PANORAMA Bildung Beratung Arbeitsmarkt - Edudoc CH

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PANORAMA Bildung Beratung Arbeitsmarkt - Edudoc CH
Bildung Beratung Arbeitsmarkt

    PANORAMA
      Nr. 4 2019

                                  Interkulturalität
                                  Wie interkulturelles Vermitteln in Beratungen funktioniert.
                                  Was Auslandsaufenthalte für die Stellensuche bringen.
                                  Wie junge Auslandschweizer/innen in der Schweiz Fuss fassen.

                                  «Wie die Polymere»
                                  Martina Hirayama, Staatssekretärin des SBFI, lobt im Interview
                                  mit PANORAMA die Verbundpartnerschaft. | Seite 18

                                  Wer sich jünger fühlt, arbeitet selbstbestimmter
                                  Was Job Crafting ist, und wie es wirkt. | Seite 27

                                  Mehr als nur Jobsuche
                                  Wie RAV und Berufsberatungen erfolgreich zusammenarbeiten. | Seite 30

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PANORAMA Bildung Beratung Arbeitsmarkt - Edudoc CH
EDITORIAL

                                                                                     Von Stefan Krucker, Chefredaktor

       Interkulturalität

       		FOKUS                                                                       Entschuldigung, darf ich Sie etwas fragen?
         4 Grundlage der menschlichen Kultur | Y. Wüest                              Wenn Sie in Ihr Adressbuch schauen, wie vie-
       		   Was ist Interkulturalität, und wie zeigt sie sich in den RAV?            le Personen, die nach der Geburt in die
         6 Interkulturelles Dolmetschen und Vermitteln | I. Wienand                  Schweiz eingewandert sind, finden Sie dort?
            Eine berufliche Funktion mit eidgenössischem Fachausweis.                    Ich tippe auf ein paar wenige, falls Sie
        7 «Toleranz zwischen den Kulturen fördern» | Interview: I. Wienand           selbst in der Schweiz geboren wurden und
       		 Sofija Fuhrer, interkulturelle Dolmetscherin, spricht über ihren Beruf.    heute noch dort leben. Und ich vermute auch,
                                                                                     dass diese Personen ungefähr den gleichen
        8 Studentische Mobilität und Arbeitsmarktfähigkeit | P. Ischer et al.
       		 Welche Rolle spielen Auslandsaufenthalte für die Firmen?                   Bildungsstand haben wie Sie. Und eine ähn-
                                                                                     liche politische Einstellung. Eine «Blase» halt,
       10 Lost in translation | A. Wenzel                                            nicht im Internet, sondern ganz real.
       		 Auslandschweizer/innen ziehen für ihre Ausbildung häufig in die Schweiz.
                                                                                         Und doch haben Sie mit Fremden – von
       13 Von «roots» zu «routes» | E.-N. Kappus, R. Martins, J. Gut                 der Herkunft oder von der Einstellung her –
       		 Ein CAS vermittelt interkulturelle Kompetenzen für die Berufsbildung.      zu tun: beim Einkaufen, bei der Arbeit, im
                                                                                     Sport. Und wenn es im Alltag mit zugewan-
        		BERUFSBILDUNG                                                              derten Personen Probleme gibt, was soll man
       18		 «Wie die Polymere» | Interview: D. Fleischmann                           tun? Ist das etwas anderes, als wenn es mit
       		   Im Gespräch mit PANORAMA macht Martina Hirayama, Staatssekretärin        Einheimischen Probleme gibt?
       		 des SBFI, deutlich, wie wichtig ihr die Verbundpartnerschaft ist.              Schnell ist ja jeweils die Rede von den
       20		 Trends für die Berufsbildung beobachten | I. Trede, B. Aeschlimann       kulturellen Unterschieden. Gewiss, die gibt es,
            Forscherinnen des EHB erklären die Methode des Trendmonitorings          und die gilt es zu würdigen und pragmatisch
       		 und die ersten Resultate.                                                  zu berücksichtigen. Alles andere wäre dumm
                                                                                     und arrogant. Also, geben Sie Fremden auch
       		BERUFSBERATUNG                                                              Auskunft, wenn die ihre Frage nicht mit «Ent-
       24 Würfelmodell zur Analyse von Lebensverläufen | L. Bernardi                 schuldigung» einleiten.
       		 Ein Modell will die Verständigung zwischen Fachleuten aus verschiedenen        Gleichzeitig führt der Reflex «kulturelle
          Disziplinen erleichtern.                                                   Unterschiede» nicht selten dazu, dass Diffe-
                                                                                     renzen kulturell gedeutet und überinterpre-
       26 Nichtlineare Bildungsverläufe im Kanton Waadt | B. Suchaut
       		 Zwei Längsschnittstudien werfen Fragen auf.
                                                                                     tiert werden, was schnell in die Diskriminie-
                                                                                     rung von Zugewanderten mündet. Sollte man
       27 Wer sich jünger fühlt, arbeitet selbstbestimmter | N. Nagy, A. Hirschi
                                                                                     also in erster Linie von menschlichen und erst
       		 Eine Studie zu den Zusammenhängen zwischen subjektivem Alter,
                                                                                     in zweiter Linie von kulturellen Unterschieden
       		 Job Crafting und Sinnerleben.
                                                                                     ausgehen? Vielleicht ja: Mein Nachbar ist mir
                                                                                     manchmal genauso fremd wie eine Person
            ARBEITSMARKT
                                                                                     vom anderen Ende der Welt.
       30		 Mehr als nur Jobsuche | D. Fleischmann                                       Natürlich, das Ganze bleibt eine Gratwan-
       		 Wie RAV und Berufsberatungen in mehreren Kantonen erfolgreich
                                                                                     derung: Wenn sich Kulturen vermischen, zei-
       		zusammenarbeiten.
                                                                                     gen sich Unterschiede. Das erzeugt Reibung,
       32 Betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM) | P. Preuss                      aber auch Kreativität. Dabei bleibt keine aller
       		 Ein Wirkungsmodell und der Stand der Umsetzung von BGM
                                                                                     Seiten gleich wie zuvor. Das nennt man übri-
       		 in der Schweiz.
                                                                                     gens Interkulturalität.

       		CARTOON
       34 Ich finde ihn eine Bereicherung | Ch. Biedermann                            Bildstrecke
                                                                                      Die grossformatigen Fotos in dieser Ausgabe
                                                                                      wurden während eines Trainings des FC Biel-
                                                                                      Bienne aufgenommen.

                                                                                              PANORAMA 4 | 2019 — 3

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PANORAMA Bildung Beratung Arbeitsmarkt - Edudoc CH
FOKUS                           Interkulturalität

       Grundlage der menschlichen Kultur
       Der Umgang mit Menschen aus anderen Kulturen führt uns vor Augen, wie stark wir selbst
       kulturell geprägt sind. Aber nicht selten werden Konflikte als kulturelle Konflikte gedeutet, die
       in Wahrheit andere Hintergründe haben. Das zeigt sich auch in Beratungsgesprächen in den RAV.
       Von Yvo Wüest, Trainer für transkulturelle Kompetenz und interkultureller Berater (transcultura.ch)

       Die Schweiz ist ein Einwanderungsland             Tradition; sie gehen uns mit der Zeit derart            Stellensuchende Migranten
       geworden. 1951 betrug die Zahl der stän-          in Fleisch und Blut über, dass wir sie erst         Eine zentrale Herausforderung für Mitarbei-
       digen ausländischen Wohnbevölkerung               dann als kulturelle Eigenheiten wahrneh-            tende in den RAV ist, dass rund ein Drittel
       300 000 Personen, 1971 gut eine Million,          men, wenn jemand davon abweicht. Geert              der Stellensuchenden fremdsprachig ist;
       2017 mehr als zwei Millionen. Ihr Anteil          Hofstede, eine der Autoritäten der inter-           ihre Erstsprache ist keine der vier Amtsspra-
       an der Bevölkerung beträgt nun über 25            kulturellen Kooperation, spricht von einer          chen. Wie viele deswegen nicht in der Lage
       Prozent. Dadurch erleben immer mehr               «kollektiven Programmierung des Geis-               sind, den zum Teil komplexen Inhalten der
       Menschen in der Schweiz interkulturelle           tes»; dadurch entstehe ein ganzes System            Beratungsgespräche zu folgen, ist schwer zu
       Begegnungen. Zu ihnen gehören über-               von Gepflogenheiten und Bewertungen,                sagen. Eine Studie von Interpret bilanziert,
       durchschnittlich oft Beratende in den RAV         das innerhalb einer Gruppe gültig sei.              dass RAV-Mitarbeitende «nur sporadisch»
       oder Mitarbeitende in arbeitsmarktlichen              Dennoch sind kulturelle Muster keines-          Stellensuchende beraten, die über ungenü-
       Massnahmen. Denn der Anteil der Auslän-           wegs so stark, dass Verständigung ausge-            gende Kenntnisse einer Amtssprache verfü-
       der/innen an den registrierten Arbeitslo-         schlossen wäre. Denn zwischen den Kultu-            gen. Dabei wird die Verständigung meist
       sen beträgt 49 Prozent – fast jede oder je-       ren gibt es grundlegende Gemeinsamkeiten            mit privaten Übersetzungshilfen oder Ad-
       der zweite Stellensuchende hat keinen             und in der Regel auch Anknüpfungspunkte.            hoc-Dolmetschenden sichergestellt. Eine
       Schweizer Pass.                                   Sie ermöglichen sogenannte interkulturelle          andere Möglichkeit sind interkulturell Dol-
           Dass Begegnungen von Menschen un-             Kommunikation. Ohne sie wäre unsere mo-             mentschende. Ein RAV-Berater sagt: «Es gibt
       terschiedlicher Herkunft gelingen, ist ein        derne Welt undenkbar. Erst sie macht es             immer wieder Stellensuchende, die im Ar-
       Ergebnis von Interkulturalität. Kulturelle        möglich, dass Erfindungen und Entwick-              beitsmarkt integriert waren und trotzdem
       Muster beruhen auf Übereinkunft und               lungen ausgetauscht werden.                         ungenügend Deutsch sprechen. Diese Reali-

       4 — PANORAMA 4 | 2019

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PANORAMA Bildung Beratung Arbeitsmarkt - Edudoc CH
tät müssen wir akzeptieren.» Interkulturell     schiedener ethnischer Gruppen und in            führen kann, dass gewöhnliche Konflikte
       Dolmetschende sind zumeist speziell ausge-      fremdkultureller Umgebung zu kommu-             kulturell fehlgedeutet werden. Dabei sind
       bildete Migrantinnen und Migranten mit          nizieren. Interkulturelle Kompetenzen           die Ursachen von sogenannten interkultu-
       einer hohen Sprachkompetenz (siehe Bei-         bestehen aus den folgenden Fähigkeiten,         rellen Konflikten selten auf reine kulturelle
       träge auf Seite 6 und 7). Ihre Dienstleistun-   die Günter Friesenhahn in seinem Aufsatz        Werteunterschiede zurückzuführen.
       gen werden in einzelnen Kantonen über die       «Interkulturell – ein Begriff macht Karri-           Ein Beispiel dafür ist die Frage, ob man
       kantonalen Integrationsprogramme des            ere» zusammenfasste:                            Personen mit muslimischem Glauben erlau-
       Bundes mitfinanziert.                           • Empathie                                      ben soll, während der Arbeitszeit zu beten.
           Eine interkulturell Dolmetschende           • Interaktionsfreudigkeit                       Wer vor dieser Frage steht, diskutiert viel-
       wurde beispielsweise bei Frau D. hinzuge-       • Flexibilität                                  leicht, ob es richtig sei, dass sich schweize-
       zogen. Als die Klientin, die nur gebrochen      • Selbstsicherheit und eigenkulturelle Be-      rische Institutionen den religiösen Bedürf-
       Deutsch spricht, sich das erste Mal beim          wusstheit                                     nissen von migrierten Personen anpassen
       RAV anmeldete, wurde sie von einer ehe-         • Stresstoleranz                                oder ob es nicht umgekehrt sein sollte. Aber
       maligen Arbeitskollegin begleitet. Frau D.      • Ambiguitätstoleranz                           diese Art der Generalisierung des Problems
       wirkte sehr schüchtern, sagte kaum ein          • Bereitschaft, sich auf eine neue Umge-        ergibt keinen Sinn. Viel zielführender ist
       Wort und nahm auch kaum Blickkontakt              bung und neue Anforderungen einzulas-         ein pragmatisches Vorgehen, ausgehend
       mit der Amtsperson auf. Für das Erstge-           sen                                           von der Zielsetzung des Arbeitseinsatzes
       spräch organisierte die Personalberaterin       • Respekt und Interesse für andere Kultu-       und der durch das Beten verbundenen Stö-
       daher eine interkulturell Dolmetschende.          ren                                           rung. Die Berücksichtigung von religiösen
       Dank dieser Unterstützung gelang es der         • Gefühl für angemessenes Handeln               Bedürfnissen muss daher in einem ausge-
       Personalberaterin, Frau D. die Arbeitslo-       • Kenntnisse interaktiver, kulturspezifi-       wogenen Verhältnis zur Arbeit stehen, soll
       senentschädigung sowie den Verlauf der            scher und sprachlicher Spielregeln            die Arbeitsabläufe nicht wesentlich stören
       Zusammenarbeit und die Fristen zu erklä-        • Offenheit und Bereitschaft zur Kommu-         und darf die Beziehungen unter den Mitar-
       ren. Und sie erfuhr ihrerseits, dass der feh-     nikation                                      beitenden nicht gefährden.
       lende oder geringe Blickkontakt auch als        Interkulturelle Kompetenzen setzen also              Ähnliche Feststellungen gilt es auch
       ein Zeichen des Respektes gegenüber einer       ein Bewusstsein für die eigenen kulturel-       auf der politischen Ebene zu machen. In
       Amtsperson gedeutet werden kann.                len Prägungen – und ihre Relativität – vo-      der Schweiz werden sozioökonomische
           Wie sinnvoll der Beizug von interkul-       raus. Wie wichtig das ist, zeigt das Beispiel   Schichtungsfragen oft von migrationspo-
       turell Dolmetschenden sein kann, weiss          eines RAV-Beraters, der einen hoch quali-       litischen oder kulturellen Betrachtungen
       auch der Leiter eines Beschäftigungspro-        fizierten IT-Spezialisten aus Pakistan in       überlagert. Aber soziale Probleme sollten
       grammes. Er empfahl einem jungen Mann           einen Job vermittelte, für den dieser völlig    nicht mit kulturellen Verhaltensweisen
       aus Somalia eine Abklärung bei einer            überqualifiziert war und in dem er letzt-       oder gar mangelnder Integrationsbereit-
       Fachstelle für Behinderungen. Der Klient        lich scheiterte. Der Pakistaner hatte gegen     schaft gleichgesetzt werden. Eine Überhö-
       war psychosozial belastet (Tod seines Bru-      die Vermittlung keine Einwände erhoben,         hung kultureller Gegebenheiten ist mei-
       ders auf der Flucht, traumatisierende Er-       was der RAV-Beratende als Einverständnis        nes Erachtens auch die Ursache dafür, dass
       fahrungen bei der Überfahrt über das            deutete. Dabei hatte der Klient schon im        das erwähnte interkulturelle Dolmetschen
       Meer, offenes Misstrauen gegenüber Mit-         Gespräch erkannt, dass er für die Stelle        in den RAV nur selten eingesetzt wird –
       menschen und Ämtern). Auf die Anregung          nicht geeignet ist, diese Bedenken aber         auch heute noch, wie Michael Müller, Ge-
       des Leiters reagierte er empört: «Ich bin       nicht geäussert. In der kollektivistischen      schäftsführer von Interpret, auf Anfrage
       nicht vom bösen Blick getroffen.» In einem      pakistanischen Kultur ist Widerspruch           sagt. Begründet wird der Verzicht nämlich
       Gespräch, an dem ein interkultureller Dol-      gegenüber einer Amtsperson nämlich ein          nicht selten mit der Überlegung, dass mi-
       metscher teilnahm, zeigte sich, dass in         unangebrachtes Verhalten.                       grierte Personen ohne gute Deutschkennt-
       Somalia kognitive Beeinträchtigungen als                                                        nisse ohnehin keine Chance auf eine Inte-
       Bestrafung für ein «gottloses Leben» gedeu-         Pragmatisches Vorgehen                      gration in den Arbeitsmarkt hätten – also
       tet werden.                                     Solche Prägungen gilt es natürlich zu be-       zuerst richtig Deutsch lernen sollen. So oft
                                                       rücksichtigen. Wenn RAV-Beratende aber          dieses Argument auch seitens der Wirt-
           Eine Schlüsselqualifikation                 von allzu klaren kulturellen Unterschieden      schaft genannt wird, so ist darin doch
       In vielen Bereichen der Arbeitswelt sind        ausgehen, besteht gleichzeitig die Gefahr,      auch die implizite kulturelle Vorschrift
       interkulturelle Kompetenzen eine Schlüs-        dass sich diese Vorstellungen auch in ihrem     verbunden, wie Integration stattzufinden
       selqualifikation. Darunter verstehen wir        Umgang mit den Stellensuchenden wider-          habe, nämlich über den Erwerb der deut-
       die Fähigkeit, in interkulturell geprägten      spiegeln. Sie tragen so tendenziell zur Ver-    schen Sprache. Aber ist dieser Weg wirk-
       Arbeitssituationen mit Angehörigen ver-         stärkung von Differenzen bei, was dazu          lich immer der einzig richtige?

                                                                                                                PANORAMA 4 | 2019 — 5

4-15_FOK_Panorama_DE_4_19.indd 5                                                                                                                 08.08.19 10:36
PANORAMA Bildung Beratung Arbeitsmarkt - Edudoc CH
FOKUS Interkulturalität

       Höhere Berufsbildung

       Interkulturelles Dolmetschen
       und Vermitteln
       Interkulturelle Dolmetscherinnen und Vermittler schlagen Brücken zwischen verschiedenen
       Sprachen und Kulturen. Was hat es mit diesem Beruf auf sich, und welche Ausbildungs-
       abschlüsse gibt es?
       Von Isabelle Wienand, Interpret

       In einem mehrsprachigen und multikultu-          Ausgestellte Zertifikate und Fachausweise im Jahr 2018
       rellen Land wie der Schweiz leisten inter-       		                                              Deutsch    Französisch      Italienisch    Total
       kulturelle Dolmetscherinnen und Vermitt-         Zertifikat Interpret (seit 2004)                   1054            252               45    1351
       ler mit anerkannter Ausbildung einen             Eidgenössischer Fachausweis (seit 2009)              86             41                -     127
       wesentlichen Beitrag zu einer guten Ver-                                                                                          Quelle: Interpret

       ständigung zwischen Personen mit Migra-
       tionshintergrund und schweizerischen            Der schweizweit tätige Verein Interpret            tenzen: Kenntnisse in einer örtlichen
       Institutionen wie Spitälern, Schulen, Sozi-     setzt sich seit vielen Jahren für die Qualifi-     Amtssprache (Deutsch, Französisch, Italie-
       aldiensten usw.                                 kation und Professionalisierung des inter-         nisch, mindestens Niveau B2) und der Dol-
                                                       kulturellen Dolmetschens und Vermittelns           metschsprache (mindestens Niveau C1);
           Zwei unterschiedliche Tätigkeiten           ein. Interkulturelles Dolmetschen bezeich-         Techniken des Konsekutivdolmetschens;
       Interkulturelles Dolmetschen heisst             net die mündliche Übertragung (in der Re-          Kenntnisse der Strukturen der Schweiz
       nicht, jedes Wort eins zu eins in eine an-      gel Konsekutivdolmetschen, das heisst im           und des Herkunftslands, vor allem im Bil-
       dere Sprache zu übertragen. Das könnte          Wechsel mit dem Sprecher) des Gesproche-           dungs-, Gesundheits- und Sozialwesen;
       auch ein Übersetzungsprogramm. Inter-           nen von einer Sprache in eine andere unter         Kommunikations- und transkulturelle
       kulturell Dolmetschende und Vermit-             Berücksichtigung des sozialen und kultu-           Kompetenzen; Reflexionsfähigkeit und Be-
       telnde übersetzen eine Aussage sinnge-          rellen Hintergrunds der Gesprächsteilneh-          rufsethik.
       mäss in eine andere Sprache und sind in         menden. Es findet in einer Trialogsituation            Der eidgenössische Fachausweis als
       der Lage, im Austausch zwischen Ge-             – einem «Dialog zu dritt» – statt. Dabei           Fachperson für interkulturelles Dolmet-
       sprächspartnern unterschiedlicher Her-          kann die/der interkulturell Dolmet-                schen und Vermitteln befähigt die Inhabe-
       kunft kulturelle Konnotationen richtig          schende physisch vor Ort sein oder via Te-         rinnen und Inhaber zur Dolmetsch- und
       zu deuten und zu vermitteln. Dabei han-         lefon zugeschaltet werden.                         Vermittlungstätigkeit in verschiedensten
       deln sie nach berufsethischen Grundsät-             Als interkulturelles Vermitteln wird die       Bereichen. Die Fachpersonen sind in der
       zen und halten sich insbesondere an ihre        Vermittlung von Wissen und Informationen           Lage, ihre interkulturellen Kompetenzen
       Schweigepflicht. Das Beherrschen von            zwischen Angehörigen verschiedener Le-             in den verschiedensten Rollen und Situati-
       zwei Sprachen allein reicht für eine pro-       benswelten bezeichnet. Zu den Aufgaben             onen einzusetzen. Die Berufsprüfung fin-
       fessionelle Ausübung des Berufs nicht           von interkulturellen Vermittlerinnen und           det einmal jährlich statt und setzt sich aus
       aus, vielmehr bedarf es einer fundierten        Vermittlern gehört auch die Begleitung und         vier Teilen zusammen: schriftlicher Prü-
       Ausbildung.                                     Beratung von Personen mit Migrationshin-           fungsarbeit; mündlicher Präsentation der
                                                       tergrund.                                          Prüfungsarbeit und Fachgespräch; Fachge-
                                                                                                          spräch zum Verhalten in anspruchsvollen
                                                           Abschlüsse und Kompetenzen                     beruflichen Situationen; praktischer Prü-
                                                       Das Ausbildungs- und Qualifizierungssys-           fung mit Dolmetschsituation im Trialog.
                                                       tem von Interpret besteht seit 2004 und ist            Interpret gewährleistet, dass die Nor-
                                                       in das schweizerische System der höheren           men und Richtlinien zu den verschiede-
                                                       Berufsbildung eingebettet. Es kombiniert           nen Abschlussniveaus eingehalten werden
                                                       Ausbildung und praktische Erfahrung und            und mit der beruflichen Realität überein-
                                                       führt zu zwei Abschlussniveaus: einem              stimmen.
                                                       Branchenzertifikat und einem eidgenössi-
                                                       schen Fachausweis. Das schweizerische
                                                       Zertifikat Interpret für interkulturell Dol-
       Dolmetschsituation im Trialog bei einem Arzt.   metschende bescheinigt folgende Kompe-             www.inter-pret.ch

       6 — PANORAMA 4 | 2019                                                                                                  Übersetzung: Martina Amstutz

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PANORAMA Bildung Beratung Arbeitsmarkt - Edudoc CH
Interview

       «Toleranz und Verständigung
       zwischen den Kulturen fördern»
       Sofija Fuhrer hat den Fachausweis «Fachfrau für interkulturelles Dolmetschen und Vermitteln»
       erlangt und arbeitet als Dolmetscherin für Bosnisch, Serbisch, Kroatisch und Mazedonisch.
       Im Interview spricht sie über ihre Motivation und über den Umgang mit schwierigen Gefühlen.
       Interview: Isabelle Wienand, Interpret

       Isabelle Wienand: Warum haben Sie die          metschen für beide Seiten neutral überset-
       Berufsprüfung zum Fachausweis                  zen. Nicht weniger wichtig ist, dass man
       gemacht?                                       beide Kulturen versteht. Ich zum Beispiel
       Sofija Fuhrer: Ich bin grundsätzlich sehr      lebe in verschiedenen Kulturen gleichzei-
       neugierig. Nach dem Zertifikat Interpret       tig. Ich bezeichne mich aufgrund meiner
       wollte ich weitere Dolmetschtechniken          familiären Herkunft, meiner Ehe mit ei-
       kennenlernen und vertiefen. Dolmetschen-       nem Schweizer und meiner Arbeit als
       de verfolgen bei ihrer Tätigkeit verschiede-   multikulturell.
       ne Ziele. Ich wollte nicht einfach Sätze von
       einer Sprache in eine andere übertragen,       Welchen Schwierigkeiten begegnen Sie
       sondern in Gesprächen als Vermittlerin         in Ihrem Beruf?
       auftreten. Ich wollte helfen, mein Wissen      Am schwierigsten ist der Umgang mit den
       und meine Kompetenzen einbringen und           eigenen Gefühlen. Als Dolmetscherin
       eine Zusammenarbeit zwischen Gesprächs-        kann ich sie nicht ausklammern. Umso
       partnern ermöglichen. In den verschiede-       wichtiger sind die Supervisionen, da kön-
       nen Modulen, die wir als Vorbereitung auf      nen wir unsere Gefühle und unseren Frust
       die Berufsprüfung absolvieren, werden          ausdrücken und über unsere Misserfolge
       Themen wie sinngemässes Übersetzen,            sprechen. Nach schwierigen Fällen kom-          Sofija Fuhrer ist Fachfrau für interkulturelles
       Unvoreingenommenheit, berufsethische           men wir manchmal ins Grübeln. Als Fach-         Dolmetschen und Vermitteln mit eidgenössi-
                                                                                                      schem Fachausweis.
       Grundsätze und Schweigepflicht behan-          personen müssen wir auf Techniken zu-
       delt. Die Ausbildung hilft uns also, unsere    rückgreifen, die uns helfen, mit unseren
       Kompetenzen zu vervollständigen. Kennt-        eigenen Gefühlen und mit den Emotionen          neugierig und lerne gerne Sprachen und
       nisse von Normen und Regeln sind für ein       der Gesprächspartner umzugehen. Dol-            neue Kulturen kennen, ohne aber meine
       richtiges Handeln sehr wichtig. Man muss       metschende sind immer auch emotional            eigene aufzugeben. Integration und Assimi-
       zum Beispiel wissen, wann man einen Auf-       involviert. Wir müssen die verfügbaren          lation werden oft verwechselt. Wenn man
       trag abgeben muss oder wann man ihn gar        Ressourcen nutzen, um anderen auf               in einem fremden Land lebt, sollte man sich
       nicht erst annehmen darf, etwa weil man        menschliche Art zu helfen.                      an die verschiedenen Kulturen anpassen.
       sich ihm nicht gewachsen fühlt. Die Modu-                                                      Das heisst aber nicht, dass man die eigene
       le sind für eine professionelle Berufsaus-     Was befriedigt Sie bei Ihrer Arbeit am          Herkunft vergessen muss. Die Zugehörigkeit
       übung unerlässlich.                            meisten?                                        zu mehreren Kulturen ist eine Bereiche-
                                                      Wenn es mir gelingt, einer Person zu mehr       rung. Sie macht uns kooperativer, verständ-
       Welches sind Ihrer Meinung nach die            Unabhängigkeit zu verhelfen. Das ist mei-       nisvoller und toleranter. Als Dolmetscherin
       grundlegenden Kompetenzen von                  ne Philosophie.                                 ist es meine Pflicht, die Toleranz und die
       Fachpersonen für interkulturelles                                                              Verständigung zwischen den Kulturen zu
       Dolmetschen und Vermitteln?                    Mit Ihrem Beruf tragen Sie zur Verstän-         fördern. Ich bin in mehreren Vereinen tätig
       Zuerst einmal braucht es umfassende            digung zwischen den Kulturen in der             und begleite Menschen in den verschiedens-
       Kenntnisse von zwei oder mehreren Spra-        Schweiz bei. Was bedeutet für Sie               ten Situationen. Dabei versuche ich, ihre
       chen. Die Übersetzung sollte so genau wie      kulturelle Vielfalt?                            Lebensumstände zu verbessern. Ich helfe
       möglich sein, und es gilt, das Berufsge-       In der Schweiz haben wir das Glück, dass        den Menschen, unabhängiger zu werden,
       heimnis zu wahren. Wichtig ist es auch,        es mehrere Sprachen, Dialekte und Kultu-        eine Sprache zu lernen und sich inmitten
       unparteiisch zu sein. In einem Gerichts-       ren gibt. Wir begegnen der kulturellen          der kulturellen Vielfalt ein bisschen besser
       prozess zum Beispiel muss man beim Dol-        Vielfalt also bereits im Alltag. Ich bin sehr   zurechtzufinden.

       Übersetzung: Martina Amstutz                                                                            PANORAMA 4 | 2019 — 7

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PANORAMA Bildung Beratung Arbeitsmarkt - Edudoc CH
FOKUS Interkulturalität

       Hochschulen

       Studentische Mobilität
       und Arbeitsmarktfähigkeit
       Die internationale Mobilität von Studierenden wird zunehmend gefördert. In der Bildungspolitik
       des Bundes kommt ihr ein hoher Stellenwert zu. Welche Kompetenzen werden bei einem Aus-
       landsaufenthalt entwickelt, und inwiefern erleichtern diese den Einstieg in den Arbeitsmarkt?
       Von Patrick Ischer, Lamia Ben Hamida, Myriam Graber und Thierry Bregnard, Hochschule Arc der HES-SO

       Neben berufsspezifischen Fachkompeten-          Die Interviews mit den Studierenden und         der Stellensuche zu nutzen. Sie sind über-
       zen sind für einen erfolgreichen Einstieg       den Absolventinnen und Absolventen zei-         zeugt, dass ihnen der Auslandsaufenthalt
       in den Arbeitsmarkt auch sogenannte             gen, dass mit einem Auslandsaufenthalt          einen nicht vernachlässigbaren Vorteil
       überfachliche Kompetenzen (siehe Fokus          die folgenden fünf Ziele verfolgt werden:       gegenüber anderen Kandidaten verschafft
       PANORAMA 2/2019) erforderlich. Diese            1. durch neue berufliche Kompetenzen            und deshalb in den Bewerbungsunterlagen
       umfassen einen breiten Katalog an Fähig-           den eigenen Einstieg in den Arbeits-         und beim Bewerbungsgespräch erwähnt
       keiten, von sozialen, kommunikativen,              markt erleichtern,                           werden sollte.
       zwischenmenschlichen und organisatori-          2. den eigenen Horizont erweitern und in            Diese Überzeugung teilen die befrag-
       schen Kompetenzen über Problemlösungs-             eine fremde Kultur eintauchen,               ten Absolventinnen und Absolventen
       und Verhandlungsfähigkeit bis hin zu            3. sich dem Unbekannten stellen und da-         nicht. Sie vermuten vielmehr, dass Aus-
       einem guten Zeitmanagement, einer ganz-            bei das Spektrum an Verhaltensweisen         landserfahrung im Lebenslauf zwar er-
       heitlichen Betrachtungsweise und geisti-           erweitern, um sich in verschiedensten        wähnenswert, aber für eine Anstellung
       ger Offenheit. Werden diese Kompetenzen            Situationen zurechtzufinden,                 nicht zwingend ist. Absolventen aus dem
       bei der Interaktion mit Menschen unter-         4. eine Fremdsprache lernen,                    Gesundheitsbereich geben an, dass ein sol-
       schiedlicher kultureller Orientierung an-       5. das soziale Kontaktnetz erweitern.           cher Konkurrenzvorteil aufgrund des aus-
       gewendet, spricht man von interkulturel-        Tatsächlich ermöglicht eine Auslandser-         geprägten Fachkräftemangels im Gesund-
       len Kompetenzen.                                fahrung die Weiterentwicklung von zahl-         heitswesen gar nicht nötig sei. Andere
           Mit diesen Kompetenzen haben wir            reichen Kompetenzen. Die befragten Per-         denken, dass die im Ausland erworbenen
       uns in einer explorativen Studie im Rah-        sonen konnten Fremdsprachenkenntnisse           Erfahrungen und Kompetenzen vor allem
       men eines Forschungsprojekts zum Zu-            erwerben oder neue Arbeitsmethoden              für Personen nützlich sind, die in einem
       sammenhang zwischen studentischer               kennenlernen. Sie gaben zudem an, sie           international ausgerichteten Unterneh-
       Mobilität und Arbeitsmarktfähigkeit be-         seien unabhängiger und selbstständiger          men arbeiten möchten. Diese Einschät-
       schäftigt (Projekttitel: «L’employabilité et    geworden, hätten an Selbstvertrauen ge-         zung wird von einigen der befragten Ar-
       les compétences transversales et intercul-      wonnen und gelernt, sich selbst zu helfen.      beitgeber bestätigt.
       turelles: le rôle de la mobilité internatio-    Diese überfachlichen Kompetenzen kön-               Die bei der Umfrage berücksichtigten
       nale dans les institutions de formation»).      nen zwar auch schon beim Auszug aus             Unternehmen können in drei Kategorien
       Mit dieser Studie verfolgen wir zwei Ziele:     dem Elternhaus erworben werden. Beim            eingeteilt werden. Zur ersten Kategorie ge-
       Wir wollen erstens erfassen, welche Kom-        Eintauchen in ein neues soziokulturelles        hören drei Institutionen aus dem Gesund-
       petenzen die Studierenden bei einem in-         Umfeld werden jedoch zusätzlich und vor         heitsbereich, die keine direkten Kontakte
       ternationalen Austausch erwerben, und           allem die interkulturellen Kompetenzen          mit dem Ausland pflegen. Sie sind in der
       zweitens verstehen, wie sich diese Kompe-       erweitert. So gaben alle Befragten an, sie      Romandie lokal verankert und regional
       tenzen auf die Arbeitsmarktfähigkeit aus-       hätten ihre Offenheit und Toleranz oder         ausgerichtet, und ihre Arbeitssprache ist
       wirken. Zu diesem Zweck führten wir In-         ihre Anpassungs- und Integrationsfähig-         folglich Französisch. Interkulturelle Inter-
       terviews mit 15 aktuellen und ehemaligen        keit steigern, ihre Sensibilität und ihr in-    aktionen ergeben sich vor allem durch die
       Studierenden der Bereiche Wirtschaft,           terkulturelles Verständnis festigen und         verschiedenen Herkunftsländer der Pati-
       Gesundheit und Ingenieurwesen. Davon            sich dadurch von gewissen Stereotypen           enten und der Mitarbeitenden. Interkultu-
       waren sechs noch im Studium, neun hat-          und einem ethnozentrischen Weltbild lö-         relle Kompetenzen – die hier mit geistiger
       ten ihr Studium bereits abgeschlossen und       sen können.                                     Offenheit, Integration, Austausch und
       waren in den Arbeitsmarkt eingetreten.                                                          Kommunikation verbunden werden – sind
       Zudem haben wir mit Vertretungen von                Ein Vorteil im Lebenslauf?                  nicht unbedingt erforderlich und werden
       neun Unternehmen gesprochen, die in den         Die meisten befragten Studierenden beab-        bei der Rekrutierung nicht besonders be-
       entsprechenden Bereichen tätig sind.            sichtigen, ihre Auslandserfahrungen bei         rücksichtigt. Trotzdem ermutigen diese

       8 — PANORAMA 4 | 2019                                                                                             Übersetzung: Rahel Hefti Roth

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PANORAMA Bildung Beratung Arbeitsmarkt - Edudoc CH
Institutionen die Studierenden zu mehr-
       wöchigen Aufenthalten in Afrika (um zu
       lernen, mit dem absoluten Minimum aus-
       zukommen) oder in Nordeuropa (um inno-
       vative Methoden im Gesundheitswesen
       kennenzulernen). Äusserst wichtig sind in
       dieser Unternehmenskategorie hingegen
       die anderen überfachlichen Kompetenzen.
       Fähigkeiten wie Zuhören, Kommunizieren
       und Verhandeln, Sozialkompetenz und Or-
       ganisationsfähigkeit (insbesondere Zeit-
       management), analytisches Denken (das
       eigene Handeln reflektieren und die eige-
       nen Grenzen kennen) sowie Problemlöse-
       kompetenz spielen bei der Auswahl von
       künftigen Mitarbeitenden eine entschei-
       dende Rolle.

           Das Zünglein an der Waage
       Zur zweiten Kategorie von Unternehmen
       gehören zwei Westschweizer KMU, die we-        Gewisse Firmen rekrutieren nur Mitarbeitende, die Auslandserfahrung gesammelt haben.
       nig Auslandskontakte haben und deren
       Arbeitssprache Französisch ist. Obwohl
       eine der beiden Firmen einige Filialen in          Kulturschock erwünscht                      anderen Kulturen und kann nur in der
       Frankreich betreibt, legen beide Wert auf      Die dritte Kategorie bilden vier stark inter-   direkten Auseinandersetzung mit diesen
       regionale Verankerung und Kenntnisse der       national ausgerichtete Unternehmen. Im          ausgebildet werden. Deshalb empfehlen sie
       Lokalkultur. Ähnlich wie bei den Instituti-    Gegensatz zu den ersten beiden Kategorien       künftigen Mitarbeitenden, bewusst «Kul-
       onen im Gesundheitsbereich findet inter-       ist die Arbeitssprache in diesen Firmen         turschocks» herbeizuführen, indem sie
       kulturelle Interaktion hier hauptsächlich      Englisch, und es wird erwartet, dass die        einige Zeit in einem «exotischen» Land le-
       aufgrund der unterschiedlichen Herkunft        Mitarbeitenden weitere Fremdsprachen-           ben. Neben der interkulturellen Kompe-
       der Mitarbeitenden statt. Interkulturelle      kenntnisse mitbringen. Interkulturelle          tenz sind aber auch in dieser Unterneh-
       Kompetenz im Sinne von gegenseitigem           Interaktion findet nicht nur intern, auf-       menskategorie alle übrigen überfachlichen
       Verständnis und Respekt, genauem Zuhö-         grund der unterschiedlichen Herkunft der        Kompetenzen gefragt.
       ren und Sensibilität für kulturelle Missver-   Mitarbeitenden, sondern auch ausserhalb             Unsere Ergebnisse unterstreichen die
       ständnisse wird aber ebenso geschätzt wie      des Unternehmens statt. Alle vier Unter-        Bedeutung von Auslandsaufenthalten für
       Auslandserfahrung, die eine gewisse Rou-       nehmen unterhalten enge Kontakte mit            den Erwerb und die Weiterentwicklung
       tine durchbricht. Bei gleichen Kompeten-       Niederlassungen, Kunden oder Partnerfir-        von interkulturellen Kompetenzen. Wie
       zen und Gehaltsvorstellungen sind Kandi-       men im Ausland und betrachten diese In-         diese Kompetenzen von künftigen Arbeit-
       datinnen und Kandidaten, die einen             terkulturalität als Bereicherung, als wert-     gebern bewertet werden, ist jedoch situati-
       Auslandsaufenthalt vorweisen können, im        volle strategische Ressource und möglichen      onsabhängig. So ist es zwar wichtig, inter-
       Vorteil. Interkulturelle Kompetenz ist je-     Anreiz für Investoren. Diversität, geistige     nationale Mobilität zu fördern; können
       doch keine grundlegende Voraussetzung          Offenheit und Heterogenität sind hier           Studierende aber aus irgendwelchen Grün-
       für eine Anstellung, denn auch in dieser       wichtige Schlüsselbegriffe für die Image-       den keinen Auslandsaufenthalt absolvie-
       Unternehmenskategorie stehen wiederum          bildung. Es erstaunt deshalb nicht, dass        ren, müssen sie deswegen beim Eintritt in
       andere überfachliche Kompetenzen im            diese Unternehmen interkulturelle Kom-          den Arbeitsmarkt keine grossen Nachteile
       Vordergrund. Neben den eigentlichen            petenzen als unerlässlich bewerten und          in Kauf nehmen. Überfachliche Kompeten-
       Fachkompetenzen sind Gesprächs- und            nur Mitarbeitende rekrutieren, die bereits      zen im Allgemeinen sind hingegen bei fast
       Verhandlungskompetenz, die Fähigkeit,          Auslandserfahrung in Form von Praktika,         allen Arbeitgebern sehr gefragt. Deshalb ist
       Kundenbedürfnisse zu verstehen, ein Pro-       Erasmus-Aufenthalten, Reisen usw. gesam-        es wichtig, dass diese Fähigkeiten von den
       jekt zu leiten, Informationen zu verarbei-     melt haben. Für diese Unternehmen steht         Bildungsinstitutionen gefördert werden
       ten und zu analysieren sowie Problemlöse-      interkulturelle Kompetenz für Anpas-            und dass die RAV über Tools verfügen, um
       kompetenz am begehrtesten.                     sungsfähigkeit und Offenheit gegenüber          überfachliche Kompetenzen zu bewerten.

                                                                                                               PANORAMA 4 | 2019 — 9

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PANORAMA Bildung Beratung Arbeitsmarkt - Edudoc CH
FOKUS Interkulturalität

       Auslandschweizer im Schweizer Bildungssystem

       Lost in translation
       Einige Schweizerinnen und Schweizer, die im Ausland leben, haben einen engen Bezug zur
       Schweiz, andere kennen sie kaum. Egal, wie fremd oder vertraut ihnen ihr Heimatland ist:
       Wenn junge Auslandschweizerinnen und -schweizer für eine Ausbildung in die Schweiz
       kommen, machen sie verschiedenste interkulturelle Erfahrungen.
       Von Alexander Wenzel, PANORAMA-Redaktor

       Gemäss den 2018 erhobenen Daten des Bun-       schiede im weiteren Sinne können zu Prob-     bote. «Die meisten unserer Leistungen sind
       desamtes für Statistik leben mehr als          lemen führen, etwa wenn der Alltag im         kostenlos», präzisiert von Gunten. «Wir
       760 000 Schweizer Bürgerinnen und Bürger       Wohnland und in der Schweiz nach ganz         geben auf Deutsch, Französisch, Italie-
       im Ausland. Das sind über zehn Prozent der     anderen Regeln funktioniert.                  nisch und Englisch, aber auch auf Spa-
       Personen mit Schweizer Pass. Würden sie            Es kommt natürlich darauf an, welchen     nisch Auskunft.»
       zusammen einen Kanton bilden, wäre dies        Bezug die Jugendlichen über ihre Staatsan-        «Wir bei educationsuisse machen eine
       gemessen an der Einwohnerzahl der viert-       gehörigkeit und Familiengeschichte hinaus     erste Triage», erklärt Ruth von Gunten.
       grösste Kanton nach Zürich, Bern und der       zur Schweiz haben, doch die meisten erle-     «Personen, die eine individuelle und einge-
       Waadt. Die Interessen dieser zahlenmässig      ben einen Kulturschock. So auch Jonathan      hende Beratung wünschen, verweisen wir
       wichtigen Bevölkerungsgruppe, auch die         Tadres, der in Ägypten aufgewachsen ist       an die Berufsberatungszentren des Kan-
       fünfte Schweiz genannt, werden hierzu-         und für sein Studium nach Basel kam. «Ich     tons Bern.» Seit 2016 arbeitet educationsu-
       lande von der Auslandschweizer-Organisa-       spreche den Thurgauer Dialekt meiner Mut-     isse bei der Studien- und Berufsberatung
       tion (ASO) vertreten.                          ter», erzählt er. «Das gab mir am Anfang      mit dem regionalen Berufsberatungs- und
           Viele junge Auslandschweizer kommen        Halt, Sicherheit und ein Gefühl von Ver-      Informationszentrum (BIZ) Bern-Mittel-
       nach Abschluss der Schulzeit in die Schweiz,   trautheit.» Doch das Gefühl erwies sich als   land zusammen. Rund 20 Jugendliche ha-
       um eine Ausbildung zu absolvieren. Dieser      trügerisch, zum Beispiel als sich der junge   ben sich bisher am BIZ Bern beraten lassen.
       Wechsel kann eine grosse Herausforderung       Mann an einen Bankangestellten wandte,        Rachel Chervaz ist eine der Spezialistin-
       sein, vor allem wenn die kulturellen Unter-    weil er nicht wusste, wie man einen Banco-    nen, die sich um diese Klienten kümmern:
       schiede zwischen dem Wohnland und der          maten bedient. «Weil ich Schweizerdeutsch     Sie berät französischsprachige Ratsu-
       Schweiz gross sind. Zwar sind zwei Drittel     sprach, glaubte er mir das einfach nicht.»    chende am BIZ Biel. Chervaz geht mit Ruth
       der Auslandschweizer/innen in Europa                                                         von Gunten einig, dass man nicht nur die
       wohnhaft, und fast die Hälfte lebt in einem        Individuelle Beratung                     Schweizer Bildungslandschaft, sondern
       Nachbarland der Schweiz, doch mehrere          Junge Auslandschweizer/innen, die hierzu-     auch das schweizerische Umfeld im Allge-
       Hunderttausend Schweizer Bürger wohnen         lande eine Ausbildung absolvieren wollen,     meinen erklären muss, damit sich die Aus-
       in weiter entfernten Ländern. Da zudem ein     können die Unterstützung des Vereins edu-     landschweizer/innen schneller hier einle-
       Fünftel von ihnen unter 18 Jahre alt ist,      cationsuisse in Anspruch nehmen. Der          ben. «Oft fühlen sich die jungen Menschen
       dürften regelmässig zahlreiche junge Aus-      Dachverband der 18 anerkannten Schwei-        hier ziemlich fremd», stellt die Beraterin
       landschweizer mit einer schwierigen Aus-       zerschulen im Ausland informiert, berät       fest. Man müsse auch abklären, ob in der
       bildungssituation in der Schweiz konfron-      und unterstützt junge Auslandschweizer/       Schweiz wohnhafte Angehörige, etwa ein
       tiert sein.                                    innen sowie die Schüler/innen der Schwei-     Elternteil, Geschwister oder auch entfern-
           Die Schwierigkeiten können auf ver-        zerschulen bei einer Ausbildung in der        tere Verwandte, Unterstützung bieten
       schiedenen Ebenen auftreten. So können         Schweiz. «2017 haben wir 860 und 2018         könnten. Die meisten Klienten kommen
       etwa die Unterschiede zwischen den Bil-        rund 1000 Anfragen erhalten. Die Hälfte       persönlich zu ein oder zwei Gesprächen
       dungssystemen Probleme verursachen, die        davon kam aus Europa, etwa 200 aus La-        nach Biel, meist während der Ferien. «Na-
       sich auch auf die Berufs- und Studienwahl      teinamerika», sagt Ruth von Gunten, die       türlich wären für eine kontinuierliche Be-
       auswirken. Besonders wichtig sind hier Fra-    bei educationsuisse solche Anfragen be-       treuung mehr Treffen wünschenswert»,
       gen rund um die Ausbildungszulassung           treut. Der Verband will der erste Ansprech-   betont Rachel Chervaz.
       und die Anerkennung von Schulabschlüs-         partner für diese Zielgruppe sein. Per E-         Junge Auslandschweizer/innen ziehen
       sen. Hinzu kommt, dass die jungen Ausland-     Mail, Telefon oder im persönlichen            in der Regel ein Hochschulstudium einer
       schweizer/innen eine Landessprache be-         Gespräch informieren Ruth von Gunten          Berufslehre vor. Dabei entscheiden sie sich
       herrschen, die Finanzierung der Ausbildung     und ihre Kolleginnen die betreffenden Per-    mehrheitlich für ein Universitäts- oder
       sichern und administrative Hürden über-        sonen über das Schweizer Bildungssystem       ETH-Studium. Die Fachhochschulen und
       winden müssen. Auch kulturelle Unter-          und die finanziellen Unterstützungsange-      die Berufsbildung seien weniger bekannt,

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PANORAMA Bildung Beratung Arbeitsmarkt - Edudoc CH
sagt Ruth von Gunten. Viele gingen davon       kenntnisse musste sie dieses aber abbre-        zurückgelegt. Nachdem er allmählich
       aus, dass ein Hochschulstudium in jedem        chen. Sie versuchte es mit Lebensmittelwis-     seine Liebe zur Fotografie entdeckt hatte,
       Fall besser sei. Ruth von Gunten erklärt       senschaften und Wirtschaft und entschied        kam er von seinem Plan ab, in Basel Biolo-
       ihnen dann die Vorteile des dualen Berufs-     sich schliesslich für ein Physiotherapiestu-    gie zu studieren; dafür hätte er auch die
       bildungssystems, vor allem dessen Durch-       dium. Während ihre Zulassung geprüft            Ergänzungsprüfung ECUS vorbereiten
       lässigkeit und die Zugangsmöglichkeiten        wurde, absolvierte sie ein Praktikum bei        müssen. Zunächst hielt er sich mit ver-
       zur Tertiärbildung. Gerade wenn es Prob-       der Spitex in Schönbühl (BE). Als der Zulas-    schiedenen Gelegenheitsjobs über Wasser,
       leme mit der Hochschulzulassung oder           sungsentscheid negativ ausfiel, ergriff sie     arbeitete in einer Bar, einer Senffabrik,
       dem Sprachniveau gebe, könne der Weg           die Gelegenheit und begann die Grundbil-        einer Spenglerei, bei der Post und beim
       über eine Berufslehre sinnvoll sein.           dung zur Fachfrau Gesundheit EFZ (FaGe)         Formel-1-Rennstall McLaren. Schliesslich
            Von den vier Auslandschweizern, die Ra-   bei der Spitex, wo es ihr gut gefiel. Ab 2020   begann er Fotografie an der Kunsthoch-
       chel Chervaz in den letzten zwei Jahren be-    möchte sie sich zur Pflegefachfrau FH oder      schule Lausanne (ECAL) zu studieren und
       raten hat, wollten zwei ein Hochschulstu-                                                      beendete seinen Bachelor in Zürich, und
       dium (an ETH, Universität oder FH)                «Ich wusste nicht, wie                       zwar in Kunst und Medien. Nach der Bera-
       aufnehmen, zwei wollten eine Berufslehre          man einen Bancomaten                         tung durch Ruth von Gunten entschied er
       beginnen. Einer davon, ein in Spanien auf-        bedient. Weil ich                            sich anschlies-send für ein Masterstudium
       gewachsener Schweizer, wählte den Weg             Schweizerdeutsch                             an der Hochschule für Kunst und Design
       über eine berufliche Grundbildung an die          sprach, glaubte mir                          (HEAD) in Genf, das er im Juni 2019 abge-
       FH, weil sein Schulabschluss nicht alle Fä-       der Bankangestellte                          schlossen hat.
       cher umfasste, die für einen direkten Hoch-       einfach nicht.»                                  Auch die Wechselfälle der Geschichte
       schulzugang erforderlich sind.                                                                 können den Bildungsweg beeinflussen. Jo-
                                                         Jonathan Tadres, zukünftiger
            Während der Hochschulzugang mit              Lehrer, aufgewachsen in Ägypten              nathan Tadres wollte eigentlich ein natur-
       einem deutschen Abitur, einem französi-                                                        wissenschaftliches Fach studieren und mit
       schen Baccalauréat oder einem Internatio-      zur Biomedizinischen Analytikerin HF            einem Lehrdiplom abschliessen. Als er im
       nal Baccalaureate relativ unkompliziert        weiterbilden. Dank dem EFZ, das sie seit        Januar 2011 an der Deutschen Schule in
       ist, gelten für andere ausländische Mittel-    Juni 2019 in der Tasche hat, dürfte die Zu-     Kairo die Abiturprüfungen beginnen
       schulabschlüsse eine ganze Reihe von Auf-      lassung diesmal leichter sein. «Als FaGe bin    wollte, kam der Arabische Frühling dazwi-
       lagen (siehe www.swissuniversities.ch).        ich zwar weit von einem Wein-Beruf ent-         schen, und Jonathan Tadres wurde von den
       Fernando Mora Balzaretti beispielsweise        fernt», sagt die junge Frau, «aber die Arbeit   Schweizer Behörden evakuiert. Im März
       absolvierte seine Schulzeit in Mexiko und      im Labor würde meinem Interesse für Che-        konnte er nur kurz nach Ägypten zurück-
       schloss die gymnasiale Mittelschule mit        mie entgegenkommen, das auch bei der            kehren, um das Abitur abzulegen. «Die
       dem Bachillerato ab. Da dieses nicht zur       Önologie eine Rolle spielt. Ich denke jeden-    Revolution war friedlich», erinnert er sich,
       Schweizer Matura äquivalent ist, musste er     falls, dass man im Leben immer noch Zeit        «bis die Plünderer kamen. Wir packten un-
       die Ergänzungsprüfung der schweizeri-          hat, um andere Dinge zu machen.»                sere Fotoalben ein in der Angst, nicht
       schen Hochschulen (ECUS) ablegen, bevor            Educationsuisse hat der jungen Frau         mehr wiederzukommen. Am nächsten Tag
       er sich an der Universität St. Gallen ein-     bei der Einreichung von Stipendiengesu-         kauften wir in Winterthur Kleider nach.
       schreiben konnte.                              chen geholfen. Wenn ihre Eltern nicht in        Diese schizophrene Erfahrung hat mich
                                                      der Lage sind, die Ausbildung zu finanzie-      geprägt.» Durch das Erlebnis, einander
            Erstaunliche Bildungswege                 ren, können Auslandschweizer/innen in           nicht zu verstehen und nicht dazuzugehö-
       Die Berufs- und Studienwahl ist für junge      der Regel ein Stipendium bei ihrem Hei-         ren, begann er sich dafür zu interessieren,
       Auslandschweizer manchmal auch deshalb         matkanton beantragen. Doch Nathalie             wie Sprache und Literatur Erfahrungen
       komplizierter, weil sie zwischen zwei Län-     Joho erfüllte die Voraussetzungen für Aus-      des «Andersseins» vermitteln. Er studierte
       dern und Kulturen stehen. Viele von ihnen      bildungsbeiträge ihres Kantons nicht. «Die      Germanistik und Anglistik in Basel und
       probieren zuerst einmal verschiedene Dinge     Unterschiede zwischen den Kantonen sind         absolvierte nach dem Bachelorabschluss
       aus, bevor sie ihren Weg finden.               gross. Für Auslandschweizer ist es oft          ein Masterstudium in deutscher und ver-
             «Schon als ich sieben war, wollte ich    schwierig, diese Eigenheit des Föderalis-       gleichender Literaturwissenschaft in Bonn
       später einmal einen Beruf, der mit Wein        mus zu verstehen», erläutert Ruth von Gun-      und St Andrews (Schottland). Zurzeit
       zu tun hat», erzählt beispielsweise Natha-     ten, die für Nathalie Joho ein Stipendium       knüpft er wieder an sein ursprüngliches
       lie Joho aus Mexiko. Mit ihrem Bachillerato    bei einer Stiftung gefunden hat.                Berufsziel an und bildet sich an der PH
       erhielt sie zwar eine Zulassung zum Öno-           Paulo Wirz, der in Brasilien aufge-         Nordwestschweiz zur Lehrperson für
       logiestudium an der Fachhochschule             wachsen ist, hat auf der Suche nach sei-        Deutsch und Englisch auf der Sekundar-
       Changins, wegen mangelnder Sprach-             nem Berufsziel einen erstaunlichen Weg          stufe II weiter.

                                                                                                             PANORAMA 4 | 2019 — 11

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Interkulturelle Kompetenzen in der Berufsfachschule

               Von «roots» zu «routes»
               Migranten und Migrantinnen bilden eine wichtige Gruppe in der beruflichen Grundbildung.
               Guter Unterricht erfordert einen bewussten Umgang mit den damit verbundenen kulturellen
               und sprachlichen Herausforderungen. Die Auseinandersetzung mit migrationspädagogischen
               Fragen ist in der Ausbildung der Lehrpersonen aber noch nicht selbstverständlich.
               Von Elke-Nicole Kappus, Ramona Martins und Janine Gut, Pädagogische Hochschule Luzern

               Der Bericht «Berufsbildung 2030» nennt          Situationen und der finanzielle Druck,         ausgerichtete Berufsbildung, die diese
               Migration – neben Digitalisierung, Globa-       möglichst schnell Geld zu verdienen.           Aufgaben integriert, effizient und selbst-
               lisierung, steigender Mobilität, Flexibilität       Diese Aspekte spiegeln sich in den Aus-    verständlich verfolgt, ist noch lange nicht
               und demografischem Wandel – als einen           sagen der Teilnehmenden des Weiterbil-         die Norm. Sprach- und Kultursensibilität
               Megatrend, den es in der Berufsbildung          dungsstudiengangs CAS Deutsch als Zweit-       bedeutet, dass sich die Lehrpersonen aller
               künftig vermehrt zu berücksichtigen             sprache und Interkulturalität in der           drei Lernorte der sprachlichen und kultu-
               gelte. Schon heute beträgt der Anteil von       Berufsbildung (siehe Kasten) der PH Luzern     rellen Herausforderungen ihrer verschie-
               Lernenden mit Migrationshintergrund in          wider. Die Teilnehmenden wurden zu den         denen Aufgaben bewusst sind und dass sie
               der beruflichen Grundbildung 21 Prozent,        Herausforderungen in ihrem Berufsalltag        über Methoden und Instrumente verfü-
               in den zweijährigen Berufsbildungen (EBA)       befragt, die mit der heterogenen Zusam-
               gar 45 Prozent (Bundesamt für Statistik).       mensetzung ihrer Klassen verbunden sind.
                   Migration ist in den letzten Jahren vor     Sie sind in Berufsfachschulen, Berufs- und
                                                                                                               CAS Deutsch als Zweitspra-
               allem in Hinblick auf die Gruppe der Ju-        Weiterbildungszentren oder Brückenange-
                                                                                                               che und Interkulturalität
               gendlichen und jungen Erwachsenen, die          boten tätig. Sie bestätigen, dass die unter-    in der Berufsbildung
               im Alter von 16 bis 25 Jahren in die Schweiz    schiedlichen Sprachkompetenzen die              Der fördernde Umgang mit sprachli-
               einreisen und ihre schulische Sozialisa-        Kommunikation im Unterricht bisweilen           chen und kulturellen Verschiedenhei-
               tion nicht in der Schweiz erfahren haben,       schwierig machen. Lernende mit mangeln-         ten im Unterricht trägt zum Bildungser-
               in den Fokus des Interesses geraten. Ein        den Deutschkenntnissen kämen beson-             folg und zur Arbeitsmarktintegration
               Teil dieser Gruppe weist ein erhöhtes Ri-       ders hinsichtlich der berufsspezifischen        von Lernenden mit Migrationshinter-
               siko auf, keine nachobligatorische Ausbil-      Fachsprache manchmal an ihre Grenzen.           grund bei. Mit dem Weiterbildungsstu-
               dung zu schaffen, wie eine Bestandsauf-         Vornehmlich in den zweijährigen Grund-          diengang CAS Deutsch als Zweitsprache
               nahme zur Bildungsbeteiligung von spät          bildungen (EBA) gehörten Lernende aus           (DaZ) und Interkulturalität in der
               eingereisten Jugendlichen und jungen Er-        anderen Kulturen, die erst wenige Jahre in      Berufsbildung werden schulische und
               wachsenen des Büro Bass aus dem Jahr 2016       der Schweiz seien, zur Norm. Neben              betriebliche Bildungsverantwortliche
               zeigt. Da Bund und Kantone für 95 Prozent       sprachlichen Defiziten brächten die Ler-        befähigt, mit kulturellen Unterschieden
               aller 25-Jährigen in der Schweiz einen Ab-      nenden kulturell unterschiedlich geprägte       im Unterricht konstruktiv umzugehen
               schluss auf der Sekundarstufe II anstreben,     Vorstellungen über das Berufsverständnis        und Deutsch als Zweitsprache effektiv
               haben die nationalen Gremien der interin-       und berufsrelevante Inhalte sowie über          zu fördern. Die Kompetenzen zur
               stitutionellen Zusammenarbeit – Berufsbil-      gesellschaftliche Themen (zum Beispiel          Unterstützung von DaZ-Lernenden
               dung, Sozialhilfe, Integrationsförderung        Genderfragen) mit. Die sprachlichen und         werden durch didaktische Umsetzun-
               usw. – hier bereits 2012 einen besonderen       kulturellen Voraussetzungen führten teil-       gen und Praxisgruppen erarbeitet (zum
               Handlungsbedarf geortet.                        weise zu ethnischer Gruppenbildung oder         Beispiel berufskundlicher Unterricht,
                                                               sogar zu ethnischen Abgrenzungen.               allgemeinbildender Unterricht, überbe-
                   Herausforderungen für                           Spät eingereiste Jugendliche und            triebliche Kurse). Zudem befähigt der
                   die Berufsbildung                           junge Erwachsene müssen also in kurzer          Studiengang die Teilnehmenden, fächer-
               Als Herausforderungen für die erfolgrei-        Zeit sowohl die Alltagssprache als auch die     übergreifend als Expertinnen und
               che Bildungsintegration von spät einge-         Bildungs- und Fachsprache erlernen, um          Experten für die Förderung von Deutsch
               reisten Jugendlichen nennt die Bass-Studie      in der Berufsbildung bestehen zu können.        als Zweitsprache und den Umgang mit
               vor allem fehlende Sprachkenntnisse und         Und sie müssen sich mit der neuen Kultur        Interkulturalität in der Ausbildung an
               die Unkenntnis des Schweizer Bildungssys-       auseinandersetzen. Tatsächlich aber ste-        ihrer Schule tätig zu sein. Nächster
               tems; weitere Hürden sind fehlende Schul-       hen in der Berufsfachschule dafür nur           Start ist im Oktober 2019.
               bildung, die Unkenntnis des lateinischen        wenig Zeit und wenige Gefässe zur Verfü-        www.phlu.ch/weiterbildung
               Alphabets sowie schwierige psychosoziale        gung. Eine sprach- und kultursensibel

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                                                                                                                     PANORAMA 4 | 2019 — 13

        4-15_FOK_Panorama_DE_4_19.indd 13                                                                                                            08.08.19 10:36
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       Kompetenzen für die Arbeitswelt messen
       Was mit der Integrationsagenda ab 2019 für die ganze Schweiz gilt, wird im Kanton Graubünden
       mit grosser Wirkung bereits praktiziert: eine berufliche Potenzialabklärung für Flüchtlinge und
       vorläufig Aufgenommene.

                                                                               Wie können Sie im Einzelfall die Erkenntnisse aus dem
                                                                               Praxisassessment F bei der beruflichen Integration Ihrer
                                                                               Klienten nutzen?
                                                                               Christoph Buschor: Lebenslauf und Handlungsplan geben Ant-
                                                                               worten darüber woher jemand kommt, was er/sie mitbringt, und
                                                                               welche Ziele er/sie verfolgt. Zudem erhalten wir vom Assessment
                                                                               erste Beurteilungen über vorhandenes Potenzial, berufliches Kön-
                                                                               nen sowie das Arbeits- und das persönliche Verhalten. Zusammen
                                                                               mit den bereits eingegangenen Feedbacks aus den Deutschkur-
                                                                               sen ergibt sich damit ein recht gutes Bild vom Stellensuchenden
                                                                               und dies entscheidet massgeblich über das Wie, Was und Wo der
                                                                               nächsten Schritte. Die Fachstelle Integration integriert mit dem
                                                                               Ansatz supportet employment die meisten Stellensuchenden di-
                                                                               rekt in den ersten Arbeitsmarkt.

                                                                               Können Sie eine Angabe über die Erfolgsquote im Job-
                                                                               Coaching mit Personen, welche zuvor im Praxisassessment
                                                                               F waren, machen?
                                       Seit sieben Jahren setzt die Fach-      Christoph Buschor: Die Erfolgsquote liegt bei plus/minus 60%.
                                       stelle Integration des Kantons Grau-
                                       bünden auf das Praxisassessment
                                       F der Stiftung SAG. Die fundierte        Das Praxisassessment F ist eine dreiwöchige Standortbestimmung zu
                                       berufliche Abklärung liefert den         den beruflichen Ressourcen, Kompetenzen und Potenzialen von Flücht-
                                       Job-Coaches die nötigen Informati-       lingen und vorläufig Aufgenommenen.
                                       onen, um Flüchtlinge und vorläufig
                                                                                Die Kurswoche dreht sich um die Anforderungen des Arbeitsmarktes und
                                       Aufgenommene rasch und dauer-            die gängigen Normen am Arbeitsplatz. In zwei Arbeitswochen werden
                                       haft im ersten Arbeitsmarkt integ-       mit analytischen Instrumenten die kognitiven, sozialen und psychomoto-
                                       rieren zu können. Christoph Buschor      rischen Kompetenzen der Teilnehmenden gemessen. Im Einzelcoaching
                                       ist Jobcoach bei der Fachstelle Inte-    entstehen aus den Ergebnissen konkrete Handlungspläne für die Arbeits-
                                       gration und weist seine Klienten in      integration.
       Christoph Buschor
       Job-Coach Fachstelle Integra-
                                       das Praxisassessment F der Stiftung
                                                                                Die Zuweiser erhalten nach dem Assessment einen individuellen Hand-
       tion Kanton Graubünden          SAG zu.                                  lungsplan, ein Kompetenzprofil, Vorschläge zu Fördermassnahmen und
                                                                                nächsten Schritten sowie eine Kopie des erstellten Bewerbungsdossiers.
       Christoph Buschor, Sie haben mit der Stiftung SAG                        Diese Grundlagen vereinfachen in der Folge die rasche, gezielte und nach-
       zusammen das Praxisassessment F entwickelt. Welchen                      haltige Arbeitsintegration zusammen mit dem/der Job-Coach.
       Stellenwert nimmt es im Integrationsprozess des Kantons
       Graubünden ein?
       Christoph Buschor: Nachdem FL und VA Sprachkurse bis zum
       Niveau A2 besucht haben, starten wir mit einem allgemeinen
       Informationsanlass zum Thema berufliche Integration. Danach
       folgt das Assessment, wo gemeinsam mit den Stellensuchenden
       das notwendige Wissen rund um das Thema «Arbeiten in der
                                                                                                       Claudia Schwarzenbach,
       Schweiz» und der persönliche Lebenslauf erarbeitet wird. Dem                                    Angebotsleiterin Praxisassessment F
       Stellensuchenden und dem Job-Coach dient dies als Grundlage                                     Berchtoldstrasse 3, CH-8610 Uster
       für das weitere Vorgehen und die individualisierte Zusammen-                                    044 905 77 00
       arbeit mit den Klienten. Das Assessment geniesst ein hohes An-                                  claudia.schwarzenbach@stiftung-sag.ch
       sehen und hat für den Verlauf des Integrationsprozesses einen                                   www.praxisassessment.ch
       grossen Stellenwert.                                                                            www.stiftung-sag.ch

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