Farbe bekennen Rassismus erkennen - Interkulturelle Woche

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Farbe bekennen Rassismus erkennen - Interkulturelle Woche
Interkulturelle Woche 2002
Woche der ausländischen Mitbürger

                                     Rassismus erkennen
                                        Farbe bekennen
        29. September – 5. Oktober

      erausgeber: Ökumenischer Vorbereitungsausschuss zur Woche
      er ausländischen Mitbürger · Postfach 160646 · 60069 Frankfurt am Main
Inhalt

 3 Gemeinsames Wort zur Woche der ausländischen              Beispiele und Anregungen
   Mitbürger/Interkulturelle Woche 2002
                                                             37   »Der edelste Teil«
 4 Rassismus erkennen – Farbe bekennen                            Theaterprojekt zur Migration, gegen Rassismus
   Georg Kardinal Sterzinsky                                      und Gewalt
 9 Die Zuwanderungsdebatte und die Woche der                 38   »Enjoy the difference«
   ausländischen Mitbürger / Interkulturelle Woche                Eine Kampagne der KJG für mehr Toleranz
   Günter Burkhardt                                          39   Ausländische Jugendliche – Ausbildungshemmnisse
10 Zuwanderung gestalten – Integration fördern                    abbauen
   Auszug aus dem Bericht der Unabhängigen Kommission        39   Antirassistischer Workshop an Jenaer Schulen
   »Zuwanderung«                                             40   »Taking Root In Hard Ground«
12 Gewalt gegen Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus           Wurzeln schlagen auf hartem Boden – Eine Ausstellung
   Jörg Alt SJ                                               41   MIGRATION – Wanderlesung in Schulen
14 Wer ist der Andere? Wer ist der Fremde?                        Hidir Celik
   Dr. Nadeem Elyas                                          42   SOS-Eingang
16 Wer Frieden zwischen den Religionen will,                 42   Xenophilia
   muss Unterschiede aushalten                                    Spiel gegen Fremdenfeindlichkeit für die Schulen
   Gespräch zwischen Iman Mehdi Razvi und                    43   Schneeballsystem
   Bischof Dr. Hans-Christian Knuth                               Projektschultage »Für Demokratie Courage zeigen«
                                                             44   »Wie knackt man eine Kokosnuss?«
                                                                  Martin Schramme
Bausteine für einen Gottesdienst

19 Meditation zum Plakat: »Rassismus erkennen –              46 Stellungnahmen
   Farbe bekennen«
   Dr. Rolf Wischnath                                        48 Materialhinweise
20 Gottesdienst »Carnival der Kulturen« in Gelsenkirchen
   Mit einer Predigt von Prälat Stadtdechant Edmund Ernst
22 Predigt
   Dr. Hans-Gerhard Koch
24 Ökumenischer Gottesdienst in Gotha

Christlich-Islamischer Dialog

26 Die Begegnung zwischen Christen und Muslimen und
   die Katholische Kirche in Deutschland: Handlungsimpulse
   Dr. Barbara Huber-Rudolf
30 F(f)este feiern in der Gemeinde
   Alexander Rudolf
32 Eine Moschee in unserer Stadt
   Ein Erfahrungsbericht aus Gladbeck
32 »Begegnungsknigge«
34 Gebete und Gottesdienste
   Vom gegenseitigen Besuch zum gemeinsamen Gebet –
   ein Erfahrungsbericht
35 Feier der Religionen
   Gabriele Herbst
36 Frauenkulturen
   Christliche und muslimische Frauen in Begegnung
   und Gespräch
Gemeinsames Wort zur Woche der ausländischen Mitbürger/
                  Interkulturelle Woche 2002

                           »Rassismus erkennen – Farbe bekennen«

D
         ie diesjährige Woche der auslän-    sches Denken hervorbringen oder den         chen, Sklaven und Freie, Männer und
         dischen Mitbürger / Interkultu-     Resonanzboden dafür bilden, sondern         Frauen gebe; alle sind gleichwertig in
         relle Woche steht wie im vergan-    auch die Vielgestaltigkeit des Islam.       Christus (Kapitel 3 Vers 28). Dies gilt
genen Jahr unter dem Motto »Rassis-          Gleichzeitig haben diese Ereignisse uns     nicht nur für die christliche Gemeinde,
mus erkennen – Farbe bekennen«. Wir          darin bestärkt, noch entschiedener je-      sondern ist uns Mahnung und Maßstab
möchten alle Menschen, die in Deutsch-       der Form von Intoleranz sowie extre-        für das gesellschaftliche Zusammenle-
land wohnen und leben, aufrufen, sich        mistischem und fundamentalistischem         ben insgesamt.
an der Vorbereitung und Durchführung         Denken zu widersprechen. Leider wird           Wir wenden uns deswegen gegen
dieser Woche zu beteiligen oder sie          Religion in unserer Welt dafür vielfach     jede Form von Diskriminierung und
durch ihre Anwesenheit und Sympathie         missbraucht. Dies wollen wir nicht zu-      Rassismus. Wir können nicht hinneh-
zu unterstützen. Zugleich mit diesem         lassen.                                     men, dass Menschen wegen ihrer Ver-
Aufruf möchten wir das herausstellen,                                                    schiedenheit gering geschätzt, benach-
                                             Ein friedvolles Zusammenleben von
was uns in diesem Jahr besonders wich-                                                   teiligt oder bedroht werden. Dies ist oft
                                             Menschen unterschiedlicher Religion
tig zu sein scheint.                                                                     die Keimzelle von Gewalt.
                                             oder kultureller Prägung ist nur mög-
   Im kommenden September wird die
                                             lich, wenn man sich wechselseitig Res-      Wir bedauern, dass es den politisch Ver-
Erinnerung an die Terroranschläge vom
                                             pekt und Achtung entgegenbringt. So-        antwortlichen in Bund und Ländern bis-
11. September 2001 erneut und in be-
                                             ziale Gerechtigkeit, Entfaltungsmög-        her nicht gelungen ist, die Vorausset-
sonderer Weise in den Gefühlen und im
                                             lichkeit, Teilhabe am gesellschaftlichen    zungen für die Integration von Men-
Denken vieler Menschen gegenwärtig
                                             Miteinander und die Bereitschaft zu         schen anderer Herkunft in Deutschland
sein. Nach diesen Ereignissen sahen sich
                                             Austausch und Dialog sind wichtige          nachhaltig zu verbessern und auf eine
viele Muslime in Deutschland Skepsis
                                             Voraussetzungen, dass dies gelingen         neue Grundlage zu stellen. Deswegen
und Misstrauen aus der Mehrheitsbe-
                                             kann. Wer sich dafür einsetzt, ist nicht    dringen wir erneut auf ein Gesamt-
völkerung ausgesetzt. Aber ebenso hat
                                             naiv, sondern handelt politisch klug und    konzept, das alle wichtigen gesellschaft-
seitdem das Interesse bei vielen zuge-
                                             weitsichtig, auch wenn sich Enttäu-         lichen Bereiche wie Bildung, Arbeits-
nommen, mehr über den Islam zu er-
                                             schungen einstellen sollten. Denn es gibt   markt, Kultur, soziale, rechtliche und
fahren und Hilfen für die eigene Urteils-
                                             keine Alternative zu der Vision eines       politische Partizipation umfasst und
bildung zu erhalten.
                                             friedvollen Zusammenlebens aller Men-       dauerhafte, zukunftsweisende und
Die Woche der ausländischen Mitbür-          schen auf diesem Globus mit ihren so        gleichberechtigte Teilhabe von Men-
ger/ Interkulturelle Woche ist seit vielen   unterschiedlichen Traditionen und Prä-      schen anderer Herkunft am gesell-
Jahren eine besondere Gelegenheit zu         gungen. Dies ist nicht nur eine Einsicht    schaftlichen Leben fördert. Die politisch
Information, Meinungsaustausch, Be-          politischer Vernunft, sondern auch eine     Verantwortlichen bitten wir gerade in
gegnung und Zusammenarbeit. Es soll-         geistig religiöse Herausforderung, die      der Zeit des Wahlkampfes, alles zu
te gerade bei dieser Gelegenheit öffent-     wir annehmen und gestalten müssen.          unterlassen, was ausländerfeindlichen
lich sichtbar werden, in wie vielen Be-                                                  Stimmungen und Aktionen Vorschub
                                             Für uns als Christen sind diese Über-
reichen es seit Jahren ein bewährtes und                                                 leisten könnte.
                                             zeugungen in der biblischen Botschaft
vertrauensvolles Miteinander gibt, das
                                             begründet. Jesu Gebot der Nächstenlie-      Die diesjährige Woche der ausländi-
weiter gepflegt und ausgebaut werden
                                             be fordert uns dazu auf, die Grenzen        schen Mitbürger / Interkulturelle Woche
sollte.
                                             von Feindschaft und Ressentiments zu        ist eine Gelegenheit, viele Menschen an-
Die Anschläge vom 11. September las-         überschreiten und auf den anderen, uns      derer religiöser und kultureller Prägung
sen sich nicht religiös rechtfertigen. Das   oft fremden Menschen zuzugehen. Jesu        zur Teilnahme und Mitwirkung zu ge-
haben auch zahlreiche islamische Ver-        Botschaft und Taten sind für uns ein        winnen und ihnen zu signalisieren, dass
bände im Hinblick auf die islamische         Auftrag, der uns verpflichtet, für Be-      ihre aktive Mitgestaltung unseres gesell-
Theologie in öffentlichen Erklärungen        nachteiligte, für soziale Gerechtigkeit     schaftlichen Lebens willkommen ist. In
deutlich gemacht. Wer den Islam insge-       und dafür einzutreten, was den Frieden      diesem Sinn hoffen wir auf eine breite
samt für solche Taten verantwortlich         fördert. Paulus hat in seinem Brief an      Unterstützung und wünschen allen, die
machen will, verkennt nicht nur die          die Gemeinde in Galatien geschrieben,       sich für die Vorbereitung und Durch-
kulturellen, psychologischen und politi-     dass es unter den Christen nicht mehr       führung dieser Woche engagieren, Zivil-
schen Zusammenhänge, die extremisti-         die Unterscheidung in Juden und Grie-       courage, Ermutigung und Gottes Segen.

Präses Manfred Kock                          Karl Kardinal Lehmann                       Metropolit Augoustinos
Vorsitzender des Rates der                   Vorsitzender der                            Griechisch-Orthodoxer Metropolit
Evangelischen Kirche in Deutschland          Deutschen Bischofskonferenz                 von Deutschland

                                                                                                                                3
Rassismus erkennen – Farbe bekennen
                                                  Georg Kardinal Sterzinsky

Vortrag gehalten bei der Jahrestagung       aus seinem Vaterhaus« auswanderte
des Ökumenischen Vorbereitungsaus-          und als Migrant in das ihm fremde Land
schusses am 31. Januar 2002 in Mag-         Kanaan zog; zu nennen ist auch Mose,
deburg (gekürzte Fassung)                   der das Volk Israel aus der Knechtschaft
                                            und Fremde führte.

Gründe für kirchliches Engagement           Ich möchte hier aber auch an Rut er-
zugunsten von Migranten                     innern, zunächst eine Fremde in Israel,
                                            die für das Volk und seine Zukunft zu

D
        ie Kirchen in Deutschland ha-       einer wichtigen Person wird. Die junge
        ben erkannt: Das Phänomen Mi-       Ausländerin wird zur Lebensretterin der
        gration wird uns auf absehbare      alten Jüdin Noomi und zur Vorfahrin
Zeit erhalten bleiben. Es stellt für Kir-   des für Israel so bedeutsamen Königs
che und Gesellschaft eine dauerhafte        David.
Herausforderung dar. Entscheidend ist          Das Buch Rut kann gedeutet werden
neben der Analyse insbesondere das En-      als eine »Protestschrift gegen die nach-
gagement für die von Migration betrof-      exilische Abgrenzungspolitik, Auslän-
fenen Menschen. Deshalb dürfen Wo-          derfeindlichkeit und Intoleranz«2. Wir
chen der ausländischen Mitbürger keine      können diese alttestamentliche Schrift
Einzel- oder gar Alibi-Aktionen sein. Sie   heute lesen »als Fremdengeschichte, de-
müssen vielmehr als ein Element viel-       ren Provokation gerade darin besteht,
fachen Handelns verstanden werden,          dass hier ›die Fremde‹ als Retterin und    Georg Kardinal Sterzinsky
Anregungen geben und Promotor sein.         als ›die Nächste‹ präsentiert wird; im
                                            Verhalten zu den Fremden entscheidet       Jesus macht Fremde zu Verkündern
Elemente einer biblisch-theologischen       sich nach dem Buch Rut das Anbrechen       seiner Botschaft
Begründung                                  der messianischen Zeit«.3
                                               Mit dem Kirchenwort » … und der         Noch weiter geht Jesus in der Begeg-
Ich möchte anknüpfen an das Gemein-         Fremdling, der in deinen Toren ist«        nung mit einer anderen Fremden, der
same Wort der Kirchen zu den Heraus-        lässt sich zusammenfassend sagen:          Samariterin am Jakobsbrunnen. Juden
forderungen durch Migration und             »Auswanderung aus der Heimat auf-          und Samariter waren durch eine jahr-
Flucht »… und der Fremdling, der in         grund von Not, … Fremde und Heimat-        hundertealte Feindschaft getrennt. Die
deinen Toren ist«. Es widmet »biblisch-     losigkeit sowie die Befreiung in eine      Samariter galten als halbheidnisches
theologischen Überlegungen, ethischen       neue Zukunft hinein, das sind Grund-       Mischvolk; auch zurzeit Jesu gab es
Reflexionen und Konsequenzen« ein ei-       daten einer Theologie in Israel…«4         häufig Reibereien, ja blutige Zwischen-
genes Kapitel.1 Davon möchte ich eini-                                                 fälle, wenn die Galiläer ihren Weg durch
ges aufgreifen.                             Jesus ist Fremden gegenüber offen –        Samaria nahmen.6 Als Jesus gegen alle
                                            Jesus überwindet Bedenken gegenüber        Konvention die Frau um Wasser bittet,
Gott schafft jeden Menschen                 Fremden                                    entgegnete diese: »›Wie kannst du als
nach seinem Bild und erhält ihn                                                        Jude mich, eine Samariterin, um Wasser
                                            Er sah sich zunächst zu seinem Volk,       bitten?‹ Die Juden verkehren nämlich
Die Bibel beginnt mit einer Erzählung,      dem Volk Israel, gesandt. Das wird ak-     nicht mit den Samaritern« (Joh 4, 9). Je-
die eine Grundaussage christlichen          zentuiert herausgestellt in der Begeg-     sus aber meidet die Fremde nicht, son-
Glaubens enthält: »Gott schuf also den      nung mit der kanaanäischen Frau (vgl.      dern geht auf sie zu. Er offenbart sich
Menschen als sein Abbild« (Gen 1, 27).      Mt 15, 22-28) – nach dem Markus-           ihr. Später ist es die Samariterin, auf
Diese Aussage hebt sich ab von man-         evangelium mit einer Syrophönizierin       deren Vermittlung hin viele Samariter
chen Vorstellungen aus der religiösen       (vgl. Mk 7, 26), jedenfalls einer Nicht-   Jesus begegnen und an ihn glauben:
Umwelt Israels. Dort wurden Könige als      Jüdin. Die Szene ist bekannt: Die Frau     »Viele Samariter aus jenem Ort kamen
Abkömmlinge der Götter in direkter          fleht ihn an, Erbarmen mit ihrer Tochter   zum Glauben an Jesus auf das Wort der
physischer Verbindung gesehen. Israel       zu haben, die von einem Dämon ge-          Frau hin, die bezeugt hatte: Er hat mir
bekennt aber, dass Gott jeden Men-          quält wird. Jesus antwortet schroff und    alles gesagt, was ich getan habe« (Joh 4,
schen nach seinem Bild schuf. Das gibt      wenig einfühlsam: »Ich bin nur zu den      39). Die Fremde wird zur Vermittlerin
jedem Menschen seine unverlierbare          verlorenen Schafen des Hauses Israel ge-   und Verkündigerin der Botschaft Jesu.
Würde.                                      sandt« (Mt 15, 24). Und er fügt noch
                                            abweisender hinzu: »Es ist nicht recht,    Jesus identifiziert sich mit Fremden
Gott ist Fremden nahe und gibt ihnen        das Brot den Kindern wegzunehmen           und versucht, das Fremdsein zu
einen Platz in der Heilsgeschichte          und den Hunden vorzuwerfen.« Die           überwinden
                                            Fremden vergleicht er mit Hunden! Ein
Immer wieder wird zu Recht an Abra-         starkes Stück! Er lässt sich später aber   Die Frage nach dem Umgang Jesu mit
ham erinnert, den Urvater Israels, der      doch von der Fremden erweichen und         Fremden kommt zu einem gewissen
auf Gottes Geheiß hin »aus seinem           erfüllt ihre Bitte, weil ihr Glaube groß   Höhepunkt im Bild vom Weltgericht.
Land, von seiner Verwandtschaft und         ist.5                                      Hier identifiziert sich Jesus mit dem

4
Fremden: »Ich war fremd und obdach-          Solidarisch miteinander leben               Selbstverständlich helfen wir nicht nur
los, und ihr habt mich aufgenommen.«                                                     christlichen Migranten, sondern genau-
Und er rechnet denen, die Fremden ge-        In Fortführung der Linie, die durch         so muslimischen und anderen. Die Reli-
holfen haben, das an, als hätten sie Ihm     Aristoteles und Thomas von Aquin ihre       gionszugehörigkeit von Hilfesuchenden
geholfen: »Was ihr für einen meiner ge-      Richtung bekommen hat, gilt der Staat       darf nicht entscheiden, ob und welche
ringsten Brüder getan habt, das habt ihr     als Garant der Solidarität bzw. des Ge-     Hilfe gewährt wird.
mir getan« (Mt 25, 40).                      meinwohls. Auch nach der wegweisen-            Die Motivkombination Menschen-
                                             den Enzyklika von Papst Leo XIII. aus       rechtseinsatz und Pastoraleinsatz darf
Die Kirche und die Fremden –                 dem Jahre 1891 Rerum novarum hat            auch nicht zu einem Missionsverständ-
Gastfreundschaft                             der Staat »die Pflicht, das Gemeinwohl      nis im Sinne von Proselytenmacherei
                                             zu fördern« (RN 26).                        missverstanden werden. Kirchliche und
Die beginnende christliche Mission be-          Genügt also der Einsatz im Rahmen        caritative Einrichtungen dürfen diesen
dient sich der jüdisch-christlichen Praxis   eines nationalen Staates?                   Anschein nicht erwecken. Wichtig ist,
der Gastfreundschaft auch im fremden            Nein. Schon der Begriff der Solida-      dass hier nichts in unzulässiger Weise
Land. Gastfreundschaft wird der Ge-          rität schließt diese Grenzziehung als zu    vermengt wird.
meinde wie einzelnen Christen empfoh-        eng aus. Papst Johannes Paul II. defi-
len. »Sie steht unter der Verheißung         niert Solidarität – ohne Bezug auf          Kirche muss auf aktuelle Fragen
Gottes, mit Fremden unter Umständen          Staatsgrenzen – als »die feste und be-      zeitgemäß reagieren
Gottesboten zu beherbergen. Die früh-        ständige Entschlossenheit, sich für das
christliche Mission erreicht ihre rapide     ›Gemeinwohl‹ einzusetzen, das heißt,        Das tut sie auch, in Wort und Tat. Frei-
Expansion auch durch Nutzung der hei-        für das Wohl aller und eines jeden, weil    lich nie genug, weil sich hier nie genug
denchristlichen wie jüdisch-synagogalen      wir alle für alle verantwortlich sind«      tun lässt.
Gastfreundschaft; Kornelius nimmt Pe-        (Sollicitudo rei socialis 38).
trus gastlich auf, Publius den Paulus           Letztlich fordert das globale Denken     Ich greife hier nur einige Gelegenheiten
samt Begleitern… Die Pastoralbriefe le-      heute in seiner Konsequenz eine globale     heraus, bei denen sich die Kirche zu
gen auf die Pflege der Gastfreundschaft      Solidarität unter Menschen und Völ-         Wort gemeldet hat:
in den christlichen Gemeinden allen          kern.
fremden und durchreisenden Brüdern                                                        Wie oft haben die Kirchen gemein-
und Schwestern … gegenüber größten           Kirche steht im Dienst der                    sam und als einzelne zu verschiede-
Wert … Die Fürsorge für Fremde, Hei-         universellen Heilssorge Gottes                nen Entwürfen des geplanten Zu-
matlose, Flüchtlinge und Wandernde                                                         wanderungsgesetzes Stellungnahmen
gehört zum Katalog von Liebeswerken,         Allem voran geht die Überzeugung:             erarbeitet und sich dazu öffentlich
die als Kriterien im … Weltgericht er-       Weil Christus solidarisch mit uns ist,        und nichtöffentlich geäußert!
scheinen werden.«7                           können auch wir solidarisch mit ande-        Die Kommission für Migrationsfra-
                                             ren sein. Beim kirchlichen Einsatz spezi-     gen der Deutschen Bischofskonferenz
»In der Kirche ist niemand fremd«            ell zugunsten von Migranten dürfen            hat ein Papier zu illegalem Aufent-
                                             zwei motivierende Wurzeln nicht ge-           halt in Deutschland erarbeitet.
Die inzwischen häufig verwendete For-        trennt werden: der Einsatz für die           Papst Johannes Paul II. hat immer
mulierung »In der Kirche ist niemand         Grundrechte der Person und der Einsatz        wieder mit Botschaften zur bewuss-
fremd« ist letztlich Konsequenz eines        für das Heil der Menschen, für die ganz-      ten Gestaltung des Welttages der Mi-
Gedankens aus dem Galaterbrief, wo es        heitliche Erfüllung in der Vollendung.        granten aufgerufen.
heißt: »Es gibt nicht mehr Juden und         Darin unterscheidet sich Kirche von          Konfessionsübergreifend haben die
Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht     Menschenrechtsorganisationen. Selbst          Kirchen zur Woche der ausländi-
Mann und Frau; denn ihr alle seid            wenn beide zugunsten der Menschen an          schen Mitbürger im vergangenen
›einer‹ in Christus Jesus« (Gal 3, 28).      einem Strang ziehen, so ist kirchlicher       Jahr ein Gemeinsames Wort unter
Christi Erlösungswerk gilt allen Men-        Einsatz immer auch pastoral motiviert         dem Titel »Rassismus ist Sünde« ver-
schen aus allen Völkern. In ihm sind die     und eschatologisch bestimmt.                  öffentlicht.
Völker vereint zu einem neuen Volk.
Deshalb heißt es in der Kirchenkonsti-
tution des II. Vatikanischen Konzils,
dass Kirche ein Volk aus allen Völkern
ist.8

Sozialethische Reflexionen
und Konsequenzen

Die Würde aller Menschen
ist zu schützen

Die fundamentale biblische Aussage,
dass der Mensch Ebenbild Gottes ist,
wurde zu einer wichtigen Wurzel in der
heutigen Begründung für die Menschen-
würde. Wenn Gott jeden Menschen
nach seinem Bild geschaffen hat, muss
auch – trotz aller Unterschiede – allen
Menschen dieselbe Würde zukommen.            Foto: Francisco Conde

                                                                                                                               5
Rassismus erkennen – Farbe bekennen           lativiert. So verurteilte auch die Kirche
                                              Sklaverei zunächst nicht grundsätzlich.      DAS MEER TRÄGT FISCHE

U
       nd würdigen möchte ich an die-         Erst im 19. Jahrhundert wird die Ver-
       ser Stelle auch eine Schrift mit       urteilung thematisiert. Das II. Vatikani-    Die Erde umarmt alles,
       dem Titel »Die Kirche und der          sche Konzil spricht sie nachdrücklich        Rotes, Gelbes, Schwarzes, Weißes.
Rassismus. Für eine brüderliche Gesell-       aus und beschwört geradezu die we-           Das Meer trägt Fische,
schaft«, die von der Päpstlichen Kom-         sentliche Gleichheit aller Menschen.12       silberne, grüne, gelbe, rote, weiße.
mission Justitia et Pax im Jahr 1988                                                       Der Wald beschützt Tiere,
veröffentlicht worden ist.9                   Erst im 18. Jahrhundert wurde eine           schwarze, rote, gelbe, grüne.
   Diese Publikation halte ich nach wie       wirkliche Rassenideologie ersonnen, die      Das Land umarmt die Menschen –
vor für lesenswert; und ich möchte dar-       glaubte, ihre Vorurteile mit den Natur-      nur weiße?
aus im Folgenden einige grundlegende          wissenschaften untermauern zu kön-
Gedanken vorstellen.                          nen. Ende des 18. Jahrhunderts wurde         Nezif Telek
                                              der Begriff »Rasse« erstmals zur biolo-
Rassismus erkennen                            gischen Klassifizierung von Menschen         aus: Programm zur Interkulturellen Woche,
                                              angewandt.                                   Magdeburg 2001
Rassismus in der Geschichte                      Die Nationalsozialisten standen ih-
                                              rerseits in dieser unsäglichen Tradition.
Mit Rassenvorurteilen sind heute Vor-                                                     Rassendiskriminierungen gibt es heute
stellungen von einer biologisch be-           Papst Pius XI. verurteilte unmissver-       gegenüber Ureinwohnern in verschie-
stimmten Überlegenheit eines Volkes           ständlich die nationalsozialistische Ras-   denen Ländern der Erde. Sie spielen in
oder einer Volksgruppe gegenüber einer        senideologie. Beispielsweise tat er das     unserer Öffentlichkeit eine geringe Rol-
anderen gemeint. Historisch betrach-          eindrücklich in der Enzyklika »Mit          le. Gleichwohl unterhält Deutschland
tet haben sich derartige Vorurteile vor       brennender Sorge«. Hier muss aber           mit davon betroffenen Ländern, etwa
allem aus der Praxis der Kolonialisie-        auch auf verschiedene andere christliche    in Lateinamerika, Afrika oder Südost-
rung und Sklaverei am Beginn der Neu-         Zeugen dieser Zeit verwiesen werden,        asien, zum Teil gute Kontakte.
zeit entwickelt. Die Päpste verurteilten      die die Rassenideologie ablehnten.
schon im 16. Jahrhundert Auffassun-                                                       Sehr verbreitet ist auch die Ethnozen-
gen, die den Angehörigen der entdeck-         Uns in Deutschland bewegt das Thema         trik, die darin besteht, dass ein Volk da-
ten Völker menschliche Minderwertig-          »Rassismus« in besonderer Weise, weil       durch seine Identität zu wahren ver-
keit vorwarfen. So geißelte Paul III. im      sich Rassismus hierzulande auf teufli-      sucht, dass es andere herabwürdigt.
Jahre 1537 in der Bulle Sublimis Deus         sche Art als Antisemitismus gezeigt hat     Hier kommt zweifellos ein instinktiver
alle, die meinten, »die Einwohner West-       und bei einigen bis heute zeigt. Die per-   Drang zum Ausdruck, Werte, Glau-
indiens und der südlichen Erdteile …          sönliche Schuld der Verantwortlichen        bensvorstellungen und Gewohnheiten
müssten wie unvernünftige Tiere behan-        der NS-Diktatur ist nicht die Schuld von    der eigenen Gemeinschaft wahren zu
delt und ausschließlich zu unserem Ge-        uns heute. Aber die Spuren des NS-Ras-      wollen. Dagegen ist nichts einzuwen-
winn und Dienst benutzt werden«10.            sismus, der in die Vernichtung von Mil-     den; wohl aber, wenn damit eine Her-
   Aber die Anwendung päpstlicher Di-         lionen Juden, Sinti, Roma und anderen       abstufung anderer Völker einhergeht.
rektiven stieß auf Schwierigkeiten.           führte, diese Spuren müssen wir heute
   Umso mehr ist das entschiedene Ein-        im Aufflammen rassistisch motivierter       Genannt werden müssen auch Formen
treten einzelner, etwa von Bartolomé de       Gewalt wiedererkennen.                      eines gewissen Sozialrassismus. Der ent-
Las Casas, für die Rechte und Würde                                                       steht, wenn etwa arme Bauern von
der Indios hervorzuheben. Sein Werk ist       Rassismus in der Gegenwart                  ihrem Grund und Boden vertrieben und
ein bedeutsames Zeugnis gegen Rassis-                                                     von Großgrundbesitzern in wirtschaftli-
mus und für die Entwicklung der Auf-          Die offenkundigste Form des Rassismus       cher und sozialer Unterlegenheit gehal-
fassung von universell geltenden Men-         im Sinne eines institutionellen Rassis-     ten werden, wobei Behörden gleichgül-
schenrechten.11                               mus zeigte sich bis Ende des vergange-      tig oder gar als Mittäter auftreten.
                                              nen Jahrhunderts im Regime der Apart-
Auch an den Sklavenhandel mit Schwar-         heid in Südafrika.                          Die Schrift von Justitia et Pax weist
zen aus Afrika, die als billige Arbeits-         Auch manche kriegerischen Ausein-        auch auf ein Phänomen hin, das »spon-
kräfte nach Amerika verkauft wurden,          andersetzungen der vergangenen Jahre        taner Rassismus« genannt wird. Er »ist
muss hier erinnert werden. Die von den        trugen rassistische Züge: die Verbrechen    noch verbreiteter, zumal in Ländern mit
UN veranstaltete »Weltkonferenz ge-           in Kambodscha, in Ruanda, auf dem           hoher Einwanderungsrate. Er ist bei den
gen Rassismus, Rassendiskriminierung,         Balkan, in Osttimor, letztlich auch in      Einwohnern dieser Länder gegenüber
Fremdenfeindlichkeit und damit zusam-         Palästina. Selbst diese Konflikte, die      Ausländern zu beobachten, vor allem,
menhängende Intoleranz«, die im Sep-          Millionen von Toten gekostet haben,         wenn letztere anderen ethnischen Ur-
tember 2001 im südafrikanischen Dur-          werden bei uns schnell vergessen, ob-       sprungs oder anderer Religion sind …
ban zu Ende ging, wurde bestimmt von          wohl auch manche dieser Konfronta-          Diese tadelnswerte Einstellung ent-
der Beurteilung der Sklaverei.                tionen rassistisches Denken in Deutsch-     stammt der irrationalen Furcht, wie die
   In der Geschichte der Kirche akzep-        land nährt bzw. zum Ausbruch bringt.        Anwesenheit anderer und das Konfron-
tierten zunächst die meisten Theologen        Ich denke an gewalttätige Auseinan-         tiertsein mit Andersartigkeit sie oft her-
die gesellschaftliche Institution der Skla-   dersetzungen unter Ausländern in            vorruft. Bewusst oder unbewusst zielt
verei. Durch den Gedanken, dass die Er-       Deutschland bis hin zu – tatsächlichen      eine solche Einstellung darauf ab, dem
lösungstat Christi die theologisch ent-       oder vermeintlichen – Anschlägen von        anderen das Recht auf sein So-Sein und
scheidende Versklavung unter die Sünde        Palästinensern auf Synagogen.               jedenfalls auf das ›Bei-uns-Sein‹ abzu-
aufgehoben habe, wurde die gesell-                                                        sprechen.«13
schaftliche Institution der Sklaverei re-

6
Ob es glücklich ist, dies spontanen Ras-
sismus zu nennen, will ich dahingestellt
sein lassen. Jedenfalls dürfen wir uns
vor der Tatsache nicht verschließen,
dass die schon zu uns gekommenen Ein-
wanderer unter den »alteingesessenen«
Deutschen auch zu verschiedenen For-
men von Verunsicherung führen. Diese
Verunsicherungen müssen thematisiert
und aktiv aufgegriffen werden, damit
daraus keine unbegründeten (Rassen-)
Vorurteile werden.

Als weitere Form von Rassismus der
Gegenwart muss leider auch der Anti-
semitismus genannt werden. Zu berück-
sichtigen ist dabei, dass sich zu den aus
der Vergangenheit überkommenen Vor-
urteilen gegenüber Juden aktuelle Er-
lebnisse, etwa aus dem Nahost-Kon-
flikt, gesellen können.

Wenigstens nennen möchte ich hier
auch die Befürchtung, dass gentechni-       Ökumenischer Eröffnungsgottesdienst 2001, Nikolaikirche, Leipzig
sche Möglichkeiten künftig auch die         Foto: Mahmoud Dabdoub
Gefahr eines eugenischen Rassismus
heraufbeschwören können.                    Öffentliches Eintreten für                         se Rechte tatsächlich in Anspruch neh-
                                            Geschwisterlichkeit und Solidarität                men können, zum Beispiel das Recht
                                                                                               der Kinder auf Beschulung.
Farbe bekennen – Beiträge                   Immer wieder werden Kirchenvertreter
der Christen zur Überwindung                eingeladen, sich an unterschiedlichsten            Damit können übrigens auch die, die
von Rassismus                               Aktionen und Veranstaltungen gegen                 Hoheit über die Schulen haben und die
                                            Rassismus zu beteiligen. Wir dürfen und            Schulen selbst auf glaubwürdige Weise
Schuldbekenntnis und                        wollen uns solchen Einladungen nicht               für Werteerziehung in den Schulen ein-
Vergebungsbitte                             verweigern.                                        treten.
                                               Aber wir laden auch unsererseits an-               Speziell im Religionsunterricht kann
Als Vertreter der Kirche muss ich mich      dere zu derartigen Aktionen ein, wie               diese Erziehung konkretisiert und es
zunächst damit auseinander setzen, dass     etwa die »Woche der ausländischen                  kann verdeutlicht werden, dass sich
auch Vertreter des Christentums in          Mitbürger« zeigt. Damit wollen wir be-             wahrhaftig gelebter christlicher Glaube
nicht geringem Maße zum Antisemitis-        wusst – gemeinsam mit anderen gesell-              und Rassismus ausschließen.
mus (durch antijüdische Affekte) oder       schaftlichen Gruppen – öffentlich ein
zu Rassenvorurteilen (durch die Ver-        Zeichen setzen für eine geschwisterliche           Für einen besonders wichtigen Beitrag
quickung mit dem Kolonialismus) welt-       und solidarische Gesellschaft.                     der Kirchen halte ich es, wenn sie inter-
weit beigetragen haben.                                                                        nationalen Austausch und Begegnung
    Hinsichtlich der heutigen Situation     Farbe bekennen die Kirchen auch durch              organisieren, insbesondere für Jugendli-
ist zu fragen: Sind die Grenzen der In-     ihre Einrichtungen und Dienste, die sich           che, damit diese positive Erfahrungen
kulturation des Glaubens weit genug         Flüchtlingen, Asylbewerbern, illegal in            mit Menschen aus anderen Völkern ma-
gezogen?                                    Deutschland Lebenden usw. zuwenden.                chen können. Ich denke an die Weltju-
                                                                                               gendtreffen der katholischen Kirche, an
Papst Johannes Paul II. hat mit Blick auf   Der Einsatz schließt auch die Politik ein.         jährlich stattfindende internationale
die lange Geschichte der Kirche immer       Die Kirchen haben nie einen Hehl aus               Taizétreffen, daran, dass katholische
wieder und im Jahr 2000 auf bisher ein-     ihrer Forderung gemacht, Wahlkampf                 Ordensgemeinschaften Jugendliche ein-
malige Weise öffentlich bekannt, dass       nicht auf Kosten von Ausländern zu                 laden, als »Missionare auf Zeit« in an-
auch die Kirche gesündigt und gefehlt       führen.                                            deren Ländern zu leben und zu arbei-
hat, und er hat um Vergebung gebeten.          Sie haben sich mehrfach zu den ver-             ten …
Schuldbekenntnis und Vergebungsbitte        schiedenen Entwürfen eines Zuwande-
sollen der »Reinigung des Gedächtnis-       rungsgesetzes geäußert und versucht,               Migration und interreligiöser
ses« dienen und damit einer selbstkriti-    für die Situation der betroffenen Men-             Dialog
schen Auseinandersetzung mit der von        schen zu werben. Ich will hier nur an ei-
Sünde entstellten Vergangenheit der         nen Punkt erinnern: Ich bin enttäuscht,            Eine Konsequenz aus dem 11. Septem-
Kirche.14                                   dass im Gesetzentwurf der Problem-                 ber ist: Religion ist auch in der deut-
   Dadurch wird eindrücklich vor Au-        komplex der aufenthaltsrechtlichen »Il-            schen Öffentlichkeit wieder ein Thema
gen geführt: Rassenvorurteile und Ras-      legalität« nicht bearbeitet wurde. Dabei           geworden. Die unmittelbare Stimmung
sismus entstehen im Menschen selbst.        geht es mir insbesondere um die Ab-                nach den Anschlägen machte Warnun-
Sie können nur überwunden werden,           schaffung des Strafbarkeitsrisikos für             gen vor Feindseligkeiten gegen An-
wenn es zu einem Wandel im menschli-        humanitäre Helfer und darum, dass                  gehörige anderer Religion oder Rasse
chen Herzen kommt.                          Menschen ohne Aufenthaltsrecht gewis-              oder gegen deren Einrichtungen nötig.

                                                                                                                                      7
Diese Warnungen sind dann wiederum                 Das Friedensgebet führte vor Augen,           Auf den Zusammenhang von Migration
missdeutet worden in dem Sinn: der              welch große religiöse und spirituelle            und interreligiösem Dialog hat auch
Westen habe dem militanten Islam                Vielfalt es in dieser Stadt gibt. Es wurde       Papst Johannes Paul II. mit seiner Bot-
nichts entgegenzusetzen.15                      deutlich: Religionen und Konfessionen            schaft zum diesjährigen Welttag der Mi-
                                                können gemeinsam – freilich jeder auf            granten hingewiesen. Darin nennt er
Von Kirchenvertretern ist vor neuen             seine Weise, aber gemeinsam – einen              den interreligiösen Dialog eine der
Konflikten gewarnt und zu Gerechtig-            Dienst für die heutige säkularisierte Ge-        wichtigsten Herausforderungen unserer
keit, Friedfertigkeit und Versöhnung            sellschaft leisten, nämlich zeigen, dass es      Zeit. »Das Phänomen der Migration
aufgerufen worden, auch zu klugem,              gut ist, die spirituelle Dimension des           könnte seine Entwicklung fördern.«
mutigem und zugleich maßvollem Han-             Menschen wahrzunehmen und zu ent-
deln gegenüber den Terroristen.                 falten.
   Christen und Gemeinden sind einge-              Es ist aber auch die Notwendigkeit            Schluss
laden worden, die Begegnung mit mus-            deutlich geworden, vor der religiösen

                                                                                                 R
limischen Nachbarn zu suchen, sich mit          Überzeugung des anderen Ehrfurcht zu                     assismus zeigt sich in unter-
den Opfern solidarisch zu zeigen und            haben und ihm mit Wohlwollen zu be-                      schiedlichen Formen und Gra-
um Frieden zu beten.                            gegnen. Bei vielen blieb der Eindruck:                   den. Die Wege, ihm entgegenzu-
                                                solche Treffen sollte es öfter geben.            treten, sind ebenfalls zahlreich und ver-
Inspiriert durch das Treffen, das am                                                             schieden. Ich danke Ihnen allen für die
gleichen Tag in Assisi stattfand, haben         Was hier bei einer Begegnung von Men-            Wege, die Sie in diesem Sinne bereits en-
wir am 24. Januar 2002 im Berliner              schen unterschiedlicher Religion deut-           gagiert gegangen sind.
Rathaus ein Friedensgebet mit 14 Ver-           lich wurde, dürfte auch für Begegnun-               Ich möchte uns alle ermutigen, bei
tretern von in Berlin vorhandenen               gen von Menschen verschiedener Kultu-            uns selbst zu beginnen und dann mutig
Konfessionen und Religionen gehalten.           ren oder Ethnien gelten. Wir müssen              alte und neue Wege zu beschreiten. Das
Die Vertreterinnen und Vertreter bete-          versuchen, den anderen, der mit uns              Ziel unseres Engagements – Rassismus
ten nacheinander um den Frieden – je-           lebt, wahrzunehmen, erste Kontakte               überwinden – möchte ich positiv so for-
weils nach ihrer Art und in ihrer Spra-         aufbauen, dann häufigen Austausch su-            mulieren: Lasst uns eine geschwisterli-
che, mit ihren Worten und Gesten. Un-           chen und pflegen. Unter Menschen, die            che und solidarische Welt aufbauen.
ter ihnen waren neben Vertretern                sich kennen und schätzen, hat Rassis-
christlicher Konfessionen Menschen jü-          mus wenig Chancen. (Diese Vorstellung
dischen, muslimischen, buddhistischen           steht doch auch hinter »Interkultureller
und hinduistischen Glaubens.                    Woche«.)

1 Kirchenamt der Evangelischen Kirche in        7 Paul-Gerhard Müller, Artikel: Fremde/r. In:    10 Zitiert nach: Ebd. 6.
  Deutschland und Sekretariat der Deutschen       Johannes Bauer u. a. (Hrsg.), Bibeltheologi-   11 Vgl. dazu: Konrad Hilpert, Die Entstehung
  Bischofskonferenz in Zusammenarbeit mit         sches Wörterbuch, Graz / Wien / Köln              der Menschenrechte im Zeitalter der
  der ACK in Deutschland (Hrsg.), »… und          41994, 187.                                       »Entdeckungen«. In: Ders., Menschen-
  der Fremdling, der in deinen Toren ist.«      8 Vgl. LG 13. Dazu auch: Mariano Delgado,           rechte und Theologie, Freiburg i. Ue. /
  Gemeinsames Wort der Kirchen zu den             Volk Gottes unter den Völkern. Katholiken         Freiburg i. Br., 2001, 59-87.
  Herausforderungen durch Migration und           deutscher und ausländischer Herkunft in        12 Vgl. Heike Grieser / Hans-Joachim Lauth,
  Flucht, Bonn / Frankfurt a. M. / Hannover       Deutschland – Herausforderungen für die           Artikel: Sklave, Sklaverei, IV. Theologisch-
  1997, Ziffer 93 ff.                             Pastoral. In: Seelsorgeamt im Erzbischöfli-       ethisch. In: LThK, Bd. 9, 32000, 657-658.
2 Erich Zenger, Einleitung in das Alte Testa-     chen Ordinariat Berlin (Hrsg.), Informatio-    13 Päpstliche Kommission Justitia et Pax, Die
  ment, Stuttgart / Berlin / Köln 11995, 148.     nen für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter          Kirche und der Rassismus, a. a. O. 13-14.
3 Ebd. 150-151.                                   Nr. 48 (2/1996), 40-51.                        14 Vgl. Gerhard Ludwig Müller, Vorwort. In:
4 »…und der Fremdling, der in deinen Toren      9 Päpstliche Kommission Justitia et Pax, Die        Internationale Theologische Kommission,
  ist.« A. a. O. Ziffer 128.                      Kirche und der Rassismus. Für eine brüder-        Erinnern und Versöhnen (hrsg. von
5 Wenigstens erwähnt sei hier auch Jesu           liche Gesellschaft, Rom 1988 (dt. Überset-        Gerhard Ludwig Müller), Einsiedeln /
  Hochschätzung des Samariters in                 zung hrsg. vom Sekretariat der Deutschen          Freiburg 22000, 10.
  Lk 10, 25-37.                                   Bischofskonferenz, Arbeitshilfe 67, Bonn       15 Vgl. Die unverschleierte Würde des
6 Vgl. Joachim Gnilka, Johannesevangelium,        1988).                                            Westens. In: Der Spiegel, 52 / 2001, 50-66.
  Würzburg 41993, 33. Und: Rudolf
  Schnackenburg, Das Johannesevangelium,
  Bd. 1, Leipzig 1966, 461.

8
Die Zuwanderungsdebatte und die Woche
            der ausländischen Mitbürger / Interkulturelle Woche
                                                      Günter Burkhardt

»Deutschland braucht Zuwanderinnen
und Zuwanderer.« Mit diesem Satz be-
ginnt der Bericht der vom Bundesinnen-
minister einberufenen »Unabhängigen
Kommission Zuwanderung«. Die Kom-
mission bezeichnet Deutschland als Ein-
wanderungsland. Politik und Gesell-
schaft schienen nachzuvollziehen, was
die Kirchen bereits 1978 in ihrem Ge-
meinsamen Wort zur Woche der auslän-
dischen Mitbürger in Bezug auf damals
so genannte Gastarbeiter formulierten:
»Für viele von ihnen ist die Bundes-
republik Deutschland zum Einwan-
derungsland geworden.« Zwar galt in
Deutschland seit 1973 der Anwerbe-

                                                                                                                               © Plaßmann
stopp, allerdings wurde er in den letzten
Jahren vielfach durchbrochen. Späte-
stens mit der »Greencard-Initiative« des
Bundeskanzlers, die auf massiven Druck
der Industrie zustande kam, wurde
deutlich: Deutschland braucht auch in
Zukunft Einwanderinnen und Einwan-            Zugang zu medizinischen Versor-           Stoiber als Kanzlerkandidat wurde
derer. Ein gesellschaftlicher Konsens         gungseinrichtungen, Straffreiheit bei     deutlich, dass wahltaktische Überlegun-
schien erreichbar. Der Bericht der so ge-     humanitärer Unterstützung Illegaler)      gen dominierten.
nannten »Süssmuth-Kommission« wur-            sollten realisiert werden.
de in der Öffentlichkeit mit großer          Im Bereich des Flüchtlingsrechts          In der Vergangenheit haben Kirchen
Zustimmung zur Kenntnis genommen.             schließt die Anerkennung der nicht-       und diverse gesellschaftliche Gruppen
Die Ernüchterung folgte, als der Ent-         staatlichen Verfolgung eine Schutz-       immer wieder appelliert, nicht auf dem
wurf aus dem Bundesinnenministerium           lücke und führt an dieser Stelle end-     Rücken von Ausländern und Flücht-
für ein Zuwanderungsgesetz im August          lich zu einer völkerrechtskonformen       lingen Stimmenfang zu betreiben. Zu
2001 auf dem Tisch lag.                       Auslegung der Genfer Flüchtlings-         leicht können Emotionen geschürt wer-
                                              konvention.                               den, die Fremdenfeindlichkeit und Ras-
Zwar wurde dieser Referentenentwurf           Ungelöst blieb jedoch das Schicksal       sismus verstärken. Ein in die Europäi-
verbessert. Gleichwohl stieß auch der         von 250.000 Geduldeten, die seit          sche Union eingebettetes Deutschland,
Entwurf der Bundesregierung, der im           Jahren in Deutschland leben, jedoch       das – wie es Politik und Wirtschaft wol-
November 2001 in den Bundestag ein-           gleichwohl nicht in ihre Herkunfts-       len, im »weltweiten Wettbewerb um die
gebracht wurde, bei Kirchen, Gewerk-          länder zurückkehren können.               besten Köpfe« bestehen will – kann sich
schaften, Wohlfahrtsverbänden und            Die bundesweite Einführung von            schlichtweg auch aus ökonomischen
Menschenrechtsorganisationen auf Kri-         Ausreisezentren und vor allem die im      Gründen Fremdenfeindlichkeit und
tik:                                          Zuge der Terrorismusbekämpfung            Rassismus nicht leisten.
 Statt einer langfristigen, dauerhaft        vorgenommenen Verschärfungen der
   konzipierten Einwanderung soll in          Ausweisungstatbestände stieß ebenso       So wünschenswert er wäre, wenn die
   den nächsten Jahren vorrangig eine         auf Kritik wie die unzulänglichen Re-     verantwortlichen Parteien zu einer sach-
   befristete Anwerbung von hochqua-          gelungen des Familiennachzugs. Der        bezogenen Lösung gekommen wären:
   lifizierten Arbeitskräften erfolgen.       Kindernachzug sollte nicht wie von        Die Versuchung schien zu groß zu sein.
   Die Fehler der früheren »Gastarbei-        den Kirchen gefordert und von den         Schließlich hat die Unterschriftenkam-
   terpolitik« drohen sich zu wieder-         meisten anderen EU-Ländern prakti-        pagne der CDU gegen die doppelte
   holen.                                     ziert bis zum 18. Lebensjahr möglich      Staatsbürgerschaft in Hessen im Früh-
 Eine »nachholende Integrationspoli-         sein.                                     jahr 1999 gezeigt, dass mit fremden-
   tik« für die bisher Eingewanderten                                                   feindlichen Kampagnen erfolgreich
   war nicht vorgesehen.                    Trotzdem forderten CDU/CSU noch             Wahlkämpfe bestritten werden können.
 Im humanitären Bereich wies der           weitere Verschärfungen. Im Zuge des         Kirchen, Gewerkschaften, Verbände
   Entwurf große Defizite auf: Nicht        bevorstehenden Bundestagswahlkamp-          und Initiativen müssen sich darauf ein-
   einmal die wenigen Vorschläge der        fes schien es nicht opportun zu sein, ein   stellen, dass die Ausländerthematik zu
   »Süssmuth-Kommission« zur sozia-         Zuwanderungsgesetz gemeinsam mit            einem Wahlkampfthema wird. Die Fra-
   len Besserstellung von so genannten      den Regierungsparteien zu verabschie-       ge ist, ob es gelingt, so darauf einzuwir-
   Illegalen (Schulbesuch der Kinder,       den. Nach der Benennung von Edmund          ken, dass die Debatte hierüber sachbe-

                                                                                                                                     9
zogen geführt wird oder ob in einer
emotionalisierten Form ein Wahlkampf
auf dem Rücken von Ausländern und
Flüchtlingen ausgetragen wird.

Trotz der hohen Arbeitslosigkeit von
über vier Millionen Menschen weisen
Unternehmen darauf hin, dass sie
Schwierigkeiten haben, die über eine
Million offenen Stellen zu besetzen. Die
von der Bundesregierung eingesetz-
te Unabhängige Kommission »Zu-
wanderung« hat herausgearbeitet, dass
Deutschland auch in Zukunft Einwan-
derinnen und Einwanderer braucht. De-
mografische, ökonomische und nicht
zuletzt humanitäre Gründe sprechen für

                                                                                                                             © Plaßmann
einen Paradigmenwechsel in der Aus-
länderpolitik.

Viele Organisationen verhalten sich im
Wahlkampf parteipolitisch neutral. Ge-
sellschaftliche Organisationen engagie-
ren sich im Wahlkampf nicht für oder        uns, für eine qualifizierte Diskussion     Mitbürger / Interkulturellen Woche vor
gegen eine bestimmte Partei. Wahl-          dieser Thematik zu sorgen.                 dem offiziellen Termin statt.
kämpfe sind per se nicht etwas Negati-
ves, sondern bilden das Fundament ei-       Die diesjährige Bundestagswahl fin-        Das Motto der diesjährigen Woche lau-
ner Demokratie. Es ist die Zeit, in der     det in der Woche vor dem offiziellen       tet »Rassismus erkennen – Farbe beken-
die Wählerinnen und Wähler politische       Start der Interkulturellen Woche 2002      nen«. Es ist unser aller Aufgabe, dafür
Themen mit höherer Aufmerksamkeit           statt. Die Bundestagswahl ist am Sonn-     einzutreten, dass dieses zukunftsweisen-
als sonst verfolgen. Eine politische Mei-   tag, dem 22. September. Die Woche der      de Motto gerade im Jahr 2002 in der
nungsbildung geschieht auch während         ausländischen Mitbürger beginnt am         Öffentlichkeit und der praktischen Poli-
der Zeit des Wahlkampfes. Diese politi-     29. September. In vielen Regionen und      tik wahr genommen wird.
sche Meinungsbildung ist nicht allein       Städten Deutschlands finden Veranstal-
Aufgabe der Parteien. Es liegt auch an      tungen zur Woche der ausländischen

                   Zuwanderung gestalten – Integration fördern
                  Bericht der Unabhängigen Kommission »Zuwanderung« (Auszug)

Die Arbeitsmarktentwicklung                 der Mobilitätshemmnisse nicht am Ar-       unsicher und vor allem in Bezug auf ein-
                                            beitsmarkt vermittelbar. Einer hohen       zelne Berufsgruppen nicht möglich.

G
        egenwärtig mehren sich Forde-       Arbeitslosigkeit steht andererseits aber   Ganz allgemein jedoch wird die Nach-
        rungen, ausländische Arbeits-       auch eine zunehmende Zahl an offenen       frage nach qualifizierten Arbeitskräften
        kräfte für jene Berufe und Wirt-    Stellen in den gleichen Beschäftigungs-    und im Dienstleistungssektor steigen,
schaftszweige anzuwerben, in denen          sparten gegenüber. Es ist unsicher,        der Bedarf an Hochschulabsolventen
offene Stellen nicht besetzt werden kön-    inwieweit bestehender Arbeitskräftebe-     zunehmen. (S.37)
nen. Gleichzeitig aber kämpft Deutsch-      darf durch eine Aktivierung und Quali-
land mit hoher Arbeitslosigkeit. Um be-     fizierung einheimischer Erwerbsperso-      Hohe Arbeitslosigkeit und
werten zu können, ob und wo stärke-         nen gedeckt werden kann. Ungeachtet        viele offene Stellen
re arbeitsmarktbezogene Zuwanderung         dessen ist damit zu rechnen, dass durch

                                                                                       A
sinnvoll ist, müssen die Situation am Ar-   den deutlichen Rückgang der inländi-              uf dem deutschen Arbeitsmarkt
beitsmarkt und ihre voraussichtliche        schen Erwerbsbevölkerung wachstums-               ist im Jahr 2000 nur eine leichte
Entwicklung differenziert betrachtet        hemmende Engpässe am Arbeitsmarkt                 Entspannung eingetreten. Noch
werden.                                     entstehen. Spätestens im nächsten Jahr-    immer sind fast vier Millionen Men-
                                            zehnt wird ein Nachwuchsmangel in          schen arbeitslos gemeldet. Hinzu kom-
Noch immer sind in Deutschland fast         der beruflichen Ausbildung und an den      men die Personen, die sich entweder in
vier Millionen Menschen arbeitslos ge-      Hochschulen auftreten. Auch eine (in       arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen
meldet, darunter viele nicht formal         ihrem Ausmaß schwer vorhersehbare)         befinden oder wegen der schlechten Ar-
Qualifizierte, Ältere und Ausländer.        Zuwanderung aus den EU-Beitrittslän-       beitsmarktlage vom Arbeitsmarkt zu-
                                            dern wird langfristig den Arbeitskräf-     rückgezogen haben (»stille Reserve«).
Trotz erheblicher Bemühungen sind           terückgang in Deutschland nicht auf-       Insgesamt sind unter Berücksichtigung
viele Arbeitslose aufgrund fehlender        halten können. Eine Prognose der künf-     der »stillen Reserve« vom derzeitigen
Qualifikationen oder wegen bestehen-        tigen Nachfrage nach Arbeitskräften ist    Erwerbspersonenpotenzial (44 Millio-

10
nen) nur 38,5 Millionen tatsächlich er-
werbstätig.                                              Deutschland: Szenarien zur Bevölkerungsentwicklung
                                                Millionen

                                                                                                                                                   Quelle: BMI Modellrechnungen Bevölkerungsentwicklung 2000
Der Mangel an Arbeitsplätzen ist insbe-            85

                                                                                                                                                   Vorlage: Humboldt-Universität Bevölkerungswissenschaft
sondere in den neuen Bundesländern
gravierend. Die Arbeitsmarktsituation              80
ist regional und nach Berufsgruppen
stark unterschiedlich. Von Arbeitslosig-           75

keit besonders betroffen sind ältere Ar-
                                                   70
beitnehmer und solche ohne Berufsaus-
bildung. Unter den Höherqualifizierten             65
ist sie hingegen deutlich geringer.
                                                   60
Gleichzeitig gab es 2000 insgesamt
knapp 1,5 Millionen offene Stellen, von            55
denen ein Teil nicht besetzt werden                         1999             2010        2020            2030       2040           2050     Jahr

konnte. Die Schwierigkeiten bei der                             Netto-Zuwanderung pro Jahr
Stellenbesetzung sind in den einzel-                              0                 100.000          200.000      300.000
nen Wirtschaftssektoren und Regionen
unterschiedlich. Dieser Arbeitskräfte-
mangel bringt einen Produktions- und        Innovationsfähigkeit                                                      sinkenden Angebot an jungen Arbeits-
Wertschöpfungsverlust mit sich; in der      und Unternehmergeist                                                      kräften nicht mehr überwiegend durch
Informations- und Kommunikations-                                                                                     Neueinstellungen erneuert werden.

                                            I
technologie hat er bereits zur Anwer-           nsgesamt wird das Durchschnitts-
bung ausländischer Arbeitskräfte ge-            alter der Arbeitskräfte deutlich stei-                                Unternehmen werden überwiegend von
führt. (S.37)                                   gen. Die Alterung könnte länger-                                      Personen in den mittleren Altersgrup-
                                            fristig Auswirkungen auf die Innova-                                      pen zwischen 30 und 50 Jahren gegrün-
Alterung: Belastung für soziale             tionsfähigkeit der Wirtschaft haben,                                      det. In den letzten Jahren hat sich der
Sicherungssysteme                           wenn wesentlich weniger neu ausgebil-                                     Altersdurchschnitt durch viele Grün-
                                            dete Arbeitskräfte zur Verfügung ste-                                     dungen von jungen Unternehmern in

D
         ie Folgen des Alterungsprozesses   hen. Die Fähigkeit des Menschen, sich                                     der Informations- und Kommunikati-
         sind insbesondere für die umla-    neues Wissen anzueignen, nimmt mit                                        onstechnologie verringert. Es ist denk-
         gefinanzierte Sozialversicherung   zunehmendem Alter ab. Routine und                                         bar, dass die Alterung der Bevölkerung
tiefgreifend (…): Auf einen Menschen        Erfahrungswissen älterer Menschen                                         unternehmerische Risikobereitschaft
im erwerbsfähigen Alter (Altersgruppe       können diesen Verlust nur teilweise aus-                                  und Anpassungsflexibilität an neue
20 bis 60 Jahre) kommen heute rech-         gleichen (Dritter Bericht zur Lage der                                    technologisch-wirtschaftliche Erforder-
nerisch 0,4 Personen im Alter über 60,      älteren Generation, 2000, S.131). An-                                     nisse reduziert. (S.33)
bei moderater Zuwanderung (netto            gesichts der schnellen Zunahme und Er-
100.000 Personen pro Jahr) werden           neuerung des Wissens insbesondere in                                      Auszüge aus dem Bericht der
dies innerhalb von 50 Jahren bereits 0,8    den wachstumsrelevanten Schlüssel-                                        Unabhängigen Kommission »Zuwanderung«:
                                                                                                                      Zuwanderung gestalten – Integration fördern,
Personen sein. Die rechnerische Alters-     technologien kann den Unternehmen
                                                                                                                      Juli 2001, zu beziehen über das Bundesministe-
last wird sich verdoppeln. Dies kann        ein Verlust an Innovationsfähigkeit und                                   rium des Innern, Öffentlichkeitsarbeit,
nicht ohne Auswirkungen auf die Al-         Wettbewerbskraft entstehen. Das Wis-                                      11014 Berlin
terssicherungssysteme bleiben: Immer        sen in den Unternehmen kann bei einem                                     Internet: www.bmi.bund.de
weniger jüngere Menschen müssen im-
mer mehr alte Menschen in den sozialen
Sicherungssystemen versorgen, der Ge-           Deutschland: Prognostizierter Anteil der Über-60-Jährigen 1999 - 2050
nerationenvertrag würde erheblich be-
lastet werden. Unter Fortschreibung der
                                                                                                                                                   Quelle: BMI Modellrechnungen Bevölkerungsentwicklung 2000

                                               in Prozent
jetzigen Bedingungen etwa im Hinblick             45
                                                                                                                                                   Vorlage: Humboldt-Universität Bevölkerungswissenschaft

auf Produktivität, Lebenserwartung,                                                                                 39,6
                                                  40
Rentenzugangsalter und Finanzierungs-                                                    36,6 35,4
                                                                                                                           38
                                                                                                                                36,4 35,4
                                                                                                     34,3 33,5
modus der sozialen Sicherung sind eine            35

steigende Transferlast für die Siche-             30
rungssysteme und höhere Abgaben für               25                  22,4
die Produktionsfaktoren wahrschein-               20
lich. (S.33)
                                                  15

                                                  10

                                                   5

                                                   0
                                                                  1999                          2030                        2050            Jahr
                                                        Netto-Zuwanderung pro Jahr
                                                            0                100.000          200.000            300.000

                                                                                                                                                                                                               11
Gewalt gegen Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus
                                                                          Jörg Alt SJ

S
     tellen Sie sich vor: Sie werden in der              meisten Gesprächspartnern jedoch, dass              Person2: Sicher gab es Bedrohung durch
     Straßenbahn laut angepöbelt. Was                    verbale oder tätliche Attacken nicht das            Rassisten und die Polizei. Aber er wuss-
     tun Sie? Nun, eine Möglichkeit ist                  einzige Problem sind. Daneben existiert             te, wie er diesen Bedrohungen aus dem
sicherlich, dass Sie eine Anzeige wegen                  die Sorge, dass irgendjemand die Polizei            Weg gehen kann. Wenn es ihn erwisch-
Belästigung oder Beleidigung bei der                     zu Hilfe rufen könnte. Dies mag zu-                 te, leistete er keinerlei Widerstand, um
Polizei stellen. Oder stellen Sie sich vor:              nächst unglaublich klingen. Aber genau              nicht noch härtere Reaktionen zu pro-
Sie werden tätlich angegriffen. Hier gibt                dies waren Punkte, die »illegale« Mi-               vozieren. Selbst wenn er im Recht war,
es eine ganze Palette von Handlungs-                     granten mir gegenüber anlässlich der                galt: »Don’t provoke, don’t argue.«
möglichkeiten: Sie können um Hilfe ru-                   Erhebungen äußerten, die ich im Rah-
fen, Sie können sich selbst wehren und                   men des Forschungsprojektes »Illegal                Person 3: Kürzlich wurde er von einigen
zurückschlagen und Sie können später                     in Deutschland« durchführte. Die nach-              Rechtsradikalen angegangen, als er an
Anzeige erstatten. Dasselbe gilt, wenn                   folgenden Beispiele schildern Erfahrun-             der Straßenbahnhaltestelle saß und Bier
jemand Sie erpressen will, Sie bestiehlt                 gen, die ein Algerier, ein Schwarzafrika-           trank. Sie fuhren in einem schwarzen
oder Sie um den vereinbarten Lohn be-                    ner und ein Ukrainer in Leipzig mach-               Golf vorbei und stiegen aus. Sie konn-
trügt.                                                   ten.                                                ten gar nicht erkennen, dass er Nicht-
                                                                                                             deutscher war, und auf die ersten An-
Probleme                                                 Person 1: Er wurde rassistisch bedroht,             pöbelversuche schwieg er auch. Später,
                                                         aber das hielt sich in Grenzen. Einmal              als sie dann doch herausbekamen, dass

K
        eine von diesen genannten Mög-                   wurde er zusammengeschlagen. Das                    er Ausländer ist, schlugen sie auf ihn
        lichkeiten steht einem so genann-                Deprimierende und Demütigende ist,                  ein. Seine größte Sorge in dem Moment
        ten »Illegalen«, einem Menschen                  dass man sich im Konfliktfall nicht                 war, dass die Nachbarn die Polizei ru-
ohne legalen Aufenthaltsstatus, zur                      wehren kann, sondern nachgeben muss,                fen. »Die haben Ausweise – ich aber
Verfügung. »Illegale« sind, genauso wie                  um einem Kampf und einer damit ver-                 nicht. Deshalb war ich froh, als ich da-
alle anderen Migranten, Bedrohungen                      bundenen Polizeikontrolle aus dem Weg               vonlaufen konnte.«
und Gewalt verschiedenster Art ausge-                    zu gehen.
setzt. Übereinstimmung herrscht bei den

 Migration in normalen Bahnen

 Zu dem am 7.11.2001 veröffentlichten Migra-             Verglichen mit dem Beginn der 90er Jahre ist es     schen Deutschland und den meisten Her-
 tionsbericht erklärte die Ausländerbeauftrag-           laut Beck in den letzten Jahren zu einer »Beru-     kunftsländern keine Einbahnstraßen sind, son-
 te der Bundesregierung Marieluise Beck: »Zu             higung« des Migrationsgeschehens gekommen.          dern dass die Wanderungsströme in beide
 einer aufgeregten Diskussion um Zu- und Ein-            Noch 1997 und 1998 war der Wanderungssaldo          Richtungen fließen. Die EU-Binnenmigration
 wanderung besteht nach einem Blick auf die              der Ausländer sogar negativ. In den Jahren 1999     (Wanderungen zwischen Deutschland und der
 Migrationsdaten kein Anlass. Gerade ange-               und 2000 sind wieder mehr Ausländer zu- als         Europäischen Union) hat an der Gesamtwan-
 sichts der aktuellen Debatte um das Zuwan-              fortgezogen, allerdings sind die Salden erheb-      derung nur einen relativ geringen Anteil und
 derungsgesetz sind alle Beteiligten gut be-             lich geringer als Anfang der 90er Jahre. Ins-       blieb mit 15 -20 % in den vergangenen Jahren
 raten, diese nüchtern und sachlich auf der              gesamt sind in 2000 rund 841.000 Personen,          konstant.
 Grundlage von Tatsachen zu führen.«                     darunter 649.000 Ausländer, zugezogen und
                                                                   673.000 Personen, darunter 562.000        Dies gilt auch für den Ehegatten- und Famili-
                                                                   Ausländer, fortgezogen.                   ennachzug von Drittstaatsangehörigen. Die
     Wanderungen von Ausländern über                                                                         Gesamtzahl ist von 71.000 im Jahr 1999 auf
     die Grenzen der BR Deutschland                               Im Vergleich zur Situation vor 10 Jah-     76.000 im Jahre 2000 leicht angestiegen. Die
                                                                  ren (1990: 397.000) sank die Zahl der      Bedeutung am Gesamtwanderungsgeschehen
     Jahr           Zuzüge       Fortzüge              Saldo
                                                                  Spätaussiedler im letzten Jahr auf         (unter 10 %) ist entgegen einer weit verbrei-
     1991           925.345        497.540         + 427.805      knapp 96.000. Dies gilt auch für Asyl-     teten Auffassung gering.
     1992         1.211.348        614.956         + 596.392      antragsteller. Seit dem Höhepunkt von
     1993           989.847        710.659         + 279.188      1992 (438.000) ist diese kontinuier-       Der Migrationsbericht 2001 ist zu beziehen
     1994           773.929        621.417         + 152.512      lich gefallen und liegt seit 1998 unter    bei: Die Beauftragte der Bundesregierung für
     1995           792.701        567.441         + 225.260      100.000. Im Jahr 2000 ist sie noch         Ausländerfragen, Fax 0228/5272760;
     1996           707.954        559.064         + 148.890      einmal deutlich auf unter 79.000 zu-       Internet:
     1997           615.298        637.066         - 21.768       rückgegangen.                              www.bundesauslaenderbeauftragte.de
     1998           605.500        638.955         - 33.455                                                  (Rubrik Publikationen).
     1999           673.873        555.638         + 118.235      Die wichtigsten Herkunftsländer der
     20001          648.846        562.380         + 86.466       Migranten waren zuletzt Jugoslawien,
     1   Vorläufige Daten                                         Polen und die Türkei; diese sind gleich-   aus: AiD – Ausländer in Deutschland 4/2001
     Quelle: Statistisches Bundesamt, Migrationsbericht der       zeitig aber auch die Hauptzielländer
     Ausländerbeauftragten der Bundesregierung, November 2001     der Rückkehr. Die Daten aus 1999 zei-
                                                                  gen, dass die Migrationsbahnen zwi-

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