier mischt sich bei der Dis- aus dem Tagebuch ihres Mannes: «Vergessen heisst lang- kussion Faszination und Ablehnung. Ist es legitim, demen- sam zu Tode gequält werden. Granit zerbricht in Staub, was ten Patienten eine Maschine in den Arm zu drücken, damit fest war, wird zur Wüste.» Und, den Dämon beim Namen sie sich beruhigen? Und vor allem: Würde man sich selber nennend: «Deine Freude, deine Liebe wird aufgefressen von täuschen lassen wollen, sollte man dereinst einer dieser Pa- einem Untier, das ohne Gnade ist, dem Alzheimer.» So ge- tienten sein? Könnte man sich das für sich selbst vorstellen, plagt, wählte ihr Gatte lieber den Freitod, und sie will es so ein substituiertes Glück? ihm, sollte es ihr dereinst ähnlich ergehen, gleichtun. Dieser Position der Selbstbestimmung im Alter auf der einen Seite Damoklesschwert Demenz steht auf der anderen Seite die Rolle der Alten in der Gesell- Fragen zum Umgang mit Demenz werfen uns zwangsläu- schaft gegenüber. Heute sieht man die Alten nicht mehr als fig auf uns selbst zurück. Jeder könnte betroffen sein, je- Quelle der Weisheit, als Stütze für die Gemeinschaft, son- der fürchtet sich vor dem Alter, vor dem geistigen Zerfall. dern, je älter sie werden, umso mehr als sozioökonomischer Mit einer seltsamen Obsession werden alle paar Jahre die Faktor, als statistische Grösse; im schlimmsten Fall bloss als steigenden Fallzahlen vermeldet und regelmässig wird auf die Betreuungsmisere und die explodierenden Kosten auf- merksam gemacht, die auf uns zukommen. Im Fachjournal «Granit zerbricht in «Nature» war unklängst von einem drohenden Zusam- menbruch des Gesundheitssystems die Rede, von mögli- Staub, was fest war, cherweise einer Billion Dollar, die Demenzkranke im Jahr wird zur Wüste» 2050 allein in den USA an Kosten verursachen werden. Zum Vergleich: Derzeit stehen die gesamten Gesundheits- kosten in den USA mit rund vier Billionen Dollar zu Bu- Last für die Gesellschaft. Ob es da womöglich einen Zu- che. Und es müsste ja eigentlich gespart werden. sammenhang zur digitalen Revolution gibt? Zum grossen Aber nah gehen uns die Alzheimerschicksale vor al- Weltspeicher des Wissens? Früher, sehr viel früher, als die lem auf persönlicher Ebene: Nacherzählungen in Buch Kultur in oraler Tradition weitergegeben wurde, konnte und Film sind so etwas wie die Schauerromane unserer das Wissen nicht anders festgehalten werden als im Kopf. Zeit: ein unsichtbares Böses, ein leiser, unheimlicher An- Je älter so ein Kopf war, umso erfahrener war er auch: Der fang, dann ein Hoffen und Bangen – aber kein gutes Ende. Schatz an Wissen lag bei den Alten, wurde von ihnen wei- Und ganz passend auch zum Schauerroman: Demenz ist tergegeben. Heute, in Zeiten der Innovations-Versessen- irgendwie unsichtbar, sie hat keine laute Lobby, wie etwa heit, kommt Neues (ergo Nützliches) von den Jungen, so die Krebsforschung. «The victims of the disease hide out,» wird es uns eingebleut. Daran werden auch Initiativen wie meinte ein Experte im Nature-Feature zum Problem, dass jene der Swiss Re nichts ändern, die Anreize schaffen will, die Forschungsausgaben der gesellschaftlichen Relevanz auch ältere Mitarbeitende in der Firma zu halten, anstatt schon lange hinterherhinken. Man könnte auch sagen: sie möglichst früh in Rente zu schicken, und sie stärker mit Demenz ist das Gespenst, das uns regelmässig heimsucht. Jungen zusammenarbeiten zu lassen, damit diese vom Er- Von dem wir aber lieber denken, das es gar nicht existiert. fahrungsschatz profitieren können. Man kann die Frage, ob das Alzheimer-Problem ein immer grösser werdendes ist, auch so stellen: Warum Wie alt ist Alzheimer? befassen wir uns immer intensiver mit diesem Leiden, Nicht jeder alte Mensch wird auch dement, obwohl das vor allem auf gesellschaftlicher und erst nachfolgend Alter eindeutig der grösste Risikofaktor ist. Und weil wir auf medizinischer Ebene? Alzheimer also als Leitmotiv immer älter werden, ist davon auszugehen, dass in Zu- unserer Leistungsgesellschaft und vor allem: unserer Be- kunft auch immer mehr Leute dement werden. 120’000 sessenheit, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, mit Menschen leben heute in der Schweiz mit der Krankheit, selbstgefundenem Glück und selbsterarbeitetem Erfolg, bis 2030 rechnet die Schweizerische Alzheimer-Vereini- bis zum Schluss. Und selbstbestimmtem Tod? Wegdäm- gung mit 300’000 Betroffenen. Und aus England kommt mern, verkümmern, sich (und die Kontrolle) allmählich die Meldung, dass Demenz seit 2015 die häufigste Todes- verlieren: So sieht man das Sterben heute nicht mehr ursache ist, noch vor koronaren Herzkrankheiten. Manche universitas | Dossier 13
nennen es eine Epidemie. Ansteckend im klassischen Sinn tragen: Die Betroffenen waren furiosi (Verrückte), phre- einer Epidemie ist Alzheimer natürlich nicht (obwohl die netici (Wahnsinnige), lunatici (Mondsüchtige) oder fatu- These einer Infektiösität – ein unbekanntes Virus viel- itas (Blödsinnige). So spottete der Autor Harry Rowohlt leicht? Oder etwas ähnliches wie die Prionen bei Creutz- noch vor ein paar Jahren: «Früher, wenn man sich keine feld Jacob? – gerade in jüngster Zeit in Fachkreisen Auf- Namen merken konnte, hiess das vergesslich. Inzwischen wind gewonnen hat), aber zumindest nahm die Anzahl heisst das Alzheimer. Und wieder muss man sich einen publizierter Fachartikel wie populärer Texte zum Thema Namen merken.» in den letzten Jahrzehnten lawinenartig zu. Gemerkt haben wir uns den indessen schon lang. Um Gab es früher tatsächlich viel weniger demente Men- auf den Schauerroman zurückzukommen: Man könnte schen als heute? Wann wäre die Krankheit demnach aufge- sagen, Alzheimer ist zu einer dieser dämonischen Krank- taucht? Nicht leicht zu beantwortende Fragen – denn es ist heiten geworden, die oft ebenso viel über einen zeitge- notorisch schwierig, eine Krankheit quantitativ durch die schichtlichen Moment verraten wie über medizinische Zu- Medizingeschichte zu verfolgen, zu vielfältig sind die Ver- sammenhänge. Mitunter kommt es einem schon fast ein stecke und Schleichwege, die sie dabei nimmt – kulturelle wenig wie eine Heimsuchung vor: Wir stehen wie gebannt Setzungen, neu entwickelte Diagnosemöglichkeiten, der vor dieser neuen Geissel, auf die wir noch keine Antwort Fokus der Ärzteschaft. Qualitativ geht das sehr viel besser: haben. Die Gesellschaft ändert sich: Früher wurden wir alt, man folgt da einer Krankheit, indem man sich die gesell- heute werden wir immer älter. Und mit dem Alter ändert schaftlichen Umstände anschaut, in der sie auftaucht, und unsere Rolle auf den Brettern, die die Welt bedeuten, es die Diskussionen, in die sie verflochten ist. So kommt man kommt die Hilflosigkeit der Kindheit zurück. Shakespeare, der Demenz viel eher auf die Schliche. «Wie es euch gefällt»: Man kann ja durchaus mal die ganz grundsätzliche Frage stellen, was Krankheiten denn sind, ganz eigentlich? Stehen sie auf festem objektiven Grund oder sind sie im «Die ganze Welt ist Bühne dauernden kulturellen Fluss? Es ist überhaupt nicht selbst- verständlich, eine Krankheit zu definieren, sie abzugrenzen Und alle Fraun und Männer bloße Spieler. von anderen Leiden und vor allem vom weiten Feld der Sie treten auf und geben wieder ab, Gesundheit – das gilt bei Demenz ganz besonders. Wie de- finiert sich Kranksein? Und wer hat da die Deutungshoheit: Sein Leben lang spielt einer manche Rollen der Arzt oder der Patient? Physiologische Merkmale sind Durch sieben Akte hin. im Laufe der Medizingeschichte immer wichtiger gewor- den, und gerade bei Alzheimer scheinen handfeste Verän- […] derungen in der Gehirnstruktur der entscheidende Faktor Der letzte Akt, mit dem zu sein. Doch auch hier ist die Abgrenzung von krank und gesund komplexer als man zunächst annehmen möchte. Die seltsam wechselnde Geschichte schließt, Klar ist, dass der Medizinbetrieb nicht zuletzt im Dialog Ist zweite Kindheit, gänzliches Vergessen, von Arzt und Patient auf möglichst klare Schubladen ange- Ohn Augen, ohne Zahn, Geschmack und alles» wiesen ist – wenn in dieser Schublade dann auch noch ein passendes Präparat liegt, umso besser. Da erstaunt es nicht, dass manche argwöhnen, die diagnostischen Schubladen wären ja schon lange dieselben wie die am Pillenschrank, Die Demenz als Krankheit gibt es erst seit Mitte des ja der Pillenschrank (auch bekannt als die Pharmaindust- 19. Jahrhunderts. Der Begriff Demenz – im Wortsinn so rie) diktiere die diagnostischen Kategorien. Galten gesund etwas wie eine Ent-Geistigung, ein Kopf mit nichts drin und krank noch bis vor nicht langer Zeit als normative Ka- – ist zwar über 2000 Jahre alt und findet sich schon bei tegorien, so wären es nun ökonomische geworden. Und die Cicero. Beim römischen Enzyklopädisten Oelsus taucht Demenz wäre eine sehr grosse Schublade, diesbezüglich. er erstmals im medizinischen Sinne auf, allerdings nicht Manche Krankheiten kommen und gehen wieder, in der Bedeutung irreversiblen geistigen Abbaus, son- manche bleiben. Für manche gibt es die passende Pille, dern einer länger anhaltenden Sinnestäuschung. Erst im für andere (noch) nicht. Aber auch die vermeintlich blei- Laufe des 19. Jahrhunderts fand der Begriff zur heutigen benden unterliegen subtilen Wandlungen. So ist es auch Bedeutung: Der Pariser Psychiatrie-Wegbereiter Philippe mit der Demenz – beziehungsweise mit der Altersschwä- Pinel grenzte um 1800 die démence sénile vom angebore- che des Geistes. Das Problem gab es schon immer, aber als nen Schwachsinn ab und von seinem Schüler Jean Etien- Krankheit wurde es nicht unbedingt gesehen, und wenn ne Dominique Esquirol kommt der wohl prägendste Satz es gesehen wurde, so konnte es alle möglichen Namen der Psychiatriegeschichte zur Demenz: «Der Demente ist 14 universitas | Dossier
der Güter beraubt, deren er sich sonst erfreute, er ist ein «Städtischen Anstalt für Irre und Epileptische» in Frank- Armer, der früher reich war.» furt am Main, «fand sich in ihrer Wohnung nicht zurecht, Davor gab es bloss anekdotische Notizen zur Demenz, schleppte Gegenstände hin und her, versteckte sie, zuwei- zum Beispiel von William Salmon, der 1694 vom wahr- len glaubte sie, man wolle sie umbringen. In der Anstalt scheinlich altersdementen Sir John Roberts of Bromley by trug ihr ganzes Gebaren den Stempel völliger Ratlosigkeit. Bow erzählte, der innerhalb einer Viertelstunde fünf oder Oft schreit sie viele Stunden lang mit grässlicher Stimme. sechs Mal dieselbe Frage («Was gibt es Neues in London?») Die Kranke war schließlich völlig stumpf, mit angezo- stellen konnte und seinen Arzt, obschon mit ihm verwandt, genen Beinen zu Bett gelegen, hatte unter sich gelassen. nicht wiedererkannte. Und wurde wieder zum Kind: «For Nach viereinhalbjähriger Krankheitsdauer tritt der Tod Sir John was not mad, or distracted like a man in Bedlam, ein.» So schreibt es der behandelnde Arzt Alois Alzhei- yet he was so depraved in his intellect, that he was become mer 1906 in seine Akten, und eigentlich war der Befund not only a perfect child in understanding but also foolish klar: «Demenz» – komplette geistige Verwirrung. Norma- withall.» Und einen detaillierten Bericht gibt ein anony- lerweise stellt er diese Diagnose allerdings nur bei älteren mer Korrespondent 1785 im «Magazin zur Erfahrungs- Patienten, jenseits der 70 Jahre. Auguste Deter aber ist erst seelenkunde Gnothi Sauton». Es geht um einen gewissen 51. Alzheimer ist fasziniert, akribisch protokolliert er die «Johann Christoph Becker, 1710 in Halberstadt geboren, Befragungen der Patientin: «Wie heißen Sie?» – «Auguste.» – mehr als 40 Jahre Pröbstey-Bote in Quedlinburg, immer et- «Familienname?» – «Auguste.» – «Wie heisst ihr Mann?» was simpel, […] seit ohngefähr 12 bis 15 Jahren hat das Ge- – «Ich glaube… Auguste.» Und er wartet auf den Tod sei- dächtnis angefangen ihn zu verlassen und dieser Fehler hat nes ungewöhnlichen Falls. Denn Alzheimer will nicht nur von Zeit zu Zeit merklich zugenommen. Sein Gedächtnis die Psyche seiner Patientin untersuchen, sondern auch ihr nahm endlich, seit fünf Jahren dergestalt ab, dass er unten Gehirn. Ihn treibt so etwas wie eine fixe Idee um, man im Hause schon alles wieder vergessen hatte, was ihm auf nannte ihn auch den Irrenarzt mit dem Mikroskop. Tags- der Stube gesagt war. Doch behielt er dabei noch übrigens über war er im Spitalalltag eingebunden, nachts aber stieg immer seinen guten Menschenverstand, sahe auch diesen er in den Keller der Anstalt hinunter, wo er und sein Kol- Fehler selbst ein, und bat immer, dass man nur mit ihm Ge- lege Franz Nissl ein kleines Forschungslabor eingerichtet duld haben möge. Und als er nun aus aller Thätigkeit gesetzt hatten. Sie glaubten an organische Ursachen psychischer wurde, fing sein Verstand an, zu scheitern, und alle seine Erkrankungen und untersuchten systematisch die Hirn- Seelenkräfte merklich abzunehmen. Das Gedächtnis verlässt rinde Verstorbener. Lange ohne Erfolg, doch als sie das ihn von Tage zu Tage immer mehr, wobei jedoch das etwas Gehirn von Auguste Deter untersuchen, fallen Alzheimer Auffallendes ist, dass er sich solcher Dinge, die vor 30 bis sofort eigenartige Veränderungen auf. 40 Jahren geschehen, und besonders ihm selbst wieder fahren sind, noch recht gut erinnert Seit einem Jahr hat er sich den unglücklichen Gedanken im Kopf gesetzt, dass Niemand der Anwesenden er geschlachtet und aus seinem Fleische Würste gemacht werden sollten.» ahnt, dass sie einem Auch sehr unglücklich liest sich das wohl schönste Bei- wissenschaftshistorisch spiel, das allerdings nicht aus der Fachliteratur, sondern aus einem literarischen Klassiker kommt. Jonathan Swift bedeutenden Ereignis schildert 1723 in «Gullivers Reisen» die Begegnung seines beiwohnen, wohl nicht mal Helden mit den unsterblichen, aber dennoch alternden Struldbruggs, die auf einer Insel irgendwo bei Japan leben. Alzheimer selbst Durch ihre Vergesslichkeit verlieren diese Greise, allmäh- lich die Fähigkeit zur Kommunikation und insbesondere Mit diesem Blick durchs Mikroskop tritt die Demenz aus zum Lesen. «Aus dem gleichen Grund können sie sich nie- dem Bühnenhintergrund und wird vom medizinischen mals mit Lesen vergnügen, denn ihr Gedächtnis trägt sie Statisten allmählich zum Hauptdarsteller. Als Alzheimer nicht von dem Beginn eines Satzes bis zu dessen Ende. Und seine Befunde an der «37. Versammlung Südwestdeutscher durch diesen Mangel sind sie der einzigen Unterhaltung Irrenärzte» in Tübingen vorstellt («Über eine eigenartige beraubt, deren sie sonst noch fähig wären.» Erkrankung der Hirnrinde»), deutet allerdings noch nichts darauf hin. Niemand der Anwesenden ahnt, dass sie ge- Der Auftritt des Alois Alzheimer rade einem wissenschaftshistorisch bedeutenden Ereignis Und dann kam Alzheimer. Es ist eine Geschichte, die beiwohnen, wohl nicht mal Alzheimer selbst. Im Protokoll durchaus auch der Feder eines Schriftstellers hätte ent- der Versammlung wird kurz vermerkt, die Kollegen hätten springen können. Eine gewisse Auguste D., Patientin in der «keinen Diskussionsbedarf» gesehen. universitas | Dossier 15
Es war nicht so, dass Alzheimer ein kompletter Sonderling of Medicine» publizierten Artikel stellten Epidemiologen war, als er im Gehirngewebe nach Krankheiten suchte. Sei- nach Durchsicht aktueller Daten die Frage, ob die Demenz ne Idee der Verknüpfung von Krankenbeobachtung und womöglich schon wieder im Rückzug sei. Könnte es etwa pathophysiologischer Forschung war durchaus en vogue sein, dass Alzheimer beim genaueren Fokussieren eben- zu der Zeit. Auch Freud hatte seine Karriere ja so ange- so unscharf bleibt wie damals die Hysterie – und sich am fangen, er promovierte «über das Rückenmark niederer Ende vor unseren Augen in nichts auflöst? 2008 schrieb der Fischarten», um sich dann in seiner Forschung dem neu Psychologie-Professor Peter Whitehouse ein Buch mit dem entwickelten Wirkstoff Kokain zuzuwenden – auch da in- Titel «The Myth of Alzheimer’s: What You Aren’t Being teressierte er sich für die physiologischen Wirkungen im Told About Today’s Most Dreaded Diagnosis» (Deutsche Gehirn. (Und, nebenbei, natürlich auch für die ganz per- Ausgabe: Mythos Alzheimer. Was Sie schon immer über sönlichen psychologischen, in einem Brief schrieb er: «In Alzheimer wissen wollten, Ihnen aber nicht gesagt wurde.) meiner letzten schweren Verstimmung habe ich wieder Und die deutsche Journalistin Cornelia Stolze bläst in ih- Coca genommen und mich mit einer Kleinigkeit wunder- ren Büchern ins selbe Horn: «Vergiss Alzheimer! Die Wahr- bar auf die Höhe gehoben. Ich bin eben beschäftigt, für heit über eine Krankheit, die keine ist.» Stolze glaubt einen das Loblied auf dieses Zaubermittel Literatur zu sam- grossen «Haken» in Sachen Alzheimer ausfindig gemacht meln.») Erst mit den «Studien über Hysterie», geschrieben zu haben: «Hinter all den Verheißungen steckt ein funda- 1895, machte Freud den entscheidenden Schritt weg von mentaler Schwindel. Denn so ungeheuerlich es klingt: Bis physiologischen Studien und hin zur klassischen Psycho- heute weiß niemand, was Alzheimer ist. Über die Merkma- analyse. Mit dieser Arbeit wollte Freud die Hysterie neu le und Ursachen des Leidens kursieren die widersprüch- definieren (da ist sie wieder, die raison d’être des Arztes als lichsten Theorien. Das Leiden ist weder klar definiert noch Forschernatur), wobei er unter anderem den Begriff Kon- direkt zu diagnostizieren.» Weder Whitehouse noch Stolze versionsneurose einführte, weil hier nach seiner Ansicht negieren die Hirnschäden bei den betroffenen Patienten – psychisches Leiden in körperliches umgeformt wurde. Alz- insofern ist Alzheimer tatsächlich nicht zu vergleichen mit heimer dagegen sollte zum Inbegriff der Krankheit wer- der Hysterie, da läuft tatsächlich etwas schief im Körper den, bei der eine körperliche Degeneration Auswirkungen vieler alter Menschen. Doch die Skeptiker stellen die Gret- chenfrage nach den ursächlichen Zusammenhängen. Und treffen damit einen wunden Punkt, solange es kein Medi- Könnte es sein, dass kament gibt, das wirksam in die postulierte Krankheits- Alzheimer beim genaueren mechanik eingreifen könnte, kein simples Diagnosewerk- zeug, keinen Konsens in der Fachwelt, was den langsamen Fokussieren ebenso Zerfall des Gehirns denn nun tatsächlich auslöst. Solange unscharf bleibt wie damals haben Alternativerzählungen gute Chancen; die von Stolze sieht Alzheimer zum Beispiel bloss als «ein nützliches Eti- die Hysterie – und sich kett. Ein Schreckgespenst, mit dem sich erfolgreich Ängste am Ende vor unseren schüren, Karrieren beschleunigen und weltweit Milliarden verdienen lassen.» Ob Herzrasen, Schlafstörungen, Par- Augen in nichts auflöst? kinson oder Demenz – hinter etlichen Leiden steckten die Nebenwirkungen massenhaft konsumierter Arzneien. auf das Geistesleben hat. Der Zerfall des Hirns als Organ Das Übel und die Wurzel und daraus folgend der allmähliche, unaufhaltsame Zerfall Lavinia Alberi, Leiterin der Neurologie-Forschung am des Seins. Es ist wohl der unheimlichste Krankheitsverlauf, Swiss Integrative Center for Human Health der Uni Frei- den wir uns vorstellen können. burg, kann mit solchen Zweifeln nicht viel anfangen. We- der was das molekularbiologische Verständnis noch was Aus Mangel an Beweisen die Perspektiven angeht, Alzheimer bald nicht nur stop- So sehr wir dieser Schlange in die Augen starren – noch pen, sondern auch heilen zu können. Sie sieht nämlich können wir sie nicht fest in den Blick bekommen. Denn gerade jetzt grosse Fortschritte und glaubt, dass «das Pro- erstaunlicherweise gibt es nach wie vor keine simple dia- blem in nicht allzu ferner Zukunft gelöst sein wird». Es sei gnostische Methode, mit der Alzheimer dingfest gemacht eine kritische Masse an Forschung erreicht und eine Reihe werden kann. Und auch beim Mechanismus, durch den von vielversprechenden Substanzen in klinischen Tests. die Krankheit ausgelöst wird, gibt es nur ansatzweise Kon- Tatsächlich sind in den letzten Monaten einige aufsehe- sens. Selbst bei den Zahlen ist sich die Fachwelt nicht ganz nerregende Resultate mit Antikörpern publiziert worden, so sicher. In einem unlängst im «New England Journal womöglich sind wir ziemlich nah daran, einen Wirkstoff 16 universitas | Dossier
zu finden, der erstens den Krankheitsmechanismus erhellt allmählich in ein Plateau über. Was also wenn alte Menschen und zweitens, viel entscheidender, auch gezielt als Thera- einfach weiter arbeiten? Auch die Neurologin Alberi ist peutikum eingesetzt werden kann. Am wichtigsten sei es, überzeugt: die Phase des aktiven Arbeitslebens wird verlän- meint Alberi, die diagnostischen Methoden zu verbessern, gert: «Wir werden bis jenseits der 70 fit bleiben müssen.» um Alzheimer schon früh nachweisen zu können. Denn Das Gehirn beschäftigen, immer aktiv bleiben, das sei wohl die Krankheit starte wohl schon lange bevor die ersten die wichtigste Präventivmassnahme, meint Alberi. Darüber Symptome auftauchten – «da müssen wir aufmerksamer hinaus gebe es auch deutliche Hinweise, dass die Ernährung werden und die ersten Anzeichen früher erkennen: Was einen Einfluss hat. Die Alzheimer-Krankheit wird sogar als eine Form von Diabetes im Zentralnervensystem bezeich- net. Alberi selber verzichtet wenn immer möglich auf Koh- Inzwischen ist Alzheimer lenhydrate, die den Insulinspiegel erhöhen. Keine Pasta, als eine Krankheit unserer Zeit. Italienerin? Nein, da ist sie strikt, auch keine Süssigkeiten, nur ausnahmsweise Brot. Damit steht sie am anderen Ende Es geht um die Angst, die der Alzheimer-Dämonisierung: Nicht in Ohnmacht erstarrt, Autonomie zu verlieren sondern optimistisch und selbstbestimmt: Man muss ver- suchen, diesen Teufel auszutreiben, wenn nötig auch mit radikalen Mitteln. Und wenn Genussverzicht dazu gehört, wie ein Burnout aussieht könnte eine Frühphase von Alz- passt das vielleicht noch viel besser in unsere Zeit. Entweder heimer sein.» Sie selber arbeitet daran, Biomarker zur frü- hedonistisch und hell auflodernd leben und sterben – oder hen Diagnose zu finden: «Am einfachsten wäre es, wenn selbstoptimiert und arbeitsam bis ins hohe Alter. Bei den wir Alzheimer im Speichel oder Blut nachweisen könn- Alten gab es da noch ein paar andere Lesarten des Alterns. ten.» Alberi ist überzeugt: Dass die bisher durchgeführten gut zweihundert klinischen Tests für Alzheimer-Therapien samt und sonders ohne Behandlungserfolg abgebrochen Roland Fischer ist freier Wissenschaftsjournalist wurden, liege vor allem daran, dass die Substanzen nicht und Organisator von Wissenschaftsevents in Bern. sehr effektiv sind wenn die Krankheit schon weit fortge- schritten ist. Derzeit werden neue Studien aufgegleist, die Alzheimer-Patienten in Frühstadien rekrutieren möchten. Manche Mediziner (und Gesundheitsökonomen) träu- men schon davon, dass man präventiv gegen Alzheimer vorgehen könnte. Vielleicht wird uns bald nahegelegt, ab einem gewissen Alter vorsorglich Anti-Amyloid-Pillen zu schlucken, um so die potentiell zerstörerischen Wirkungen Die Forschungsgruppe von Lavinia Alberi erforscht der Proteine im Gehirn aufzuhalten, ähnlich wie manche intensiv die biologische Funktion des sogenannten Experten vorschlagen, auf breiter Front Cholesterolsenker Notch1-Signalwegs in Nervenzellen. Dabei interessiert einzusetzen, um das Herzinfarktrisiko zu senken. Den Dä- sie sich vor allem für die Rolle, die dieser biochemi- mon besiegen, indem man seine biochemischen Vorläufer sche Prozess beim Gedächtnis und bei neurodegene- in Schach hält? Noch ist die Forschung den Nachweis schul- rativen Krankheiten spielt. Kürzlich zeigte die Gruppe dig, dass das funktionieren könnte. Inzwischen ist – und erstmals auf detaillierte Weise die Verändungen des bleibt – Alzheimer eine Krankheit unserer Zeit. Es geht um Notch1-Signalwegs in Gehirnen von Alzheimer-Patien- die Angst, die Autonomie zu verlieren. Und damit einher- ten auf. Normalerweise wird das Notch1-Protein vom gehend die Maxime, selbständig zu sein bis ins hohe Alter, Körper sehr effektiv aus der Gehirnflüssigkeit heraus- niemandem zur Last fallen. Eben, im Widerspruch zu den gefiltert, doch bei Alzheimer-Patienten scheint dieser sieben Lebensaltern aus Shakespears’ Zeiten: nicht wieder Prozess nicht mehr zu funktionieren, was das Protein zum Kind zu werden, das auf Gedeih und Verderb auf die und dessen Signalweg zu einem interessanten Kandi- Hilfe anderer angewiesen ist. Diese Vorstellung, früher nor- daten für eine Alzheimer-Frühdiagnostik macht. Alberi maler Teil des Lebenszyklus, wird uns heute unerträglich. führt ihre Forschung in diesem Bereich am neuen Swiss Integrative Center for Human Health (SICHH) fort, an Prävention hat ihren Preis welchem sie den Lead im Bereich der Gehirnforschung übernommen hat. Also müssen wir weiter funktionieren, die Lebenstreppe, wie sie im 19. Jahrhundert gern dargestellt wurde – mit lavinia.alberiauber@sichh.ch einem höchsten Punkt um die 50 Jahre herum und dann www.cish.ch/de einem Abstieg bis zurück aufs Kinderniveau – geht nun universitas | Dossier 17
Vergiss es! Vergessen auf Befehl funktioniert ebenso wenig wie absichtliches Nicht-Vergessen. Unser Gehirn aber bedient sich der «Lösch-Funktion» durchaus gezielt. Solange es nicht mit Alzheimer-Peptiden infiziert ist. Astrid Tomczak-Plewka Um der Alzheimer-Krankheit auf den Grund zu gehen, können. Beim Maushirn wird das noch 100 oder 200 Jahre muss man das menschliche Gehirn verstehen. Zwar hat dauern – und das menschliche Gehirn ist schlicht jenseits die Forschung diesbezüglich in den letzten Jahren Quan- unseres Verständnisses.» tensprünge gemacht, aber: «Das menschliche Gehirn Im Gedächtnis liegt der Schlüssel fürs Verständnis von ist so komplex, dass es jenseits unseres Verständnisses Alzheimer. Hier finden Lernprozesse statt – und auch die liegt», sagt Simon Sprecher, Neurobiologe an der Uni- Kehrseite davon: Das Vergessen. Denn die Hirnkapazität ist versität Freiburg. Deshalb behilft er sich mit weniger begrenzt; Vergessen schafft Raum für neues Wissen. Lernen komplexen Gebilden: Dem Hirn von Fruchtfliegen. Die und Vergessen sind also höchstwahrscheinlich durch die winzigen Tierchen, die im Alltag eher lästig sind, sind gleichen Mechanismen gesteuert und finden in den glei perfekte Modelltiere für die Forschung. Sowohl die Zell- chen Hirnarealen statt. «Lange Zeit herrschte die unausge- biologie, die Molekularbiologie wie auch die Genetik im sprochene Meinung, dass Vergessen einfach so passiert», so Hirn der Fruchtfliegen sind zu 99 Prozent identisch mit Sprecher. «Aber Erlerntes löst sich nicht einfach in Luft auf. dem menschlichen Gehirn. Das ist aber nicht der einzige Es braucht einen Prozess, der das Erlernte aktiv degenerie- Grund, warum Sprecher in seiner Arbeit auf die Winzlin- ren lässt oder es aktiv erhält. Dieser Abbauprozess wurde ge setzt: «Wir wissen bei der Fruchtfliege genau, wo das auf der biologischen Ebene lange Zeit ignoriert – wir wol- Gedächtnis sitzt», sagt er. Auch Mäuse werden wegen ihrer len ihn verstehen.» Und zwar mithilfe eines von der Stiftung hohen genetischen Verwandtschaft mit dem Menschen oft Synapsis – Alzheimer Forschung Schweiz finanzierten For- als Modelle verwendet. Das Maushirn aber ist viel kom- schungsprojekts an Fruchtfliegen. plexer als das Fliegenhirn, deshalb ist die hochpräzise For- schung mit Mäusen in diesem Bereich (noch) nicht mög- Chaos im Gehirn lich, so Sprecher. Zum Vergleich: «In den nächsten 10 bis Das menschliche Gehirn besteht aus einem Netzwerk von 15 Jahren werden wir vermutlich so weit sein, dass wir das rund 100 Milliarden Nervenzellen, die durch Synapsen, Fliegenhirn so zerschneiden können, dass wir alle Zellen kleine Schaltzentralen, miteinander verbunden sind. Bei und synaptischen Verbindungen kennen und erforschen der Fruchtfliege sind es nur etwa 100’000 Nervenzellen. 18 universitas | Dossier
© Thinkstock «Wenn wir Informationen verarbeiten – also lernen – wer- kommen, dass die Nervenzellen absterben. Verantwortlich den die entsprechenden Synapsen verstärkt», erklärt Spre- dafür könnten Ablagerungen im Gehirn sein – so genann- cher. Sowohl beim Menschen wie auch bei der Fruchtfliege te Plaques, die aus Beta-Amyloiden bestehen. Beta-Amy- sorgen körpereigene Botenstoffe, so genannte Neurotrans- loid ist das Fragment eines Proteins, ein so genanntes Pep- mitter, für den Signaltransport zwischen den Zellen. Ein tid, das aus einem grösseren Protein mit dem Namen APP wichtiger Neurotransmitter im zentralen Nervensystem (Amyloid-Vorläufer-Protein) herausgeschnitten wird. Im (Hirn und Rückenmark) des Menschen ist beispielsweise gesunden Gehirn werden solche Abfallprodukte zersetzt und abgebaut. Beim kranken Gehirn hingegen ist diese Funktion gestört. «Vergessen schafft Raum für Lernen ohne Speicherkapazität Das Forscherteam an der Uni Freiburg verwendet für neues Wissen» seine Arbeit eine Kombination aus dem Glückshormon Dopamin und den toxischen Peptiden, die für die Alz- heimerplaques verantwortlich sind: präzise genetische Glutamat, auch als Geschmacksverstärker bei Lebensmit- Manipulationen erlauben es den Wissenschaftlern, die teln bekannt. Der wichtigste Neurotransmitter, um den Nervenzellen des Gedächtniszentrums mit den Alzhei- Lernmechanismus auszulösen, ist allerdings Dopamin. mer-Peptiden zu infizieren, wobei der Rest des Ner- Dopamin macht glücklich, steigert die Leistungsbereit- vensystems vollständig gesund ist. Darin liegt auch der schaft und weckt die Lebensgeister in uns – deshalb spricht Unterschied zu den Mausexperimenten: «Bei der Maus man landläufig auch vom Glückshormon. kann man nicht nur bestimmte Lernzellen manipulie- Bei Alzheimerpatienten geht man davon aus, dass ren», erklärt Sprecher. «Deshalb werden dort die toxi in frühen Phasen der Krankheit Synapsen zwischen den schen Peptide überall und zu jeder Zeit produziert. In der Nervenzellen verloren gehen. In der Folge kann es dazu Fliege können wir dies zeitlich und räumlich regulieren.» universitas | Dossier 19
Und auch wenn Fruchtfliegen nur wenige Wochen alt gesteigert: Auch wenn sie nur wenig Botenstoffe von einer werden, gibt es eine weitere Parallele zum Menschen: Äl- anderen Zelle erhalten, reagieren sie sehr stark. Eine solche tere Fliegen lernen weniger gut als jüngere. Perfekte Vor- Überlastung kann schädlich sein für Neuronen und sogar aussetzungen also für die Alzheimerforschung. zu deren Absterben führen.» Für das Experiment wird eine Auswahl an Frucht- fliegen in Sprechers Labor mit dem «Alzheimer-Peptid» Bausteine fürs grosse Ganze infiziert, eine zweite Gruppe wird nicht manipuliert. An- Von grossem Interesse für die Wissenschaftler ist natürlich schliessend werden alle Tierchen in einer Versuchsanlage auch die Frage, welche Rolle das Erbgut in diesem Prozess zwei verschiedenen Duftstoffen ausgesetzt. Beim einen spielt: «Nur ein Bruchteil aller Gene sind am Lernprozess Duft werden sie mit Zucker belohnt, beim anderen mit beteiligt», so Sprecher. Um herauszufinden, welche es sind, einem Stromstoss bestraft. Sie lernen also, welchen Duft nutzen die Forscher die so genannten Transkriptomik. Da- sie besser vermeiden sollen. In bestimmten zeitlichen mit lässt sich bestimmen, welche Gene während eines be- Abständen wird nun untersucht, ob die Fliegen einmal stimmten Vorgangs an- respektive ausgeschaltet sind. Im gelerntes Wissen behalten oder nicht. Der Sitz des Ge- Laufe ihrer Experimente mit den Fruchtfliegen bauen die ruchsgedächtnisses im Fliegenhirn sind die so genannten Freiburger Forscher so eine Datenbasis mit Genen auf, die Pilzkörper, die ihren Namen aufgrund ihrer Form tragen. vermutlich am Prozess des Lernens und Vergessens betei- Jede Fliege hat zwei dieser Pilzkörper mit je rund 2000 ligt sind. «Welche Auswirkungen diese Forschungsarbeit Neuronen. Für die Untersuchung der Winzlinge hat das auf eine Behandlung von Alzheimer-Patienten haben wird, Team mit Physik-Professor Frank Scheffold (Unifr) eigens kann ich heute nicht abschätzen; möglicherweise gibt es ein hochauflösendes Mikroskop entwickelt, mit dem sich in zehn Jahren medizinische Anwendungsmöglichkeiten», erkennen lässt, was mit den Synapsen im Hirn der Frucht- sagt Sprecher. «Aber auch die nicht-medizinische Grund- fliegen passiert. Die Resultate waren für die Forschenden lagenforschung ist sehr wichtig: Letztlich hilft sie uns, die überraschend: «Ich hätte erwartet, dass die Fliegen mit Mechanismen des Lebens besser zu verstehen.» dem Alzheimer-Peptid weniger gut lernen. Alle bisherigen Studien, bei welchen das ganze Nervensystem mit Alzhei- mer-Peptiden infiziert war, haben das suggeriert», sagt Astrid Tomczak-Plewka ist selbstständige Sprecher. «Aber die Untersuchungen zeigen, dass Fliegen Wissenschaftsjournalistin. mit einer Alzheimer-Infektion im Gedächtniszentrum ge- nauso gut lernen wie die nicht-infizierten Tiere.» Die bei- den Gruppen unterscheiden sich lediglich dadurch, dass die infizierten Fliegen das Gelernte nach zwei Stunden bereits wieder vergessen haben. «Alzheimer ist also kein Lerndefekt, sondern ein Defekt, der die Vergesslichkeit steigert», sagt Sprecher. Schlafen ist gut fürs Gehirn Gegen Vergesslichkeit ist noch kein Kraut gewachsen. Die Biologen konnten aber aufzeigen, dass mehr Schlaf die Vergesslichkeit senkt – jedenfalls bei den Fruchtfliegen. Die Tierchen wurden in Schlaf versetzt, und zwar entwe- der mit Medikamenten oder eben genetisch, d.h. indem bestimmte Neuronen im Gehirn «ausgeschaltet» wurden. Simon Sprecher ist Projektleiter eines SystemsX- Nachdem die Tiere wieder aufgewacht waren, unterzogen Forschungsprojekts, welches das Gedächtnis und des- die Forschenden sie den Versuchen mit den Duftstoffen. sen Kehrseite – die «Biologie des Vergessens» – syste- Und siehe da: Fliegen, die mehr geschlafen haben, können matisch und interdisziplinär untersucht. Das Freiburger sich nach zwei Stunden noch besser daran erinnern, wel- Team verknüpft in Zusammenarbeit mit den Universitä- cher Duft eine Belohnung verspricht. «Im Schlaf werden ten Bern und Florida (USA) theoretische Kenntnisse, die Reizbarkeit und Aktivität von Nervenzellen gesenkt», quantitative Verhaltensexperimente, Gentechnologie, so Sprecher. «Und wir wissen, dass gerade bei Alzhei- Sequenzierung der nächsten Generation und hochauf lösende Mikroskopie. mer-Patienten die Reizbarkeit von Nervenzellen sehr hoch ist.» Neuronen sind meistens auch spontan aktiv. Das simon.sprecher@unifr.ch heisst, sie senden spontan elektrische Signale. «In Alzhei- www.systemsx.ch mer-Neuronen ist diese Aktivität oder Reizbarkeit noch 20 universitas | Dossier
L’oubli, un mal nécessaire? Perte de mémoire ne rime pas forcément avec Alzheimer. Au contraire, la dégradation de cette habileté cognitive fait partie du vieillissement normal, explique Valérie Camos. La professeure de psychologie cognitive en profite pour rappeler qu’il n’existe pas une seule mémoire, mais de nombreuses. Patricia Michaud Dans un contexte d’hypermédiatisation de la maladie Sans surprise, un dysfonctionnement de la mémoire à d’Alzheimer, le raccourci perte de mémoire = début d’Al- court terme peut être très handicapant. «Chez un enfant, il zheimer est très fréquent. Songeons au classique «Aïe, je faut attendre environ 7 ans avant qu’elle ne soit structurée dois avoir Alzheimer», lorsqu’on oublie le prénom de son comme celle de l’adulte.» Voilà qui explique pourquoi tant voisin. Or, cas pathologiques mis à part, la dégradation de de bambins en bas âge, lorsqu’on les envoie chercher un la mémoire est une évolution parfaitement naturelle, tout objet dans leur chambre, «reviennent avec autre chose… comme celle des autres habiletés cognitives, rappelle Va- ou ne reviennent jamais», plaisante Valérie Camos. Il faut lérie Camos, professeure de psychologie cognitive à l’Uni- même attendre leurs 15 ans avant que les jeunes soient do- versité de Fribourg. «L’état actuel de la recherche permet tés d’une mémoire à court terme «fonctionnant vraiment d’affirmer qu’après 65 ans la majorité des adultes doivent comme celle d’un adulte», précise la professeure en psy- compter avec la baisse d’au moins une de leurs habiletés chologie. Chez les seniors, la dégradation de ce type de mé- cognitives. Après 80 ans, au moins deux de ces habiletés se moire s’illustre par le fameux «Mais qu’étais-je donc venu dégradent et après 90 ans, au moins trois.» faire à la cuisine?» Valérie Camos met au passage le doigt sur un autre raccourci commun, celui qui consiste à utiliser le terme Pas de cartographie exhaustive de «mémoire» (au singulier), «alors que des mémoires, il Alors qu’il n’existe qu’un type de mémoire à court terme, y en a de nombreuses». Selon la chercheuse, la confusion la mémoire à long terme se subdivise en une myriade de vient peut-être du mot anglais memory, un terme neutre sous-catégories. «Il n’est pas possible d’en établir une liste englobant la pluralité de la mémoire. Afin de bien mettre exhaustive, étant donné que certaines se recoupent par- les points sur les i, la professeure commence par faire tiellement. Par ailleurs, tous les chercheurs ne sont pas une distinction de base, «qui existait déjà bien avant la d’accord sur les contours de ces subdivisions», commente naissance de la psychologie scientifique à la fin du XIXe Valérie Camos. L’une des mémoires à long terme les plus siècle»: celle entre mémoire à court terme et mémoire à célèbres est la mémoire autobiographique, à savoir les sou- long terme. Appelée aussi mémoire de travail, la mémoire venirs. Pour de nombreuses personnes, «la notion de mé- à court terme «est celle qui permet de traiter les informa- moire à long terme se résume même aux souvenirs. Dans tions, de faire l’interface entre ce que l’on connaît déjà et les faits, il y a beaucoup d’autres éléments que stocke notre ce qui est nouveau». cerveau. Par exemple, savoir que la capitale de la Suisse universitas | Dossier 21
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