PLANSPIELE - Ukraine Zwischen Europäischer Union und Eurasischer Wirtschaftsunion - Landeszentrale für politische Bildung Baden ...
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16_Ukraine_170419_RZ.qxp_Satzspiegelkonzept_2 17.04.19 14:17 Seite 3 Planspiel Ukraine. Zwischen Europäischer Union und Eurasischer Wirtschaftsunion Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg 1
17_Ukraine_050719_RZ.qxp_Satzspiegelkonzept_2 05.07.19 09:45 Seite 4 Vorwort Das Planspiel „Ukraine. Zwischen Europäischer Ziel dieses Planspiels ist es, durch die „Prozess- Union und Eurasischer Wirtschaftsunion“ stellt simulation“ einer internationalen Krisenbear- einen weiteren Mosaikstein in der Planspiel- beitung Kompetenzen zu erwerben und auszu- Reihe der Landeszentrale für politische Bildung bauen. Diese sind: Baden-Württemberg dar. Nach mehrfachem Spieleinsatz und permanenter Aktualisierung • Grundlagen in einem Konfliktfeld erwerben, liegt es nun in gedruckter Form vor. • die Simulation politischer Abläufe, um diese Die Ukraine im Herbst 2018: Seit mehr als vier nachzuvollziehen und dadurch transparenter zu Jahren herrscht im Osten des Landes, in Teilen machen, des Donbass, Krieg. Seit Februar 2015 soll ba- • dabei insbesondere Problemlösungsstrategien sierend auf dem „Minsker Protokoll“ und dem und Ansätze der Konfliktbearbeitung kennenzu- dort angestoßenen Prozess Frieden herrschen. lernen und anzuwenden. Bei einem Besuch in Kiew nennt Bundeskanzle- Das vorliegende Heft umfasst neben den Ein- rin Angela Merkel es ernüchternd, dass in der führungen zur Methode und zum Inhalt die zen- Ostukraine noch immer kein stabiler Waffen- tralen Materialien und Empfehlungen zur eigen- stillstand herrscht. Noch immer sterben Solda- ständigen Durchführung des Planspiels. ten und Zivilisten, insgesamt sind es mittler- weile mehr als 10000. Täglich beobachtet die Wir danken den Autoren und allen Partnern OSZE im Durchschnitt 1000 Verstöße gegen die sowie den Institutionen, in deren Einrichtungen Waffenruhe. Aber, so Merkel: „Wir haben nichts und mit deren Unterstützung das Planspiel bis- anderes als den Minsker Prozess.“ her durchgeführt wurde. Ebenso allen Teilneh- menden, die mit ihren Erfahrungen und Kom- In Deutschland ist der Krieg nahezu in Verges- mentaren zur ständigen Verbesserung des nun senheit geraten, wenn nicht gerade ein Staats- fertigen Produkts beigetragen haben. Für wert- besuch stattfindet oder sich wichtige Ereignisse volle inhaltliche Kommentare danken wir zudem jähren. Gertrud Gandenberger und Linda Böhm-Czu- czkowski. Der weiterhin aktive militärische Konflikt ent- lang der Kontaktlinie ist ebenso Ausdruck einer Mai 2019 Thomas Schinkel größeren Konfliktdynamik: Die Ukraine grenzt im Nordosten und Osten an Russland, im Nor- den an Belarus, im Westen an Polen, die Slowa- kei und Ungarn, im Südwesten an Rumänien und die Republik Moldau. Es geht also um die Integrationskonkurrenz zwischen dem von Russland dominierten postsowjetischen Raum und der Europäischen Union, der mittlerweile die überwiegende Anzahl der Staaten in Mittel- und Osteuropa angehören. 2
16_Ukraine_170419_RZ.qxp_Satzspiegelkonzept_2 17.04.19 14:17 Seite 5 Inhalt 2 | Vorwort 4 | Das Planspiel – Simulation eines politischen Entscheidungsprozesses 6 | Thematische Einführung 24 | Didaktische und methodische Hinweise 30 | Materialien 30 | M1 / Ablaufplan 31 | M2 / Wege aus der Krise 34 | M3 / In Propagandagewittern 40 | M4 / Soziometrische Übung „Ukraine“ 41 | M5 / OSZE – das Comeback 44 | M6 / Ausgangslage 49 | M7 / Rollenkarten 59 | M8 / Arbeitsanweisungen 60 | M9 / Karte Frontverlauf 61 | M10 / Minsker Abkommen und Memoranden 64 | M11 / Thesen zur Konflikteinhegung 65 | M12 / Vorlage Abschlusserklärung 66 | M13 / Lösungsvorschläge 67 | M14 / Zusatzmaterialien 79 | Auswertung 80 | Glossar 83 | Informationsquellen und Literatur 84 | Impressum 3
16_Ukraine_170419_RZ.qxp_Satzspiegelkonzept_2 17.04.19 14:17 Seite 6 Das Planspiel – Simulation eines politischen Entscheidungsprozesses Methodische Vorüberlegungen So lassen sich auf mindestens drei Ebenen Kenntnisse, Einsichten und Fähigkeiten erwer- Planspiele sind in ihrem Grundmuster Rollen- ben, entwickeln und erproben: spiele, die eine hohe Komplexität, klare Interes- sengegensätze und einen hohen Entscheidungs- Auf der Ebene des Politischen druck aufweisen.1 – Einsichten in die Komplexität von Politik und Nach Massing2 müssen Planspiele als Simulati- in das Problem, dass sich Politik häufig in onsspiele bestimmte Anforderungen erfüllen, Dilemmasituationen befindet, in denen es „die“ um politisches Lernen am Modell zu ermögli- Lösung nicht gibt. chen: Die Einsicht, – dass Interaktionsräume und Rollenverteilun- 1. Repräsentation (Darstellung): „Planspiele gen gesellschaftlich bedingt sind; und Simulationen sind fiktionale Modelle, die – – in welchem Maß Interessenwahrnehmung obwohl „erfunden“ aufgrund prinzipieller und und -durchsetzung unter bestimmten politi- struktureller Ähnlichkeiten im Kern mit der rea- schen Verhältnissen möglich sind; len Erfahrungswelt übereinstimmen müssen. (…) – in die Schwierigkeit, theoretisch entwickelte Gegenstand von Planspielen (…) sind politische Lösungskonzepte in der Praxis durchzusetzen; Entscheidungsprozesse, die aus einem tatsäch- lichem oder fingierten, aus einem gegenwärti- Auf der Ebene der individuellen „politischen“ gen, vergangenen oder aus einem vorwegge- Fähigkeiten nommenen, in der Zukunft liegenden „objekti- – Einsichten in politische Zusammenhänge ven Konflikt“ resultieren.“3 – Einsicht in den Ablauf politischer Entschei- 2. Reduktion: Ein Modell ist eine vereinfachte dungsprozesse Darstellung. Die Planspielentwickler heben die – Entscheidungen selbst treffen Teile des Vorbildes als Wesentliches hervor, die – Konsequenzen selbst getroffener Entschei- sie als wichtig einschätzen, ohne die Wirklich- dungen tragen keit durch eine zu starke Verkürzung zu verfäl- schen. Auf der Ebene des sozialen Lernens – die Fähigkeit mit Konfliktsituationen umzuge- „Ziel von Planspielen ist es, die komplexe poli- hen tische und/oder gesellschaftliche Wirklichkeit, – Einübung von Frustrationstoleranz schwer zugängliche Zusammenhänge und Pro- – Entwicklung von Problemlösungskompetenz zesse überschaubar und damit transparent zu – Entwicklung von Kooperationsfähigkeit machen.“4 Im Planspiel müssen Entscheidungen getroffen 1 ] vgl. Hilpert Meyer, Unterrichtsmethoden II, Frankfurt a.M. 1987, S. 366. 2 ] vgl. Peter Massing: Planspiele und Entscheidungspiele, in: Siegfried werden, der Konflikt soll nicht vertagt sondern Frech, Hans-Werner Kuhn, Peter Massing (Hrsg.): Methodentraining für bearbeitet werden. Kommunikations- und Inter- den Politikunterricht I, 5. Aufl.2014, S.163-194, Ebd., S. 164. 3 ] Ebd., S. 164 und 165 aktionsprozesse helfen dabei. Die Anforderun- 4 ] Ebd., S. 165. gen an die Teilnehmenden sind nicht gering. So 5 ] Ebd., S. 166f. gilt es die Komplexität des Konflikts trotz Sim- Literatur Peter Massing: Planspiele und Entscheidungspiele, in: Siegfried Frech, plifizierung zu durchschauen und zu verstehen. Hans-Werner Kuhn, Peter Massing (Hrsg.): Methodentraining für den Po- Aber der Gewinn kann hoch sein. litikunterricht I, 5. Aufl. 2014, S. 166-194. 4
16_Ukraine_170419_RZ.qxp_Satzspiegelkonzept_2 17.04.19 14:17 Seite 7 Das Planspiel - Simulation eines politischen Entscheidungsprozesses Konfliktkomplexität Konfliktparteien s KONFLIKTPOTENTIAL g g Konfliktgegenstand Konfliktverhalten Annahme: Die Komplexität des Konflikts entsteht durch diesem Konflikt (Thema)? Beispielsweise um die Vielfalt und Verknüpfung folgender Faktoren, materielle Ressourcen („teilbare Güter“) bzw. die das Konfliktpotential beeinflussen: immaterielle Wünsche und Zielvorstellungen („nicht-teilbare Güter“); 1. Die Konfliktparteien: wie viele beteiligte Ak- 3. Das Konfliktverhalten: wie verhalten sich die teure (Quantität) gibt es und wie sind sie mit Akteure im Verlauf des Konflikts? Kooperativ, Ressourcen (Machtmittel u.a.) ausgestattet; konstruktiv bzw. konfliktorisch (den Gegensatz in 2. Der Konfliktgegenstand: worum geht es in den Vordergrund rückend) oder gar destruktiv? 5
16_Ukraine_170419_RZ.qxp_Satzspiegelkonzept_2 17.04.19 14:17 Seite 8 Thematische Einführung Der Ukrainekonflikt wurde 2017 von vielen Bür- nalisierung der internationalen Beziehungen. gerinnen und Bürgern in Deutschland wie in an- Internationale Normen und Institutionen erwei- deren europäischen Ländern erneut als ein zen- sen sich als schwach, wenn sie‚vitalen Interes- trales Thema der internationalen und europäi- sen, strategischen Kalkülen und nationalen Prä- schen Politik wahrgenommen. ferenzen widersprechen und keine unabhängige Instanz über die Sanktionierung von Normver- Die Erfahrungen in Seminaren mit unterschied- letzungen entscheidet, sondern die Konfliktpar- lichen Zielgruppen zu diesem oder auch ande- teien selbst. Wir erleben die […] Abkehr [von der ren internationalen Themenfeldern bestätigen Akzeptanz der] Nichteinmischung, der Achtung diesen Trend: Internationale Politik ist für viele von territorialer Integrität und Souveränität (wieder?) ein wichtiges Thema – auch wenn sie sowie der Wechselseitigkeit von Geben und oft nicht Teil der eigenen „Lebenswelt“ ist. Nehmen.“4 Mit diesem Planspiel kann dieser Wertschät- zung und dem Interesse für internationale Poli- Die Konflikteskalation von ersten Protesten im tik in der politischen Bildungsarbeit in aktiver Herbst 2013 bis hin zum offenen Krieg im Früh- Weise Rechnung getragen werden. Dieses Plan- sommer 2014 lässt bei vielen Kommentator- spiel versucht hier ein Angebot zu schaffen, *innen die Rückkehr des Kalten Krieges anklin- auch wenn die Beschäftigung mit einem solchen gen – die Rede ist vom „Epochenbruch“, teils Thema an die Autoren wie auch die Durchfüh- gar von neuer Blockkonfrontation. Aber worum renden große Anforderungen bezüglich geht es im „Ukrainekonflikt“5, der obwohl sich - des Umgangs mit dem Kontroversitätsgebot, dieser Begriff in der Berichterstattung der - mit der didaktischen Reduktion bzw. meisten deutschen Medien durchgesetzt hat, in - hohen Aktualität des Themas und den Jahren 2014 bis 2017 nach den gängigen - der notwendigen Komplexitätsreduktion poli- Kriegsdefinitionen6, die beispielsweise die getö- tischer Sachverhalte teten Kombattanten und die Regelmäßigkeit der stellt.1 Zusammenstöße zugrundelegen, als Krieg ein- Zunächst soll an dieser Stelle ein knapper Über- gestuft und auch so benannt werden sollte? Gibt blick über die Rezeption des Konflikts in deut- es überhaupt den einen Konflikt oder welche schen Medien und die dort verwendeten Inter- verschiedenen Aspekte und Auseinandersetzun- pretationsmuster gegeben werden,2 ehe dann gen bestehen – innerhalb der Ukraine aber auch eine ausführliche Beschreibung und Analyse zwischen verschiedenen internationalen Akteu- wichtiger Entwicklungen der Konflikteskalation ren, vor allem Russland und (den Staaten) der und –einhegung folgt. EU?7 Im folgenden Kapitel soll die Behandlung des Neben den im Folgenden detailliert erläuterten Themas als Herausforderung für die politische Interpretationsmustern werden dabei regelmä- Bildung diskutiert und Hinweise zur Durchfüh- ßig die hier stark verkürzt dargestellten Erklä- rung des Planspiels gegeben werden. rungsansätze angeführt. 1. innerukrainischer Konflikt („Bürgerkrieg“) Die Interpretation des Ukrainekonflikts in Wis- zwischen ethnischen Ukrainer*innen bzw. eth- senschaft und Publizistik3 nischen Russinnen und Russen über Zugehörig- keit, Autonomie, Separatismus etc. „Die Ukrainekrise markiert einen Epochenbruch 2. „amorphes“ politisches Narrativ der ukraini- in den internationalen Beziehungen. […] [Wir schen Eliten basierend auf dem Grundgedanken, sind] Zeugen einer dramatischen Ent-Institutio- der ethnischen, nationalen und sprachlichen 6
16_Ukraine_170419_RZ.qxp_Satzspiegelkonzept_2 17.04.19 14:17 Seite 9 Thematische Einführung Identität der ukrainischen Bürger/innen ohne Bereits die Wortwahl für dieses erste Interpre- feste Orientierung auf „Westen“ oder „Osten“ tationsmuster fordert quasi zur Suche und An- als Strategie wird mit Beginn des „Euromaidan“ wendung passender historischer Analogien auf. aufgegeben.8 Gerade im Jahr 2014 wurden so häufig das Jahr 3. Konflikt der Einflusssphären und „Imperialis- 1914 und der damit einhundert Jahre zurück lie- men“: Kämpfer sind „Agenten“ bzw. Proxys gende Ausbruch des Ersten Weltkrieges bemüht. Russlands und des Westens und tragen Kampf Gerne aber auch die Appeasement-Politik der um Vorherrschaft der „Blöcke“ aus; dabei ist die 1930er Jahre oder die Containment-Politik11 des Ukraine ausschließlich Objekt und Schauplatz Kalten Krieges. Analogien sind letztlich keine des Handelns anderer, eine eigenständige Iden- Naturgesetze und die Wahl einer Analogie er- tität der Akteure gibt es nicht (optional als Vari- folgt häufig als Hilfskonstrukt für die eigene Ar- ante von 1. interpretiert). gumentation – was uns die Geschichte lehrt, ist 4. Personalisierung des Konflikts: Putin als zen- doch offensichtlich, oder? Herfried Münkler hat tral handelnder Akteur: der Konflikt wird in Pu- die Kraft, aber auch die Gefahr, welche die An- tins „Hirnwendungen verlegt“9 (optional als Va- wendung von Analogien mit sich bringt, wie folgt riante von 3. interpretiert; Frage nach „Gegen- beschrieben: „Die intensive Beschäftigung mit spieler“ zu Putin). früheren Ereignissen führt dazu, dass aktuelle 5. Institutionelle Entwicklung in der Ukraine: Entwicklungen im Lichte des gerade vergegen- Oligarchen und andere Interessengruppen ver- wärtigten historischen Ereignisses betrachtet hindern aus Eigeninteresse seit 1991 eine Stär- werden. Dem Geschichtsbegeisterten erscheint kung der staatlichen Kontrolle zentraler Politik- die Gegenwart dann als bloße Wiederholung des felder (z. B. Justiz). Eine autoritäre Verfestigung Vergangenen, während der Geschichtskundige wurde so zwar verhindert, gleichzeitig entwi- bei allen Ähnlichkeiten auch Unterschiede aus- ckelte sich eine relativ starke Zivilgesellschaft macht. […] Politische Vergewisserung durch his- (vgl. „Orangene Revolution“ 2004) und das Par- torische Analogie ist riskant, denn sie ist immer lament behielt weitgehend seine Eigenständig- auch mit einer Entscheidung über das Referenz- keit, aber die schwache Institutionalisierung be- ereignis verbunden.“12 sonders in der Ostukraine wirkt konfliktver- Nicht alle Kommentator/innen arbeiten so be- schärfend. dacht mit Analogien: So sieht Roman Leick im 6. Externalisierte russische Krisenbewälti- aktuellen Konflikt ein seit zwei Jahrhunderten gungsstrategie zur Herstellung von Stabilität, andauerndes Ringen Europas mit Russland. Integration und Identitätsstiftung nach innen „Nun gilt es, das geistige Erbe der Französischen und Mobilisierung der Gesellschaft durch Kam- Revolution zu verteidigen.“13 pagnen (oder Kriege) gegen äußere Feinde Neben dem Stilmittel der historischen Analogie (siehe unten). erleben auch Ausflüge in die Theorien der Wis- senschaft der Internationalen Beziehungen eine Renaissance, besonders die realistische Denk- Interpretationsmuster 1: Russland unter Putin schule wird zur Beschreibung des „russischen 3.0 als expansionistische (Groß-) Macht Weltbildes“ verwendet, gerne aber auch Politik- empfehlungen dieser auf Deutschland bzw. „Im Ukraine-Konflikt denken und handeln die Europa übertragen, bspw. die Forderung nach Beteiligten aneinander vorbei: Aus westlicher glaubwürdiger militärischer Abschreckung, sei Sicht verletzen die russische Krim-Annexion es in Form der Ausdehnung der NATO oder und die militärische Unterstützung der Separa- durch erhöhte Rüstungsetats. tisten in der Ostukraine das Völkerrecht; nun So schreibt Ulrich Speck über einen neuen Sys- müsse Druck auf Russland ausgeübt werden, temwettbewerb und verschiedene Welten in um es an weiteren Übergriffen gegen die Ukrai- denen Russland und Deutschland leben: „im in- ne oder andere Nachbarstaaten zu hindern. Aus ternationalen System, wie es sich heute präsen- russischer Sicht resultiert der Konflikt dagegen tiert, stellen Deutschland und Russland den aus der Expansion der NATO und der illegitimen größtmöglichen Gegensatz dar. […] Russland Absetzung des ukrainischen Präsidenten [Janu- lebt in seiner Wahrnehmung internationaler Po- kowitsch]; Russland schütze lediglich russische litik auch weiterhin in einem System der gros- Bürger auf der Krim und im Donbass.“10 sen Mächte, wie es Europa seit Jahrhunderten 7
16_Ukraine_170419_RZ.qxp_Satzspiegelkonzept_2 17.04.19 14:17 Seite 10 Thematische Einführung geprägt hat. […] Russland […] sieht internatio- und militärischer Kräfte in die Ukraine und an nale Beziehungen als Nullsummenspiel“,14 die russisch-ukrainische Grenze sowie später konnte (oder wollte?) sich aufgrund seiner durch den Anschluss der Krim-Region an Russ- Größe und seines Machtanspruchs nicht nach land hat Moskau in NATO-Lesart die gewalt- dem Ende des Kalten Krieges in ein übergeord- same Annexion von Staatsgebiet als Mittel zur netes gesamteuropäisches Friedenssystem ein- Machtpolitik in Europa reaktiviert.“18 Eine Kon- betten. „Als klassische Grossmacht strebt Russ- frontation zugunsten eines Machtgleichgewichts land maximale Handlungsfreiheit für sich selbst bringt gewisse Kosten mit sich: „Der Verzicht an und hat einen bloss instrumentellen Sinn für auf Erweiterungsrunden der NATO zugunsten internationale Institutionen und Verträge. Was eines Machtgleichgewichts bedeutet auch den zählt, ist Macht, und wer schwächer ist, muss Verzicht auf eine Inklusion von Staaten in den sich dem Stärkeren fügen. Macht wiederum ist verrechtlichten Raum, was einem Verzicht auf primär die Fähigkeit, den anderen zu zwingen zu Stabilitätsexport gleichkommt.“19 tun, was man will.“15 Deutschland hingegen hat Eine neue „realistische Ostpolitik“ fordert Jens sich „in eine Ordnung, in der Souveränität be- Siegert. Der Bezugspunkt ist klar, auch hier schränkt ist, erst zwangsläufig, später dann wird eine Analogie in Form der Brandtschen freiwillig und bereitwillig [eingegliedert]. Die Ostpolitik der 1970er Jahre bemüht. Kann und Einbettung in die NATO, in die EU und in ein soll eine ähnlich geartete „Entspannungspolitik“ weitgehend von den USA geprägtes internatio- nun in Bezug auf Putins Russland angewendet nales System hat es Deutschland ermöglicht, werden? Nein, meint der Autor und sieht durch- sich ganz auf Wirtschaft und Wohlstand zu kon- aus einen gewissen Wert in härteren Sanktionen zentrieren, statt den Chimären nationaler und vermehrten Rüstungsanstrengungen. Er Grösse nachzujagen“16 – und damit als „postmo- begründet dies u.a. mit einer Überschätzung derner Handelsstaat“, der auf eine kooperative des Nutzens der Ostpolitik, andere Faktoren internationale Ordnung angewiesen ist, so er- hätten mehr zum Zerfall der Sowjetunion beige- folgreich zu sein wie noch nie. Angela Merkel tragen, nicht zuletzt ein „sehr attraktives Werte- soll dies mit den Worten beschrieben habe, der und […] vielleicht ein noch attraktiveres Waren- russische Präsident Putin lebe in einer anderen angebot [des Westens].“20 Heute dürfe Entspan- Welt. Hier zeigt sich letztlich aber auch der Un- nungspolitik aber nicht auf Kosten der eigenen willen oder die Unfähigkeit, ein anderes „Mind- Werte, nicht „als Kapitulation vor Putin“21 be- set“ als das eigene zu akzeptieren, getragen trieben werden. Die Ausrichtung der deutschen vom unbedingten Glaube an die Richtigkeit und Außenpolitik auch in Form von (zivilgesell- Überlegenheit des eigenen. schaftlichen) Dialogformaten mit Russland wie Letztlich sind beide hier verwendeten Interpre- dem Petersburger Dialog ist weiter im Fluss. tationsmuster und damit auch weite Teile der Die deutsche Debatte der im Bundestag vertre- Literatur zum Thema von realistischen Einflüs- tenen Parteien und der großen Medien unter- sen geprägt – Interpretationsmuster 1 aus Sicht scheidet sich in der Regel in den meisten Punk- des Westens, Interpretationsmuster 2 aus Sicht ten nur im Sprachgebrauch.22 Russlands. Ein Konflikt ist letztlich überdeter- Ideen für eine neue europäische Sicherheitsord- miniert, insbesondere mit Blick auf die Ukraine nung – mit Russland? – sind nun gefragt und als großem Staat und einem der letzten, dessen sollten diskutiert werden.23 Ausrichtung noch ungeklärt war. Gemäß der Wahrnehmung, dass Russlands (zu befürchten- dem) Expansionismus zuvorgekommen werden Interpretationsmuster 2: Russland unter müsse, ist die Ausweitung von NATO und EU po- Druck: Ausdehnung von EU und NATO als litisch klug und naheliegend: „Eine engere Ver- wahrgenommene Bedrohung bindung von EU und NATO mit der Ukraine er- scheint somit als logischer, stabilitäts- und Die Beschäftigung mit deutschen bzw. in deut- damit sicherheitsfördernder Schritt.“17 Der Lauf schen Medien erschienenen Kommentaren zur der Dinge beschleunigte jedoch eine nach der Frage „Was treibt die russische Außenpolitik?“ Logik dieser Denkschule wahrscheinliche kon- ist spätestens mit der Eskalation der Ukraine- frontative Linie: „Durch die zunächst verdeckte krise hin zum Krieg in der Ostukraine stets mit und später offene Entsendung paramilitärischer der Frage verbunden, auf welcher Seite, die 8
16_Ukraine_170419_RZ.qxp_Satzspiegelkonzept_2 17.04.19 14:17 Seite 11 Thematische Einführung Autor*in steht, ob es sich um eine „Russlandkri- gend auf der Grundlage realistischer Annahmen. tiker*in“ oder eine „Russlandversteher*in“ han- Durch diesen Filter beobachtet, büßt Moskau delt. Besonders im letzteren Fall, der in diesem seit 1990 sukzessive an Macht ein, während die Kapitel noch abschließend behandelt werden NATO ihren Machtbereich stetig erweitert. Die soll, sind das Hinterfragen der Motivation und russische Reaktion auf die heftige innerukraini- die Befürchtung, dass man schlimmstenfalls sche Konfrontation entlang der Trennlinie EU vs. einem Produkt russischer Propaganda Glauben Russland erscheint in diesem Licht als vorläufi- schenkt, allgegenwärtig. Viel wurde beispiels- ger Höhepunkt einer Gegenmachtpolitik.“27 weise darüber geschrieben, dass es eine, wenn Nichtsdestotrotz ist es interessant anzumerken, auch nicht schriftlich fixierte Zustimmung, zen- dass es Variation im russischen Verhalten des traler Akteure des „Westens“ vor der deutschen Jahres 2014 gab, wie Steinmeier betont, er sehe Wiedervereinigung gegeben habe, die eine Aus- keinen „Masterplan“ und keine „lang angelegte dehnung der NATO über die ehemalige sowjeti- Strategie“: „In den unterschiedlichen Phasen sche Westgrenze hinaus, ausschloss. Dies gilt dieses zehnmonatigen Konflikts gab es mal oft als Startpunkt einer Reihe von Frustrationen mehr, mal weniger Unterstützung der Separati- für die russische Seite, vielleicht auch als „Wort- onsbewegung in der Ostukraine und auch mal bruch“, wie es Reinhard Mutz formuliert.24 Er mehr oder weniger militärische Einmischung.“28 betont: „Ohne eine Berücksichtigung der russi- Hans-Henning Schröder erklärt diese russische schen Erfahrungen speziell der letzten 25 Jahre Außenpolitik in Bezug auf die Ukraine und in wird eine Lösung der dramatischen Krise um Bezug auf den Westen als „Wagenburgdenken“29, die Ukraine nicht gelingen. Wohlgemerkt, das indem die USA der zentrale Feind sind, die NATO rechtfertigt keineswegs Putins Vorgehen auf der deren Mittel zum Zweck und die europäischen Krim“25 und man kann ergänzen „in der Ostu- Staaten bereitwillige Gefolgsleute.30 Wie Putin in kraine“ – Mutz Artikel erschien bereits Ende einer zentralen außenpolitischen Rede im Okto- März 2014. Was sind jedoch diese russischen ber 2014 dargestellt hat, liegt der aktuellen rus- Erfahrungen? sischen Weltsicht und der eigenen Rolle im in- Eine, wenn nicht gar die zentrale, enttäuschte ternationalen System die Wahrnehmung einer Erwartung war eben jene nicht bis an die russi- sich wandelnden Welt zugrunde. Dieser Wandel schen Grenzen voranschreiten sollende Ausdeh- vollzieht sich konfliktiv und die USA versuchen nung der NATO, die bereits 2004 mit dem Bei- diesen zu behindern, da eine Neuordnung der tritt der baltischen Staaten Realität wurde. Der Welt auch ein Ende der unipolaren Epoche mit damalige deutsche Außenminister Frank-Walter der uneingeschränkten Vorherrschaft der USA Steinmeier antwortete gefragt nach der von bedeuten würde. Putin geäußerten Bedrohungswahrnehmung in „Die USA und ihre Verbündeten – Putin nannte den im Lauf des Jahres 2014 geführten Gesprä- sie »Satelliten« – versuchten, anderen Ländern chen mit dem russischen Präsidenten im De- ihre eigenen »Rezepte« aufzuzwingen – gewalt- zember 2014: „Die russische Wahrnehmung ist, sam, durch wirtschaftlichen und propagandisti- dass das Land militärisch eingekreist wird. Und schen Druck, Einmischung in innere Angelegen- mehr noch, dass der gesamte Westen und vor heiten, durch regime change mit oder ohne allem die USA auf einen Regime-Change in rechtliche Begründung. Der Präsident kriti- Russland setzen.“26 Er ergänzte, dies sei nicht sierte diese Politik und wies auf die negativen die Politik des Westens, löse jedoch in Moskau Folgen amerikanischen Engagements im Irak, Ängste aus. Wie sieht diese wahrgenommene in Afghanistan und in Syrien hin. Das einseitige Bedrohung aus? Diktat der USA, so Putin, beseitige die Konflikte Offensichtlich ist hier auch die russische Welt- nicht, es eskaliere sie vielmehr.“31 Dem zu- sicht von Einflüssen der realistischen Denk- grunde liegt ein multipolares Weltbild, indem schule – landläufig häufig als „Machtpolitik“ be- „regionale Zentren“ – also letztlich wichtige zeichnet – stark beeinflusst. „Wenn die An- Staaten und von ihnen mehr oder weniger direkt nahme einer anarchisch beschaffenen gesteuerte Regionalorganisationen – „als Inte- Staatenwelt zutrifft, ist die Abschreckungs- und grationskerne für ihre jeweilige Nachbarschaft Verteidigungsfunktion zielführend. […] Russland dienten, im Dialog Ordnung, Wirtschaftsent- interpretiert die NATO, und die internationalen wicklung und Sicherheit“32 schaffen. Der Ukrai- Beziehungen insgesamt, mindestens überwie- nekonflikt ereignete sich gemäß dieser Denk- 9
16_Ukraine_170419_RZ.qxp_Satzspiegelkonzept_2 17.04.19 14:17 Seite 12 Thematische Einführung weise infolge des Widerstands innerhalb eines zent gaben an, die Berichterstattung sei „zu ein- Staates, der klar der Einflusszone Russlands seitig aus der Perspektive der Ukraine“.39 zuzurechnen ist und dem eine andere Region – Oft greifen Personen, die diese hier dargestell- Europa und damit letztlich die USA – „Avancen“ ten Positionen teilen, auch zu Publikationen, die gemacht habe. am linken oder rechten Rand stehen bzw. sich dieser Verortung widersetzen, indem sie sich Die Debatte über die Ausrichtung der deutschen selbst einer „Querfront“ zuordnen oder dieser und damit auch EU-Politik gegenüber Russland zugeordnet werden können oder gar zu solchen, wird dabei auch mit Hilfe öffentlicher Aufrufe die eine starke Tendenz zur Verbreitung von und Gegenaufrufe geführt. (auch in russischen Medien präsenten) Ver- Einem Aufruf unter der Überschrift „Wieder schwörungstheorien zeigen.40 Krieg in Europa? Nicht in unserem Namen!“ auf Solche Positionen werden also sehr wahr- Zeit Online33, der für einen vorurteilsfreien, auf scheinlich auch unter den Teilnehmenden bei Ausgleich und Dialog bedachten Umgang mit der Durchführung dieses Planspiels vertreten Russland plädierte, folgte wenige Tage später sein und zu Konflikten führen, unter Umständen ein Gegenappell im Tagesspiegel, der betonte, bereits in der Einführung bei der Durchführung dass „es […] in diesem Krieg einen eindeutigen der Soziometrischen Übung. In unserer Erfah- Aggressor [gibt], und es gibt ein klar identifizier- rung sollte eine besonnene, sachliche Herange- bares Opfer.“34 Darüber hinaus wurde den Un- hensweise gewählt werden, die versucht, ver- terzeichnern des Aufrufs unterstellt, „geringe einfachende Stereotypen und Schwarz-Weiß- Expertise zum postsowjetischen Raum, wenig Sichtweisen generell zu hinterfragen und hier relevante Rechercheerfahrung und offenbar besonders deutlich solchen Aussagen zu wider- keine Spezialkenntnisse zur Ukraine sowie den sprechen, die aus dem Bereich des verschwö- jüngsten Ereignissen dort“35 zu haben. So rungstheoretischen Gedankengutes stammen. scheint eine sukzessive Verschiebung der Mehr- Eine stärkere medienpädagogische Herange- heitsmeinung hin zu diesem Pol, der eine klare hensweise bleibt wünschenswert. russische Schuld in Form von bewusster Eska- lation sieht, festzustellen zu sein.36 Neben den hier analysierten Erklärungsansät- Europäische Union oder Eurasische Wirt- zen und Interpretationsmustern, wie sie die schaftsunion? etablierten Medien in Deutschland dominieren, Integrationskonkurrenz um die Ukraine als Ka- wurden in Medien, dich sich dezidiert und expli- talysator des Konflikts – Versuch einer Kon- zit vom sogenannten „Mainstream“ abgrenzen, fliktanalyse alternative und oft simplifizierte und monokau- sale Erklärungsansätze vorgetragen, die jedoch Quo vadis Ukraine? bei einem nicht zu verachtenden Teil der deut- Von den Debatten über das EU-Assoziierungs- schen Öffentlichkeit Gehör fanden und finden.37 abkommen oder den Beitritt zur EAWU zum So zeigte etwa eine im Auftrag der FAZ Anfang neuen Maidan 2015 durchgeführte repräsentative Befragung, dass immerhin 17 Prozent die Schuld „am Krieg Aufgrund ihres wirtschaftlichen Potentials wird in der Ukraine“ bei den USA, 6 Prozent bei der der Ukraine seit einigen Jahren große Bedeu- EU sehen38 und 20 Prozent zudem folgender tung als potentielles Mitglied der Eurasischen Aussage zustimmten: „Der Krieg in der Ukraine Wirtschaftsunion (EAWU, siehe unten) beige- ist erst eskaliert, als sich der Westen einge- messen. Unter Staatspräsident Janukowitsch mischt hat.“ (25.02.2010 bis 22.02.2014) artikulierte die Eine weitere im April 2015 durchgeführte Erhe- Ukraine Interesse an einer Mitgliedschaft und bung ergab bei der Frage, ob die Medienbericht- erhielt 2013 Beobachterstatus. Auch die Euro- erstattung zur Ukraine ausgewogen sei, eine päische Union verhandelte seit 2008 intensiv im Mehrheit von 58 Prozent, die diese als „nicht Rahmen der „Östlichen Partnerschaft“ mit der ausgewogen“ bewertete. Personen, die dieser Ukraine über ein Assoziierungsabkommen, eine Aussage zustimmten, waren zu 79 Prozent Vorstufe der Mitgliedschaft mit umfassendem zudem der Meinung, die Berichterstattung sei EU-Regeltransfer in Bereichen wie Korruptions- „unvollständig und nicht umfassend“ und 44 Pro- bekämpfung, Abwehr von illegaler Einwande- 10
16_Ukraine_170419_RZ.qxp_Satzspiegelkonzept_2 17.04.19 14:17 Seite 13 Thematische Einführung rung, Menschenrechtsschutz, Energieversor- Ukraine, wie sie sich stark in den Ansichten und gung und Verbraucherschutz sowie einem Aussagen der Bevölkerung widerspiegelt, zu- grundlegenden Freihandelsabkommen.41 grunde. So sprachen sich in der Ostukraine in Ab Sommer 2013 erhöhte sich der Druck auf die einer repräsentativen Umfrage vom April 2014 Ukraine, die außen- und wirtschaftspolitische etwa zwei Drittel der Menschen für einen Bei- Richtung zu bestimmen. Auf dem Gipfeltreffen tritt zur EAWU aus, für einen Beitritt zur EU der „Östlichen Partnerschaft“ am 28./29. No- waren etwa 10 Prozent. Ein stärkerer föderaler vember 2013 in Litauen stand die Unterzeich- Staatsaufbau und eine wichtigere Rolle der rus- nung des Assoziierungs- und Freihandelsab- sischen Sprache erreichten ebenfalls hohe Zu- kommens mit der EU an. stimmungswerte, wohingegen ein Beitritt zum Mitte November 2013 endeten alle Vorbereitun- russischen Staatsgebiet zu diesem Zeitpunkt gen für die Unterzeichnung des Abkommens mit von etwa 20 Prozent befürwortet wurde. In der der EU allerdings vorerst. Präsident Januko- West- und Zentralukraine finden sich hier in vie- witsch erklärte, es gebe auf dem Weg zur Euro- len Punkten eher konträre Ansichten, im Süden päischen Integration „vorübergehende Schwie- halten sich die Lager die Waage.43 rigkeiten“ und „wichtige ökonomische Erforder- Zu warnen sei hier jedoch vor simplifizierenden nisse“ hätten diesen Schritt notwendig gemacht, dichotomen Gegenüberstellungen eines sprach- die Ukraine werde ihren eingeschlagenen Weg lich oder ethnisch herbei geleiteten „östlichen“ aber nicht ändern. russischen und „westlichen“ ukrainischen Lan- Offenkundig hatten sowohl die EU als auch desteils, „auch wenn eine schlechte Kartogra- Russland starken Druck ausgeübt, politische phie in unserer Publizistik das immer wieder und wirtschaftliche Erleichterungen bzw. Sank- suggeriert.“44 tionen, je nachdem in welche Richtung die Ent- Führte man diese Logik fort und setzte sie in die scheidung der Ukraine ausfällt, angekündigt.42 Realität um, würde das „ethnische Säuberungen“ So drohte Russland als Haupthandelspartner vor dem Hintergrund einer viel komplexeren der Ukraine im Fall einer engeren Bindung an Realität bedeuten. „Eine Teilung nach Sprachzu- die EU mit wirtschaftlichen Nachteilen, darunter gehörigkeit würde nämlich die totale Zerstücke- „Schutzzölle“ und die Lieferung von Erdgas nur lung des Landes, die Teilung von Städten, Stra- noch gegen Vorkasse und zu höheren Preisen. ßenzügen, Wohnungen und Familien erfor- EU-Kommissionspräsident Barroso schloss aus, dern.“45 dass die Ukraine in beiden Freihandelszonen gleichzeitig Mitglied werden könnte und drängte Wir haben es also mit einem Fall von Instru- zu einer Entscheidung zu Gunsten der EU. mentalisierung und Mobilisierung entlang eth- nischer, sprachlicher und anderer Linien zu tun, Von Seiten Russlands kann mithilfe des Kon- die von den Eliten auf ukrainischer wie auch zepts von „Neurussland“, das spätestens ab „pro-russischer“ und russischer Seite betrieben 2014 vermehrt von der russischen Regierung wird, wobei auf eine durchaus vorhandene poli- aber besonders von den Separatist*innen und tische Polarisierung aufgebaut wird: „Die Er- EU-Gegner*innen in der Ostukraine vorgebracht gebnisse aller Wahlen seit 1991 bestätigten die wurde, eine neue Phase des größer angelegten politische Polarisierung zwischen der Ost- und russischen Vorhabens, das für die Ukraine einen Südukraine auf der einen und der Westukraine „blockfreien“ Status vorsieht, feststellen. Dies auf der anderen Seite; die Zentralukraine stand würde den Verzicht auf die Pläne zur europäi- dabei in der Mitte, neigte aber zusehends dem schen Integration, die weitgehende Autonomie Westen zu. Die Mehrheit der Bevölkerung im ihrer Regionen – also einen stark föderalen Osten und Süden blieb auf Russland orientiert Charakter des Staates – und einen mehr oder und der russischen Sprache und Kultur verbun- weniger permanenten wirtschaftlichen und po- den, während man dem Westen und vor allem litischen Krisenstatus, der für Moskau ein In- der NATO Misstrauen entgegenbrachte. Die Be- strument zur Einflussnahme auf Kiew wäre, be- wohner der westlichen und teilweise auch der deuten. zentralen Regionen waren dagegen mehrheit- lich auf den Westen ausgerichtet.“ […] Die skiz- Dem Konflikt liegt auch eine in vielen Bereichen zierten Regionen waren jedoch keineswegs ge- zu beobachtende Spaltung innerhalb der schlossen, sondern es gab zahlreiche Über- 11
16_Ukraine_170419_RZ.qxp_Satzspiegelkonzept_2 17.04.19 14:17 Seite 14 Thematische Einführung gangszonen und Vermischungen. Mit einer Machtwechsel: Präsident Janukowitsch er- simplen Ost-West-Polarisierung […] macht man klärte sich schließlich zu Neuwahlen und der es sich zu leicht. In den Wahlen seit 2004 ver- Bildung einer Regierung der nationalen Einheit wischten sich die Grenzen etwas, und […] um die bereit. Dennoch enthob das Parlament Januko- Hauptstadt Kiev [bildete] sich eine Großregion witsch seines Amtes und stellte eine Über- heraus, in der beide politische Lager Unterstüt- gangsregierung auf. Janukowitsch und einige zung fanden.“46 Regierungsmitglieder tauchten am 22. Februar Janukowitschs Schwanken zwischen EU und 2014 unter und setzten sich nach Russland ab. EAWU, wo er letztlich durch das Assoziierungs- Das Parlament schrieb für den 25. Mai 2014 abkommen mit der EU einer außenpolitischen Präsidentschaftswahlen aus. Am 26. Februar Richtungsentscheidung gezwungen war und ein 2014 bildete der zum neuen Ministerpräsidenten „Rückzug auf das bislang faktisch dominante gewählte Arsenji Jazenjuk eine westlich orien- ‚amorphe Narrativ‘“47 nicht länger möglich war, tierte Übergangsregierung. trug schließlich mit zu den Ereignissen auf dem Maidan und in letzter Konsequenz Januko- Abspaltung der Krim: Nachdem bewaffnete witschs Sturz bzw. Abtreten bei. Diesem folgte Kräfte ohne Hoheitszeichen am 28. Februar die forcierte Annäherung der neuen (Über- 2014 öffentliche Einrichtungen und strategisch gangs-) Regierung an die EU und schließlich wichtige Punkte besetzt hatten, wurden auch das Assoziierungsabkommen, das zeitgleich von Militäreinrichtungen der Ukraine umstellt und den Parlamenten der EU und der Ukraine am 16. deren Besatzungen zur Räumung aufgefordert. September 2014 ratifiziert wurde. Poroschenko Die Ukraine kam dem nach, militärische Ausei- sprach von einem entscheidenden Schritt: „Wer nandersetzungen wurden dadurch verhindert. will uns jetzt die EU-Beitrittsperspektive noch Das Regionalparlament der Krim sprach sich streitig machen?“ Ein Antrag auf Vollmitglied- für ein Referendum aus, zunächst über den po- schaft soll 2020 erfolgen.48 Wie kam es jedoch litischen Status der Krim, dann über den An- zu diesen Entwicklungen? schluss an Russland. Die Volksabstimmung vom 16. März 2014, deren Verurteilung durch den Die Schlüsselphase 2013/14 - UN-Sicherheitsrat Russland nur mit einem Veto Vom „Maidan“ zur Abspaltung der Krim und verhindern konnte, ergab bei einer Beteiligung dem Krieg im Osten von 83 Prozent eine Zustimmung von etwa 97 Prozent für die Gründung eines unabhängigen Die Absage an das Assoziierungsabkommen Staates und die Eingliederung in die Russische war Anlass für dreimonatige Massenproteste ab Föderation. Das Ergebnis wurde von den USA, dem 21. November 2013. Deren Zentrum war der EU, weiteren westlichen Staaten und der der Maidan, der Kiewer Unabhängigkeitsplatz, ukrainischen Regierung nicht anerkannt und für welcher der Protestbewegung auch ihren ungesetzlich erklärt. Im Laufe des Jahres 2014 Namen gab. Dort entstand ein Protestcamp als wurde von russischer Seite bestätigt, dass es Plattform der Zivilgesellschaft gegen staatliche sich bei den bewaffneten Kräften, die im Feb- Willkür und für Bürgerrechte. Zum Vertretungs- ruar auf der Krim in Erscheinung traten, um re- organ der Protestbewegung wurde ab dem 22. guläres russisches Militär gehandelt hatte. Dezember 2013 der „Maidan-Rat“. Bestimmte anfangs friedlicher Protest das Bild, gewannen Separatistische Bewegungen in der Ostu- ab Januar 2014 militante Gruppen, auch aus kraine: Ab dem 01. März 2014 besetzten prorus- dem rechten Sektor an Einfluss. Die Sicher- sische Kräfte zeitweise Lokal- und Gebietsver- heitskräfte reagierten ihrerseits teils mit mas- waltungen sowie staatliche Gebäude im Osten siven Einsätzen. Eine „Antiterroroperation“ und Süden der Ukraine (u. a. in Charkiw, Donezk, führte vom 18.-20. Februar 2014 zu Straßen- Lugansk und Odessa). Nach erneuten Demons- schlachten in Kiew. Scharfschützen sowohl der trationen und Ausschreitungen setzten sich pro- ukrainischen Sicherheitskräfte als auch von russische Separatisten ab dem 05. April 2014 in dem „Maidan“ nahestehenden Gruppierungen den Gebieten Lugansk und Donezk mit der Mon- schossen in die Menge. Insgesamt wurden nach tan- und Schwerindustrie des Donbass fest. UN-Angaben 121 Menschen getötet und 1100 „Antiterroreinsätze“ der ukrainischen Armee und verletzt.49 von Kampfverbänden des Innenministeriums 12
16_Ukraine_170419_RZ.qxp_Satzspiegelkonzept_2 17.04.19 14:17 Seite 15 Thematische Einführung versuchten ab dem 15. April 2014 mit Hilfe ver- sicherung. Mit Hilfe diverser Versatzstücke der schiedener Milizen („Freiwilligenbattaillone“) russischen und sowjetischen Geschichte, die die Separatisten zurückzudrängen. Formal eklektisch zusammengesetzt werden, gelingt es wurde von Seiten der Ukraine bislang nicht der einen „Nationalismus von oben“ zu entfachen.53 Kriegszustand ausgerufen. In den von ihnen kontrollierten „Volksrepubliken“ führten die Auf- An die Stelle der Simulation und Imitation de- ständischen am 11. Mai 2014 Referenden über mokratischer Verfahren soll nun die Zustim- eine „staatliche Eigenständigkeit“ durch. Die mung der Bevölkerung zu Putin als „Heerführer“ ukrainische Regierung und das westliche Aus- treten. Dies geht einher mit der Inszenierung land werteten die Abstimmungen (ohne regu- Russlands als „belagerter Festung“. Fjodor läre Wählerlisten) und ihre Ergebnisse (96 Pro- Lukjanow spricht in diesem Zusammenhang von zent Zustimmung in Lugansk bzw. 90 Prozent in einer „Imitation des Kalten Krieges“, die „veran- Donezk) als illegitim, Russland sah dagegen staltet wird“, um innenpolitische und gesell- darin den Volkswillen ausgedrückt. Im Mai und schaftliche Probleme und Spaltungen zu „über- Juni 2014 eskalierte der Konflikt zunehmend. tünchen“.54 Nach UN-Angaben wurden vom 15. April bis zum 20. Juni 2014 insgesamt 439 Personen ge- Auch auf ukrainischer Seite, werden Bilder und tötet. Vergleiche aus unterschiedlichen Epochen be- liebig eingesetzt; zentral ist dabei: Kämpfe im Anhaltende Freund-Feind-Denkweisen er- Donbass werden als „entscheidende Schlacht in schweren Lösung: Die nicht komplementäre einem jahrhundertelangen Befreiungskampf ge- Fremd- und Selbstwahrnehmung der Konflikt- gen den russischen Kolonialismus und gegen parteien erschwert eine Konfliktbeilegung. Eine Großmachtsansprüche Moskaus dargestellt und Nullsummenlogik überwiegt – auf Seiten der verstanden“.55 ukrainischen Regierung, bei Vertreter*innen der Im Verlauf der Kämpfe konnte schließlich fest- „Volksrepubliken“ wie auch auf russischer Seite. gestellt werden: Der Krieg in der Ostukraine ist eben kein interner Konflikt. Ohne Moskaus Ein- Hinter diesen Perzeptionen steht auch die seit greifen gäbe es diesen Krieg in der Form seit Jahren stattfindende „geschichtspolitische Mo- 2014 nicht. Bestehende Konfliktlinien wurden bilisierung gegeneinander: Der Westen hegt durch den Einsatz paramilitärischer Kräfte es- seine Verwurzelung im ukrainischen Nationalis- kaliert und führten letztlich in einen de facto zu- mus der Zwischenkriegszeit, der Osten ist offen mindest zeitweise zwischenstaatlichen Krieg für die nationalistische Mobilisierung seitens unter Beteiligung regulärer russischer Trup- des russischen Staates, in welcher das Erbe des pen.56 »Großen Vaterländischen Krieges«, der Sieg über das nationalsozialistische Deutschland und die Ungeachtet der schwierigen wirtschaftlichen russische Identität und Kultur im Zentrum ste- und politischen Situation rund um die Ukraine hen.“51 haben Belarus, Kasachstan und Russland 2014 ihre Zusammenarbeit in Richtung vertiefter In- Auf russischer wie auch auf ukrainischer Seite tegration fortgesetzt. Am 29. Mai 2014 wurde dienen Geschichtsbilder v. a. „als normativ auf- der Vertrag über die Eurasische Wirtschafts- geladene kulturelle Ressource […], um politi- union (EAWU) unterzeichnet. Im Oktober 2014 sches und militärisches Handeln zu legitimieren trat Armenien bei. Zuvor hatte Russland Druck [und damit] einen Mangel an demokratischer gemacht. Armenien ist von russischem Erdgas Legitimation [zu überdecken]“.52 abhängig. Genau wie die Ukraine hatte Arme- nien über ein Assoziierungsabkommen mit der So kann die russische Rolle in der Ukraine auch EU verhandelt. Kirgistan erklärte ebenfalls sei- durch dezidiert innenpolitische Motive erklärt nen Beitritt und setzt mittlerweile die Mitglied- werden. Krisenbewältigungsstrategien zur Her- schaft um. Kirgistan hatte wirtschaftliche Einbu- stellung von Stabilität, Integration und Identi- ßen zu beklagen, seit Nachbar Kasachstan zur tätsstiftung nach innen und Mobilisierung der Zollunion gehört und die Zölle für Nichtmitglie- Gesellschaft durch Kampagnen (oder Kriege) der erhöhte. Der Vertrag und seine Begleitdoku- gegen äußere Feinde dient letztlich der Macht- mente legen das weitere Entwicklungspro- 13
16_Ukraine_170419_RZ.qxp_Satzspiegelkonzept_2 17.04.19 14:17 Seite 16 Thematische Einführung gramm für die kommenden 10 Jahre fest. Nach Kräften hohe Verluste an Personen und Material der Ratifikation durch die fünf Mitgliedstaaten zufügten. trat der Vertrag über die EAWU zum 01. Januar Zur möglichen Entschärfung des Konflikts 2015 in Kraft. Als wichtigste Ziele der Zusam- schlug Putin Anfang September 2014 einen Sie- menarbeit sind die Schaffung eines koordinier- ben-Punkte-Plan vor: Die prorussischen Kämp- ten Verkehrs-, Energie-und Finanzsystems der fer stellen ihre „aktiven Angriffsoperationen“ ein, Union festgelegt worden. Zudem wollen die die ukrainische Armee verlässt die Kampfzone, Staaten Teile ihrer Wirtschaftspolitik für die internationale Beobachter kontrollieren den etwa 170 Millionen Bürger/innen der beteiligten Abzug, humanitäre Korridore werden eingerich- Staaten abstimmen. Es handelt sich an erster tet und Gefangene ausgetauscht, Luftangriffe Stelle um eine wirtschaftliche Union, die natür- auf die Zivilbevölkerung verboten und die Infra- lich zu politischen, vielleicht auch geopoliti- struktur wieder aufgebaut. schen Zwecken instrumentalisiert werden In Minsk (Weißrussland) tagte daraufhin am 05. kann.57 September 2014 die Ukraine-Kontaktgruppe und kündigte eine sofortige Waffenruhe an, überwacht von OSZE-Beobachtern. Diese Ver- Lösungsversuche einbarung60 wurde sowohl von der Ukraine und Russland als auch von den Vertretern der Se- Der Ständige Rat der OSZE beschloss am paratisten der „Volksrepubliken“ anerkannt 21.03.2014 auf einer Sondersitzung in Wien auch und von der OSZE unterstützt. mit der Stimme Russlands die Entsendung Am 16.09.2014 verabschiedete das Parlament in einer Sonderbeobachtermission in die Ukraine. Kiew in geschlossener Sitzung mit der knappen Die Beobachtermission soll unparteiisch Infor- Mehrheit von 277 der 450 Stimmen mehrere Ge- mationen über die Sicherheitslage und den setze. Dem Russischen wird in der Ostukraine Schutz von Minderheiten in der Ukraine sam- ein Sonderstatus eingeräumt, die Gebiete meln. Die Zahl von anfangs rund 100 Experten (Oblasts) rund um die Städte Donezk und Lu- kann laut aktuellem Mandat, das bisher mehr- gansk erhalten das Recht, mit den angrenzen- fach um jeweils ein Jahr und aktuell bis März den russischen Verwaltungsbezirken zu koope- 2019 verlängert wurde, auf mehr als 1000 Ex- rieren. perten erhöht werden. Die Einsatzgebiete um- Die Separatisten betonten trotzdem, man halte fassen Regionen im ganzen Land, aber nicht die am Ziel der Abspaltung fest. Die örtlichen Mili- Halbinsel Krim.58 Dies machte Russland zur Be- zen würden zu einer „Vereinigten Armee Neu- dingung für seine Zustimmung. Jede Verände- russlands“ zusammengeführt. rung des Mandats bedarf erneut der Zustim- Bei einem weiteren Treffen der Minsker Kon- mung aller 57 OSZE-Teilnehmerstaaten.59 taktgruppe einigte man sich am 20. September Nach den Präsidentschaftswahlen initiierte die 2014 auf die Einrichtung einer (teilweise) demi- OSZE einen „runden Tisch“. Moskau forderte litarisierten Zone im Osten der Ukraine. Die eine Beteiligung der Aufständischen, Kiew Vereinbarung sieht vor, schwere Artillerie je- lehnte dies anfänglich ab. Weitere Friedensini- weils 15 Kilometer von der Frontlinie zurückzu- tiativen – ein in Genf zwischen der Ukraine, der ziehen. Diese soll unter Aufsicht der OSZE ste- EU, Russland und den USA vereinbarter Frie- hen, die mehrere Hundert Beobachter entsen- densplan im April 2014 und ein 14-Punkte-Plan det, um unparteiisch Informationen zu sammeln des neuen ukrainischen Staatspräsidenten Po- und die Vertrauensbildung zu fördern. Zudem roschenko im Juni 2014 – fanden keine Zustim- überwacht die OSZE Grenzposten im russischen mung, auch weil die Separatisten nicht an den Gukowo und Donezk an der Grenze zur Ostu- Verhandlungen teilnahmen. Ab Juli 2014 kam es kraine. Die Konfliktparteien vereinbarten zudem, verstärkt zu schweren Kämpfen, in deren Ver- in besiedelten Gebieten keine schweren Waffen lauf ukrainische Truppen Separatistengebiete einzusetzen und die Sicherheitszone nicht mit zunächst zurückeroberten, bevor ab Mitte Au- Flugzeugen oder Drohnen zu überfliegen. Das gust 2014 die Kämpfer*innen der „Volksrepubli- ist nur Beobachtungsdrohnen der OSZE erlaubt. ken“ unterstützt auch durch russische Waffen- Weder EU noch NATO scheinen eine stärkere lieferungen und Spezialkräfte ihrerseits Gelän- Rolle im Ukrainekrieg spielen zu wollen – degewinne erzielten und den ukrainischen weder diplomatisch noch militärisch. Seit der 14
16_Ukraine_170419_RZ.qxp_Satzspiegelkonzept_2 17.04.19 14:17 Seite 17 Thematische Einführung Abspaltung der Krim haben die EU-Staaten und späteren Zeitpunkt, nach ukrainischem Recht, die USA Sanktionen sowohl gegen Politi- mit einem breiteren Parteienspektrum) zum da- ker/innen aus Russland und den „Volksrepubli- maligen Zeitpunkt nicht durchführbar waren. ken“ als auch gegen russische Unternehmen In der übrigen Ukraine hatten am 26. Oktober verhängt. Die Bandbreite der Sanktionen reicht Parlamentswahlen stattgefunden, die wie- von Kontensperrungen und Einreiseverboten bis derum von den Separatisten im Donbass nicht zu Einschränkungen des Zugangs zum europäi- anerkannt worden waren. Auch die Präsident- schen Finanzmarkt für russische Firmen. Eine schaftswahl vom Mai 2014, aus der Staatschef Verlegung von Truppen in die Ukraine oder gar Petro Poroschenko als Sieger hervorging, er- die NATO-Erweiterung sind jedoch nicht kon- kennen diese weiter nicht an. sensfähig, wie der NATO-Gipfel in Wales 2014 Gleichzeitig gingen die militärischen Zusam- gezeigt hat. Am 15. September 2014 fand in der menstöße mit scheinbar unverminderter Härte Westukraine jedoch ein mehrtägiges NATO-Ma- weiter. Schätzungen zufolge kamen allein in den növer („Rapid Trident“) mit 1300 Soldaten aus 15 letzten zehn Oktobertagen 2014 mehr als 300 Mitgliedstaaten statt. Kritik kam aus Moskau, Menschen ums Leben – trotz einer seit Anfang angesichts des blutigen Konflikts in der Ostu- September geltenden Feuerpause in der Kri- kraine seien Manöver eine reine Provokation. Zu senregion. Der ukrainische Präsident Poro- den Gipfel-Beschlüssen gehört die Schaffung schenko räumte Ende September 2014 ein, dass einer Eingreiftruppe von bis zu 5000 Soldaten, die Armee etwa zwei Drittel ihres Materials und die im Bedarfsfall innerhalb weniger Tage zum eine hohe Anzahl an Soldaten verloren habe. Einsatz kommen kann. Die Präsenz in den ost- Der Krieg sei militärisch nicht mehr zu gewin- europäischen Mitgliedstaaten soll erhöht wer- nen. den, so werden an den Außengrenzen zu Russ- land bis zu fünf regionale Kommandozentren Einem Ende Oktober 2014 veröffentlichten UN- errichtet.61 Bericht zufolge starben bei dem Konflikt seit April 2014 mehr als 4.000 Menschen. Darin sind auch jene 298 Menschen inbegriffen, die im Juli Herbst/Winter 2014/2015: Wahlen in der beim Absturz des Fluges MH17 über der Ostu- Ukraine und in den „Volksrepubliken“ im Licht kraine starben. Allein seit Verkündung der Waf- anhaltender Kämpfe und der Verschlechterung fenruhe Anfang September 2014 wurden mehr der humanitären Lage als tausend Menschen bei Kämpfen getötet. Am 2. November 2014 führten die „Volksrepubli- Nach UN-Angaben wurden durch den Konflikt ken“ ihre eigenen Republikchef- und Parla- bis zu diesem Zeitpunkt 930.000 Menschen aus mentswahlen durch. Erwartungsgemäß wurden ihren Wohnorten in den Regionen Donezk und die Rebellenführer Igor Plotnizki (Lugansk) und Lugansk vertrieben. Fast 490.000 Flüchtlinge Alexander Sachartschenko (Donezk) zu Siegern suchten demnach Schutz im Ausland, die meis- erklärt. Zur Wahl standen nur prorussische „Ge- ten davon im benachbarten Russland. genkandidaten“. Der OSZE-Vorsitzende und In der Ostukraine kam es seit Beginn des Win- Schweizer Präsident Didier Burkhalter machte ters 2014/2015 immer stärker zu Versorgungs- deutlich, die Abstimmungen widersprächen den engpässen. Renten und Gehälter wurden von Vereinbarungen von Minsk. Demnach sollten die der ukrainischen Regierung nicht mehr ausge- Wahlen im Osten der Ukraine ukrainischen Ge- zahlt, Lebensmittel und andere Güter des tägli- setzen entsprechen, was bei den Abstimmungen chen Bedarfs erreichten nur noch von russi- aber nicht der Fall war. Das räumte sogar der scher Seite die „Volksrepubliken“. Im Dezember Vertreter Russlands bei der EU, Wladimir Tschi- 2014 kündigte Russland offiziell an, die Unter- schow, ein. Letztlich waren die Separatisten stützung und den Wiederaufbau auf höchster aber auch aus den nicht fairen Wahlen in Lu- Regierungsebene anzugehen – gleichzeitig ge- gansk und Donezk gestärkt hervorgegangen. riet der Rubel ins Trudeln. Auch die Wirtschaft Diese faktische Ermächtigung durch die Wäh- der Ukraine litt unter dem militärischen Konflikt. ler/innen sollten die anderen Parteien anerken- Im Jahr 2014 schrumpfte die Wirtschaft um 7,5 nen, da Wahlen nach den in Minsk Anfang Sep- Prozent, die Inflationsrate lag bei 21 Prozent. tember 2014 vereinbarten Kriterien (zu einem Nichtsdestotrotz wurden für das Jahr 2015 In- 15
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