SOZIALE SICHERHEIT - Universität Basel

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SOZIALE SICHERHEIT - Universität Basel
SOZIALE SICHERHEIT
CHSS N° 2 ⁄ 2016

SCHWERPUNKT

Nationales Programm
gegen Armut
Verstärkte Koordination der
Armutsbekämpfung7

Familie, Generationen
und Gesellschaft
Verbesserter Zugang zur Kita
dank Betreuungsgutscheinen49

Vorsorge
Einkommensbezogene
Umverteilung in der AHV   59
EDITORIAL

Armutsprävention in der Schweiz

                                                                     Akteure und Zuständigkeiten erschweren dabei den Über-
Ludwig Gärtner                                                       blick und den Austausch über die gemachten Erfahrungen.
Stellvertretender Direktor Bundesamt für Sozialversicherungen           Vor diesem Hintergrund hat der Bundesrat entschieden,
                                                                     ein nationales Programm zur Prävention und Bekämpfung
                                                                     von Armut durchzuführen. Das 2014 begonnene und auf fünf
                                                                     Jahre befristete Programm wird gemeinsam von Bund, Kan-
Gemäss Bundesamt für Statistik sind in der Schweiz rund              tonen, Städten, Gemeinden sowie privaten Organisationen
600 000 Menschen von Einkommensarmut betroffen. Die                  getragen und greift nicht in die geteilten föderalen Zustän-
Ursachen von Armut können vielfältig sein: Fehlende Bil-             digkeiten ein. Es stellt gesichertes Wissen zu den verschie-
dungsabschlüsse, schwierige Lebensereignisse oder Fami-              denen Themen der Armutsprävention bereit, gibt Impulse zu
liensituationen, gesundheitliche Beeinträchtigungen oder             ihrer Weiterentwicklung und fördert die Vernetzung und
Verschuldung können dazu führen, dass Menschen nicht                 Zusammenarbeit der beteiligten Akteure. Einen inhaltlichen
über die zum Leben notwendigen Mittel verfügen. Der Man-             Schwerpunkt setzt das Programm bei der Förderung von Bil-
gel an finanziellen Ressourcen ist aber nur ein Aspekt von           dungschancen. Entsprechende Massnahmen umfassen die
Armut. Armutsbetroffene Menschen sind häufig auch in                 frühe Förderung von Kindern, die Stärkung sozial benach-
ihrer sozialen Teilhabe eingeschränkt oder sie leiden unter          teiligter Eltern zur adäquaten Begleitung ihrer Kinder im
schlechten Wohnbedingungen.                                          Berufswahl- und Ausbildungsprozess, die berufliche­Grund-
   Die finanziellen Leistungen der Sozialversicherungen              und Weiterbildung für Erwachsene, die Unterstützung
und der Sozialhilfe sollen den Lebensunterhalt sichern und           bei der Stellensuche oder die Vermittlung von begleiteten
so Armut vorbeugen oder beheben. Armutsprävention zielt              Arbeitseinsätzen. Schliesslich zielt die Armutsprävention
auf die Verbesserung der sozialen und beruflichen Teilhabe           auch auf die Verbesserung der allgemeinen Lebenssitua-
Betroffener, indem diese dabei unterstützt werden, ein aus-          tion, indem z. B. die Verbesserung der Wohnsituation oder
reichendes Einkommen zu erwirtschaften und ein selbstbe-             die wirtschaftliche Stabilisierung armutsbetroffener und
stimmtes Leben zu führen. In der Schweiz existieren Unter-           -gefährdeter Familienhaushalte angestrebt werden.
stützungs- und Integrationsmassnahmen auf allen staatlichen             Diese CHSS-Ausgabe gibt einen Einblick in die Pro-
Ebenen und in vielen Bereichen, z. B. im Bildungs- und Berufs-       grammarbeiten. Die beteiligten Partner werden anlässlich
bildungssystem, in der Invaliden- und Arbeitslosenversiche-          der nationalen Armutskonferenz vom 22. November 2016
rung, im Rahmen der Sozialhilfe oder in der Form von Ini-            eine Zwischenbilanz ziehen und die Schwerpunkte der zwei-
tiativen privater Organisationen. Die vielfältigen Systeme,          ten Programmhälfte bis Ende 2018 diskutieren. 

                                                                 3
Soziale Sicherheit ⁄ CHSS ⁄ 2 | 2016

03   Editorial                                                       22 Das Programm aus Sicht der Steuergruppe Die stra-
72   Parlamentarische Vorstösse                                         tegische Ausrichtung des Nationalen Programms gegen
73   Gesetzgebung: Vorlagen des Bundesrats
                                                                        ­A rmut wird von ­einer neunköpfigen Steuergruppe ver-
74   Sozialversicherungsstatistik
                                                                         antwortet. Aus Anlass des ersten CHSS-Schwerpunkts
76   Gut zu wissen
                                                                         zum P­ rogramm haben wir die bundesverwaltungsex-
                                                                         ternen Mitglieder der Steuergruppe gebeten, uns die
                                                                         zentralen Herausforderungen der Armutsprävention
                                                                         und -bekämpfung zu n  ­ ennen und zu diskutieren, wel-
 Schwerpunkt                                                             chen Beitrag das Programm zu leisten vermag und
 Nationales Programm                                                     wo seine Möglichkeiten begrenzt sind. Remo Dörig,
                                                                        stv. General­s ekretär SODK / Hans Ambühl, General­
­gegen ­Armut                                                           sekretär EDK / Norbert Graf, alt Gemeinderat Jegens­
                                                                        torf / Marius Beerli, ­Leiter Kommunikation und Gesell-
                                                                        schaftspolitik Städteverband / Hugo Fasel, Direktor
8    Nationales Programm gegen Armut – Zwischenstand                    Caritas Schweiz
     und Ausblick Mangelnde Bildung, Langzeitarbeits-
     losigkeit, Verschuldung oder auch ­unvorhergesehene             29 Wohnversorgung armutsbetroffener und -gefährdeter
     ­Lebensereignisse können den Weg in die Armut be-                  Haushalte Wie schwierig ist die Lage Armutsbetroffe-
      gründen. Am nachhaltigsten v­ orbeugen und bekämpfen              ner und -gefährdeter bei der Wohnversorgung? Um die-
      lässt sie sich über Bildung sowie soziale und berufliche          se Frage zu beantworten, wurde im Rahmen des Natio-
      Integra­tion. 2014 lancierte der Bundesrat ein entspre-           nalen Programms gegen Armut ein Modell entwickelt,
      chendes Programm. Gabriela Felder, Bundesamt für                  das die Messung und Beurteilung der Wohnversorgung
     Sozialversicherungen                                               von Haus­halten in Armut und prekären Lebenslagen
                                                                        erlaubt. Christin Kehrli, Schweizerische Konferenz
12 Stand und Grenzen der Armutsberichterstattung                        für Sozialhilfe / Carlo Knöpfel, Fachhochschule Nord-
     in der Schweiz In den letzten 15 Jahren wurden verschie-           westschweiz / Yann Bochsler, Fachhochschule Nord-
     dene Formen der Armutsberichterstattung e­ ntwickelt.              westschweiz / Tobias Fritschi, Berner Fachhochschule
     Diese bilden Armut, aber auch ihre Prävention und Be-
     kämpfung nur ­uneinheitlich und fragmentarisch ab.              34 Frühe Förderung ist wirksam Kinder aus sozial be-
     Ein umfassendes, auf Längsschnittmessungen basie-                  nachteiligten Familien profitieren von qualitativ guter
     rendes schweizweites Armutsmonitoring gibt es bisher               früher Förderung. Ein neuer Leitfaden unterstützt öf-
     nicht. Sarah Neukomm, econcept AG / Marie-Christine                fentliche und private Träger­schaften und Einrichtungen
     Fontana, econcept AG                                               bei der Konzipierung, beim Aufbau, bei der Weiterent-
                                                                        wicklung und bei der Evaluation entsprechender Ange-
16 Wie lässt sich Armut messen? Das Bundesamt für Sta-                  bote. Luzia Tinguely, Universität ­Freiburg i.Ü. / Clau-
     tistik (BFS) verwendet drei verschiedene Ansätze zur               dia Meier M
                                                                                  ­ agistretti, Hochschule Luzern / C
                                                                                                                    ­ atherine
     Messung von Armut, um die Situation in der Schweiz                 ­Walter-Laager, Stadt Zürich / Sarah ­R abhi-Sidler,
     möglichst umfassend abzubilden. Dieser Artikel stellt              Hochschule Luzern
     die drei Messkonzepte vor und zeigt auf, warum sie in
     gewissen Fällen zu unterschiedlichen Resultaten füh-
     ren. Martina Guggisberg, Bundesamt für Statistik /
     Stephan Häni, Bundesamt für Statistik / Stéphane
     Fleury, Bundesamt für Statistik

                                                                 4
Inhaltsübersicht

39 Sozial benachteiligte Eltern und ­Berufswahl Eltern be-              grosser Bedeutung. Eine neue ­Studie zeigt die Vielfalt
    einflussen die Berufswahl ihrer Kinder. Diese überneh-              der Zusammenarbeits- und Kontaktformen auf und hat
    men daher oft den ­beruflichen Status ihrer Eltern. Eine            dazu eine Typologie entwickelt. Thomas Geisen, Fach-
    Studie untersuchte, wie sich das Risiko sozialer Verer-             hochschule Nordwestschweiz / Edgar Baumgartner,
    bung in b­ enachteiligten Familien senken lässt und wel-            Fachhochschule Nordwestschweiz
    che Faktoren die Eltern befähigen, ihre Kinder bei der
    Berufswahl zu unterstützen. Markus P. Neuenschwan-
    der, Fachhochschule Nordwestschweiz / Stephan                    Vorsorge
    Rösselet, Fachhochschule Nordwestschweiz

                                                                     59 Einkommensbezogene Umverteilung in der AHV Ver-
Sozialpolitik                                                           sicherte mit höheren Einkommen zahlen AHV-Beiträge,
                                                                        die für sie nicht mehr ­rentenbildend sind, da sie die Ma-
                                                                        ximalrente erhalten. Die entsprechenden Mittel werden
44 Care-Arbeit unter Druck Hochaltrigkeit ist eine Errun-               genutzt, um die Renten der Versicherten aufzubessern,
    genschaft, auf die wir stolz sein könnten, denn sie ist             die tiefe Einkommen erzielt haben. Die einkommens-
    eine Folge unserer Wohlstandsgesellschaft und unse-                 bezogene Solidarität ist aber weit weniger stark als ge-
    res immer noch guten Gesundheitswesens. Doch diese                  meinhin angenommen. Lalanirina Schnegg, Bundes-
    ­Lebensphase wird oft ausschliesslich mit Kosten und                amt für Sozialversicherungen
     Belastung in Verbindung gebracht. Das ist falsch. Marie-­
    Louise Barben / Barbara Gurtner / Monika Stocker
                                                                     Krankenversicherung

Familie, Generationen und
                                                                     67 Effiziente Leistungskontrolle mit SwissDRG Die Ab-
Gesellschaft                                                            rechnung stationärer, akutsomatischer Spitalleistungen
                                                                        mittels prospektiver Fall­kostenpauschalen eröffnet den
                                                                        Versicherern bei geeigneten Prüfprozessen erhebliche
49 Verbesserter Zugang zur Kita dank Betreuungsgut-                     ­Einsparungspotenziale. Stephan Hill, DRGplus und
    scheinen Als erste Gemeinde im Kanton führte die                    h-consulting ag
    Stadt Bern 2014 Gutscheine für die familien­ergänzende
    Kinderbetreuung im Vorschulalter ein. Das Pilotpro-
    jekt wurde während zwei Jahren begleitend evaluiert.             International
    Philipp Walker, Ecoplan / Annick Baeriswyl, Ecoplan

                                                                     70 EFTA-Übereinkommen: Aktualisierungen bei der
Invalidenversicherung                                                   sozialen Sicherheit Der Teil des EFTA-Übereinkom-
                                                                        mens über Soziale Sicherheit wurde per 1. Januar 2016
                                                                        ­aktualisiert und an die jüngsten Entwicklungen des Ab-
55 Entwicklung der Zusammenarbeit von IV-Stellen                         kommens über den freien Personen­verkehr zwischen der
    und Arbeitgebern Die Gestaltung der Zusammenar-                      Schweiz und der EU angepasst. Kati Fréchelin, Bundes-
    beit zwischen IV-Stellen und Arbeitgebern ist für eine              amt für Sozialversicherungen
    ­erfolgreiche berufliche (Wieder-)Eingliederung von

                                                                 5
Martin Bichsel
Soziale Sicherheit ⁄ CHSS ⁄ 2 | 2016

SCHWERPUNKT

Nationales Programm gegen Armut

Das Nationale Programm zur Prävention und Bekämp-              Programmzielen werden insbesondere die Fördermög-
fung von Armut unterstützt die zentralen Akteure der           lichkeiten aufgezeigt und es wird beschrieben, wie
Armutsbekämpfung bei der Weiterentwicklung ihres               sich Armut erfassen und messen lässt. Mitglieder der
Instrumentariums, aber auch bei der gegenseitigen              Steuer­g ruppe benennen die grössten Herausforderun-
Vernetzung. Ausgerichtet auf die vier Handlungsfelder          gen der Armutsprävention und -bekämpfung und ihre
Bildungschancen, soziale und berufliche Integration,           Erwartungen an das Programm. Weitere Beiträge legen
allgemeine Lebensbedingungen und Armutsmonitoring              ein Modell zur Messung und Beurteilung der Wohnver-
steht es 2016 in der Mitte seiner fünfjährigen Laufzeit.       sorgung sozial benachteiligter Haushalte vor, beschrei-
Seit Anfang Jahr liefern erste Studien erste Erkenntnis-       ben Kriterien guter Praxis in der frühen Förderung und
se, die dazu genutzt werden, alle involvierten Akteure         zeigen auf, wie Eltern befähigt werden können, die Be-
bei der weiteren Strategiefindung und der Entwicklung          rufswahl ihrer Kinder wirkungsvoll zu begleiten.
von Konzepten zu unterstützen.                                   
  Erstmals greift die «Soziale Sicherheit CHSS» das
Programm in einem Schwerpunkt auf. Ein erster Arti-
kelblock beschäftigt sich mit konzeptionellen Fragen
der Armutsprävention und -bekämpfung. Neben den

                                                           7
Soziale Sicherheit ⁄ CHSS ⁄ 2 | 2016

Nationales Programm gegen Armut –
Zwischenstand und Ausblick

Gabriela Felder, Bundesamt für Sozialversicherungen

Mangelnde Bildung, Langzeitarbeitslosigkeit, Verschuldung oder auch ­unvorhergesehene
­Lebensereignisse können den Weg in die Armut begründen. Am nachhaltigsten
­vorbeugen und bekämpfen lässt sie sich über Bildung sowie soziale und berufliche Integra­
tion. 2014 lancierte der Bundesrat ein entsprechendes Programm.

In den vergangenen Jahren waren rund acht Prozent der           ist bekannt, dass Bildung sowie soziale und berufliche Inte-
ständigen schweizerischen Wohnbevölkerung von Einkom-           gration Armut am nachhaltigsten vorbeugen oder bekämp-
mensarmut betroffen, weitere 16 Prozent davon bedroht.          fen. Besonders wichtig sind präventive Massnahmen ab der
Besonders gefährdete Gruppen sind Kinder aus benachtei-         frühen Kindheit. Denn in den ersten Lebensjahren werden
ligten, bildungsfernen Familien, Alleinerziehende sowie         entscheidende Weichen für das weitere Leben gestellt und
Personen ohne nachobligatorische Bildung. Aber auch Lang-       es kann noch stark auf die Entwicklung eingewirkt werden.
zeitarbeitslosigkeit, Scheidung oder Verschuldung können        Aufwachsen in einem anregenden Lebensumfeld wirkt sich
am Anfang eines Weges in die Armut stehen. Armut bedeu-         positiv auf den weiteren Lebensverlauf und das Armuts­
tet nicht nur ein Mangel an materiellen Grundbedürfnissen       risiko aus.
(Kleider, Nahrungsmittel etc.), sondern auch soziale Aus-
grenzung. Die verschiedenen sozialen, arbeitsmarktlichen        NATIONALES PROGRAMM – GEMEINSAM GEGEN
und individuellen Ursachen erfordern eine passgenaue und        ARMUT Armut hat vielfältige Ursachen. Deshalb muss sie
zielgerichtete Ausgestaltung der Leistungen. Aus Studien        in unterschiedlichen Politikfeldern und auf allen staatlichen

                                                            8
SCHWERPUNKT ⁄ Nationales Programm gegen Armut

Ebenen bekämpft werden. In einem föderal strukturierten             FRÜHE FÖRDERUNG In den letzten Jahren hat die frühe
Aufgabengebiet, wie der Armutsprävention und -bekämp-               Förderung einiges an Dynamik gewonnen. Trotz des Engage-
fung, ist es unabdingbar, dass die verschiedenen Akteure            ments einer Vielzahl von Akteuren wie Mütter- und Väterbe-
ihre Entscheidungen und ihre Aktivitäten aufeinander                ratungsstellen, Kindertagesstätten, Spielgruppen, Pädiatern,
abstimmen. Aus diesem Grund lancierte der Bundesrat 2014            Verbänden und Stiftungen besteht Weiterentwicklungs-
das Nationale Programm zur Prävention und Bekämpfung                bedarf bei der Qualitätssicherung der Angebote und dem
von Armut, das er partnerschaftlich mit Kantonen, Städten,          Zugang dazu, der sich für benachteiligte Familien als beson-
Gemeinden, Organisationen der Zivilgesellschaft sowie wei-          ders schwierig erweist. Genau da setzt das Programm mit
teren Bundesstellen umsetzt. Bis 2018 stellt der Bund hierfür       seinem spezifischen Fokus auf die Bedürfnisse armutsge-
insgesamt neun Millionen Franken zur Verfügung. Haupt-              fährdeter oder -betroffener Familien an. Es fördert nicht
zielsetzung des Programms ist die Weiterentwicklung von             nur Projekte, welche die Qualität des Angebots analysie-
Präventions- und Bekämpfungsmassnahmen, indem neue                  ren, sondern auch solche, die darüber nachdenken, wie sich
Grundlagen und Instrumente geschaffen, aber auch innova-            Zugangshürden abbauen oder die Eltern zur Zusammenar-
tive Ansätze erprobt werden. Wichtig ist auch die Förderung         beit gewinnen lassen. Beispielsweise erscheint im Sommer
der Zusammenarbeit und des fachlichen Austauschs aller an           2016 ein Praxisleitfaden, der Kindertagesstätten, Spielgrup-
der Armutsprävention und -bekämpfung Beteiligter.                   pen, Tagesfamilien, aber auch familienaufsuchenden Pro-
                                                                    grammen Kriterien guter Praxis in die Hand gibt und alle
VIER HANDLUNGSFELDER Im Vorfeld des Programms                       Interessierten darin anleitet, wie sich ein Angebot zur Stär-
haben die Entscheidungs- und Aufgabenträger der Armuts-             kung sozial benachteiligter Kinder und ihrer Familien über-
bekämpfung und -prävention gemeinsam Forschungslücken               prüfen oder wirkungsorientiert weiterentwickeln lässt.
sowie den Handlungsbedarf identifiziert und diese vier
Handlungsfeldern zugeordnet. Neben dem Schwerpunkt Bil-             BERUFSEINSTIEG, BERUFSWAHL UND NACHHOL­
dungschancen greift das Programm Fragen der sozialen und            BILDUNG Personen ohne Berufsabschluss in prekären
beruflichen Integration auf, beschäftigt sich – mit Fokus auf       Beschäftigungsverhältnissen sind überproportional von
die Familienarmut, die Wohnsituation und das Informations-          Armut betroffen. Zentraler Ansatzpunkt der Prävention ist
und Beratungsangebot – mit den allgemeinen Lebensbedin-             deshalb die Unterstützung benachteiligter Jugendlicher und
gungen Betroffener und prüft die Möglichkeiten eines lan-           ihrer Eltern bereits während der Berufswahl, der Berufsaus-
desumspannenden Monitorings.                                        bildung oder des Einstiegs in den Beruf. Auch die Nachhol-
                                                                    bildung geringqualifizierter Erwachsener steht im Fokus
BILDUNGSCHANCEN IM ZENTRUM Zentrales Interesse                      des Programms.
des Programms liegt in der Stärkung von Bildungschancen                Eine Vielzahl von Akteuren bietet rund um die Berufs-
der sozial benachteiligten, bildungsfernen Kinder, Jugendli-        wahl und -ausbildung bereits eine grosse Auswahl an spezi-
chen und Erwachsenen. Neben den entsprechenden wissen-              fischen Lösungen an. Demzufolge kann das Programm hier
schaftlichen Studien und der Erarbeitung eines Praxisleitfa-        seine Mittel darauf konzentrieren, Lücken zu schliessen
dens werden rund 30 Modell- und Pilotprojekte unterstützt,          und Impulse für Felder mit hohem Entwicklungsbedarf zu
die sich der frühen Förderung sozial benachteiligter Kin-           geben. So unterstützt es verschiedene Modell- und Pilotpro-
der verschrieben haben oder Betroffene am Übergang in die           jekte, welche Jugendlichen beim Erlangen einer Berufsaus-
Schule, bei der Berufswahl und beim Berufseinstieg beglei-          bildung zur Seite stehen, sie vor einem Lehrabbruch bewah-
ten, Lehrabbrüche verhindern oder die berufliche Grund-             ren oder Personen ohne nachobligatorische Berufsbildung
bildung für Erwachsene ohne abgeschlossene Berufsbildung            eine Chance bieten, sich beruflich weiterzuentwickeln. Um
unterstützen.                                                       sozial benachteiligte Eltern zu befähigen, ihre Kinder im
                                                                    Prozess der Berufswahl zielgerichtet zu begleiten, wurde
                                                                    ein entsprechender Leitfaden erstellt.

                                                                9
Soziale Sicherheit ⁄ CHSS ⁄ 2 | 2016

SOZIALE UND BERUFLICHE INTEGRATION Sozial und                         auch auf weitere Hilfestellungen wie Beratung zum Umgang
beruflich integriert zu sein, bedeutet, aktiv im Arbeitsmarkt         mit Nachbarschaftskonflikten angewiesen.
zu stehen und am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Das               Im Rahmen des Programms konnten bisher zwei Studien
System der sozialen Sicherheit zielt darauf ab, die Bevölke-          zum Wohnen abgeschlossen werden. Die erste identifiziert
rung gegen existenzgefährdende Risiken abzusichern und                zwei mögliche Handlungsansätze für die nachhaltige Sta-
ein Existenzminimum zu gewährleisten. Dabei unterstüt-                bilisierung der Wohnversorgung armutsgefährdeter und
zen die Sozialhilfe, die Arbeitslosen- und die Invalidenver-          -betroffener Haushalte. Zum einen wäre mit einer adäquaten
sicherung die soziale und berufliche Integration nicht nur            Objekt- und Subjekthilfe die Belastung durch Mietzinskosten
monetär, sondern vielmehr auch mit flankierenden Mass-                zu senken. Zum anderen wären die Bestrebungen zu inten-
nahmen. Ebenso stehen Akteure aus dem Berufs-, Bildungs-,             sivieren, die Gefahr eines Verlusts einer bereits bewohnten
Migrations- oder Gesundheitswesen gefährdeten Menschen                Wohnung durch eine geeignete soziale Begleitung zu mini-
bei der Suche nach beruflicher und sozialer Stabilität bei.           mieren. Die zweite Studie untersuchte das landesweite Ange-
Bisherige Untersuchungen und Erfahrungen zeigen, dass                 bot an nicht monetären Leistungen zur Verbesserung der
die Unterstützung und Stärkung der Ressourcen insbeson-               Wohnversorgung und empfiehlt diesbezüglich erstens eine
dere Erwerbsloser deren Chancen auf eine neue Arbeitsstelle           niederschwellige Beratung und Unterstützung bei der Woh-
erhöhen und einen wichtigen Beitrag an ihre soziale Integra-          nungssuche sowie mehr Wohnvermittlungsstellen und Mass-
tion leisten. Die Arbeitsintegration ist deshalb ein wichtiges        nahmen, die Betroffene vor einer Kündigung der Wohnung
Wirkungsfeld der Armutsprävention, das in der Schweiz sehr            bewahren. Zweitens sei es ratsam, Menschen mit Mehrfach-
heterogen organisiert ist. Eine wichtige Rolle spielen dabei          problematiken in eigenen oder durch die betreuende Orga-
v. a. Unternehmen der sozialen und beruflichen Integration            nisation angemieteten Liegenschaften intensiv zu begleiten
(USBI), auch bekannt als Sozialfirmen. Bislang war über ihre          und zu betreuen.
Wirkung wenig bekannt. Zur Schliessung dieser Forschungs-
lücke analysierte das Programm rund 300 Sozialfirmen und              FAMILIENARMUT Oftmals leiden Kinder am meisten unter
identifizierte erste Faktoren, die entscheidend sind, um die          Armut. Nicht nur sind ihre Bildungschancen wesentlich
Arbeitseinsätze möglichst integrationsorientiert und -ver-            unterdurchschnittlich, sondern ihr Armutsrisiko ist auch
sprechend zu planen und zu gestalten.                                 deutlich höher als dasjenige der Erwachsenen. Folglich ist
                                                                      die Prävention und Bekämpfung von Familienarmut eine
ALLGEMEINE LEBENSBEDINGUNGEN                                          der zentralen sozialpolitischen Aufgaben. In der Schweiz
WOHNEN Armutsbetroffene und gefährdete Menschen                       wohnhafte Familien finden unterschiedliche Rahmenbedin-
haben nicht nur Mühe, geeignete Wohnungen zu finden,                  gungen und Unterstützungsangebote vor. Wie gut die Leis-
sondern auch, diese zu halten. Aufgrund des knapper wer-              tungen auf das vielschichtige Bedürfnis der betroffenen
denden Wohnraums in urbanen Gebieten werden die Frage                 Familien ausgerichtet sind, ist nicht bekannt.
von günstigem Wohnraum und neue Ansätze der Wohnver-                     Bei der Familienpolitik handelt es sich um eine politische
sorgung insbesondere in Städten vermehrt öffentlich disku-            Querschnittsaufgabe, die von der Sozial- über die Gesund-
tiert. Sozialhilfestatistiken bestätigen, dass Wohnkosten für         heits- bis zur Bildungspolitik reicht und viele Schnittstel-
einkommensschwache Haushalte eine grosse Belastung sind               len aufweist. Die Verantwortung für die entsprechenden
und meist den grössten Teil des Budgets in Anspruch neh-              Leistungen wie Beratungsangebote, Prämienverbilligun-
men. Oft zwingen sie die armutsbetroffenen Haushalte dazu,            gen oder subventionierte Kinderbetreuung liegt hauptsäch-
sich bei anderen Grundbedürfnissen wie Ernährung und                  lich bei den Gemeinden und Kantonen. Das Nationale Pro-
Kleidung einzuschränken. Benachteiligte Menschen sind                 gramm gegen Armut nimmt sich deshalb gezielt einer Lücke
zur erfolgreichen Vermittlung und Sicherung ihrer Woh-                im Bereich Grundlagen an und analysiert kommunale Stra-
nungen nicht nur auf monetäre Unterstützung, wie Wohn-                tegien, Massnahmen und Leistungen zur Prävention und
zuschüsse und Übernahme von Mietzinsgarantien, sondern                -bekämpfung von Familienarmut.

                                                                 10
SCHWERPUNKT ⁄ Nationales Programm gegen Armut

INFORMATIONEN FÜR ARMUTSBETROFFENE MEN-                             Regelmässige Fachtagungen und Konferenzen dienen dem
SCHEN Brauchbare Informationen zum Angebot an Bera-                 Wissenstransfer und der Vernetzung, die in einem frag-
tungsstellen und Unterstützungsleistungen, die zur Bewäl-           mentierten Handlungsfeld wie der Armutsbekämpfung und
tigung einer schwierigen Lebenslage beitragen können, sind          -prävention zentral sind. Gemäss bisherigen Rückmeldun-
für die Betroffenen oft ein wichtiger erster Anhaltspunkt           gen aus der Praxis ist es dem Programm bisher gut gelun-
zur eigenständigen Verbesserung ihrer Situation. Aufgrund           gen, die erhofften neuen Impulse für die Armutsprävention
der ausgeprägten Governance-Struktur in der Zusammen-               und -bekämpfung zu setzen.
arbeit einer Vielzahl von privaten und öffentlichen Akteu-
ren, ist es schwierig, sich eine Übersicht zu verschaffen.          AUSBLICK Eine umfassende Zwischenbilanz des Pro-
Die jeweiligen Anbieter bilden ihre Dienstleistungen in der         gramms erfolgt am 22. November 2016 im Rahmen der Natio-
Regel online und schriftlich ab. Doch erreichen diese wich-         nalen Konferenz gegen Armut, an der erfolgsversprechende
tigen Informationen benachteiligte Menschen oftmals nur             Ansätze und neue Erkenntnisse präsentiert und diskutiert
unzureichend. Deshalb gehört es zu den Aufgaben des Pro-            werden. Im Anschluss an die Konferenz sollen Erkenntnisse
gramms, Wege aufzuzeigen, wie die Informationen besser              vertieft, Good-Practice-Ansätze identifiziert, das gesam-
an die Adressaten gelangen. Dazu werden in einem ersten             melte Wissen für die Praxis aufbereitet und der Austausch
Schritt bestehende Online-Informationsplattformen und               unter den Akteuren weitergepflegt werden. Bis zum Ende
niederschwellig zugängliche Informationsstellen analysiert.         des Programms 2018 sollen die gesammelten Ergebnisse
                                                                    zusammengestellt, dem Bundesrat unterbreitet und eben-
SCHWEIZWEITES MONITORING ÜBER ARMUT? Sowohl                         falls anlässlich einer nationalen Konferenz präsentiert und
auf Bundes- als auch auf kantonaler Ebene werden Daten              reflektiert werden. 
erfasst, die Aufschluss über die Verbreitung von Armut und
Armutsgefährdung geben. Allerdings fehlen bislang belast-
                                                                    Ergebnisse und Veranstaltungen des Nationalen Programms gegen
bare Zeitreihen, Messungen oder Indikatoren, die einem
                                                                    Armut:
landesweiten und stringenten Armutsmonitoring gerecht               Forschungspublikationen und Praxisleitfaden: www.gegenarmut.ch > Studien.
würden. Deshalb prüft das Programm Möglichkeiten eines              Veranstaltungen: www.gegenarmut.ch > Veranstaltungen.
umfassenderen Monitorings. In einem ersten Schritt werden
                                                                    Pilot- und Modellprojekte Bildungschancen: www. gegenarmut.ch > Projekte.
hierzu die bestehenden Armuts- und Sozialberichterstattun-
gen des Bundesamts für Statistik und der Kantone inhaltlich
und konzeptionell erschlossen. Nach Kenntnisnahme des
Forschungsberichts, wird der Bundesrat über die allfällige
Einführung eines Monitorings entscheiden.

ZWISCHENBILANZ Die Programmstrukturen sind aufge-
baut, die Arbeitsschwerpunkte bestimmt und die Zusam-
menarbeitsformen und Abläufe definiert. In allen vier
Handlungsfeldern wurden Forschungsvorhaben konzipiert
und in Auftrag gegeben. Die Website steht: Als dreispra-
chige Informationsplattform www.gegenarmut.ch / www.
contre-la-pauvrete.ch / www.contro-la-poverta.ch dokumen-
                                                                                              Gabriela Felder
tiert sie umfassend und zeitnah alle Tätigkeiten und Ergeb-                                   lic. rer. soc., Leiterin Nationales Programm zur Prä-
nisse des Programms. Auch die verschiedenen Forschungs-                                       vention und Bekämpfung von Armut, Geschäftsfeld
                                                                                              Familie, Generationen und Gesellschaft, BSV.
berichte und Praxisleitfäden sowie die Informationen zu den                                   gabriela.felder@bsv.admin.ch
unterstützten Pilot- und Modellprojekten sind dort greifbar.

                                                               11
Soziale Sicherheit ⁄ CHSS ⁄ 2 | 2016

Stand und Grenzen der Armuts­
berichterstattung in der Schweiz

Sarah Neukomm, econcept AG
Marie-Christine Fontana, econcept AG

In den letzten 15 Jahren wurden verschiedene Formen der Armutsberichterstattung
­entwickelt. Diese bilden Armut, aber auch ihre Prävention und Bekämpfung nur ­uneinheitlich
und fragmentarisch ab. Ein umfassendes, auf Längsschnittmessungen basierendes
schweizweites Armutsmonitoring gibt es bisher nicht.

Im Rahmen eines Mandats des Nationalen Programms gegen            Ein wichtiger Beitrag der kantonalen Berichterstattungen
Armut wurde die Armutsberichterstattung in der Schweiz            zu Armut besteht darin, dass sie eine fundierte und detail-
untersucht und ihre Lücken identifiziert. Dabei wurden            lierte statistische Aufarbeitung der materiellen Armut und
neben den Ansätzen der Kantone und Gemeinden, wel-                der betroffenen Bevölkerungsgruppen in den jeweiligen
chen die zentrale Zuständigkeit in der Armutsprävention           Kantonen liefern. Dabei nehmen sie oft auch die struktu-
und -bekämpfung obliegt, auch die Berichterstattung mit           rellen Bedingungen (Leistungssysteme, z. T. weitere Versor-
gesamtschweizerischer Perspektive aufgearbeitet.                  gungsleistungen) in den Blick. Teilweise enthalten sie zudem
                                                                  Hinweise zu prekären Lagen und Unterversorgung in wei-
KANTONALE UND KOMMUNALE ARMUTSBERICHT­                            teren Lebensbereichen, die Armut bedingen oder in denen
ERSTATTUNG Die Anzahl Kantone mit eigener Sozial- oder            sich Armut besonders nachteilig auswirken kann. Ein syste-
Armutsberichterstattung hat in den letzten Jahren zuge-           matisches, kennzahlenbasiertes Gesamtbild zur Armut in
nommen. Verschiedene Kantone beschränken sich dabei               den einzelnen Kantonen erlauben die meisten kantonalen
allerdings auf eine Darstellung bezogener Sozialtransfers.        Berichterstattungen nicht.

                                                             12
SCHWERPUNKT ⁄ Nationales Programm gegen Armut

                                                      Kantonale Sozialberichte (Stand Juni 2015)                                               T1

                                                      Kanton              Bericht
                                                      Aargau              Sozialbericht des Kantons Aargau (erster Bericht 2012)
                                                      Basel-Landschaft    Armutsbericht für den Kanton Basel-Landschaft (erster Bericht 2015)
                                                      Basel-Stadt         Armutsbericht Basel-Stadt – Ursachen, Dynamiken, Handlungs­
                                                                          empfehlungen (einmaliger Bericht 2010, erstellt im Auftrag der
                                                                          Christoph Merian Stiftung)
                                                      Bern                Sozialbericht – Armut im Kanton Bern (drei Berichte 2008, 2010 und
                                                                          2012)
                                                      Luzern              Sozialbericht des Kantons Luzern (zwei Berichte 2006 und 2013)
                                                      Solothurn           Sozialbericht des Kantons Solothurn (zwei Berichte 2005 und 2013)
                                                      Waadt               Rapport Social (erster Bericht 2011)

                                                                               Quelle: econcept.

Insgesamt verfassten bisher sieben Kantone einen Armuts-                       auf die Erfassung von Armut ausgerichtet sind. Das insge-
bericht (vgl. Tabelle T1), der mehrheitlich Bestandteil eines                  samt vollständigste und kohärenteste Bild zeichnet der
umfassenderen Sozialberichts bildet.                                           Armutsbericht des Kantons Basel-Stadt, der die Armutssitu-
    Um die Anzahl kantonaler Sozialberichte zu steigern                        ation unter Berücksichtigung weiterer Lebensbereiche wie
und deren Vergleichbarkeit zu fördern, gab die Konferenz                       Bildung, Gesundheit und soziale Kontakte umfassend disku-
der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren                        tiert und mögliche Massnahmen vorschlägt. Die Berichte des
(SODK) 2012 entsprechende Empfehlungen ab.1 Demgemäss                          Kantons Bern fokussieren zwar primär auf die finanzielle
sollen Armut – erhoben anhand von Daten des BFS – und                          Armut, besprechen aber zusätzlich auch deren Determinan-
Armutsgefährdung in kantonalen Sozialberichten systema-                        ten und Folgen. Zudem präsentiert nur Bern eine kantonale
tisch diskutiert werden.                                                       Massnahmenplanung samt Priorisierung.
    Auf kommunaler Ebene findet sich bisher keine regelmäs-
sige Berichterstattung zu Armut, die über die Darstellung                      EINGESCHRÄNKTE VERGLEICHBARKEIT AUFGRUND
von Sozialtransfers hinausgeht.                                                UNTERSCHIEDLICHER KONZEPTION Die ­k antonalen
                                                                               Armutsberichterstattungen sind sowohl in konzeptioneller
FINANZIELLE ARMUT IM MITTELPUNKT In den kanto-                                 als auch in methodischer Hinsicht sehr unterschiedlich. Die
nalen Sozialberichten stehen Indikatoren zur finanziellen                      Auswahl, Definition und Erhebung von Indikatoren variieren
Armut, wie die Armutsquote, im Zentrum, häufig ergänzt                         erheblich. Dies zeigt sich bereits an der Armutsquote, einem
durch weitere Merkmale zur wirtschaftlichen Situation der                      der wenigen Indikatoren, der in allen kantonalen Berichten
Haushalte. Informationen zu zusätzlichen Lebensbereichen                       vorkommt und trotzdem nur begrenzt vergleichbar ist, da er
erfassen vor allem diejenigen Kantone, in denen die Armuts-                    jeweils auf unterschiedlichen Definitionen und Datengrund-
berichterstattung Teil eines breit angelegten Sozialberichts                   lagen beruht. Auch weitere Faktoren wie Bildung, Gesundheit
bildet. Sie werden meistens nicht direkt in Bezug zu Armut                     oder Erwerbsarbeit und die Lebensphasen werden abweichend
gesetzt, da die entsprechenden Berichte konzeptionell nicht                    operationalisiert. Massnahmen zur Armutsbekämpfung und
                                                                               -prävention werden mehrheitlich nicht systematisch erfasst.
1
    www.sodk.ch > Aktuell > Empfehlungen > Empfehlungen SODK zur Ausge-
    staltung von kantonalen Sozialberichten (2012).

                                                                          13
Soziale Sicherheit ⁄ CHSS ⁄ 2 | 2016

GESAMTSCHWEIZERISCHE                           A R M U T S B E R I C H T­         hilfe erfasst sind, besteht bis zur Einführung der SILC-Pa-
ERSTATTUNG Die umfassendsten, gesamtschweizerisch                                 neldaten nur ein unvollständiges Bild. Massnahmen der
orientierten Berichte und Beobachtungsgrundlagen zur                              Armutsbekämpfung und -prävention erhalten mit Angaben
Armut und Armutsbekämpfung liefern bisher das Bundes-                             zu den Leistungssystemen nur im statistischen Sozialbericht
amt für Statistik (BFS) und das Hilfswerk Caritas. Daneben                        Beachtung.
enthält auch die Sozialberichterstattung der Stiftung für
sozialwissenschaftliche Forschung (FORS; Bühlmann et al.                          QUALITATIVE SCHWERPUNKTTHEMEN UND BEOB-
2012) und der SODK einzelne Indikatoren zur Armut.                                ACHTUNG VON MASSNAHMEN DURCH CARITAS Einen
                                                                                  wesentlichen Beitrag an eine gesamtschweizerische Armuts-
ARMUTSINDIKATOREN UND VERTIEFENDE STUDIEN                                         berichterstattung liefert das Hilfswerk Caritas. Seit 1999 ver-
DES BFS Unter dem Titel «Lebensstandard, soziale Situa-                           öffentlicht es ein Jahrbuch zur sozialen Lage in der Schweiz,
tion und Armut» pflegt das Bundesamt BFS seit rund zehn                           den sogenannten «Sozialalmanach», in dem der Besprechung
Jahren ein jährlich aufdatiertes Indikatorenset, das seit 2010                    von Armut und Massnahmen zu deren Bekämpfung und Prä-
auf den Daten von Statistics on Income and Living Condi-                          vention ein wichtiger Platz eingeräumt wird. Dazu publiziert
tions (SILC) basiert.2 Die fünf Indikatoren Armutsquote,                          Caritas seit 2012 im Rahmen der Kampagne «Armut halbie-
Armutsgefährdungsquote, Quote der materiellen Entbeh-                             ren» jährlich den Bericht «Beobachtungen der Caritas zur
rung, Lebenszufriedenheit und Bewertung der finanziellen                          Armutspolitik».3 Die Erfassung, Einordnung und vertiefte
Situation des eigenen Haushalts messen primär die materi-                         Diskussion der Armut und ihrer Entwicklung im Sozialal-
elle Dimension von Armut.                                                         manach sowie die Beobachtung der kantonalen Armutspo-
    Um das Fehlen einer Armutsmessung in nicht materiellen                        litik ermöglichen eine vielschichtige Abbildung der Armut
Dimensionen zu kompensieren, publizierte das BFS in den                           in der Schweiz. Bezeichnend für die Berichterstattung der
vergangenen 15 Jahren verschiedene vertiefende Berichte                           Caritas ist neben ihrem qualitativen Charakter ein mehrdi-
und Analysen zum Thema (z. B. BFS 2014). Die Berücksich-                          mensionales Armutsverständnis, das neben dem materiellen
tigung weiterer Merkmale wie Alter, Herkunft, Haushalts-                          auch weitere armutsrelevante Lebensbereiche berücksich-
form oder Erwerbsstatus erlauben es, die Verteilung der                           tigt und der subjektiven Betroffenheit Bedeutung zumisst.
materiellen Armut in den verschiedenen Bevölkerungsgrup-
pen besser zu erfassen, wenn auch nur punktuell und nicht                         HERAUSFORDERUNGEN Die bestehende Armutsbericht-
im Längsschnitt.                                                                  erstattung auf kantonaler und gesamtschweizerischer Ebene
    Einmal pro Legislatur legt das BFS zudem den «Statis-                         ist meist mit grundsätzlichen konzeptionellen und datenbe-
tischen Sozialbericht Schweiz» vor (BFS 2015). Auch die-                          zogenen Grenzen konfrontiert. Allgemein akzeptierte Defi-
ser enthält einzelne Indikatoren zu materieller Armut. Er                         nitionen und Messkonzepte zu Armut fehlen. Ebenso beste-
zeigt zudem, welche statistischen Informationen zu weite-                         hen grundsätzliche Probleme bei der Operationalisierung
ren armutsrelevanten Lebensbereichen (z. B. Gesundheit, Bil-                      von Armut und setzen die Datengrundlagen Grenzen:
dung) bereits heute zugänglich sind, ohne dass diese jedoch                       –– Fehlen einer mehrdimensionalen Armutsdefinition: Ei-
direkt mit Armut in Bezug gesetzt werden.                                            ne verbindliche, über materielle Aspekte hinausgehende
    Das BFS liefert keine Angaben zu sozialen Kontakten                              Definition von Armut als mehrdimensionales Phänomen
oder zur politischen und kulturellen Integration im Zusam-                           gibt es bisher nicht. Es existieren keine allgemein aner-
menhang mit Armut. Auch zur Dynamik von Armut oder zur                               kannten Vorgaben oder Absprachen, in welchen Berei-
Armut im Lebensverlauf, die nicht über Daten zur Sozial-                             chen und in welchem Ausmass eine Person benachteiligt
                                                                                     sein muss, damit sie als arm gilt. Auch lässt sich mit einem
2
    www.bfs.admin.ch > Themen > 20 – Wirtschaftliche und soziale Situation
    der Bevölkerung > Lebensstandard, soziale Situation und Armut > Daten,        3
                                                                                      www.armut-halbieren.ch > Kampagne «Armut halbieren» > Beobachtung
    Indikatoren.                                                                      der Armutspolitik.

                                                                             14
SCHWERPUNKT ⁄ Nationales Programm gegen Armut

   mehr­dimensionalen Armutsverständnis nicht immer klar             liefern zentrale Erkenntnisse zum Umfang der Armut und
   abgrenzen, was Teil der Armut bzw. was Ursache und Fol-           auch zur Struktur der von materieller Armut betroffenen
   ge von A­ rmut sind.                                              Bevölkerung. Für manche Kantone können Risikogruppen
–– Schwierige Operationalisierung: Definitorische Unschär-           benannt und quantifiziert und auch die Ursachen und Fol-
   fen erschweren die Operationalisierung von Armutskon-             gen von Armut näher beschrieben werden. Ergänzende kan-
   zepten, insbesondere die Festlegung zuverlässiger und va-         tonale Kennzahlen erlauben punktuell auch Aussagen zur
   lider Indikatoren, die mehr zu messen vermögen als die            Dynamik von Armut sowie zu weiteren Komponenten finan-
   materielle Dimension von Armut. Grenzen setzt dabei               zieller Armut. Auch gibt es Anhaltspunkte zum Ausmass von
   auch die eingeschränkte Verfügbarkeit von detaillierten           prekären Lebensbedingungen und von Unterversorgung im
   statistischen Daten, die einen Bezug herstellen zwischen          Bereich der Bildung, Erwerbsarbeit oder Gesundheit. Eine
   finanzieller Armut einerseits und weiteren armutsrelevan-         integrale Auseinandersetzung mit Armut als mehrdimensi-
   ten Bereichen wie Gesundheit oder Bildung.                        onalem Phänomen findet allerdings nur vereinzelt statt. Die
–– Uneinheitlich umgesetzte Messkonzepte: Mit Armuts-                existierenden Berichterstattungen unterscheiden sich kon-
   grenzen und -quoten bestehen Konzepte zur Messung fi-             zeptionell und methodisch so stark, dass ihre Ergebnisse
   nanzieller Armut, die in Politik, Gesellschaft und Wissen-        eine kontinuierliche Beobachtung über die Zeit erschweren
   schaft breit abgestützt sind. Aber auch diese akzeptierten        und kaum einen systematischen Vergleich erlauben. 
   Grössen werden – v. a. bedingt durch die jeweils gegebe-
   ne Datenlage – unterschiedlich erfasst und erschweren
                                                                      LITERATUR
   so insbesondere den Vergleich, wie er für eine stringente
                                                                      Bundesamt für Statistik (2015): Statistischer Sozialbericht Schweiz 2015,
   Beschreibung von Armut nötig wäre. So wird die Armuts-             Neuchâtel: BFS: www.bfs.admin.ch > 13 – Soziale Sicherheit > Bericht­
   grenze wahlweise entweder als absolute oder als relative           erstattung zur Sozialen Sicherheit > Statistischer Sozialbericht Schweiz.
   Grösse erfasst, die in ihren einzelnen Komponenten zu-             Bundesamt für Statistik (2014): Armut in der Schweiz: Konzepte, Resultate
   dem teilweise unterschiedlich definiert ist. Auch wird die         und Methoden. Ergebnisse auf der Basis von SILC 2008–2010, Neuchâtel:
                                                                      BFS: www.bfs.admin.ch > Aktuell > Publikationen.
   Armutsquote über differierende Einkommensgrössen be-
                                                                      Bühlmann, Felix; Schmid Botkine, Céline; Farago, Peter; Höpflinger,
   rechnet.
                                                                      François; Joye Dominique; Levy, René; Perrig-Chiello, Pasqualina; Suter,
–– Inkompatible Datenquellen: Zur Beschreibung und Mes-               Christian (2012): Sozialbericht 2012: Fokus Generationen, Zürich: Seismo
   sung von Armut nutzen Kantone und Bund eine Vielzahl               Verlag.
   von Datenquellen, v. a. Befragungs- und Steuerdaten. Die-
   se wurden mehrheitlich nicht mit dem Ziel einer Armuts-
   berichterstattung erhoben. Folglich weisen sie Lücken auf
   und teilweise fehlt ihnen die gewünschte Genauigkeit, die
   für eine umfassende, schweizweit gültige Armutsmessung
   nötig wäre: Die lediglich kantonal verfügbaren Steuerda-
   ten gehen nicht von der für die Armutsmessung üblichen
   Haushaltsdefinition aus. Ebenso sind wichtige Sozialtrans-                                   Sarah Neukomm
   fers nicht enthalten. Die Befragungsdaten des BFS wieder-                                    lic. phil. I, Senior Projektleiterin econcept AG.
                                                                                                sarah.neukomm@econcept.ch
   um lassen sich nur für die gesamte Schweiz oder allenfalls
   Grossregionen auswerten und es stellen sich Fragen der
   Stichproben- und der Datenqualität.
                                                                                                Dr. sc. pol. Marie-Christine Fontana
                                                                                                Projektleiterin econcept AG.
FAZIT Sowohl die gesamtschweizerische als auch die kan-                                         marie-christine.fontana@econcept.ch
tonale Armutsberichterstattung geben einen Einblick in
die Armutssituation und -entwicklung in der Schweiz. Sie

                                                                15
Soziale Sicherheit ⁄ CHSS ⁄ 2 | 2016

Wie lässt sich Armut messen?

Martina Guggisberg, Bundesamt für Statistik
Stephan Häni, Bundesamt für Statistik
Stéphane Fleury, Bundesamt für Statistik

Das Bundesamt für Statistik (BFS) verwendet drei verschiedene Ansätze zur Messung von
Armut, um die Situation in der Schweiz möglichst umfassend abzubilden. Dieser Artikel stellt
die drei Messkonzepte vor und zeigt auf, warum sie in gewissen Fällen zu unterschiedlichen
Resultaten führen.

ARMUTSKONZEPTE Ab wann eine Person als arm gilt, lässt             des BFS auf den finanziellen Ressourcen von Haushalten und
sich nicht anhand von objektiven Kriterien beantworten,            damit auf der finanziellen Armut.
sondern variiert je nach Sichtweise und gesellschaftlichem,           Dabei werden zwei Konzepte verwendet: der absolute
kulturellem und politischem Kontext. Deshalb existiert in          Ansatz, der von einem minimalen Bedarf ausgeht, und der
der Forschung eine Vielzahl von Ansätzen zur statistischen         relative Ansatz, welcher auf der Verteilung der Einkommen
Messung von Armut.                                                 basiert. Um nicht nur monetäre Aspekte der Armut abzubil-
   Die Verteilung von Lebenschancen, Lebensbedingungen             den, wird zudem eine Quote der materiellen Entbehrung
und sozialem Status wird in modernen Gesellschaften mass-          berechnet. Sie zeigt auf, wie viele Personen aus finanziel-
geblich durch die Verfügbarkeit von Einkommen und Ver-             len Gründen auf den Besitz von wesentlichen Gebrauchs­
mögen bestimmt. Der finanziellen Ressourcenausstattung             gütern verzichten müssen oder einen Mangel in elementa-
kommt somit eine zentrale Bedeutung bei der Erfassung von          ren Lebensbereichen aufweisen.
Armut zu. Entsprechend liegt der Fokus der Armutsstatistik

                                                              16
SCHWERPUNKT ⁄ Nationales Programm gegen Armut

ABSOLUTES ARMUTSKONZEPT Das vom BFS verwendete
                                                                                       Einkommenskonzepte
Konzept absoluter Armut geht von einem sozialen Existenz-
                                                                                       Das Bruttohaushaltseinkommen fasst alle Einkommen sämtlicher Mitglieder eines
minimum aus, das nicht nur das physische Überleben sicher-                             Privathaushalts zusammen (Einkommen aus unselbstständiger und selbststän-
stellt, sondern auch eine minimale gesellschaftliche Teil-                             diger Erwerbstätigkeit, Renten und Sozialtransfers, Vermögenserträge usw.).
                                                                                       Das verfügbare Haushaltseinkommen wird berechnet, indem man vom Brutto­
habe ermöglichen soll. Als arm gelten demnach Personen, die
                                                                                       haushaltseinkommen die obligatorischen Ausgaben, d. h. Sozialversicherungs-
nicht über die Mittel verfügen, um die für ein gesellschaft-                           beiträge, Steuern, Krankenkassenprämien für die Grundversicherung, Alimente
lich integriertes Leben notwendigen Güter und Dienstleis-                              und andere zu leistende Unterhaltsbeiträge abzieht.
                                                                                       Das verfügbare Äquivalenzeinkommen wird anhand des verfügbaren Haus-
tungen zu erwerben. Dieses Vorgehen hat den Vorteil, dass
                                                                                       haltseinkommens berechnet, indem die Grösse und Zusammensetzung der Haus-
sich die Messung von Armut an den Bedürfnissen der Betrof-                             halte berücksichtigt wird. Dem ältesten Haushaltsmitglied wird dabei das Ge-
fenen orientiert.                                                                      wicht 1 zugewiesen, jeder weiteren Person ab vierzehn Jahren das Gewicht 0,5
                                                                                       und jedem Kind unter vierzehn Jahren das Gewicht 0,3 (modifizierte OECD-Skala).
    In der Schweiz wird das soziale Existenzminimum von
                                                                                       Damit wird den Einsparungen Rechnung getragen, die sich aus dem gemeinsamen
den Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozial-                              Wirtschaften eines Haushalts mit mehreren Personen ergeben.
hilfe (SKOS-RL; SKOS 2005) abgeleitet, die als Referenz für                            In allen drei Einkommenskonzepten sind allfällige Vermögensbestände nicht be-
                                                                                       rücksichtigt. 2
die Beurteilung des Sozialhilfeanspruchs dienen. Die abso-
lute Armutsgrenze des BFS orientiert sich an diesen Vorga-
ben.1 Sie besteht aus den folgenden drei Komponenten:
–– Mit dem Grundbedarf für den Lebensunterhalt werden                                  RELATIVES ARMUTSKONZEPT Auf internationaler Ebene
   die Ausgaben für Nahrungsmittel, Bekleidung, Körper-                                wird Armut meist anhand von relativen Armutsgrenzen defi-
   pflege, Unterhaltung, Bildung und weitere Grundbedürf-                              niert. Als arm gelten demnach Personen in Haushalten mit
   nisse abgedeckt. Das BFS setzt hier den schweizweit ein-                            einem Einkommen, das deutlich unter dem üblichen Einkom-
   heitlichen Betrag der SKOS-RL ein, der nach der Grösse                              mensniveau des betreffenden Landes liegt. Armut entspricht
   des Haushalts abgestuft ist.                                                        nach dieser Konzeption einer Ausprägung sozialer Ungleich-
–– Die Wohnkosten müssen gemäss den SKOS-RL im «ortsüb-                                heit. Ob eine Person als arm gilt, hängt also nicht allein von
   lichen Rahmen» liegen. In der Armutsgrenze werden die                               ihrer eigenen wirtschaftlichen Situation bzw. derjenigen
   effektiven Wohnkosten bis zu einer Obergrenze angerech-                             ihres Haushalts ab, sondern auch vom Wohlstandsniveau des
   net. Diese Obergrenze wird empirisch aus der Sozialhilfe-                           Landes, in dem sie lebt. Da dieser Indikator unabhängig von
   statistik ermittelt.                                                                länderspezifischen Faktoren wie z. B. der Sozialgesetzge-
–– Für weitere notwendige Auslagen wie z. B. Versiche-                                 bung überall gleich berechnet werden kann, eignet er sich
   rungsprämien werden zudem hundert Franken pro Monat                                 für internationale Vergleiche.
   und Person ab sechzehn Jahren im Haushalt in der Armuts-                                Eine Person wird gemäss der relativen Armutskonzeption
   grenze berücksichtigt. Dadurch liegt diese etwas über der                           als arm eingestuft, wenn ihr verfügbares Äquivalenzeinkom-
   materiellen Grundsicherung und entspricht somit besser                              men unterhalb einer definierten relativen Armutsgrenze
   dem sozialen Existenzminimum.                                                       liegt. Die international gängigsten relativen Armutsgren-
                                                                                       zen liegen bei 50 und 60 Prozent des medianen verfügba-
Aus diesen Komponenten lässt sich für jeden Haushalt eine                              ren Äquivalenzeinkommens der Gesamtbevölkerung. Für
individuelle Armutsgrenze ableiten. Liegt das verfügbare                               die nachfolgenden Analysen wurde jeweils die Grenze bei
Haushaltseinkommen unterhalb der Armutsgrenze, gelten                                  60 Prozent des Medians3 verwendet.
alle Personen des betreffenden Haushalts als arm.
                                                                                       2
                                                                                           Die Einkommensdefinition entspricht den international gängigen Vorgaben
1
    Die Sozialhilfe ist regional geregelt und stark am Einzelfall ausgerichtet,            der Canberra Group (2011). Auf nationaler Ebene fehlen zudem geeignete
    weshalb die Normen der SKOS einigen Gestaltungsspielraum erlauben.                     Daten zur Erfassung der Haushaltsvermögen.
    Folglich kann die statistische Armutsgrenze des BFS die Richtlinien nur an-        3
                                                                                           Der Median teilt die nach Grösse geordneten Beobachtungswerte in zwei
    nähernd abbilden. Aus der Armutsstatistik ist folglich auch kein Anspruch              gleich grosse Hälften. Die eine Hälfte der Werte liegt über, die andere
    auf Sozialhilfe ableitbar.                                                             unter dem Median.

                                                                                  17
Soziale Sicherheit ⁄ CHSS ⁄ 2 | 2016

   Armutsindikatoren ausgewählter Bevölkerungsgruppen (2011, in Prozent)                                                                                                  G1

   35
   30
   25
   20
   15
   10
    5
    0
                     absolute Armutsquote                                      relative Armutsquote                         Quote der materiellen Entbehrung
                                                                                (60 % des ­M edians)                                 (3 von 9 Items)

              Gesamte Bevölkerung                                        Einzelpersonen unter 65 Jahren
              Personen ab 65 Jahren                                      2 Erwachsene mit 3 oder mehr Kindern

           Quelle: BFS, Erhebung über die Einkommen und Lebensbedingungen SILC (Version 26.3.2013).

MATERIELLE ENTBEHRUNG Mit Indikatoren zur Messung                                             –– nicht im Besitz eines Farbfernsehers sein
von materieller Entbehrung können ergänzend auch nicht                                        –– kein Telefon haben
finanzielle Aspekte der Armut einbezogen werden. Von                                          –– kein Auto besitzen
materieller Entbehrung wird dann gesprochen, wenn Per-
sonen aus finanziellen Gründen einen Mangel in elementa-                                      Weist eine Person in mindestens drei dieser neun Katego-
ren Lebensbedingungen haben oder auf Gebrauchsgüter ver-                                      rien einen Mangel auf, gilt sie als von materieller Entbeh-
zichten müssen, die von der Mehrheit der Bevölkerung als                                      rung betroffen.
wesentlich erachtet werden.
    Für die Armutsstatistik des BFS wird einerseits ausge-                                    ANALYSE AUSGEWÄHLTER RISIKOGRUPPEN NACH DEN
wertet, welcher Anteil der Bevölkerung von solchen Män-                                       VERSCHIEDENEN MESSKONZEPTEN Betrachtet man die
geln betroffen ist. Andererseits wird eine Quote der mate-                                    drei Armutskonzepte nach soziodemografischen Merkma-
riellen Entbehrung berechnet. Dazu werden die folgenden                                       len, werden grösstenteils dieselben Risikogruppen4 identi-
neun Bereiche, sog. Items, der materiellen Entbehrung zu                                      fiziert. Bei einigen Bevölkerungsgruppen führen die drei
einem Index zusammengefasst:                                                                  Indikatoren jedoch zu unterschiedlichen Ergebnissen (vgl.
–– nicht in der Lage sein, unerwartete Ausgaben in der Höhe                                   Grafik G1):
   von 2500 Franken innert eines Monats zu tätigen                                            –– Personen ab 65 Jahren weisen überdurchschnittlich ho-
–– nicht in der Lage sein, eine Woche Ferien pro Jahr weg von                                    he absolute und relative Armutsquoten auf. Ihre Quote der
   zu Hause zu finanzieren                                                                       materiellen Entbehrung ist hingegen die tiefste aller Al-
–– Zahlungsrückstände                                                                            tersgruppen.
–– nicht in der Lage sein, jeden zweiten Tag eine fleisch- oder
   fischhaltige Mahlzeit (oder vegetarische Entsprechung)
   einzunehmen                                                                                4
                                                                                                  Risikogruppen sind hier definiert als Bevölkerungsgruppen mit einer signifi-
                                                                                                  kant höheren Quote als die Gesamtbevölkerung. Der Unterschied zwischen
–– nicht in der Lage sein, die Wohnung ausreichend zu heizen                                      zwei Gruppen ist dann signifikant, wenn sich ihre Vertrauensintervalle
–– keinen Zugang zu einer Waschmaschine haben                                                     nicht überlappen.

                                                                                         18
SCHWERPUNKT ⁄ Nationales Programm gegen Armut

  Einfluss des Vermögens auf die relative Armutsquote, nach Altersgruppe (2011, in Prozent)                                                                               G2

  35
  30
  25
  20
  15
  10
   5
   0
             relative Armutsquote                      relative Armutsquote,                        relative Armutsquote,               relative Armutsquote,
                                                     max. 100 000 Fr. Haushalts-                   max. 50 000 Fr. Haushalts-          max. 30 000 Fr. Haushalts-
                                                              vermögen                                     vermögen                            vermögen

            18–64 Jahre                 ab 65 Jahren

         Quelle: BFS, Erhebung über die Einkommen und Lebensbedingungen SILC (Version 26.3.2013, inkl. fiktive Miete).

         Die Vermögensgrenzen beziehen sich auf das Bruttohaushaltsvermögen und werden unabhängig von der Haushaltsgrösse
         angewandt. Zum Vergleich: Die Sozialhilfe erlaubt in der Regel Vermögensfreibeträge von maximal 10 000 Franken pro Familie.
         Bei den Ergänzungsleistungen zur AHV/IV, die bei den Rentnerinnen und Rentnern eine grössere Rolle spielen, werden
         ­Vermögen ab 37 500 Franken (Einzelperson) resp. 60 000 Franken (Ehepaar) teilweise dem Einkommen angerechnet.

–– Alleinlebende Personen unter 65 Jahren weisen eine be-                                         Bei der statistischen Erfassung der Altersleistungen
   sonders hohe absolute Armutsquote und Quote der mate-                                       gelten nur die monatlichen Renten als Einkommen, wäh-
   riellen Entbehrung auf. Nach dem relativen Armutskon-                                       rend Kapitalbezüge als Kapitaltransfer klassifiziert wer-
   zept ist diese Gruppe dagegen nicht besonders gefährdet.                                    den. Bei vielen Personen im Rentenalter liegt ein erheblicher
–– Personen in Haushalten mit zwei Erwachsenen und drei                                        Teil der finanziellen Mittel als Vermögen vor (BFS 2014),
   oder mehr Kindern weisen eine überdurchschnittlich hohe                                     das jedoch weder im absoluten noch im relativen Armuts-
   relative Armutsquote auf. Nach den beiden anderen Kon-                                      konzept berücksichtigt wird (vgl. Kasten). Dadurch besteht
   zepten kann hingegen keine signifikant erhöhte Betroffen-                                   die Gefahr, dass Haushalte als arm identifiziert werden, die
   heit festgestellt werden.                                                                   ihren Lebensunterhalt ganz oder zu einem Teil aus Vermö-
                                                                                               gensbeständen bestreiten.
PERSONEN AB 65 JAHREN Das schweizerische Alters-                                                  Grafik G2 zeigt, dass die relative Armutsquote der älte-
vorsorgesystem weist mit seinem Dreisäulenprinzip Beson-                                       ren Bevölkerung unter Berücksichtigung ausgewählter Ver-
derheiten auf, die zu Schwierigkeiten bei der statistischen                                    mögensobergrenzen deutlich geringer ausfällt als ohne:
Erfassung der Leistungen führen können. Während die                                            Die Armutsquote sinkt parallel zur Vermögensobergren-
Leistungen der ersten Säule (AHV) zwingend in Form einer                                       ze.5 Wenn keine Grenze gesetzt wird, beträgt die relative
monatlichen Rente ausbezahlt werden, können die Versicher-                                     Armutsquote der Personen ab 65 Jahren 23,4 Prozent. Bei
ten bei der zweiten (BVG) und dritten Säule (private Vor-                                      einem maximalen Haushaltsvermögen von 50 000 Fran-
sorge) auswählen, ob sie die angesparten Beiträge in Form
einer monatlichen Rente oder eines Kapitalbezugs erhalten
                                                                                               5
                                                                                                   Diese Auswertungen basieren auf SILC 2011, da in diesem Jahr in einem
wollen.                                                                                            Pilotversuch detaillierte Angaben zum Vermögensbestand der Haushalte
                                                                                                   erhoben wurden.

                                                                                          19
Soziale Sicherheit ⁄ CHSS ⁄ 2 | 2016

   Armutsquoten unter Verwendung verschiedener Äquivalenzskalen (2011, in Prozent)                                                                         G3

   35
   30
   25
   20
   15
   10
    5
    0
               absolute Armutsquote                         relative Armuts-                          relative Armutsquote,      relative Armutsquote,
                                                           quote, ­m odifizierte                      SKOS-Äquivalenzskala    von absoluter Armutsgrenze
                                                        ­O ECD-­Ä quivalenzskala                                              abgeleitete Äquivalenzskala
              Gesamte Bevölkerung
              Einzelpersonen unter 65 Jahren
              2 Erwachsene mit 3 oder mehr Kindern

           Quelle: BFS, Erhebung über die Einkommen und Lebensbedingungen SILC (Version 26.3.2013).

ken sind es noch 11,5 Prozent, und bei einer Obergrenze                                       setzt, um Einkommen oder Ausgaben von Haushalten unter-
von 30 000 Franken besteht schliesslich kein signifikanter                                    schiedlicher Zusammensetzung und Grösse vergleichbar zu
Unterschied mehr zwischen den relativen Armutsquoten der                                      machen.
Personen ab 65 Jahren (8,7 %) und derjenigen im Erwerbsalter                                     Im relativen Armutskonzept werden die Einkommen
(18 bis 64 Jahre; 7,7 %).                                                                     anhand der modifizierten OECD-Äquivalenzskala bedarfs-
    Bei der Beschränkung der Vermögen nimmt auch die rela-                                    gewichtet. Im absoluten Armutskonzept ergibt sich die
tive Armutsquote der Personen im Erwerbsalter ab, jedoch in                                   Äquivalenzskala hingegen aus der Armutsgrenze, die je
deutlich geringerem Ausmass. Dies kann als Hinweis darauf                                     nach Haushaltsgrösse unterschiedlich hoch ausfällt. Dabei
gedeutet werden, dass geringe Einkommen in dieser Alters-                                     können zwei Skalen ermittelt werden: einerseits die soge-
gruppe seltener durch Vermögen kompensiert werden kön-                                        nannte SKOS-Äquivalenzskala, welche von der SKOS für den
nen als bei der älteren Bevölkerung.                                                          Grundbedarf definiert wird, und andererseits eine Skala,
                                                                                              die sich aus der gesamten absoluten Armutsgrenze des BFS
EINZELPERSONEN UNTER 65 JAHREN UND FAMILIEN                                                   ergibt (Grundbedarf, Wohnkosten und Betrag für weitere
MIT DREI UND MEHR KINDERN Bei Einzelpersonen und                                              Auslagen). Im Gegensatz zur modifizierten OECD-Äquiva-
kinderreichen Familien verhalten sich die absolute und                                        lenzskala unterscheiden die beiden letztgenannten Skalen
relative Armutsquote unterschiedlich, obwohl beide Kon-                                       nicht nach Alter der Haushaltsmitglieder.
zepte das Ziel haben, die finanzielle Armut bzw. Armuts-                                         Während die modifizierte OECD-Skala und die SKOS-
gefährdung abzubilden (vgl. Grafik G1). Wie die nachfol-                                      Skala mit zunehmender Haushaltsgrösse ähnlich stark
gende Analyse zeigt, ist dies vor allem auf die Verwendung                                    ansteigen, ist die Skala unter Einbezug der Wohnkosten
unterschiedlicher Äquivalenzskalen in den beiden Kon-                                         deutlich flacher. Dies führt dazu, dass die relative Armuts-
zepten zurückzuführen. Äquivalenzskalen werden einge-                                         grenze für grosse Haushalte stärker ansteigt als die absolute

                                                                                         20
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