PLANSPIELE - Ukraine Zwischen Europäischer Union und Eurasischer Wirtschaftsunion - Landeszentrale für politische Bildung Baden ...

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PLANSPIELE - Ukraine Zwischen Europäischer Union und Eurasischer Wirtschaftsunion - Landeszentrale für politische Bildung Baden ...
10–2019
                                  PLANSPIELE

          Ukraine
          Zwischen Europäischer Union
          und Eurasischer Wirtschaftsunion
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                     Planspiel

                     Ukraine. Zwischen
                     Europäischer Union und
                     Eurasischer Wirtschaftsunion

                     Landeszentrale für politische Bildung
                     Baden-Württemberg

                                                                       1
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                Vorwort

                Das Planspiel „Ukraine. Zwischen Europäischer          Ziel dieses Planspiels ist es, durch die „Prozess-
                Union und Eurasischer Wirtschaftsunion“ stellt         simulation“ einer internationalen Krisenbear-
                einen weiteren Mosaikstein in der Planspiel-           beitung Kompetenzen zu erwerben und auszu-
                Reihe der Landeszentrale für politische Bildung        bauen. Diese sind:
                Baden-Württemberg dar. Nach mehrfachem
                Spieleinsatz und permanenter Aktualisierung            • Grundlagen in einem Konfliktfeld erwerben,
                liegt es nun in gedruckter Form vor.                   • die Simulation politischer Abläufe, um diese
                Die Ukraine im Herbst 2018: Seit mehr als vier         nachzuvollziehen und dadurch transparenter zu
                Jahren herrscht im Osten des Landes, in Teilen         machen,
                des Donbass, Krieg. Seit Februar 2015 soll ba-         • dabei insbesondere Problemlösungsstrategien
                sierend auf dem „Minsker Protokoll“ und dem            und Ansätze der Konfliktbearbeitung kennenzu-
                dort angestoßenen Prozess Frieden herrschen.           lernen und anzuwenden.

                Bei einem Besuch in Kiew nennt Bundeskanzle-           Das vorliegende Heft umfasst neben den Ein-
                rin Angela Merkel es ernüchternd, dass in der          führungen zur Methode und zum Inhalt die zen-
                Ostukraine noch immer kein stabiler Waffen-            tralen Materialien und Empfehlungen zur eigen-
                stillstand herrscht. Noch immer sterben Solda-         ständigen Durchführung des Planspiels.
                ten und Zivilisten, insgesamt sind es mittler-
                weile mehr als 10000. Täglich beobachtet die           Wir danken den Autoren und allen Partnern
                OSZE im Durchschnitt 1000 Verstöße gegen die           sowie den Institutionen, in deren Einrichtungen
                Waffenruhe. Aber, so Merkel: „Wir haben nichts         und mit deren Unterstützung das Planspiel bis-
                anderes als den Minsker Prozess.“                      her durchgeführt wurde. Ebenso allen Teilneh-
                                                                       menden, die mit ihren Erfahrungen und Kom-
                In Deutschland ist der Krieg nahezu in Verges-         mentaren zur ständigen Verbesserung des nun
                senheit geraten, wenn nicht gerade ein Staats-         fertigen Produkts beigetragen haben. Für wert-
                besuch stattfindet oder sich wichtige Ereignisse       volle inhaltliche Kommentare danken wir zudem
                jähren.                                                Gertrud Gandenberger und Linda Böhm-Czu-
                                                                       czkowski.
                Der weiterhin aktive militärische Konflikt ent-
                lang der Kontaktlinie ist ebenso Ausdruck einer        Mai 2019                       Thomas Schinkel
                größeren Konfliktdynamik: Die Ukraine grenzt
                im Nordosten und Osten an Russland, im Nor-
                den an Belarus, im Westen an Polen, die Slowa-
                kei und Ungarn, im Südwesten an Rumänien
                und die Republik Moldau. Es geht also um die
                Integrationskonkurrenz zwischen dem von
                Russland dominierten postsowjetischen Raum
                und der Europäischen Union, der mittlerweile
                die überwiegende Anzahl der Staaten in Mittel-
                und Osteuropa angehören.

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                                                                       Inhalt

                                                                        2 | Vorwort

                                                                        4 | Das Planspiel – Simulation eines politischen
                                                                            Entscheidungsprozesses

                                                                        6 | Thematische Einführung

                                                                       24 | Didaktische und methodische Hinweise

                                                                       30 | Materialien

                                                                       30   |   M1 / Ablaufplan
                                                                       31   |   M2 / Wege aus der Krise
                                                                       34   |   M3 / In Propagandagewittern
                                                                       40   |   M4 / Soziometrische Übung „Ukraine“
                                                                       41   |   M5 / OSZE – das Comeback
                                                                       44   |   M6 / Ausgangslage
                                                                       49   |   M7 / Rollenkarten
                                                                       59   |   M8 / Arbeitsanweisungen
                                                                       60   |   M9 / Karte Frontverlauf
                                                                       61   |   M10 / Minsker Abkommen und Memoranden
                                                                       64   |   M11 / Thesen zur Konflikteinhegung
                                                                       65   |   M12 / Vorlage Abschlusserklärung
                                                                       66   |   M13 / Lösungsvorschläge
                                                                       67   |   M14 / Zusatzmaterialien

                                                                       79 | Auswertung

                                                                       80 | Glossar

                                                                       83 | Informationsquellen und Literatur

                                                                       84 | Impressum

                                                                                                                        3
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                Das Planspiel – Simulation eines
                politischen Entscheidungsprozesses

                Methodische Vorüberlegungen                            So lassen sich auf mindestens drei Ebenen
                                                                       Kenntnisse, Einsichten und Fähigkeiten erwer-
                Planspiele sind in ihrem Grundmuster Rollen-           ben, entwickeln und erproben:
                spiele, die eine hohe Komplexität, klare Interes-
                sengegensätze und einen hohen Entscheidungs-           Auf der Ebene des Politischen
                druck aufweisen.1                                      – Einsichten in die Komplexität von Politik und
                Nach Massing2 müssen Planspiele als Simulati-          in das Problem, dass sich Politik häufig in
                onsspiele bestimmte Anforderungen erfüllen,            Dilemmasituationen befindet, in denen es „die“
                um politisches Lernen am Modell zu ermögli-            Lösung nicht gibt.
                chen:                                                  Die Einsicht,
                                                                       – dass Interaktionsräume und Rollenverteilun-
                1. Repräsentation (Darstellung): „Planspiele           gen gesellschaftlich bedingt sind;
                und Simulationen sind fiktionale Modelle, die –        – in welchem Maß Interessenwahrnehmung
                obwohl „erfunden“ aufgrund prinzipieller und           und -durchsetzung unter bestimmten politi-
                struktureller Ähnlichkeiten im Kern mit der rea-       schen Verhältnissen möglich sind;
                len Erfahrungswelt übereinstimmen müssen. (…)          – in die Schwierigkeit, theoretisch entwickelte
                Gegenstand von Planspielen (…) sind politische         Lösungskonzepte in der Praxis durchzusetzen;
                Entscheidungsprozesse, die aus einem tatsäch-
                lichem oder fingierten, aus einem gegenwärti-          Auf der Ebene der individuellen „politischen“
                gen, vergangenen oder aus einem vorwegge-              Fähigkeiten
                nommenen, in der Zukunft liegenden „objekti-           – Einsichten in politische Zusammenhänge
                ven Konflikt“ resultieren.“3                           – Einsicht in den Ablauf politischer Entschei-
                2. Reduktion: Ein Modell ist eine vereinfachte         dungsprozesse
                Darstellung. Die Planspielentwickler heben die         – Entscheidungen selbst treffen
                Teile des Vorbildes als Wesentliches hervor, die       – Konsequenzen selbst getroffener Entschei-
                sie als wichtig einschätzen, ohne die Wirklich-        dungen tragen
                keit durch eine zu starke Verkürzung zu verfäl-
                schen.                                                 Auf der Ebene des sozialen Lernens
                                                                       – die Fähigkeit mit Konfliktsituationen umzuge-
              „Ziel von Planspielen ist es, die komplexe poli-         hen
               tische und/oder gesellschaftliche Wirklichkeit,         – Einübung von Frustrationstoleranz
               schwer zugängliche Zusammenhänge und Pro-               – Entwicklung von Problemlösungskompetenz
               zesse überschaubar und damit transparent zu             – Entwicklung von Kooperationsfähigkeit
               machen.“4

                Im Planspiel müssen Entscheidungen getroffen           1 ] vgl. Hilpert Meyer, Unterrichtsmethoden II, Frankfurt a.M. 1987, S. 366.
                                                                       2 ] vgl. Peter Massing: Planspiele und Entscheidungspiele, in: Siegfried
                werden, der Konflikt soll nicht vertagt sondern        Frech, Hans-Werner Kuhn, Peter Massing (Hrsg.): Methodentraining für
                bearbeitet werden. Kommunikations- und Inter-          den Politikunterricht I, 5. Aufl.2014, S.163-194, Ebd., S. 164.
                                                                       3 ] Ebd., S. 164 und 165
                aktionsprozesse helfen dabei. Die Anforderun-          4 ] Ebd., S. 165.
                gen an die Teilnehmenden sind nicht gering. So         5 ] Ebd., S. 166f.

                gilt es die Komplexität des Konflikts trotz Sim-       Literatur
                                                                       Peter Massing: Planspiele und Entscheidungspiele, in: Siegfried Frech,
                plifizierung zu durchschauen und zu verstehen.         Hans-Werner Kuhn, Peter Massing (Hrsg.): Methodentraining für den Po-
                Aber der Gewinn kann hoch sein.                        litikunterricht I, 5. Aufl. 2014, S. 166-194.

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                                                    Das Planspiel - Simulation eines politischen Entscheidungsprozesses

                     Konfliktkomplexität

                                                              Konfliktparteien

                                                                 s
                                                          KONFLIKTPOTENTIAL

                                            g g
                             Konfliktgegenstand                                          Konfliktverhalten

                     Annahme:

                     Die Komplexität des Konflikts entsteht durch         diesem Konflikt (Thema)? Beispielsweise um
                     die Vielfalt und Verknüpfung folgender Faktoren,     materielle Ressourcen („teilbare Güter“) bzw.
                     die das Konfliktpotential beeinflussen:              immaterielle Wünsche und Zielvorstellungen
                                                                          („nicht-teilbare Güter“);
                     1. Die Konfliktparteien: wie viele beteiligte Ak-    3. Das Konfliktverhalten: wie verhalten sich die
                     teure (Quantität) gibt es und wie sind sie mit       Akteure im Verlauf des Konflikts? Kooperativ,
                     Ressourcen (Machtmittel u.a.) ausgestattet;          konstruktiv bzw. konfliktorisch (den Gegensatz in
                     2. Der Konfliktgegenstand: worum geht es in          den Vordergrund rückend) oder gar destruktiv?

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                Thematische Einführung

                Der Ukrainekonflikt wurde 2017 von vielen Bür-         nalisierung der internationalen Beziehungen.
                gerinnen und Bürgern in Deutschland wie in an-         Internationale Normen und Institutionen erwei-
                deren europäischen Ländern erneut als ein zen-         sen sich als schwach, wenn sie‚vitalen Interes-
                trales Thema der internationalen und europäi-          sen, strategischen Kalkülen und nationalen Prä-
                schen Politik wahrgenommen.                            ferenzen widersprechen und keine unabhängige
                                                                       Instanz über die Sanktionierung von Normver-
                Die Erfahrungen in Seminaren mit unterschied-          letzungen entscheidet, sondern die Konfliktpar-
                lichen Zielgruppen zu diesem oder auch ande-           teien selbst. Wir erleben die […] Abkehr [von der
                ren internationalen Themenfeldern bestätigen           Akzeptanz der] Nichteinmischung, der Achtung
                diesen Trend: Internationale Politik ist für viele     von territorialer Integrität und Souveränität
                (wieder?) ein wichtiges Thema – auch wenn sie          sowie der Wechselseitigkeit von Geben und
                oft nicht Teil der eigenen „Lebenswelt“ ist.           Nehmen.“4
                Mit diesem Planspiel kann dieser Wertschät-
                zung und dem Interesse für internationale Poli-        Die Konflikteskalation von ersten Protesten im
                tik in der politischen Bildungsarbeit in aktiver       Herbst 2013 bis hin zum offenen Krieg im Früh-
                Weise Rechnung getragen werden. Dieses Plan-           sommer 2014 lässt bei vielen Kommentator-
                spiel versucht hier ein Angebot zu schaffen,           *innen die Rückkehr des Kalten Krieges anklin-
                auch wenn die Beschäftigung mit einem solchen          gen – die Rede ist vom „Epochenbruch“, teils
                Thema an die Autoren wie auch die Durchfüh-            gar von neuer Blockkonfrontation. Aber worum
                renden große Anforderungen bezüglich                   geht es im „Ukrainekonflikt“5, der obwohl sich
                - des Umgangs mit dem Kontroversitätsgebot,            dieser Begriff in der Berichterstattung der
                - mit der didaktischen Reduktion bzw.                  meisten deutschen Medien durchgesetzt hat, in
                - hohen Aktualität des Themas und                      den Jahren 2014 bis 2017 nach den gängigen
                - der notwendigen Komplexitätsreduktion poli-          Kriegsdefinitionen6, die beispielsweise die getö-
                tischer Sachverhalte                                   teten Kombattanten und die Regelmäßigkeit der
                stellt.1                                               Zusammenstöße zugrundelegen, als Krieg ein-
                Zunächst soll an dieser Stelle ein knapper Über-       gestuft und auch so benannt werden sollte? Gibt
                blick über die Rezeption des Konflikts in deut-        es überhaupt den einen Konflikt oder welche
                schen Medien und die dort verwendeten Inter-           verschiedenen Aspekte und Auseinandersetzun-
                pretationsmuster gegeben werden,2 ehe dann             gen bestehen – innerhalb der Ukraine aber auch
                eine ausführliche Beschreibung und Analyse             zwischen verschiedenen internationalen Akteu-
                wichtiger Entwicklungen der Konflikteskalation         ren, vor allem Russland und (den Staaten) der
                und –einhegung folgt.                                  EU?7
                Im folgenden Kapitel soll die Behandlung des           Neben den im Folgenden detailliert erläuterten
                Themas als Herausforderung für die politische          Interpretationsmustern werden dabei regelmä-
                Bildung diskutiert und Hinweise zur Durchfüh-          ßig die hier stark verkürzt dargestellten Erklä-
                rung des Planspiels gegeben werden.                    rungsansätze angeführt.
                                                                       1. innerukrainischer Konflikt („Bürgerkrieg“)
                Die Interpretation des Ukrainekonflikts in Wis-        zwischen ethnischen Ukrainer*innen bzw. eth-
                senschaft und Publizistik3                             nischen Russinnen und Russen über Zugehörig-
                                                                       keit, Autonomie, Separatismus etc.
               „Die Ukrainekrise markiert einen Epochenbruch           2. „amorphes“ politisches Narrativ der ukraini-
                in den internationalen Beziehungen. […] [Wir           schen Eliten basierend auf dem Grundgedanken,
                sind] Zeugen einer dramatischen Ent-Institutio-        der ethnischen, nationalen und sprachlichen

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                                                                                                Thematische Einführung

                     Identität der ukrainischen Bürger/innen ohne        Bereits die Wortwahl für dieses erste Interpre-
                     feste Orientierung auf „Westen“ oder „Osten“ tationsmuster fordert quasi zur Suche und An-
                     als Strategie wird mit Beginn des „Euromaidan“ wendung passender historischer Analogien auf.
                     aufgegeben.8                                        Gerade im Jahr 2014 wurden so häufig das Jahr
                     3. Konflikt der Einflusssphären und „Imperialis-    1914 und der damit einhundert Jahre zurück lie-
                     men“: Kämpfer sind „Agenten“ bzw. Proxys            gende Ausbruch des Ersten Weltkrieges bemüht.
                     Russlands und des Westens und tragen Kampf          Gerne aber auch die Appeasement-Politik der
                     um Vorherrschaft der „Blöcke“ aus; dabei ist die    1930er Jahre oder die Containment-Politik11 des
                     Ukraine ausschließlich Objekt und Schauplatz        Kalten Krieges. Analogien sind letztlich keine
                     des Handelns anderer, eine eigenständige Iden-      Naturgesetze und die Wahl einer Analogie er-
                     tität der Akteure gibt es nicht (optional als Vari- folgt häufig als Hilfskonstrukt für die eigene Ar-
                     ante von 1. interpretiert).                         gumentation – was uns die Geschichte lehrt, ist
                     4. Personalisierung des Konflikts: Putin als zen-   doch offensichtlich, oder? Herfried Münkler hat
                     tral handelnder Akteur: der Konflikt wird in Pu-    die Kraft, aber auch die Gefahr, welche die An-
                     tins „Hirnwendungen verlegt“9 (optional als Va-     wendung von Analogien mit sich bringt, wie folgt
                     riante von 3. interpretiert; Frage nach „Gegen-     beschrieben: „Die intensive Beschäftigung mit
                     spieler“ zu Putin).                                 früheren Ereignissen führt dazu, dass aktuelle
                     5. Institutionelle Entwicklung in der Ukraine:      Entwicklungen im Lichte des gerade vergegen-
                     Oligarchen und andere Interessengruppen ver-        wärtigten historischen Ereignisses betrachtet
                     hindern aus Eigeninteresse seit 1991 eine Stär-     werden. Dem Geschichtsbegeisterten erscheint
                     kung der staatlichen Kontrolle zentraler Politik-   die Gegenwart dann als bloße Wiederholung des
                     felder (z. B. Justiz). Eine autoritäre Verfestigung Vergangenen, während der Geschichtskundige
                     wurde so zwar verhindert, gleichzeitig entwi-       bei allen Ähnlichkeiten auch Unterschiede aus-
                     ckelte sich eine relativ starke Zivilgesellschaft   macht. […] Politische Vergewisserung durch his-
                     (vgl. „Orangene Revolution“ 2004) und das Par-      torische Analogie ist riskant, denn sie ist immer
                     lament behielt weitgehend seine Eigenständig-       auch mit einer Entscheidung über das Referenz-
                     keit, aber die schwache Institutionalisierung be-   ereignis verbunden.“12
                     sonders in der Ostukraine wirkt konfliktver-        Nicht alle Kommentator/innen arbeiten so be-
                     schärfend.                                          dacht mit Analogien: So sieht Roman Leick im
                     6. Externalisierte russische Krisenbewälti-         aktuellen Konflikt ein seit zwei Jahrhunderten
                     gungsstrategie zur Herstellung von Stabilität, andauerndes Ringen Europas mit Russland.
                     Integration und Identitätsstiftung nach innen „Nun gilt es, das geistige Erbe der Französischen
                     und Mobilisierung der Gesellschaft durch Kam-       Revolution zu verteidigen.“13
                     pagnen (oder Kriege) gegen äußere Feinde            Neben dem Stilmittel der historischen Analogie
                     (siehe unten).                                      erleben auch Ausflüge in die Theorien der Wis-
                                                                         senschaft der Internationalen Beziehungen eine
                                                                         Renaissance, besonders die realistische Denk-
                     Interpretationsmuster 1: Russland unter Putin       schule wird zur Beschreibung des „russischen
                     3.0 als expansionistische (Groß-) Macht             Weltbildes“ verwendet, gerne aber auch Politik-
                                                                         empfehlungen dieser auf Deutschland bzw.
                    „Im Ukraine-Konflikt denken und handeln die          Europa übertragen, bspw. die Forderung nach
                     Beteiligten aneinander vorbei: Aus westlicher       glaubwürdiger militärischer Abschreckung, sei
                     Sicht verletzen die russische Krim-Annexion         es in Form der Ausdehnung der NATO oder
                     und die militärische Unterstützung der Separa-      durch erhöhte Rüstungsetats.
                     tisten in der Ostukraine das Völkerrecht; nun       So schreibt Ulrich Speck über einen neuen Sys-
                     müsse Druck auf Russland ausgeübt werden, temwettbewerb und verschiedene Welten in
                     um es an weiteren Übergriffen gegen die Ukrai-      denen Russland und Deutschland leben: „im in-
                     ne oder andere Nachbarstaaten zu hindern. Aus       ternationalen System, wie es sich heute präsen-
                     russischer Sicht resultiert der Konflikt dagegen    tiert, stellen Deutschland und Russland den
                     aus der Expansion der NATO und der illegitimen      größtmöglichen Gegensatz dar. […] Russland
                     Absetzung des ukrainischen Präsidenten [Janu-       lebt in seiner Wahrnehmung internationaler Po-
                     kowitsch]; Russland schütze lediglich russische     litik auch weiterhin in einem System der gros-
                     Bürger auf der Krim und im Donbass.“10              sen Mächte, wie es Europa seit Jahrhunderten

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                Thematische Einführung

                geprägt hat. […] Russland […] sieht internatio-         und militärischer Kräfte in die Ukraine und an
                nale Beziehungen als Nullsummenspiel“,14                die russisch-ukrainische Grenze sowie später
                konnte (oder wollte?) sich aufgrund seiner              durch den Anschluss der Krim-Region an Russ-
                Größe und seines Machtanspruchs nicht nach              land hat Moskau in NATO-Lesart die gewalt-
                dem Ende des Kalten Krieges in ein übergeord-           same Annexion von Staatsgebiet als Mittel zur
                netes gesamteuropäisches Friedenssystem ein-            Machtpolitik in Europa reaktiviert.“18 Eine Kon-
                betten. „Als klassische Grossmacht strebt Russ-         frontation zugunsten eines Machtgleichgewichts
                land maximale Handlungsfreiheit für sich selbst         bringt gewisse Kosten mit sich: „Der Verzicht
                an und hat einen bloss instrumentellen Sinn für         auf Erweiterungsrunden der NATO zugunsten
                internationale Institutionen und Verträge. Was          eines Machtgleichgewichts bedeutet auch den
                zählt, ist Macht, und wer schwächer ist, muss           Verzicht auf eine Inklusion von Staaten in den
                sich dem Stärkeren fügen. Macht wiederum ist            verrechtlichten Raum, was einem Verzicht auf
                primär die Fähigkeit, den anderen zu zwingen zu         Stabilitätsexport gleichkommt.“19
                tun, was man will.“15 Deutschland hingegen hat          Eine neue „realistische Ostpolitik“ fordert Jens
                sich „in eine Ordnung, in der Souveränität be-          Siegert. Der Bezugspunkt ist klar, auch hier
                schränkt ist, erst zwangsläufig, später dann            wird eine Analogie in Form der Brandtschen
                freiwillig und bereitwillig [eingegliedert]. Die        Ostpolitik der 1970er Jahre bemüht. Kann und
                Einbettung in die NATO, in die EU und in ein            soll eine ähnlich geartete „Entspannungspolitik“
                weitgehend von den USA geprägtes internatio-            nun in Bezug auf Putins Russland angewendet
                nales System hat es Deutschland ermöglicht,             werden? Nein, meint der Autor und sieht durch-
                sich ganz auf Wirtschaft und Wohlstand zu kon-          aus einen gewissen Wert in härteren Sanktionen
                zentrieren, statt den Chimären nationaler               und vermehrten Rüstungsanstrengungen. Er
                Grösse nachzujagen“16 – und damit als „postmo-          begründet dies u.a. mit einer Überschätzung
                derner Handelsstaat“, der auf eine kooperative          des Nutzens der Ostpolitik, andere Faktoren
                internationale Ordnung angewiesen ist, so er-           hätten mehr zum Zerfall der Sowjetunion beige-
                folgreich zu sein wie noch nie. Angela Merkel           tragen, nicht zuletzt ein „sehr attraktives Werte-
                soll dies mit den Worten beschrieben habe, der          und […] vielleicht ein noch attraktiveres Waren-
                russische Präsident Putin lebe in einer anderen         angebot [des Westens].“20 Heute dürfe Entspan-
                Welt. Hier zeigt sich letztlich aber auch der Un-       nungspolitik aber nicht auf Kosten der eigenen
                willen oder die Unfähigkeit, ein anderes „Mind-         Werte, nicht „als Kapitulation vor Putin“21 be-
                set“ als das eigene zu akzeptieren, getragen            trieben werden. Die Ausrichtung der deutschen
                vom unbedingten Glaube an die Richtigkeit und           Außenpolitik auch in Form von (zivilgesell-
                Überlegenheit des eigenen.                              schaftlichen) Dialogformaten mit Russland wie
                Letztlich sind beide hier verwendeten Interpre-         dem Petersburger Dialog ist weiter im Fluss.
                tationsmuster und damit auch weite Teile der            Die deutsche Debatte der im Bundestag vertre-
                Literatur zum Thema von realistischen Einflüs-          tenen Parteien und der großen Medien unter-
                sen geprägt – Interpretationsmuster 1 aus Sicht         scheidet sich in der Regel in den meisten Punk-
                des Westens, Interpretationsmuster 2 aus Sicht          ten nur im Sprachgebrauch.22
                Russlands. Ein Konflikt ist letztlich überdeter-        Ideen für eine neue europäische Sicherheitsord-
                miniert, insbesondere mit Blick auf die Ukraine         nung – mit Russland? – sind nun gefragt und
                als großem Staat und einem der letzten, dessen          sollten diskutiert werden.23
                Ausrichtung noch ungeklärt war. Gemäß der
                Wahrnehmung, dass Russlands (zu befürchten-
                dem) Expansionismus zuvorgekommen werden                Interpretationsmuster 2: Russland unter
                müsse, ist die Ausweitung von NATO und EU po-           Druck: Ausdehnung von EU und NATO als
                litisch klug und naheliegend: „Eine engere Ver-         wahrgenommene Bedrohung
                bindung von EU und NATO mit der Ukraine er-
                scheint somit als logischer, stabilitäts- und           Die Beschäftigung mit deutschen bzw. in deut-
                damit sicherheitsfördernder Schritt.“17 Der Lauf        schen Medien erschienenen Kommentaren zur
                der Dinge beschleunigte jedoch eine nach der            Frage „Was treibt die russische Außenpolitik?“
                Logik dieser Denkschule wahrscheinliche kon-            ist spätestens mit der Eskalation der Ukraine-
                frontative Linie: „Durch die zunächst verdeckte         krise hin zum Krieg in der Ostukraine stets mit
                und später offene Entsendung paramilitärischer          der Frage verbunden, auf welcher Seite, die

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                     Autor*in steht, ob es sich um eine „Russlandkri-       gend auf der Grundlage realistischer Annahmen.
                     tiker*in“ oder eine „Russlandversteher*in“ han-        Durch diesen Filter beobachtet, büßt Moskau
                     delt. Besonders im letzteren Fall, der in diesem       seit 1990 sukzessive an Macht ein, während die
                     Kapitel noch abschließend behandelt werden             NATO ihren Machtbereich stetig erweitert. Die
                     soll, sind das Hinterfragen der Motivation und         russische Reaktion auf die heftige innerukraini-
                     die Befürchtung, dass man schlimmstenfalls             sche Konfrontation entlang der Trennlinie EU vs.
                     einem Produkt russischer Propaganda Glauben            Russland erscheint in diesem Licht als vorläufi-
                     schenkt, allgegenwärtig. Viel wurde beispiels-         ger Höhepunkt einer Gegenmachtpolitik.“27
                     weise darüber geschrieben, dass es eine, wenn          Nichtsdestotrotz ist es interessant anzumerken,
                     auch nicht schriftlich fixierte Zustimmung, zen-       dass es Variation im russischen Verhalten des
                     traler Akteure des „Westens“ vor der deutschen         Jahres 2014 gab, wie Steinmeier betont, er sehe
                     Wiedervereinigung gegeben habe, die eine Aus-          keinen „Masterplan“ und keine „lang angelegte
                     dehnung der NATO über die ehemalige sowjeti-           Strategie“: „In den unterschiedlichen Phasen
                     sche Westgrenze hinaus, ausschloss. Dies gilt          dieses zehnmonatigen Konflikts gab es mal
                     oft als Startpunkt einer Reihe von Frustrationen       mehr, mal weniger Unterstützung der Separati-
                     für die russische Seite, vielleicht auch als „Wort-    onsbewegung in der Ostukraine und auch mal
                     bruch“, wie es Reinhard Mutz formuliert.24 Er          mehr oder weniger militärische Einmischung.“28
                     betont: „Ohne eine Berücksichtigung der russi-         Hans-Henning Schröder erklärt diese russische
                     schen Erfahrungen speziell der letzten 25 Jahre        Außenpolitik in Bezug auf die Ukraine und in
                     wird eine Lösung der dramatischen Krise um             Bezug auf den Westen als „Wagenburgdenken“29,
                     die Ukraine nicht gelingen. Wohlgemerkt, das           indem die USA der zentrale Feind sind, die NATO
                     rechtfertigt keineswegs Putins Vorgehen auf der        deren Mittel zum Zweck und die europäischen
                     Krim“25 und man kann ergänzen „in der Ostu-            Staaten bereitwillige Gefolgsleute.30 Wie Putin in
                     kraine“ – Mutz Artikel erschien bereits Ende           einer zentralen außenpolitischen Rede im Okto-
                     März 2014. Was sind jedoch diese russischen            ber 2014 dargestellt hat, liegt der aktuellen rus-
                     Erfahrungen?                                           sischen Weltsicht und der eigenen Rolle im in-
                     Eine, wenn nicht gar die zentrale, enttäuschte         ternationalen System die Wahrnehmung einer
                     Erwartung war eben jene nicht bis an die russi-        sich wandelnden Welt zugrunde. Dieser Wandel
                     schen Grenzen voranschreiten sollende Ausdeh-          vollzieht sich konfliktiv und die USA versuchen
                     nung der NATO, die bereits 2004 mit dem Bei-           diesen zu behindern, da eine Neuordnung der
                     tritt der baltischen Staaten Realität wurde. Der       Welt auch ein Ende der unipolaren Epoche mit
                     damalige deutsche Außenminister Frank-Walter           der uneingeschränkten Vorherrschaft der USA
                     Steinmeier antwortete gefragt nach der von             bedeuten würde.
                     Putin geäußerten Bedrohungswahrnehmung in             „Die USA und ihre Verbündeten – Putin nannte
                     den im Lauf des Jahres 2014 geführten Gesprä-          sie »Satelliten« – versuchten, anderen Ländern
                     chen mit dem russischen Präsidenten im De-             ihre eigenen »Rezepte« aufzuzwingen – gewalt-
                     zember 2014: „Die russische Wahrnehmung ist,           sam, durch wirtschaftlichen und propagandisti-
                     dass das Land militärisch eingekreist wird. Und        schen Druck, Einmischung in innere Angelegen-
                     mehr noch, dass der gesamte Westen und vor             heiten, durch regime change mit oder ohne
                     allem die USA auf einen Regime-Change in               rechtliche Begründung. Der Präsident kriti-
                     Russland setzen.“26 Er ergänzte, dies sei nicht        sierte diese Politik und wies auf die negativen
                     die Politik des Westens, löse jedoch in Moskau         Folgen amerikanischen Engagements im Irak,
                     Ängste aus. Wie sieht diese wahrgenommene              in Afghanistan und in Syrien hin. Das einseitige
                     Bedrohung aus?                                         Diktat der USA, so Putin, beseitige die Konflikte
                     Offensichtlich ist hier auch die russische Welt-       nicht, es eskaliere sie vielmehr.“31 Dem zu-
                     sicht von Einflüssen der realistischen Denk-           grunde liegt ein multipolares Weltbild, indem
                     schule – landläufig häufig als „Machtpolitik“ be-     „regionale Zentren“ – also letztlich wichtige
                     zeichnet – stark beeinflusst. „Wenn die An-            Staaten und von ihnen mehr oder weniger direkt
                     nahme       einer   anarchisch       beschaffenen      gesteuerte Regionalorganisationen – „als Inte-
                     Staatenwelt zutrifft, ist die Abschreckungs- und       grationskerne für ihre jeweilige Nachbarschaft
                     Verteidigungsfunktion zielführend. […] Russland        dienten, im Dialog Ordnung, Wirtschaftsent-
                     interpretiert die NATO, und die internationalen        wicklung und Sicherheit“32 schaffen. Der Ukrai-
                     Beziehungen insgesamt, mindestens überwie-             nekonflikt ereignete sich gemäß dieser Denk-

                                                                                                                            9
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                Thematische Einführung

                weise infolge des Widerstands innerhalb eines           zent gaben an, die Berichterstattung sei „zu ein-
                Staates, der klar der Einflusszone Russlands            seitig aus der Perspektive der Ukraine“.39
                zuzurechnen ist und dem eine andere Region –            Oft greifen Personen, die diese hier dargestell-
                Europa und damit letztlich die USA – „Avancen“          ten Positionen teilen, auch zu Publikationen, die
                gemacht habe.                                           am linken oder rechten Rand stehen bzw. sich
                                                                        dieser Verortung widersetzen, indem sie sich
                Die Debatte über die Ausrichtung der deutschen          selbst einer „Querfront“ zuordnen oder dieser
                und damit auch EU-Politik gegenüber Russland            zugeordnet werden können oder gar zu solchen,
                wird dabei auch mit Hilfe öffentlicher Aufrufe          die eine starke Tendenz zur Verbreitung von
                und Gegenaufrufe geführt.                               (auch in russischen Medien präsenten) Ver-
                Einem Aufruf unter der Überschrift „Wieder              schwörungstheorien zeigen.40
                Krieg in Europa? Nicht in unserem Namen!“ auf           Solche Positionen werden also sehr wahr-
                Zeit Online33, der für einen vorurteilsfreien, auf      scheinlich auch unter den Teilnehmenden bei
                Ausgleich und Dialog bedachten Umgang mit               der Durchführung dieses Planspiels vertreten
                Russland plädierte, folgte wenige Tage später           sein und zu Konflikten führen, unter Umständen
                ein Gegenappell im Tagesspiegel, der betonte,           bereits in der Einführung bei der Durchführung
                dass „es […] in diesem Krieg einen eindeutigen          der Soziometrischen Übung. In unserer Erfah-
                Aggressor [gibt], und es gibt ein klar identifizier-    rung sollte eine besonnene, sachliche Herange-
                bares Opfer.“34 Darüber hinaus wurde den Un-            hensweise gewählt werden, die versucht, ver-
                terzeichnern des Aufrufs unterstellt, „geringe          einfachende Stereotypen und Schwarz-Weiß-
                Expertise zum postsowjetischen Raum, wenig              Sichtweisen generell zu hinterfragen und hier
                relevante Rechercheerfahrung und offenbar               besonders deutlich solchen Aussagen zu wider-
                keine Spezialkenntnisse zur Ukraine sowie den           sprechen, die aus dem Bereich des verschwö-
                jüngsten Ereignissen dort“35 zu haben. So               rungstheoretischen Gedankengutes stammen.
                scheint eine sukzessive Verschiebung der Mehr-          Eine stärkere medienpädagogische Herange-
                heitsmeinung hin zu diesem Pol, der eine klare          hensweise bleibt wünschenswert.
                russische Schuld in Form von bewusster Eska-
                lation sieht, festzustellen zu sein.36
                Neben den hier analysierten Erklärungsansät-            Europäische Union oder Eurasische Wirt-
                zen und Interpretationsmustern, wie sie die             schaftsunion?
                etablierten Medien in Deutschland dominieren,           Integrationskonkurrenz um die Ukraine als Ka-
                wurden in Medien, dich sich dezidiert und expli-        talysator des Konflikts – Versuch einer Kon-
                zit vom sogenannten „Mainstream“ abgrenzen,             fliktanalyse
                alternative und oft simplifizierte und monokau-
                sale Erklärungsansätze vorgetragen, die jedoch          Quo vadis Ukraine?
                bei einem nicht zu verachtenden Teil der deut-          Von den Debatten über das EU-Assoziierungs-
                schen Öffentlichkeit Gehör fanden und finden.37         abkommen oder den Beitritt zur EAWU zum
                So zeigte etwa eine im Auftrag der FAZ Anfang           neuen Maidan
                2015 durchgeführte repräsentative Befragung,
                dass immerhin 17 Prozent die Schuld „am Krieg           Aufgrund ihres wirtschaftlichen Potentials wird
                in der Ukraine“ bei den USA, 6 Prozent bei der          der Ukraine seit einigen Jahren große Bedeu-
                EU sehen38 und 20 Prozent zudem folgender               tung als potentielles Mitglied der Eurasischen
                Aussage zustimmten: „Der Krieg in der Ukraine           Wirtschaftsunion (EAWU, siehe unten) beige-
                ist erst eskaliert, als sich der Westen einge-          messen. Unter Staatspräsident Janukowitsch
                mischt hat.“                                            (25.02.2010 bis 22.02.2014) artikulierte die
                Eine weitere im April 2015 durchgeführte Erhe-          Ukraine Interesse an einer Mitgliedschaft und
                bung ergab bei der Frage, ob die Medienbericht-         erhielt 2013 Beobachterstatus. Auch die Euro-
                erstattung zur Ukraine ausgewogen sei, eine             päische Union verhandelte seit 2008 intensiv im
                Mehrheit von 58 Prozent, die diese als „nicht           Rahmen der „Östlichen Partnerschaft“ mit der
                ausgewogen“ bewertete. Personen, die dieser             Ukraine über ein Assoziierungsabkommen, eine
                Aussage zustimmten, waren zu 79 Prozent                 Vorstufe der Mitgliedschaft mit umfassendem
                zudem der Meinung, die Berichterstattung sei            EU-Regeltransfer in Bereichen wie Korruptions-
               „unvollständig und nicht umfassend“ und 44 Pro-          bekämpfung, Abwehr von illegaler Einwande-

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                     rung, Menschenrechtsschutz, Energieversor-         Ukraine, wie sie sich stark in den Ansichten und
                     gung und Verbraucherschutz sowie einem             Aussagen der Bevölkerung widerspiegelt, zu-
                     grundlegenden Freihandelsabkommen.41               grunde. So sprachen sich in der Ostukraine in
                     Ab Sommer 2013 erhöhte sich der Druck auf die      einer repräsentativen Umfrage vom April 2014
                     Ukraine, die außen- und wirtschaftspolitische      etwa zwei Drittel der Menschen für einen Bei-
                     Richtung zu bestimmen. Auf dem Gipfeltreffen       tritt zur EAWU aus, für einen Beitritt zur EU
                     der „Östlichen Partnerschaft“ am 28./29. No-       waren etwa 10 Prozent. Ein stärkerer föderaler
                     vember 2013 in Litauen stand die Unterzeich-       Staatsaufbau und eine wichtigere Rolle der rus-
                     nung des Assoziierungs- und Freihandelsab-         sischen Sprache erreichten ebenfalls hohe Zu-
                     kommens mit der EU an.                             stimmungswerte, wohingegen ein Beitritt zum
                     Mitte November 2013 endeten alle Vorbereitun-      russischen Staatsgebiet zu diesem Zeitpunkt
                     gen für die Unterzeichnung des Abkommens mit       von etwa 20 Prozent befürwortet wurde. In der
                     der EU allerdings vorerst. Präsident Januko-       West- und Zentralukraine finden sich hier in vie-
                     witsch erklärte, es gebe auf dem Weg zur Euro-     len Punkten eher konträre Ansichten, im Süden
                     päischen Integration „vorübergehende Schwie-       halten sich die Lager die Waage.43
                     rigkeiten“ und „wichtige ökonomische Erforder-     Zu warnen sei hier jedoch vor simplifizierenden
                     nisse“ hätten diesen Schritt notwendig gemacht,    dichotomen Gegenüberstellungen eines sprach-
                     die Ukraine werde ihren eingeschlagenen Weg        lich oder ethnisch herbei geleiteten „östlichen“
                     aber nicht ändern.                                 russischen und „westlichen“ ukrainischen Lan-
                     Offenkundig hatten sowohl die EU als auch          desteils, „auch wenn eine schlechte Kartogra-
                     Russland starken Druck ausgeübt, politische        phie in unserer Publizistik das immer wieder
                     und wirtschaftliche Erleichterungen bzw. Sank-     suggeriert.“44
                     tionen, je nachdem in welche Richtung die Ent-     Führte man diese Logik fort und setzte sie in die
                     scheidung der Ukraine ausfällt, angekündigt.42     Realität um, würde das „ethnische Säuberungen“
                     So drohte Russland als Haupthandelspartner         vor dem Hintergrund einer viel komplexeren
                     der Ukraine im Fall einer engeren Bindung an       Realität bedeuten. „Eine Teilung nach Sprachzu-
                     die EU mit wirtschaftlichen Nachteilen, darunter   gehörigkeit würde nämlich die totale Zerstücke-
                    „Schutzzölle“ und die Lieferung von Erdgas nur      lung des Landes, die Teilung von Städten, Stra-
                     noch gegen Vorkasse und zu höheren Preisen.        ßenzügen, Wohnungen und Familien erfor-
                     EU-Kommissionspräsident Barroso schloss aus,       dern.“45
                     dass die Ukraine in beiden Freihandelszonen
                     gleichzeitig Mitglied werden könnte und drängte     Wir haben es also mit einem Fall von Instru-
                     zu einer Entscheidung zu Gunsten der EU.            mentalisierung und Mobilisierung entlang eth-
                                                                         nischer, sprachlicher und anderer Linien zu tun,
                     Von Seiten Russlands kann mithilfe des Kon-         die von den Eliten auf ukrainischer wie auch
                     zepts von „Neurussland“, das spätestens ab         „pro-russischer“ und russischer Seite betrieben
                     2014 vermehrt von der russischen Regierung          wird, wobei auf eine durchaus vorhandene poli-
                     aber besonders von den Separatist*innen und         tische Polarisierung aufgebaut wird: „Die Er-
                     EU-Gegner*innen in der Ostukraine vorgebracht       gebnisse aller Wahlen seit 1991 bestätigten die
                     wurde, eine neue Phase des größer angelegten        politische Polarisierung zwischen der Ost- und
                     russischen Vorhabens, das für die Ukraine einen     Südukraine auf der einen und der Westukraine
                    „blockfreien“ Status vorsieht, feststellen. Dies     auf der anderen Seite; die Zentralukraine stand
                     würde den Verzicht auf die Pläne zur europäi-       dabei in der Mitte, neigte aber zusehends dem
                     schen Integration, die weitgehende Autonomie        Westen zu. Die Mehrheit der Bevölkerung im
                     ihrer Regionen – also einen stark föderalen         Osten und Süden blieb auf Russland orientiert
                     Charakter des Staates – und einen mehr oder         und der russischen Sprache und Kultur verbun-
                     weniger permanenten wirtschaftlichen und po-        den, während man dem Westen und vor allem
                     litischen Krisenstatus, der für Moskau ein In-      der NATO Misstrauen entgegenbrachte. Die Be-
                     strument zur Einflussnahme auf Kiew wäre, be-       wohner der westlichen und teilweise auch der
                     deuten.                                             zentralen Regionen waren dagegen mehrheit-
                                                                         lich auf den Westen ausgerichtet.“ […] Die skiz-
                     Dem Konflikt liegt auch eine in vielen Bereichen    zierten Regionen waren jedoch keineswegs ge-
                     zu beobachtende Spaltung innerhalb der              schlossen, sondern es gab zahlreiche Über-

                                                                                                                     11
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                Thematische Einführung

                gangszonen und Vermischungen. Mit einer                 Machtwechsel: Präsident Janukowitsch er-
                simplen Ost-West-Polarisierung […] macht man            klärte sich schließlich zu Neuwahlen und der
                es sich zu leicht. In den Wahlen seit 2004 ver-         Bildung einer Regierung der nationalen Einheit
                wischten sich die Grenzen etwas, und […] um die         bereit. Dennoch enthob das Parlament Januko-
                Hauptstadt Kiev [bildete] sich eine Großregion          witsch seines Amtes und stellte eine Über-
                heraus, in der beide politische Lager Unterstüt-        gangsregierung auf. Janukowitsch und einige
                zung fanden.“46                                         Regierungsmitglieder tauchten am 22. Februar
                Janukowitschs Schwanken zwischen EU und                 2014 unter und setzten sich nach Russland ab.
                EAWU, wo er letztlich durch das Assoziierungs-          Das Parlament schrieb für den 25. Mai 2014
                abkommen mit der EU einer außenpolitischen              Präsidentschaftswahlen aus. Am 26. Februar
                Richtungsentscheidung gezwungen war und ein             2014 bildete der zum neuen Ministerpräsidenten
               „Rückzug auf das bislang faktisch dominante              gewählte Arsenji Jazenjuk eine westlich orien-
               ‚amorphe Narrativ‘“47 nicht länger möglich war,          tierte Übergangsregierung.
                trug schließlich mit zu den Ereignissen auf dem
                Maidan und in letzter Konsequenz Januko-                Abspaltung der Krim: Nachdem bewaffnete
                witschs Sturz bzw. Abtreten bei. Diesem folgte          Kräfte ohne Hoheitszeichen am 28. Februar
                die forcierte Annäherung der neuen (Über-               2014 öffentliche Einrichtungen und strategisch
                gangs-) Regierung an die EU und schließlich             wichtige Punkte besetzt hatten, wurden auch
                das Assoziierungsabkommen, das zeitgleich von           Militäreinrichtungen der Ukraine umstellt und
                den Parlamenten der EU und der Ukraine am 16.           deren Besatzungen zur Räumung aufgefordert.
                September 2014 ratifiziert wurde. Poroschenko           Die Ukraine kam dem nach, militärische Ausei-
                sprach von einem entscheidenden Schritt: „Wer           nandersetzungen wurden dadurch verhindert.
                will uns jetzt die EU-Beitrittsperspektive noch         Das Regionalparlament der Krim sprach sich
                streitig machen?“ Ein Antrag auf Vollmitglied-          für ein Referendum aus, zunächst über den po-
                schaft soll 2020 erfolgen.48 Wie kam es jedoch          litischen Status der Krim, dann über den An-
                zu diesen Entwicklungen?                                schluss an Russland. Die Volksabstimmung vom
                                                                        16. März 2014, deren Verurteilung durch den
                Die Schlüsselphase 2013/14 -                            UN-Sicherheitsrat Russland nur mit einem Veto
                Vom „Maidan“ zur Abspaltung der Krim und                verhindern konnte, ergab bei einer Beteiligung
                dem Krieg im Osten                                      von 83 Prozent eine Zustimmung von etwa 97
                                                                        Prozent für die Gründung eines unabhängigen
                Die Absage an das Assoziierungsabkommen                 Staates und die Eingliederung in die Russische
                war Anlass für dreimonatige Massenproteste ab           Föderation. Das Ergebnis wurde von den USA,
                dem 21. November 2013. Deren Zentrum war                der EU, weiteren westlichen Staaten und der
                der Maidan, der Kiewer Unabhängigkeitsplatz,            ukrainischen Regierung nicht anerkannt und für
                welcher der Protestbewegung auch ihren                  ungesetzlich erklärt. Im Laufe des Jahres 2014
                Namen gab. Dort entstand ein Protestcamp als            wurde von russischer Seite bestätigt, dass es
                Plattform der Zivilgesellschaft gegen staatliche        sich bei den bewaffneten Kräften, die im Feb-
                Willkür und für Bürgerrechte. Zum Vertretungs-          ruar auf der Krim in Erscheinung traten, um re-
                organ der Protestbewegung wurde ab dem 22.              guläres russisches Militär gehandelt hatte.
                Dezember 2013 der „Maidan-Rat“. Bestimmte
                anfangs friedlicher Protest das Bild, gewannen   Separatistische Bewegungen in der Ostu-
                ab Januar 2014 militante Gruppen, auch aus       kraine: Ab dem 01. März 2014 besetzten prorus-
                dem rechten Sektor an Einfluss. Die Sicher-      sische Kräfte zeitweise Lokal- und Gebietsver-
                heitskräfte reagierten ihrerseits teils mit mas- waltungen sowie staatliche Gebäude im Osten
                siven Einsätzen. Eine „Antiterroroperation“ und Süden der Ukraine (u. a. in Charkiw, Donezk,
                führte vom 18.-20. Februar 2014 zu Straßen-      Lugansk und Odessa). Nach erneuten Demons-
                schlachten in Kiew. Scharfschützen sowohl der    trationen und Ausschreitungen setzten sich pro-
                ukrainischen Sicherheitskräfte als auch von      russische Separatisten ab dem 05. April 2014 in
                dem „Maidan“ nahestehenden Gruppierungen         den Gebieten Lugansk und Donezk mit der Mon-
                schossen in die Menge. Insgesamt wurden nach     tan- und Schwerindustrie des Donbass fest.
                UN-Angaben 121 Menschen getötet und 1100 „Antiterroreinsätze“ der ukrainischen Armee und
                verletzt.49                                      von Kampfverbänden des Innenministeriums

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                     versuchten ab dem 15. April 2014 mit Hilfe ver-     sicherung. Mit Hilfe diverser Versatzstücke der
                     schiedener Milizen („Freiwilligenbattaillone“)      russischen und sowjetischen Geschichte, die
                     die Separatisten zurückzudrängen. Formal            eklektisch zusammengesetzt werden, gelingt es
                     wurde von Seiten der Ukraine bislang nicht der      einen „Nationalismus von oben“ zu entfachen.53
                     Kriegszustand ausgerufen. In den von ihnen
                     kontrollierten „Volksrepubliken“ führten die Auf-   An die Stelle der Simulation und Imitation de-
                     ständischen am 11. Mai 2014 Referenden über         mokratischer Verfahren soll nun die Zustim-
                     eine „staatliche Eigenständigkeit“ durch. Die       mung der Bevölkerung zu Putin als „Heerführer“
                     ukrainische Regierung und das westliche Aus-        treten. Dies geht einher mit der Inszenierung
                     land werteten die Abstimmungen (ohne regu-          Russlands als „belagerter Festung“. Fjodor
                     läre Wählerlisten) und ihre Ergebnisse (96 Pro-     Lukjanow spricht in diesem Zusammenhang von
                     zent Zustimmung in Lugansk bzw. 90 Prozent in       einer „Imitation des Kalten Krieges“, die „veran-
                     Donezk) als illegitim, Russland sah dagegen         staltet wird“, um innenpolitische und gesell-
                     darin den Volkswillen ausgedrückt. Im Mai und       schaftliche Probleme und Spaltungen zu „über-
                     Juni 2014 eskalierte der Konflikt zunehmend.        tünchen“.54
                     Nach UN-Angaben wurden vom 15. April bis
                     zum 20. Juni 2014 insgesamt 439 Personen ge-        Auch auf ukrainischer Seite, werden Bilder und
                     tötet.                                              Vergleiche aus unterschiedlichen Epochen be-
                                                                         liebig eingesetzt; zentral ist dabei: Kämpfe im
                     Anhaltende Freund-Feind-Denkweisen er-              Donbass werden als „entscheidende Schlacht in
                     schweren Lösung: Die nicht komplementäre            einem jahrhundertelangen Befreiungskampf ge-
                     Fremd- und Selbstwahrnehmung der Konflikt-          gen den russischen Kolonialismus und gegen
                     parteien erschwert eine Konfliktbeilegung. Eine     Großmachtsansprüche Moskaus dargestellt und
                     Nullsummenlogik überwiegt – auf Seiten der          verstanden“.55
                     ukrainischen Regierung, bei Vertreter*innen der     Im Verlauf der Kämpfe konnte schließlich fest-
                    „Volksrepubliken“ wie auch auf russischer Seite.     gestellt werden: Der Krieg in der Ostukraine ist
                                                                         eben kein interner Konflikt. Ohne Moskaus Ein-
                     Hinter diesen Perzeptionen steht auch die seit      greifen gäbe es diesen Krieg in der Form seit
                     Jahren stattfindende „geschichtspolitische Mo-      2014 nicht. Bestehende Konfliktlinien wurden
                     bilisierung gegeneinander: Der Westen hegt          durch den Einsatz paramilitärischer Kräfte es-
                     seine Verwurzelung im ukrainischen Nationalis-      kaliert und führten letztlich in einen de facto zu-
                     mus der Zwischenkriegszeit, der Osten ist offen     mindest zeitweise zwischenstaatlichen Krieg
                     für die nationalistische Mobilisierung seitens      unter Beteiligung regulärer russischer Trup-
                     des russischen Staates, in welcher das Erbe des     pen.56
                    »Großen Vaterländischen Krieges«, der Sieg über
                     das nationalsozialistische Deutschland und die      Ungeachtet der schwierigen wirtschaftlichen
                     russische Identität und Kultur im Zentrum ste-      und politischen Situation rund um die Ukraine
                     hen.“51                                             haben Belarus, Kasachstan und Russland 2014
                                                                         ihre Zusammenarbeit in Richtung vertiefter In-
                     Auf russischer wie auch auf ukrainischer Seite      tegration fortgesetzt. Am 29. Mai 2014 wurde
                     dienen Geschichtsbilder v. a. „als normativ auf-    der Vertrag über die Eurasische Wirtschafts-
                     geladene kulturelle Ressource […], um politi-       union (EAWU) unterzeichnet. Im Oktober 2014
                     sches und militärisches Handeln zu legitimieren     trat Armenien bei. Zuvor hatte Russland Druck
                     [und damit] einen Mangel an demokratischer          gemacht. Armenien ist von russischem Erdgas
                     Legitimation [zu überdecken]“.52                    abhängig. Genau wie die Ukraine hatte Arme-
                                                                         nien über ein Assoziierungsabkommen mit der
                     So kann die russische Rolle in der Ukraine auch     EU verhandelt. Kirgistan erklärte ebenfalls sei-
                     durch dezidiert innenpolitische Motive erklärt      nen Beitritt und setzt mittlerweile die Mitglied-
                     werden. Krisenbewältigungsstrategien zur Her-       schaft um. Kirgistan hatte wirtschaftliche Einbu-
                     stellung von Stabilität, Integration und Identi-    ßen zu beklagen, seit Nachbar Kasachstan zur
                     tätsstiftung nach innen und Mobilisierung der       Zollunion gehört und die Zölle für Nichtmitglie-
                     Gesellschaft durch Kampagnen (oder Kriege)          der erhöhte. Der Vertrag und seine Begleitdoku-
                     gegen äußere Feinde dient letztlich der Macht-      mente legen das weitere Entwicklungspro-

                                                                                                                         13
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                Thematische Einführung

                gramm für die kommenden 10 Jahre fest. Nach             Kräften hohe Verluste an Personen und Material
                der Ratifikation durch die fünf Mitgliedstaaten         zufügten.
                trat der Vertrag über die EAWU zum 01. Januar           Zur möglichen Entschärfung des Konflikts
                2015 in Kraft. Als wichtigste Ziele der Zusam-          schlug Putin Anfang September 2014 einen Sie-
                menarbeit sind die Schaffung eines koordinier-          ben-Punkte-Plan vor: Die prorussischen Kämp-
                ten Verkehrs-, Energie-und Finanzsystems der            fer stellen ihre „aktiven Angriffsoperationen“ ein,
                Union festgelegt worden. Zudem wollen die               die ukrainische Armee verlässt die Kampfzone,
                Staaten Teile ihrer Wirtschaftspolitik für die          internationale Beobachter kontrollieren den
                etwa 170 Millionen Bürger/innen der beteiligten         Abzug, humanitäre Korridore werden eingerich-
                Staaten abstimmen. Es handelt sich an erster            tet und Gefangene ausgetauscht, Luftangriffe
                Stelle um eine wirtschaftliche Union, die natür-        auf die Zivilbevölkerung verboten und die Infra-
                lich zu politischen, vielleicht auch geopoliti-         struktur wieder aufgebaut.
                schen Zwecken instrumentalisiert werden                 In Minsk (Weißrussland) tagte daraufhin am 05.
                kann.57                                                 September 2014 die Ukraine-Kontaktgruppe
                                                                        und kündigte eine sofortige Waffenruhe an,
                                                                        überwacht von OSZE-Beobachtern. Diese Ver-
                Lösungsversuche                                         einbarung60 wurde sowohl von der Ukraine und
                                                                        Russland als auch von den Vertretern der Se-
                Der Ständige Rat der OSZE beschloss am                  paratisten der „Volksrepubliken“ anerkannt
                21.03.2014 auf einer Sondersitzung in Wien auch         und von der OSZE unterstützt.
                mit der Stimme Russlands die Entsendung                 Am 16.09.2014 verabschiedete das Parlament in
                einer Sonderbeobachtermission in die Ukraine.           Kiew in geschlossener Sitzung mit der knappen
                Die Beobachtermission soll unparteiisch Infor-          Mehrheit von 277 der 450 Stimmen mehrere Ge-
                mationen über die Sicherheitslage und den               setze. Dem Russischen wird in der Ostukraine
                Schutz von Minderheiten in der Ukraine sam-             ein Sonderstatus eingeräumt, die Gebiete
                meln. Die Zahl von anfangs rund 100 Experten            (Oblasts) rund um die Städte Donezk und Lu-
                kann laut aktuellem Mandat, das bisher mehr-            gansk erhalten das Recht, mit den angrenzen-
                fach um jeweils ein Jahr und aktuell bis März           den russischen Verwaltungsbezirken zu koope-
                2019 verlängert wurde, auf mehr als 1000 Ex-            rieren.
                perten erhöht werden. Die Einsatzgebiete um-            Die Separatisten betonten trotzdem, man halte
                fassen Regionen im ganzen Land, aber nicht die          am Ziel der Abspaltung fest. Die örtlichen Mili-
                Halbinsel Krim.58 Dies machte Russland zur Be-          zen würden zu einer „Vereinigten Armee Neu-
                dingung für seine Zustimmung. Jede Verände-             russlands“ zusammengeführt.
                rung des Mandats bedarf erneut der Zustim-              Bei einem weiteren Treffen der Minsker Kon-
                mung aller 57 OSZE-Teilnehmerstaaten.59                 taktgruppe einigte man sich am 20. September
                Nach den Präsidentschaftswahlen initiierte die          2014 auf die Einrichtung einer (teilweise) demi-
                OSZE einen „runden Tisch“. Moskau forderte              litarisierten Zone im Osten der Ukraine. Die
                eine Beteiligung der Aufständischen, Kiew               Vereinbarung sieht vor, schwere Artillerie je-
                lehnte dies anfänglich ab. Weitere Friedensini-         weils 15 Kilometer von der Frontlinie zurückzu-
                tiativen – ein in Genf zwischen der Ukraine, der        ziehen. Diese soll unter Aufsicht der OSZE ste-
                EU, Russland und den USA vereinbarter Frie-             hen, die mehrere Hundert Beobachter entsen-
                densplan im April 2014 und ein 14-Punkte-Plan           det, um unparteiisch Informationen zu sammeln
                des neuen ukrainischen Staatspräsidenten Po-            und die Vertrauensbildung zu fördern. Zudem
                roschenko im Juni 2014 – fanden keine Zustim-           überwacht die OSZE Grenzposten im russischen
                mung, auch weil die Separatisten nicht an den           Gukowo und Donezk an der Grenze zur Ostu-
                Verhandlungen teilnahmen. Ab Juli 2014 kam es           kraine. Die Konfliktparteien vereinbarten zudem,
                verstärkt zu schweren Kämpfen, in deren Ver-            in besiedelten Gebieten keine schweren Waffen
                lauf ukrainische Truppen Separatistengebiete            einzusetzen und die Sicherheitszone nicht mit
                zunächst zurückeroberten, bevor ab Mitte Au-            Flugzeugen oder Drohnen zu überfliegen. Das
                gust 2014 die Kämpfer*innen der „Volksrepubli-          ist nur Beobachtungsdrohnen der OSZE erlaubt.
                ken“ unterstützt auch durch russische Waffen-           Weder EU noch NATO scheinen eine stärkere
                lieferungen und Spezialkräfte ihrerseits Gelän-         Rolle im Ukrainekrieg spielen zu wollen –
                degewinne erzielten und den ukrainischen                weder diplomatisch noch militärisch. Seit der

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                     Abspaltung der Krim haben die EU-Staaten und       späteren Zeitpunkt, nach ukrainischem Recht,
                     die USA Sanktionen sowohl gegen Politi-            mit einem breiteren Parteienspektrum) zum da-
                     ker/innen aus Russland und den „Volksrepubli-      maligen Zeitpunkt nicht durchführbar waren.
                     ken“ als auch gegen russische Unternehmen          In der übrigen Ukraine hatten am 26. Oktober
                     verhängt. Die Bandbreite der Sanktionen reicht     Parlamentswahlen stattgefunden, die wie-
                     von Kontensperrungen und Einreiseverboten bis      derum von den Separatisten im Donbass nicht
                     zu Einschränkungen des Zugangs zum europäi-        anerkannt worden waren. Auch die Präsident-
                     schen Finanzmarkt für russische Firmen. Eine       schaftswahl vom Mai 2014, aus der Staatschef
                     Verlegung von Truppen in die Ukraine oder gar      Petro Poroschenko als Sieger hervorging, er-
                     die NATO-Erweiterung sind jedoch nicht kon-        kennen diese weiter nicht an.
                     sensfähig, wie der NATO-Gipfel in Wales 2014       Gleichzeitig gingen die militärischen Zusam-
                     gezeigt hat. Am 15. September 2014 fand in der     menstöße mit scheinbar unverminderter Härte
                     Westukraine jedoch ein mehrtägiges NATO-Ma-        weiter. Schätzungen zufolge kamen allein in den
                     növer („Rapid Trident“) mit 1300 Soldaten aus 15   letzten zehn Oktobertagen 2014 mehr als 300
                     Mitgliedstaaten statt. Kritik kam aus Moskau,      Menschen ums Leben – trotz einer seit Anfang
                     angesichts des blutigen Konflikts in der Ostu-     September geltenden Feuerpause in der Kri-
                     kraine seien Manöver eine reine Provokation. Zu    senregion. Der ukrainische Präsident Poro-
                     den Gipfel-Beschlüssen gehört die Schaffung        schenko räumte Ende September 2014 ein, dass
                     einer Eingreiftruppe von bis zu 5000 Soldaten,     die Armee etwa zwei Drittel ihres Materials und
                     die im Bedarfsfall innerhalb weniger Tage zum      eine hohe Anzahl an Soldaten verloren habe.
                     Einsatz kommen kann. Die Präsenz in den ost-       Der Krieg sei militärisch nicht mehr zu gewin-
                     europäischen Mitgliedstaaten soll erhöht wer-      nen.
                     den, so werden an den Außengrenzen zu Russ-
                     land bis zu fünf regionale Kommandozentren         Einem Ende Oktober 2014 veröffentlichten UN-
                     errichtet.61                                       Bericht zufolge starben bei dem Konflikt seit
                                                                        April 2014 mehr als 4.000 Menschen. Darin sind
                                                                        auch jene 298 Menschen inbegriffen, die im Juli
                     Herbst/Winter 2014/2015: Wahlen in der             beim Absturz des Fluges MH17 über der Ostu-
                     Ukraine und in den „Volksrepubliken“ im Licht      kraine starben. Allein seit Verkündung der Waf-
                     anhaltender Kämpfe und der Verschlechterung        fenruhe Anfang September 2014 wurden mehr
                     der humanitären Lage                               als tausend Menschen bei Kämpfen getötet.

                     Am 2. November 2014 führten die „Volksrepubli-     Nach UN-Angaben wurden durch den Konflikt
                     ken“ ihre eigenen Republikchef- und Parla-         bis zu diesem Zeitpunkt 930.000 Menschen aus
                     mentswahlen durch. Erwartungsgemäß wurden          ihren Wohnorten in den Regionen Donezk und
                     die Rebellenführer Igor Plotnizki (Lugansk) und    Lugansk vertrieben. Fast 490.000 Flüchtlinge
                     Alexander Sachartschenko (Donezk) zu Siegern       suchten demnach Schutz im Ausland, die meis-
                     erklärt. Zur Wahl standen nur prorussische „Ge-    ten davon im benachbarten Russland.
                     genkandidaten“. Der OSZE-Vorsitzende und           In der Ostukraine kam es seit Beginn des Win-
                     Schweizer Präsident Didier Burkhalter machte       ters 2014/2015 immer stärker zu Versorgungs-
                     deutlich, die Abstimmungen widersprächen den       engpässen. Renten und Gehälter wurden von
                     Vereinbarungen von Minsk. Demnach sollten die      der ukrainischen Regierung nicht mehr ausge-
                     Wahlen im Osten der Ukraine ukrainischen Ge-       zahlt, Lebensmittel und andere Güter des tägli-
                     setzen entsprechen, was bei den Abstimmungen       chen Bedarfs erreichten nur noch von russi-
                     aber nicht der Fall war. Das räumte sogar der      scher Seite die „Volksrepubliken“. Im Dezember
                     Vertreter Russlands bei der EU, Wladimir Tschi-    2014 kündigte Russland offiziell an, die Unter-
                     schow, ein. Letztlich waren die Separatisten       stützung und den Wiederaufbau auf höchster
                     aber auch aus den nicht fairen Wahlen in Lu-       Regierungsebene anzugehen – gleichzeitig ge-
                     gansk und Donezk gestärkt hervorgegangen.          riet der Rubel ins Trudeln. Auch die Wirtschaft
                     Diese faktische Ermächtigung durch die Wäh-        der Ukraine litt unter dem militärischen Konflikt.
                     ler/innen sollten die anderen Parteien anerken-    Im Jahr 2014 schrumpfte die Wirtschaft um 7,5
                     nen, da Wahlen nach den in Minsk Anfang Sep-       Prozent, die Inflationsrate lag bei 21 Prozent.
                     tember 2014 vereinbarten Kriterien (zu einem       Nichtsdestotrotz wurden für das Jahr 2015 In-

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