Anwältinnen blatt - ÖSTERREICHISCHES
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Anwältinnen 02 2023 93 – 156 ÖSTERREICHISCHES blatt 107 ABHANDLUNGEN Bemerkenswertes aus der Judikatur des OGH in Strafsachen seit 2020 Das Verbrechensopfergesetz im Wandel der Zeit – Schlaglichter 128 IM GESPRÄCH Mag.a Danijela Dworzak, Mag.a Julia Mair und MMag.a Dr.in Elisa Florina Ozegovic, LL. M. – Rechtsanwaltlicher Bereit- schaftsdienst 106 3 FRAGEN AN ... Christoph Küng www.rechtsanwaelte.at Österreichische Post AG · MZ 02Z032542 M · Österreichischer Rechtsanwaltskammertag, Wollzeile 1 – 3, 1010 Wien · ISSN 1605-2544
AUCH AUF Reissner/Neumayr (Hrsg) rdb.at Zeller Kommentar zum Öffentlichen Dienstrecht 01. Grundlieferung Dezember 2022. 1.-64. Lieferung, 2.984 Seiten in 4 Mappen. Im Abonnement zur Fortsetzung vorgemerkt. Das Werk wird im Zuge der nächsten Grundlieferungen vervollständigt. ISBN 978-3-214-18332-5 328,00 EUR inkl. MwSt. Im Dienste Ihres Erfolgs! • Die wichtigsten 9 Gesetze kommentiert • BDG, B-BSG, B-GlBG, DVG, GehG, PG, PVG, RGV, VBG • unionsrechtliche Aspekte und Universitätsdienstrecht shop.manz.at
93 Editorial Starke Rechtsstaatlichkeit in Krisenzeiten gefordert! D ie Anwaltschaft ist wie die gesamte Bevölkerung 2023 weiterhin mit diversen Krisen und deren Nachwir- kungen konfrontiert. Wir alle sind diese Krisen mehr als Funktion wichtiger rechtsstaatlicher In- stitutionen – oft be- leid. Die österreichischen Rechtsanwältinnen und Rechts- feuert durch schlag- anwälte standen und stehen ihren Mandantinnen und Man- zeilenlüstern orien- danten dennoch mit Zuversicht, unumwundenem Einsatz tierte Medien. und ihrer Sachkunde unter sehr erschwerten Bedingungen Viele Baustellen zur Seite. Wann und wie eine neue „Normalität“ gelingt, ist harren der Erledi- bei Verfassung des Editorials leider nicht absehbar. Erst gung. Um nur einige jüngst wurden im Bereich der Justiz bestimmte COVID- zu nennen: inakzep- 19-Maßnahmen verlängert. Die Bewertung der politischen tabel hohe Kosten Krisenmaßnahmen, sei es auf europäischer Ebene oder im des Zugangs zu Ge- nationalen Bereich, als Voraussetzung dafür, welche Lehren richt (Gerichtsge- für die Zukunft gelten, steht noch aus. Fest steht: Nicht im- bühren), Dauer von mer war „gut gemeint“ auch „gut gemacht“ oder verhältnis- (gewissen) Verfah- 2023/39 mäßig – zahllose beim VfGH anhängige Beschwerden zeu- ren, Herstellung einer Waffengleichheit bei der Rechtever- gen davon. Der ÖRAK musste mehrfach gegen Mängel in- teidigung und des Schutzes von Persönlichkeitsrechten in klusive gegen Diskriminierungen zu Lasten der Anwalt- strafrechtlichen (Ermittlungs-)Verfahren, einschließlich ei- schaft ankämpfen. nes adäquaten Kostenersatzes bei Freispruch, fortschreiten- Rechtsstaatlichkeit ist iSd Art 2 EUV ein Grundwert, der de Digitalisierung unter Einbindung der Anwaltschaft, in allen Mitgliedstaaten einer Gesellschaft gemeinsam ist, Fragen des Einsatzes Künstlicher Intelligenz in der Justiz, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Tole- verbesserte Transparenz, Verhinderung systemischer Un- ranz, Gerechtigkeit und Solidarität auszeichnet. Zu Recht terminierung der Grundwerte der Anwaltschaft. Die öster- muss Fehlentwicklungen, insb in einigen Ländern, entge- reichischen Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte werden gengewirkt werden, sei es mittels des EuGH oder monetärer sich auch 2023 dafür einsetzen! Maßnahmen. Zum jährlichen Rechtsstaatlichkeitsbericht der Europäischen Kommission trägt der ÖRAK über sein MARCELLA PRUNBAUER-GLASER Büro Brüssel auf Basis der Beobachtungen der österreichi- Vizepräsidentin des Österreichischen Rechtsanwaltskam- schen Anwaltschaft bei. Die „Fieberkurve“ des ÖRAK ist ein mertages (ÖRAK) eigenständiges (Vorläufer-)Projekt. Es kommt leider nicht von ungefähr, dass der Europarat an einem Projekt einer verbindlichen Konvention zum Schutz der Rechtsanwältin- nen und Rechtsanwälte arbeitet. Österreich hat ein vergleichbar hohes Niveau an Rechts- staatlichkeit. Dennoch: Eine Krise darf nicht zu Vernachläs- sigung oder schleichender Reduzierung von Justizgewäh- rungsrechten führen. Politisch bedingter Stillstand führt zu zunehmendem Vertrauensverlust der Bevölkerung in die österreichisches anwältinnenblatt 02_2023
94 Inhalt 02_2023 93 Editorial 107 ABHANDLUNGEN 127 SERVICE 95 Wichtige Informationen 97 Recht kurz & bündig 108 Bemerkenswertes aus der Judikatur des OGH in 128 Im Gespräch 102 Europarecht kurz & bündig Strafsachen seit 2020 132 Termine 104 Europa aktuell Eckart Ratz 133 Chronik 106 3 Fragen an . . . 121 Das Verbrechensopfergesetz im Wandel der Zeit – 136 Aus- und Fortbildung Schlaglichter 141 Rezensionen Franz Galla 146 Zeitschriftenübersicht 151 RECHTSPRECHUNG 152 Umgehung des Rechtsanwalts der anderen Partei – Uneindeu- tigkeit von Feststellungen im Disziplinarerkenntnis 153 Vertraulichkeit von Disziplinar- angelegenheiten Christoph Küng Foto: Swiss LegalTech Association 154 Inserate 156 Indexzahlen 156 Impressum AUTORINNEN UND AUTOREN DIESER AUSGABE: RA Dr. Manfred Ainedter, Wien Mag.a Silvana Asen, ÖRAK RA Mag. Gerold Beneder, Wien RA Dr. Michael Buresch, Wien Mag. Alexander Dittenberger, ÖRAK RA Mag. Franz Galla, Wien RA Ing. Dr. Wolfgang Gappmayer LL.M., Wien RA Dr. Rainer Hable, M.Sc. (LSE), Wien Mag. Reinhard Hohenegger, Wien Mag.a Ursula Koch, ÖRAK Mag.a Jessica König, ÖRAK Büro Brüssel RAin Britta Kynast, ÖRAK Büro Brüssel em. RA Prof. Dr. Nikolaus Lehner, Wien Mag. Christian Moser, ÖRAK Univ.-Prof. Dr. Stefan Perner, Wien RAin Dr.in Marcella Prunbauer-Glaser, Wien Hon.-Prof. Dr. Eckart Ratz, Wien RA Dr. Ullrich Saurer, Graz RA Mag. iur. Dr. iur. Felix Karl Vogl, Schruns MDes, Stefan Wurzl, Wien 02_2023 österreichisches anwältinnenblatt
95 Wichtige Informationen Betriebsunterbrechungsversicherung Tarifanpassung – Vertreterversammlung SILVANA ASEN (SA) Wiener Städtische des ÖRAK beschließt Änderung der AHK ÖRAK, Juristischer Dienst Zwischen dem ÖRAK und der Wiener Städtischen Versi- Seit nunmehr fast zwei Jahren fordert der ÖRAK eine An- ALEXANDER cherung AG wurde eine neue Rahmenvereinbarung für eine passung des Rechtsanwaltstarifs gem § 25 RATG. Die letzte DITTENBERGER (AD) Betriebsunterbrechungsversicherung abgeschlossen. Die Anpassung erfolgte 2015 mit Wirksamkeit 1. 1. 2016. Der ÖRAK, Juristischer Dienst Rahmenvereinbarung finden Sie im Mitgliederbereich unter Wertverlust aufgrund der seither eingetretenen Inflation www.rechtsanwaelte.at unter dem Menüpunkt Versor- beträgt inzwischen mehr als 25%. URSULA KOCH (UK) ÖRAK, Genereal- gungseinrichtungen / Betriebsunterbrechungsversicherung. Schon im April 2021 – damals war bereits ein mehr als sekretär-Stellvertreterin Für weitere Fragen und Details wenden Sie sich bitte direkt 10%iger Wertverlust eingetreten – hatte der ÖRAK einen an Ihren Versicherungsmakler oder an die Wiener Städti- Antrag auf Zuschlagsfestsetzung bei der Bundesministerin sche Versicherung AG. für Justiz eingebracht, der bislang allerdings – trotz mehr- UK facher Urgenzen – unerledigt geblieben ist. Zuletzt hat die Vertreterversammlung des ÖRAK im September 2022 in einer Resolution an die Bundesministe- Supranationale Risikobewertung der rin für Justiz festgehalten, dass eine Zuschlagsfestsetzung Europäischen Kommission unverzüglich zu erfolgen hat und als erste Protestmaßnah- Die Europäische Kommission setzt sich in der dritten Aus- me die kostenlose Erste Anwaltliche Auskunft der Rechts- gabe der supranationalen Risikobewertung ua mit den im anwaltskammern mit 26. 9. 2022 ausgesetzt. Bereich der rechtsberatenden Berufe bestehenden Geldwä- Wie bereits im Infom@il 27/2022 angekündigt, hat der sche- und Terrorismusfinanzierungsrisiken auseinander. ÖRAK für 20. 1. 2023 eine außerordentliche Vertreterver- Die supranationale Risikobewertung der Kommission be- sammlung zur Änderung der Allgemeinen Honorarkrite- steht aus dem Bericht und einer ausführlichen Arbeitsun- rien (AHK) anberaumt. In diesem weiteren Schritt haben terlage der Kommissionsdienststellen, die zusammen eine die Delegierten des ÖRAK eine Änderung der AHK be- umfassende Darstellung der Risiken in allen relevanten Be- schlossen, wonach ein Zuschlag in Höhe der seit dem In- reichen sowie die erforderlichen Empfehlungen zu ihrer Be- krafttreten der letzten Zuschlagsverordnung eingetretenen kämpfung enthalten. Die Ergebnisse der Analyse sind von Inflation als angemessen betrachtet werden kann. Die Än- der einzelnen Rechtsanwältin und vom einzelnen Rechtsan- derungen treten mit 15. 3. 2023 in Kraft. walt gem § 8 a Abs 2 Satz 2 RAO im Rahmen der von ihr Die AHK stellen eine gutachterliche Stellungnahme über bzw ihm zu entwickelnden Strategien, Kontrollen und Ver- die Angemessenheit des rechtsanwaltlichen Honorars gem fahren zur wirksamen Minderung und Steuerung der ua auf § 1052 ABGB dar. Gemäß §§ 6 bzw 10 AHK kann die Be- Unionsebene ermittelten Risiken von Geldwäscherei und rechnung des Honorars unter sinngemäßer Anwendung des Terrorismusfinanzierung zu beachten und zu berücksichti- RATG erfolgen. gen. Die Arbeitsunterlage setzt sich auf S 194 ff mit den Gemäß § 25 RATG hat die Bundesministerin für Justiz „services from notaries and other independent legal profes- eine Zuschlagsverordnung zu erlassen, wenn sich die wirt- sionals“ auseinander, wobei für den Bereich der Rechtsan- schaftlichen Verhältnisse ändern. Mangels gesetzlichen Au- waltschaft sowohl Bedrohungs- als auch der Anfälligkeits- tomatismus (im Gegensatz zur automatischen Anpassung grad iZm Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung mit des § 31 a Abs 1 GGG) ist die Situation eingetreten, dass „significant“ bewertet werden. Den Bericht sowie die Ar- trotz massiver Änderung der wirtschaftlichen Verhältnisse beitsunterlage finden Sie im ÖRAK-Mitgliederbereich unter und trotz der Verpflichtung gem § 25 RATG bislang keine Informationen / Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung. AD Zuschlagsverordnung erlassen wurde und so letztendlich die Ansätze des RATG nicht mehr als angemessen betrach- tet werden können. Beschluss der Steiermärkischen Um diesem Zustand entgegenzuwirken, wurde für den Rechtsanwaltskammer gesamten Bereich der AHK (für die Teile 2 und 4 im § 6 Vom Ausschuss der Steiermärkischen Rechtsanwaltskam- und für den Teil 3 im § 10) ein automatischer Zuschlag mer wird gem § 70 Abs 1 DSt angezeigt, dass über Dr. Sa- bei Überschreitung einer 5%-Schwelle gegenüber der letzten bine Christine Maria Deutsch, Rechtsanwältin, Krennach 41, Zuschlagsverordnung eingefügt. 8312 Riegersburg, in der Sitzung des Disziplinarrates vom Der jeweils gültige Zuschlag wird auf der Homepage des 7. 12. 2022 zu D 24/21, D 60/22, D 61/22, D 71/22 die einst- ÖRAK veröffentlicht werden. weilige Maßnahme der vorläufigen Untersagung der Aus- Die Rechtsanwaltschaft fordert darüber hinaus weiter- übung der Rechtsanwaltschaft verhängt worden ist. Zum hin die sofortige Wiederherstellung des gesetzmäßigen Kammerkommissär wird RA Hon.-Prof. Dr. Axel Recken- Zustands durch Erlass einer Zuschlagsverordnung gemäß zaun, MBL, Annenstraße 10/1, 8020 Graz, bestellt. § 25 RATG. SA österreichisches anwältinnenblatt 02_2023
96 Wichtige Informationen Kundmachung des Österreichischen nicht in § 9 erwähnt sind, sind die Honoraransätze der Rechtsanwaltskammertages TP 1 bis 3 und TP 5 bis 9 RATG zuzüglich eines Zuschlages 1. Beschluss der Vertreterversammlung, mit dem die gemäß § 6 Abs 3 unter Zugrundelegung folgender Bemes- AHK geändert werden sungsgrundlagen angemessen:“ Die Vertreterversammlung hat beschlossen: 4. Nach § 19 wird der folgende 5. Teil samt Überschrift Die AHK, kundgemacht am 30. 6. 2021 auf der Home- eingefügt: page des Österreichischen Rechtsanwaltskammertages, wer- „5. Teil Schlussbestimmungen den wie folgt geändert: Inkrafttreten 1. Im Inhaltsverzeichnis wird angefügt: § 20. § 6 Abs 1 und Abs 3 bis 5 sowie § 10 Abs 1 in der „5. Teil Fassung des Beschlusses Nr 1/2023 treten mit 15. 03. 2023 Schlussbestimmungen in Kraft.“ § 20. Inkrafttreten“ Kundgemacht auf der Homepage des Österreichischen 2. § 6 wird wie folgt geändert: Rechtsanwaltskammertages (www.rechtsanwaelte.at) am a. Abs. 1 lautet: 23. 1. 2023. „(1) Die Berechnung des Honorars im gesamten Anwen- DER ÖSTERREICHISCHE RECHTSANWALTS- dungsbereich des 2. und 4. Teiles kann unter sinngemäßer KAMMERTAG Anwendung des RATG in seiner jeweiligen Fassung nach Dr. Armenak Utudjian Maßgabe des Absatzes 3 erfolgen, insbesondere durch An- Präsident wendung der Bestimmungen über den Einheitssatz und der TP 1 bis 3 und 5 bis 9 RATG.“ b. Nach Abs. 2 werden folgende Abs. 3 bis 5 angefügt: „(3) Sobald und soweit sich der von der Bundesanstalt Sta- tistik Österreich verlautbarte Verbraucherpreisindex 2015 oder der an seine Stelle tretende Index gegenüber der für den Monat der zuletzt in Kraft getretenen Verordnung ge- mäß § 25 RATG bzw in der Folge gegenüber der der letzten Änderung zugrunde gelegten Indexzahl um mehr als 5 vH geändert hat, kann ab dem 01.01. des Folgejahres nach dieser Änderung die Entlohnung als angemessen betrachtet werden, die sich aus der nach sinngemäßer Anwendung des RATG errechneten Gesamtentlohnung des Rechtsanwaltes (feste Be- träge des RATG zuzüglich Einheitssatz nach § 23 RATG, Streitgenossenzuschlag nach § 15 RATG, ERV-Zuschlag nach § 23 a RATG und Verbindungsgebühr nach Anm zu TP 3 RATG, jeweils falls anwendbar) zuzüglich eines Zu- schlags, der der Änderung zwischen der für den Monat der zuletzt in Kraft getretenen Verordnung gemäß § 25 RATG bzw in der Folge gegenüber der der letzten Änderung zugrun- de gelegten Indexzahl und dem Oktoberindex des Vorjahres entspricht, ergibt. Der so berechnete Zuschlag kann auf die nächsten vollen 10 Cent kaufmännisch gerundet werden. (4) Die erstmalige Ermittlung des Zuschlages nach Abs 3 erfolgt auf Basis der für den Jänner 2016 verlautbarten In- dexzahl im Vergleich zu der für den Jänner 2023 veröffent- lichten Indexzahl und kann für die Berechnung des Hono- rars für ab dem 15. 03. 2023 erbrachte Leistungen angewen- det werden. (5) Die Höhe eines Zuschlags nach Abs 3 inklusive des Geltungszeitraums ist im Internet auf der Homepage des Österreichischen Rechtsanwaltskammertages (www.rechts- anwaelte.at) dauerhaft bereitzustellen.“ 3. § 10 Abs. 1 lautet: „§ 10 (1) Für Leistungen des Rechtsanwalts in offiziosen Strafsachen wegen gerichtlich strafbarer Handlungen, die 02_2023 österreichisches anwältinnenblatt
97 Recht kurz & bündig Diese Ausgabe von § 39 Abs 4, § 52 GmbHG; § 153 AktG chen mit der Marke gedanklich in Verbindung gebracht „Recht kurz & bündig“ wird. entstand unter 2023/40 Mitwirkung von 2. Die Nutzung einer Marke als Firmenbestandteil ist zu Zum Stimmverbot; zur Bezugsrechtsfrist bei unterlassen, wenn sie zur Kennzeichnung von Waren oder ULLRICH SAURER (US) Rechtsanwalt Kapitalerhöhungen Dienstleistungen erfolgt; nur gegen einen rein firmenmäßi- 1. Das Stimmverbot nach § 39 Abs 4 GmbHG tritt nicht gen Gebrauch wäre eine Marke grundsätzlich nicht ge- MANFRED AINEDTER (MA) (nur) und erst dann ein, wenn eine juristische Person als schützt. Rechtsanwalt Gesellschafter von dem vom Stimmverbot ausgeschlossenen 3. Als ein die Nutzung erlaubender Ausnahmetatbestand ist FRANZ GALLA (FG) Gesellschafter vollständig beherrscht wird, sondern schon in § 10 Abs 3 MarkSchG ua vorgesehen, dass die eingetra- Rechtsanwalt dann, wenn eine von der Interessenkollision ungetrübte gene Marke ihrem Inhaber nicht das Recht gibt, einem Drit- Stimmabgabe nicht zu erwarten ist. ten, wenn es sich bei diesem um eine natürliche Person han- 2. Mangels einer anderweitigen Festsetzung im Gesell- delt, zu verbieten, seinen Namen oder Adresse im geschäft- schaftsvertrag oder im Erhöhungsbeschluss steht gem § 52 lichen Verkehr zu benutzen, sofern dies den anständigen Abs 2 GmbHG den bisherigen Gesellschaftern einer GmbH Gepflogenheiten in Gewerbe und Handel entspricht. binnen vier Wochen vom Tage der Beschlussfassung an ein 4. Diese Bestimmung ist als Ausnahme vom Markenrecht Vorrecht zur Übernahme der neuen Stammeinlagen nach eng auszulegen. dem Verhältnis der bisherigen Stammeinlagen untereinan- 5. Wird eine ältere registrierte Marke vollständig in ein an- der zu. Für die Ausübung des Bezugsrechts der Aktionäre deres Zeichen aufgenommen, so ist bei Waren- und Dienst- ist gem § 153 Abs 1 Satz 2 AktG eine Frist von mindestens leistungsähnlichkeit bzw -identität regelmäßig Verwechs- zwei Wochen zu bestimmen. lungsgefahr anzunehmen und, zwar auch dann, wenn noch 3. Anders als im GmbH-Recht, wo die vierwöchige Frist für andere Bestandteile vorhanden sind. Bei einem aus Wort die Ausübung des Bezugsrechts dispositiv ist und daher be- und Bild zusammengesetzten Zeichen ist für den Gesamt- liebig verlängert oder verkürzt werden kann, sieht das Ak- eindruck idR der Wortbestandteil maßgebend, weil der Ge- tienrecht zwingend eine Mindestfrist von zwei Wochen vor. schäftsverkehr sich meist an diesem Kennwort zu orientie- 4. Nach einhelliger Ansicht im Schrifttum ist wegen des ren pflegt und vor allem dieses Wort im Gedächtnis behal- Fehlens aktienrechtlicher Besonderheiten die zweiwöchige ten wird. Frist nach § 153 Abs 1 Satz 2 AktG im GmbH-Recht jedoch OGH 18. 10. 2022, 4 Ob 131/22 a JusGuide 2022/47/ analog anzuwenden. Dieser hA ist aus dem genannten 20587. US Grund – keine aktienrechtliche Besonderheit – zu folgen. Der vereinzelten Ansicht, in besonders gelagerten Fällen er- §§ 1, 14 UWG; § 226 ZPO; § 355 EO scheine bei personalistisch ausgeprägter Gesellschaftsstruk- tur im GmbH-Recht eine Verkürzung der Überlegungs- 2023/42 und Entscheidungsfrist auch unter zwei Wochen denkbar, Zur Konkretisierung des Klagebegehrens iZm kann nicht zugestimmt werden. Denn auch eine Aktienge- wettbewerbsrechtlichem Unterlassungsbegehren sellschaft – etwa eine Familien-AG – kann personalistisch 1. Gem § 226 Abs 1 ZPO hat die Klage ein bestimmtes Be- ausgeprägt sein. Trotzdem schreibt das AktG die zweiwö- gehren zu enthalten. Ein bestimmtes Begehren hat zur Vo- chige Mindestfrist auch in solchen Fällen vor. raussetzung, dass ihm der Gegenstand, die Art, der Umfang OGH 17. 10. 2022, 6 Ob 183/22 p JusGuide 2022/48/ und die Zeit der geschuldeten Leistung oder Unterlassung 20598. US zu entnehmen sind. Die Unterlassungspflicht muss so deut- lich gekennzeichnet sein, dass ihre Verletzung gem § 355 §§ 10, 10 a MarkSchG EO exekutiv getroffen werden kann. 2. Das Klagebegehren ist so zu verstehen, wie es im Zusam- 2023/41 menhalt mit der Klagserzählung vom Kl gemeint ist. Maß- Zu identen Familiennamen als Wortmarke gebend ist also nicht allein der Wortlaut des Klagebegeh- 1. Gem § 10 Abs 1 MarkSchG gewährt die eingetragene rens, sondern auch der Inhalt der Prozessbehauptungen. Marke vorbehaltlich der Wahrung älterer Rechte ihrem In- 3. Eine jeden Zweifel und jede objektive Ungewissheit aus- haber das ausschließliche Recht, Dritten zu verbieten, ohne schließende Präzisierung des Klagebegehrens ist nur bei seine Zustimmung im geschäftlichen Verkehr 1. ein mit der Geldleistungen zu verlangen. Bei anderen Klagen ist dem Marke gleiches Zeichen für Waren oder Dienstleistungen zu Erfordernis des § 226 ZPO hinsichtlich der Bestimmtheit benutzen (§ 10 a MarkSchG), das mit denjenigen gleich ist, des Klagebegehrens jedenfalls dann Genüge getan, wenn für die die Marke eingetragen ist; 2. ein mit der Marke glei- man unter Berücksichtigung des Sprachgebrauchs und ches oder ähnliches Zeichen für gleiche oder ähnliche Wa- Ortsgebrauchs und nach den Regeln des Verkehrs daraus ren oder Dienstleistungen zu benutzen (§ 10 a MarkSchG), entnehmen kann, was begehrt ist. wenn dadurch für das Publikum die Gefahr von Verwechs- 4. Beim Erfordernis der Bestimmtheit des Klagebegehrens lungen besteht, welche die Gefahr einschließt, dass das Zei- als Voraussetzung für einen tauglichen Exekutionstitel han- österreichisches anwältinnenblatt 02_2023
98 Recht kurz & bündig delt es sich um eine prozessuale Klagevoraussetzung, deren samtheit konkreter, unlösbar miteinander verbundener Vorhandensein von Amts wegen auch noch im Rechtsmit- Umstände, die zum Freispruch oder zur Verurteilung ge- telverfahren zu prüfen ist. führt haben, maßgebend. Die rechtliche Einordnung der 5. Welche Anforderungen an die Konkretisierung des Kla- Tat nach nationalem Recht und das geschützte Rechtsgut gebegehrens zu stellen sind, hängt von den Besonderheiten sind für die Feststellung, ob dieselbe Straftat vorliege, nicht des anzuwendenden materiellen Rechts und von den Um- entscheidend, da die Reichweite des in Art 50 GRC gewähr- ständen des Einzelfalls ab. Es ist deshalb keine erhebliche ten Schutzes nicht von einem Mitgliedstaat zum anderen Rechtsfrage iSd § 528 Abs 1 ZPO, ob ein Unterlassungsge- unterschiedlich sein kann. bot im Einzelfall zu weit oder zu eng gefasst wurde. 3. Die bloße Tatsache, dass eine Behörde eines Mitglied- 6. Ein Unterlassungsgebot hat sich in seinem Umfang stets staats in einer Entscheidung, mit der ein Verstoß gegen an dem konkreten Wettbewerbsverstoß zu orientieren so- das Wettbewerbsrecht der Union und die entsprechenden wie – um Umgehungen durch den Verpflichteten nicht all- Bestimmungen des Rechts dieses Mitgliedstaats festgestellt zu leicht zu machen – auf ähnliche Fälle einzuengen. Bei wird, einen tatsächlichen Umstand erwähnt, der sich auf das Unterlassungsansprüchen ist allerdings eine gewisse allge- Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats bezieht, reicht meine Fassung des Begehrens iVm Einzelverboten erforder- nicht für die Annahme aus, dass dieser tatsächliche Um- lich. stand der Grund für die Verfolgungsmaßnahmen ist oder 7. Besteht eine unlautere Handlung im Unterlassen eines von dieser Behörde als einer der Umstände angesehen wur- gesetzlich gebotenen Verhaltens, so begründet dies einen de, die diesen Verstoß tatbestandlich begründen. Damit da- „quasi-negatorischen“ Anspruch auf Abwendung eines von ausgegangen werden kann, dass der Verstoß das Ho- durch (auch zukünftige) Untätigkeit verursachten wettbe- heitsgebiet dieses anderen Mitgliedstaats umfasst, ist darü- werbswidrigen Zustands, also um einen Erfolgsabwen- ber hinaus zu prüfen, ob die Behörde auf diesen tatsächli- dungsanspruch, der sich aus § 1 Abs 1 Z 1 UWG ergibt. chen Umstand in der Tatfrage eingegangen ist, um den Die stRsp unterstellt titelmäßige Verpflichtungen, die letzt- Verstoß sowie die Verantwortlichkeit des Beschuldigten da- lich auf ein Erfolgsverbot gerichtet sind, selbst dann, wenn für festzustellen und gegebenenfalls eine Sanktion zu ver- vom Titelschuldner aktive Abhilfemaßnahmen gefordert hängen. werden, in weiterer Auslegung des § 355 EO der Exekution OGH 21. 10. 2022, 16 Ok 2/22 p JusGuide 2022/50/ zur Erwirkung von Duldungen und Unterlassungen. 20626. US OGH 18. 10. 2022, 4 Ob 110/22 p JusGuide 2022/49/ 20612. US §§ 14, 29 PSG; § 1489 ABGB § 1 KartG; Art 101 AEUV; Art 50 GRC 2023/44 2023/43 Zur Verjährungsfrist iZm der Haftung der Mitglieder Zum Doppelbestrafungsverbot im Kartellrecht des Stiftungsvorstands 1. Art 50 GRC ist dahin auszulegen, dass er es nicht ver- 1. Die Verjährungsfist des § 1489 ABGB beginnt mit dem wehrt, dass ein Unternehmen von der Wettbewerbsbehörde Zeitpunkt zu laufen, in dem dem Geschädigten sowohl der eines Mitgliedstaats wegen eines Verhaltens, das im Ho- Schaden und die Person des Schädigers als auch die Scha- heitsgebiet dieses Mitgliedstaats einen wettbewerbswidrigen densursache bekannt geworden ist. Zweck verfolgte oder eine wettbewerbswidrige Wirkung 2. Maßgebend sind die Kenntnisse des Geschädigten vom hatte, wegen Verstoßes gegen Art 101 AEUV und die ent- objektiven Sachverhalt; auf die erforderlichen Rechtskennt- sprechenden Bestimmungen des nationalen Wettbewerbs- nisse oder auf die richtige rechtliche Qualifikation des – be- rechts verfolgt und gegebenenfalls mit einer Geldbuße be- kannten – Sachverhalts kommt es für die Ingangsetzung der legt wird, obwohl dieses Verhalten bereits von einer Wett- Verjährungsfrist nicht an. Die Unklarheit über Rechtsfra- bewerbsbehörde eines anderen Mitgliedstaats in einer end- gen kann den Beginn der Verjährungsfrist nicht hinaus- gültigen Entscheidung erwähnt wurde, die sie in Bezug auf schieben. dieses Unternehmen am Ende eines Verfahrens wegen Ver- 3. Die generelle Haftungsnorm des § 29 PSG enthält keine stoßes gegen Art 101 AEUV und die entsprechenden Be- gesonderte, von den Regelungen des allgemeinen Zivil- stimmungen des Wettbewerbsrechts dieses anderen Mit- rechts abweichende Verjährungsfrist, insb auch nicht für gliedstaats erlassen hat, sofern diese Entscheidung nicht die Verjährung von Schadenersatzansprüchen gegen Mit- auf der Feststellung eines wettbewerbswidrigen Zwecks glieder des Stiftungsvorstands. oder einer wettbewerbswidrigen Wirkung im Hoheitsgebiet 4. Sehr wohl besteht dagegen eine solche Sonderbestim- des erstgenannten Mitgliedstaats beruht. mung für die Haftung des Stiftungsprüfers durch den in 2. Für die Beurteilung, ob es sich um dieselbe Straftat han- § 21 Abs 2 PSG enthaltenen Verweis auf § 275 Abs 5 delt, ist nach gefestigter Rsp des EuGH das Kriterium der UGB. Angesichts dieser differenzierten Regelung ist eine Identität der materiellen Tat, also das Vorliegen einer Ge- dem Gesetzgeber unterlaufene unbeabsichtigte Regelungs- 02_2023 österreichisches anwältinnenblatt
99 Recht kurz & bündig lücke, die Voraussetzung für eine Analogie wäre, nicht zu § 293 Abs 2 StPO erkennen. 2023/49 OGH 24. 10. 2022, 8 Ob 123/22 d JusGuide 2022/48/ 20599. US Bindung durch RM-Entscheidung Bindung iSv § 293 Abs 2 StPO bezieht sich auf die Rechts- § 1295 ABGB (§ 3 StGB); § 1 Abs 3 Richtlinien-Ver- ansicht des OGH aufgrund des ihm vorgelegten Sachver- ordnung – RLV halts. OGH 3. 5. 2022, 11 Os 34/22 t (LG Wr. Neustadt 48 Hv 53/ 2023/45 21 p) EvBl 2022/135. MA „In-Dienst-Stellen“ eines Polizeibeamten Auch wenn die Voraussetzungen des „In-Dienst-Stellens“ § 55 e Abs 2 EU-JZG (§ 55 d Abs 7 EU-JZG; § 5 Abs 1, nach § 1 Abs 3 RLV nicht vorliegen, kommt einem Polizei- § 137 Abs 3, § 140 Abs 1 StPO) beamten dann die Befugnis zur Anhaltung zu, wenn er in Ausübung verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangs- 2023/50 gewalt tätig wird und dies auch offenlegt. Genehmigung ausl Ermittlung auf österr OGH 24. 3. 2022, 9 Ob 54/21 p (OLG Innsbruck 1 R 56/21 a; Bundesgebiet LG Innsbruck 67 Cg 21/19 a) EvBl 2022/124. MA Eine Regelung für den Fall einer von einer ausl Beh bereits veranlassten akustischen Überwachung enthält das EU-JZG § 473 Abs 2 StPO (Art 6 Abs 1 MRK; Art 2 Abs 1 7. ZP; nicht. § 489 Abs 1 StPO) OGH 14. 6. 2022, 11 Os 41/22 x (OLG Innsbruck 11 Bs 76/ 2023/46 20 v; LG Feldkirch 27 HR 23/20 d) MA Sachverhaltsklärung durch BerG Ein generelles (Grund-)Recht auf Beweisaufnahme im Be- § 252 Abs 1 Z 2 a StPO (§ 281 Abs 1 Z 4 StPO) rufungsverfahren besteht nicht. Eine Verletzung von Art 6 2023/51 Abs 1 MRK erblickt der EGMR nur dann, wenn das BerG Änderung der Beweislage ändert nichts an Erlaubnis (bei voller Kognitionsbefugnis in der Schuldfrage) von der zur Verlesung Beweiswürdigung des ErstG zum Nachteil des Angekl ohne Entfall des Entschlagungsrechts bei Hervorkommen neuer unmittelbare Beweisaufnahme abweicht. Beweisergebnisse (nach Durchführung einer kontradiktori- OGH 26. 4. 2022, 14 Os 2/22 h (OLG Graz 9 Bs 412/20 m; schen Vernehmung iSd § 165 StPO) sieht das Gesetz nicht LGSt Graz 6 Hv 68/20 d) Evl 2022/129. MA vor. OGH 27. 1. 2022, 15 Os 30/22 h EvBl -LS 2022/154. MA § 140 Abs 1 StPO 2023/47 § 39 a Abs 1 Z 4 StGB Kein Verwendungsverbot bei nicht veranlasster ausl 2023/52 Ermittlung Da sich die inl Verfahrensgesetze nicht auf (ohne Veranlas- Funktionaler Waffenbegriff entscheidend sung durch ein österr Gericht entfaltete) Tätigkeiten ausl Nach dem Willen des Gesetzgebers soll die Anwendung von Beh beziehen und sich die StPO daher nur an österr – Gewalt oder (gefährlicher) Drohung unter Einsatz oder und nicht auch an ausl – Strafverfolgungsorgane als Norm- Drohung mit einer Waffe strenger sanktioniert werden adressaten wendet, unterliegt eine innerstaatlich als Über- (§ 33 Abs 2 Z 6, § 39 a Abs 1 Z 4 StGB). Als „Waffe“ ist wachung von Nachrichten nach § 134 Z 3 StPO zu beurtei- im Kontext der Bestimmungen zur Strafbemessung – wie lende Vorgangsweise ausl Behörden keinem Beweisverwen- in § 143 StGB – eine solche im funktionalen Sinn zu ver- dungsverbot nach § 140 Abs 1 StPO. stehen. OGH 22. 2. 2022, 15 Os 11/22 I EvBl-LS 2022/146. MA OGH 13. 4. 2022, 11 Os 16/22 w EvBl-LS 2022/155. MA § 281 Abs 1 Z 4 StPO (§ 157 StPO) § 158 StPO 2023/48 2023/53 Nichtanerkennung von Aussageverweigerung muss Aussageverweigerung beantragt werden In einem sich auf § 158 Abs 2 StPO stützenden Antrag wäre Gegen die Gewährung eines Rechts auf Aussageverweige- darzulegen, weshalb die Beantwortung der konkret in Rede rung steht ein auf Nichtanerkennung gestellter, unter der stehenden Frage, in Ansehung derer die Voraussetzungen Sanktion von § 281 Abs 1 Z 4 StPO stehender Antrag zu. des § 158 Abs 1 StPO vorliegen, zur Wahrheitsfindung OGH 20. 4. 2022, 13 Os 5/22 t EvBl-LS 2022/147. MA zwingend erforderlich sein soll. österreichisches anwältinnenblatt 02_2023
100 Recht kurz & bündig OGH 2. 6. 2022, 12 Os 12/22 i (LG Leoben 34 Hv 84/19 d) Zwar kann die objektiv bestehende Möglichkeit, ein Liefer- EvBl 2022/142. MA oder Abholservice anzubieten, eine zumindest teilweise Brauchbarkeit begründen. Das trifft aber dann nicht zu, wenn – etwa aufgrund des fehlenden Kundenkreises – ein § 62 a Abs 5 und 6 VfGG nachhaltiges Verlustgeschäft zu erwarten gewesen wäre. 2023/54 Dass dies hier nach Annahme der Vorinstanzen der Fall Verständigung durch VfGH konstitutiv war, ist im Hinblick auf die exponierte Lage und die fehlen- Die in § 62 a Abs 6 VfGG normierte Innehaltepflicht im de Verkehrsanbindung der Schutzhütte jedenfalls vertret- RMVerfahren wird (erst) durch das Einlangen einer Ver- bar. Das bloße Belassen des Inventars in den Räumen ist ständigung des VfGH (iSd § 62 a Abs 5 Satz 1 VfGG) beim keine „Nutzung“. StrafG erster Instanz ausgelöst. Demgemäß handelt ein OGH 22. 11. 2022, 1 Ob 178/22 s. FG RMG nur dann rechtsfehlerhaft, wenn es in Kenntnis der Verständigung des VfGH vom Vorliegen eines Parteian- § 9 RAO; § 10 Abs 1 RL-BA trags auf Normenkontrolle gegen die Innehaltepflicht ver- 2023/57 stößt. OGH 31. 5. 2022, 14 Os 39/22 z EvBl-LS 2022/162. MA Verletzung von Verschwiegenheitspflichten nur bei konkreter Gefahr Die Kl begehrte von der beklagten Rechtsanwaltsgesell- § 28 a Abs 4 Z 3 SMG schaft gestützt auf Verstöße gegen § 10 Abs 1 RL-BA 2015 2023/55 ua die Unterlassung der Offenbarung und/oder Verwen- Übergroße Menge durch Zusammenrechnung dung ihr aus der Rechtsberatung ihrer Unternehmensgrup- § 28 a Abs 4 Z 3 SMG normiert eine besondere Art von Zu- pe bekannt gewordener, vertraulicher Informationen, ins- sammenrechnungsgrundsatz, sodass bei gleichartiger Real- besondere im Rahmen der Rechtsberatung und/oder konkurrenz durch Verwirklichung jeweils desselben Tat- Rechtsvertretung Dritter. bilds (Überlassen von Suchtgift) nur ein Verbrechen des Das BerG ging nach Meinung des OGH in Übereinstim- Suchtgifthandels nach § 28 a Abs 1 Fall 5, Abs 4 Z 3 SMG mung mit dem klaren Wortlaut des § 10 Abs 1 Z 1 RL-BA begründet wird. Dies gilt auch bei Begehung in unterschied- 2015 zwar davon aus, dass bereits bei Gefahr der Verletzung lichen Beteiligungsformen, weshalb ein Schuldspruch we- der Verschwiegenheitspflicht bezogen auf von einem frühe- gen zwei Verbrechen des jeweils durch Überlassen von He- ren Klienten anvertraute Informationen die Übernahme ei- roin begangenen Suchtgifthandels eine unzulässige Aufspal- nes neuen Mandats eine Pflichtverletzung darstellen kann. tung der – richtig nach § 28 a Abs 1 Fall 5, Abs 4 Z 3 SMG, Es bedarf aber einer konkreten Gefahr der Verletzung von § 12 Fall 3 StGB zu bildenden – Subsumtionseinheit bedeu- Verschwiegenheitspflichten, die nicht allein aus der Über- tet. nahme des zweiten Mandats abgeleitet werden kann. Wenn OGH 26. 4. 2022, 14 Os 35/22 m EvBl-LS 2022/163. MA das BerG unter Hinweis darauf, dass die Bekl weder sensible Informationen offenbart noch verwendet hat, und mangels eines inhaltlichen Zusammenhangs zur bereits 2017 been- § 1104 ABGB deten Vertretungstätigkeit für die Kl bei Liegenschaftspro- 2023/56 jekten eine konkrete Gefahr der Verletzung von Verschwie- Keine Nutzbarkeit einer Schutzhütte während des genheitspflichten verneint hat, stellt dies nach Meinung des Lockdowns erkennenden Senates keine aufzugreifende Fehlbeurteilung Die Kl hatte der Bekl eine Schutzhütte verpachtet und er- dar. hebt nun Pachtzins- und Räumungsklage. Die Vorinstanzen OGH 22. 11. 2022, 2 Ob 177/22 a. FG wiesen einen Großteil des Zahlungsbegehrens ab, weil die Schutzhütte während des Lockdowns vom 3. 11. 2020 bis §§ 1039, 1041 ABGB 18. 5. 2021 zur Gänze unbrauchbar war. Dazu der OGH: 2023/58 Führen aufgrund der COVID-19-Pandemie durch Gesetz oder Verordnung angeordnete Betretungsverbote für Ge- Bereicherungsanspruch gegen Plattform wegen schäftsräume in Bestandobjekten zu deren gänzlicher Un- kurzzeitiger Vermietung von Gemeindewohnung benutzbarkeit, ist sowohl auf Miet- als auch auf Pachtver- trotz Verbots trägen § 1104 ABGB anzuwenden. Nach der ausdrücklichen Die kl Stadt verfügt über rund 220.000 Gemeindewohnun- Regelung in § 8 Abs 2 der 2. bis 4. COVID-19-Schutzmaß- gen, die sie an einkommensschwächere, wohnungsbedürfti- nahmenverordnung galten Schutzhütten als Beherber- ge Personen vermietet, denen sie eine Untervermietung des gungsbetriebe, deren Betreten nach § 8 Abs 1 dieser Ver- Mietgegenstands an Dritte untersagt. Die bekl Gesellschaft ordnungen zum Zweck der Inanspruchnahme von Dienst- betreibt eine weltweit abrufbare Online-Plattform, auf der – leistungen untersagt war. gegen Entrichtung einer Gebühr – „Gastgeber“ und „Gäste“ 02_2023 österreichisches anwältinnenblatt
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101 Recht kurz & bündig befristete Verträge zur Nutzung dieser Unterkünfte ab- Im vorliegenden Fall findet die Vermögenszuwendung we- schließen können. der im Valuta- noch im Deckungsverhältnis eine Rechtfer- Anfang 2020 hatte ein Gemeindewohnungsmieter die an tigung, hat doch weder die Bekl einen Anspruch gegen den ihn vermietete Gemeindewohnung über die Plattform der „Gastgeber“ auf Lukrierung von Einnahmen aus der unzu- Bekl zur kurzzeitigen Weitervermietung angeboten und lässigen Vermietung von Wohnungen der Kl noch der auch tatsächlich gegen ein im Vergleich zur Hauptmiete ho- „Gastgeber“ einen Anspruch gegen die Kl auf Untervermie- hes Entgelt kurzzeitig weitergegeben. Die Kl informierte da- tung. Auch hat sich die Kl durch die Vermietung der Woh- raufhin die Bekl davon sowie vom Umstand, dass Unterver- nungen (mit vereinbartem Untervermiet-/Weitergabever- mietungen ihrer Gemeindewohnungen ausnahmslos verbo- bot) nicht vorbehaltlos ihres Vermögens begeben. Im Übri- ten seien. gen hatte die Bekl den Anspruch der Kl auf Unterlassung Die Kl hat ihre Ansprüche auf Rechnungslegung und Zah- der Verbreitung von Angeboten zur (Unter-)Vermietung lung auch auf § 1041 ABGB gestützt, dies nach Meinung des von (ihr bekannten) Wohnungen der Kl (wegen des unbe- erkennenden Senates zu Recht: Dieser allgemeine Bereiche- rechtigten Eingriffs in das Eigentum der Kl) anerkannt. Von rungsanspruch richtet sich gegen denjenigen, der eine frem- einer Rechtfertigung der Vermögensverschiebung kann da- de Sache ohne Rechtsgrund zum eigenen Vorteil benützt her hier auch deswegen keine Rede sein. Die Wohnungen und sich dabei im Einzelfall nicht auf eine Leistung des Ei- der Kl werden vielmehr ohne Rechtsgrund zum Nutzen der gentümers oder sonst Berechtigten stützen kann. Die von Bekl verwendet, sodass der geltend gemachte Verwen- der Bekl lukrierte Servicegebühr fällt für jeden zwischen ei- dungsanspruch dem Grunde nach zu Recht besteht. nem „Gastgeber“ und einem „Gast“ abgeschlossenen Ver- OGH 22. 11. 2022, 4 Ob 33/22 i. FG trag an, hängt somit von der Zurverfügungstellung der Wohnungen der Kl durch den „Gastgeber“ ab; ihr liegt so- mit nicht bloß eine „eigene Leistung“ der Bekl zugrunde. Gute juristische Texte schreiben • Viele Übungsbeispiele • Übersicht der wichtigsten Grammatikregeln • Checkliste für den perfekten Text Damjanovic Juristische Textwerkstatt 2022. 202 Seiten. Br. ISBN 978-3-214-13697-0 39,00 EUR inkl. MwSt. shop.manz.at österreichisches anwältinnenblatt 02_2023
102 Europarecht kurz & bündig Diese Ausgabe von „Europarecht kurz & Rechtsangleichung wobei, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Errei- bündig“ entstand chung der verfolgten legitimen Ziele zur Verfügung stehen, unter Mitwirkung von 2023/59 die am wenigsten belastende zu wählen ist. RAINER HABLE (RH) Vorlage zur Vorabentscheidung – Verhinderung der Die betreffende Regelung, die den Eingriff enthält, muss Rechtsanwalt in Wien/ Brüssel Nutzung des Finanzsystems zum Zweck der klare und präzise Regeln für die Tragweite und die Anwen- Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung – RL dung der vorgesehenen Maßnahmen sowie Mindestanfor- (EU) 2018/843 zur Änderung der RL (EU) 2015/849 – derungen aufstellen, so dass die betroffenen Personen über Erfolgte Änderung von Art 30 Abs 5 UAbs 1 lit c der ausreichende Garantien verfügen, die einen wirksamen RL 2015/849 – Zugang aller Mitglieder der Schutz ihrer personenbezogenen Daten vor Missbrauchsri- Öffentlichkeit zu den Informationen über die siken ermöglichen. wirtschaftlichen Eigentümer – Gültigkeit – Art 7 und 8 Der Rat und die Kommission verweisen zum Nachweis der der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – absoluten Erforderlichkeit des Eingriffs auf die Folgenab- Achtung des Privat- und Familienlebens – Schutz schätzung, die der RL zugrunde liege. RL 2015/849 habe personenbezogener Daten den Zugang jeder Person zu Angaben über die wirtschaft- Eine Gesellschaft stellte bei Luxembourg Business Registers lichen Eigentümer von der Voraussetzung abhängig ge- (LBR) einen Antrag, den Zugang zu den Angaben betref- macht, dass sie ein „berechtigtes Interesse“ habe nachweisen fend WM, ihren wirtschaftlichen Eigentümer, zu beschrän- können, doch sei in dieser Folgenabschätzung festgestellt ken, da der Zugang der breiten Öffentlichkeit zu diesen An- worden, dass das Fehlen einer einheitlichen Definition des gaben ihn und seine Familie einem unverhältnismäßigen Begriffs „berechtigtes Interesse“ praktische Schwierigkeiten Risiko aussetzen würde. Der Antrag wurde abgelehnt. bereitet habe, so dass die geeignete Lösung darin bestanden WM erhob Klage beim Tribunal d’arrondissement de Lu- habe, diese Voraussetzung zu streichen. xembourg (Bezirksgericht Luxemburg), dem vorlegenden Das etwaige Vorliegen von Schwierigkeiten bei der genauen Gericht. LBR widersprach mit der Begründung, dass die Si- Bestimmung der Fälle und Bedingungen kann jedoch nach tuation von WM nicht den Anforderungen des nationalen dem Gerichtshof nicht rechtfertigen, dass der Unionsgesetz- Gesetzes genüge, da sich WM weder auf „außergewöhnliche geber den Zugang aller Mitglieder der Öffentlichkeit zu die- Umstände“ noch auf eines der genannten Risiken berufen sen Informationen vorsieht. Außerdem ist in Bezug auf die könne. Schwere dieses Eingriffs und die Bedeutung der dem Ge- In C-601/20 stellte Sovim beim LBR einen Antrag, den Zu- meinwohl dienenden Zielsetzung davon auszugehen, dass gang zu den Angaben über ihren wirtschaftlichen Eigentü- diese Zielsetzung in Anbetracht ihrer Bedeutung zwar Ein- mer zu beschränken. Dieser Antrag wurde abgelehnt. Sovim griffe in die Charta-Grundrechte zu rechtfertigen vermag, erhob Klage beim vorlegenden Gericht und machte geltend, aber vorrangig Behörden und Finanzinstituten obliegt. dass die Gewährung eines öffentlichen Zugangs zur Identi- Aus diesem Grund müssen die Informationen in jedem Fall tät und zu den persönlichen Daten ihres wirtschaftlichen den zuständigen Behörden und den zentralen Meldestellen Eigentümers das Recht auf Schutz des Privat- und Familien- ohne Einschränkung zugänglich sein. lebens sowie das Recht auf Schutz personenbezogener Da- EuGH 22. 11. 2022, C-37/20, C-601/20, Luxembourg Busi- ten, die in den Art 7 bzw 8 der Charta der Grundrechte der ness Registers. RH Europäischen Union („Charta“) verankert seien, verletze. RL 2015/849, auf deren Grundlage das luxemburgische Ge- Wirtschafts- und Währungspolitik: Europäisches Sys- setz eingeführt wurde, ziele nämlich darauf ab, die wirt- tem der Zentralbanken schaftlichen Eigentümer von Gesellschaften zu identifizie- 2023/60 ren, die zum Zweck der Geldwäsche oder der Terrorismus- finanzierung eingesetzt würden, und die Sicherheit der Ge- Vorlage zur Vorabentscheidung – Europäisches schäftsbeziehungen und das Vertrauen in die Märkte zu System der Zentralbanken – Nationale Zentralbank – gewährleisten. Es sei jedoch nicht erwiesen, wie der Zugang Richtlinie 2001/24/EG – Sanierung und Liquidation der Öffentlichkeit ohne jegliche Kontrolle zu den Daten das von Kreditinstituten – Schadenersatz wegen der Erreichen dieser Zielsetzungen ermögliche. Entscheidung über Sanierungsmaßnahmen – Art 123 Nach stRsp verlangt die Verhältnismäßigkeit von Maßnah- AEUV und Art 21.1 des Protokolls (Nr 4) über die men, aus denen sich ein Eingriff in die in den Art 7 und 8 Satzung des Europäischen Systems der der Charta garantierten Grundrechte ergibt, dass nicht nur Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank – die Anforderungen an die Geeignetheit und Erforderlich- Verbot der monetären Finanzierung der keit, sondern auch die Anforderung an die Verhältnismä- Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets – Art 130 ßigkeit dieser Maßnahmen im Hinblick auf das verfolgte AEUV und Art 7 dieses Protokolls – Unabhängigkeit – Ziel erfüllt sein müssen. Insbesondere beschränken sich Weitergabe vertraulicher Informationen die Ausnahmen vom Schutz personenbezogener Daten Als Antwort auf die Finanzkrise in 2008 erließ der sloweni- und dessen Einschränkungen auf das absolut Erforderliche, sche Gesetzgeber nationale Rechtsvorschriften, die die Slo- 02_2023 österreichisches anwältinnenblatt
103 Europarecht kurz & bündig wenische Zentralbank ermächtigen, bestimmte Finanzin- Finanzierung gleich. Allerdings kann nicht davon ausgegan- strumente zu löschen, sollte ein möglicher Konkurs eines gen werden, dass eine öffentliche Finanzierung gegenüber Kreditinstitutes das gesamte Finanzsystem bedrohen. 2016 Dritten vorhanden ist, wenn eine fälschliche Entscheidung erklärte das slowenische Verfassungsgericht diese Gesetze der Zentralbank der Sorgfaltspflicht widersprochen hat. Da- für verfassungsgemäß, wies jedoch auch auf eine Lücke in her entscheidet der Gerichtshof, dass eine Haftung der den Vorschriften bezüglich der Verfahrensregeln für mög- Zentralbank aus eigenen finanziellen Mitteln mit Unions- liche Schadenersatzklagen hin. Daraufhin erließ die Staats- recht vereinbar ist, wenn durch eine grobe Verletzung der versammlung der Republik Slowenien ein Gesetz für die Sorgfaltspflicht ein großer Verlust für Inhaber der jeweili- mögliche Haftung der Zentralbank bei Schadenersatzklagen gen Finanzinstrumente entstanden ist und die Löschung aufgrund von gelöschten Finanzinstrumenten. dieser nicht notwendig für die Erhaltung der Stabilität des Die Zentralbank legte gegen diese Regelungen der Staats- Finanzsystems war. versammlung eine Verfassungsklage ein, in der sie behaup- Für Entschädigungszahlungen an Inhaber von betroffenen tet, dass die Haftungsregelungen sowie Vorschriften zur Of- Finanzinstrumenten sieht der slowenische Gesetzgeber vor, fenlegung von Informationen mit Unionsrecht nicht verein- dass die Zentralbank für diese auch dann aufkommt, wenn bar seien. Das Verfassungsgericht ersuchte den Gerichtshof die Sorgfaltspflicht eingehalten wurde, sollten die Einbußen um eine Vorabentscheidung bezüglich der Regelungen des der Inhaber außerhalb der festgelegten Schwelle in den Unionsrechts über Haftungsgrenzen der Europäischen Rechtsvorschriften sein. Der Gerichtshof stellt fest, dass ei- Zentralbanken. ne solche Entschädigungszahlung nicht vereinbar mit Der Gerichtshof weist grundsätzlich darauf hin, dass mög- Unionsrecht ist, da dies Aufgabe von anderen nationalen liche Sanierungsmaßnahmen von Kreditinstitutionen kei- Behörden ist. ne grundlegende Aufgabe der Zentralbanken sind. Sollten Weiterhin hält der Gerichtshof fest, dass die nationalen Mitgliedstaaten ungeachtet dessen diese Aufgabe an ihre Zentralbanken der Ausführung der Geldpolitik der Union Zentralbanken delegieren, so tun sie dies auf eigene Ver- obliegen und somit verpflichtet sind, eine Bildung von Re- antwortung und Rechnung der jeweiligen Zentralbank. Im serven sicherzustellen. Ein Entnehmen von Reserven für weiteren Verlauf entscheidet der Gerichtshof über die uni- mögliche Haftungszahlungen kann dazu führen, dass eine onsrechtliche Vereinbarkeit von vier Aspekten der Haf- Bildung von weiteren Reserven nicht möglich ist. Somit tungsregelungen. stellt der Gerichtshof fest, dass diese Entschädigungszahlun- Die konkreten Voraussetzungen zur Haftung der Zentral- gen nicht aus den Mitteln der Zentralbank entnommen banken werden von den Mitgliedstaaten festgelegt. Jedoch werden dürfen, wenn dadurch die Fähigkeit zur Wahrneh- müssen diese mit dem Verbot der monetären Finanzierung mung ihrer Aufgaben beeinträchtigt wird. Damit ist das gem Art 123 AEUV vereinbar sein. Somit ist es nicht er- Entnehmen von mehr als 50% der allgemeinen Reserven laubt, dass die Haftung der Zentralbank einem Erwerb für solche Zahlungen sowie die Aufnahme eines verzinsten von Schuldmitteln einer öffentlichen Institution gleich- Darlehens beim Mitgliedstaat nicht mit Unionsrecht verein- kommt. Da in dieser Regelung der öffentliche Sektor gegen- bar. über Dritten finanziell haftet, kommt dies einer monetären EuGH (GK) 13. 9. 2022, C-45/21, Banka Slovenije. RH österreichisches anwältinnenblatt 02_2023
104 Europa aktuell BRITTA KYNAST Leiterin ÖRAK-Vertre- EuGH: Berichtspflichten von Intermediären tung in Brüssel. Die Au- torin ist in Deutschland zugelassene Rechtsan- im Steuerbereich (DAC6-RL) teilweise wältin. 2023/61 ungültig D er EuGH hat in einem Vorlageverfahren ua der Rechtsanwaltskammer Flandern, C-694/20, im Hin- blick auf Berichtspflichten für Intermediäre im Steuerrecht walt-Intermediär zu Recht auf die Verschwiegenheits- pflicht berufe. Das Ziel der in Art 8ab dieser RL vorgesehenen Melde- (DAC6-RL) entschieden, dass diese insofern gegen das in und Unterrichtungspflichten bestehe nicht darin, zu kon- Art 7 der Charta garantierte Recht auf Achtung der trollieren, ob die Rechtsanwalt-Intermediäre innerhalb der Kommunikation zwischen Rechtsanwalt und Mandant in der Richtlinie referenzierten Grenzen der für ihren Beruf verstoßen und ungültig sind, als dass der der Verschwie- relevanten nationalen Rechtsvorschriften tätig werden. Es genheitspflicht unterliegende Rechtsanwalt-Intermediär gehe darum, potenziell aggressive Steuerpraktiken zu be- verpflichtet ist, andere Intermediäre, die nicht seine Man- kämpfen und Steuerhinterziehung und Steuerbetrug zu ver- danten sind, über die ihnen obliegenden Meldepflichten zu hindern, indem sichergestellt wird, dass die Informationen unterrichten. über meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen Der EuGH erkennt in seinem Urteil: den zuständigen Behörden vorgelegt werden. (Rz 56) „Art. 8ab Abs 5 der (. . .) Richtlinie (EU) 2018/8221 (. . .) ist Eine ebensolche Information der Steuerverwaltung stelle im Licht von Art 7 der Charta der Grundrechte der Europä- die RL sicher, ohne dass es hierfür erforderlich wäre, ihr die ischen Union ungültig, soweit seine Anwendung durch die Identität und Konsultierung des Rechtsanwalt-Intermediärs Mitgliedstaaten dazu führt, dass dem Rechtsanwalt, der als offenzulegen (Rz 57). Intermediär im Sinne von Art 3 Nr 21 dieser Richtlinie in Unter diesen Umständen könne die Möglichkeit, dass geänderter Fassung handelt, die Pflicht auferlegt wird, ande- sich Rechtsanwalt-Intermediäre zu Unrecht auf die Ver- re Intermediäre, die nicht seine Mandanten sind, unverzüg- schwiegenheitspflicht berufen, um sich ihrer Meldepflicht lich über die Meldepflichten zu unterrichten, die ihnen nach zu entziehen, es nicht erlauben, die in Art 8ab Abs 5 dieser Art 8ab Abs 6 dieser Richtlinie in geänderter Fassung oblie- RL vorgesehene Unterrichtungspflicht und die damit ein- gen, wenn dieser Rechtsanwalt aufgrund der Verschwiegen- hergehende Offenlegung der Identität und der Konsultie- heitspflicht, der er unterliegt, von der in Art 8ab Abs 1 dieser rung des unterrichtenden Rechtsanwalt-Intermediärs an Richtlinie vorgesehenen Meldepflicht befreit ist.“ die Steuerverwaltung als unbedingt erforderlich anzusehen Anlass des Vorlageverfahrens ist die belgische Umset- (Rn 58). zung der sog DAC6-RL nach der dem als Intermediär auf- Negativ ist anzumerken, dass der EuGH im vorliegenden tretenden Rechtsanwalt auferlegt wird, wenn er an das Be- Urteil Art 47 GRC, der unter anderem das Recht auf Bera- rufsgeheimnis gebunden ist, weitere Intermediäre schrift- tung, Vertretung und Verteidigung vorsieht, recht summa- lich und unter Angabe von Gründen davon zu unterrichten risch unter dem Blickwinkel des „fairen Verfahrens“ im en- hat, dass er seiner Meldepflicht bezüglich bestimmter geren Sinne prüft und dies auf gerichtliche Verfahren ein- steuerlicher Gestaltungen gegenüber den Steuerbehörden schränkt (Rz 61 ff). nicht nachkommen kann.2 Urteil C-694/2020 abrufbar hier Zunächst prüft der EuGH, ob dieser Eingriff in das in Art 7 GRC garantierte Recht auf Achtung der Kommuni- kation zwischen Rechtsanwalt und Mandant gerechtfertigt sein könnte. Dabei erläutert er sehr genau, welche anderen ebenfalls bestehenden Berichtspflichten dazu führen, dass die Weitergabe von Informationen innerhalb einer Kette von Intermediären eben nicht als unbedingt erforderlich anzusehen sind, dh, die entsprechende Regelung unver- hältnismäßig ist (Rz 47 – 53). Eine klare Absage erteilt der EuGH auch dem Vortrag der Kommission in der mündlichen Verhandlung, dass die 1 RL (EU) 2018/822 des Rates vom 25. 5. 2018 zur Änderung der RL 2011/ 16/EU bezüglich des verpflichtenden automatischen Informationsaustau- Offenlegung der Identität und der Konsultierung des sches im Bereich der Besteuerung über meldepflichtige grenzüberschreitende Rechtsanwalt-Intermediärs notwendig sei, damit die Gestaltungen. 2 Zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses hat der ÖRAK mit dem BMF Steuerverwaltung prüfen könne, ob sich der Rechtsan- Kontakt aufgenommen, um das geplante weitere Vorgehen des Gesetzgebers in Österreich in Reaktion auf das Vorlageverfahren zu erfahren. 02_2023 österreichisches anwältinnenblatt
105 Europa aktuell Rat positioniert sich zu den Vorschlägen zur BRITTA KYNAST Leiterin ÖRAK-Vertre- Geldwäsche-VO und -RL tung in Brüssel. Die Au- torin ist in Deutschland zugelassene Rechtsan- wältin. N ach monatelangen sehr intensiven Verhandlungen hat der Rat am 7. 12. 2022 seine Position für den sog Trilog mit EU-Parlament und EU-Kommission zu den beiden Vor- wäre, insb im Hinblick auf das höherrechtlich geschützte Verschwiegenheitsgebot. Nach Auffassung des Rates soll den Mitgliedstaaten die 2023/62 schlägen zur Geldwäsche-VO und -RL angenommen. Möglichkeit gegeben werden, Meldepflichten bei rechtsan- Besonders beachtenswert ist der Vorschlag des Rates, ei- waltlicher Tätigkeit vorzusehen, die mit einem besonders ne spezifische Regelung zur Wahrung der Unabhängig- hohen Risiko behaftet sind – was auch immer diese Defini- keit der Rechtsberufe in die geplante GW-RL aufzuneh- tion bedeuten soll –, dies allerdings im Rahmen des Unions- men. Demnach solle die nationale Aufsichtsbehörde weder rechts – letztere Einschränkung ist ebenfalls völlig unklar. Aufsichtstätigkeiten direkt gegenüber Rechtsanwältinnen Sollte sich eine solche quasi Blankovollmacht durchsetzen, und Rechtsanwälten wahrnehmen noch zu einzelnen Auf- würde dies rechtsstaatlichen Bedürfnissen nicht genügen, sichtsmaßnahmen der Rechtsanwaltskammern gegenüber wäre ein Verstoß gegen EMRK und GRC wahrscheinlich. einzelnen Verpflichteten Entscheidungen treffen können. Fazit: Der Rat schlägt allerdings auch eine Erweiterung des Im Hinblick auf die Absicherung der Unabhängigkeit der Kreises der Verpflichteten vor. Demnach sollen bestimm- Rechtsanwaltschaft wurde hier erneut ein positives Signal te im Steuerrecht tätige Rechtsanwältinnen und Rechts- gesetzt, nachdem sich der Rat zuvor bereits für eine Aus- anwälte, die direkt oder indirekt „material aid, assistance or nahme von der Weisungsbefugnis der geplanten EU-Auf- advice on tax matters as principal business or professional sichtsbehörde ausgesprochen hatte. activity“ leisten, ohne Einschränkung als Verpflichtete Im Hinblick auf die Erweiterung des Kreises der Ver- gelten. Dieser Vorschlag ist im Hinblick auf den potenziel- pflichteten sowie eine mögliche Ermächtigung zur Erweite- len Anwendungsbereich unklar. Weiters ist unklar, wie im rung von Meldepflichten sind nun die Trilogverhandlungen Falle der Anwendbarkeit dieser Regelung mit ebenfalls an- mit dem EU-Parlament und der Kommission abzuwarten. wendbaren berufsrechtlichen Verpflichtungen umzugehen Europäische Kommission legt Vorschlag für eine Verordnung zur Anerkennung der Elternschaft zwischen den Mitgliedstaaten vor • Einheitliche Regelungen zur Bestimmung des Gerichts- D ie Europäische Kommission hat am 7. 12. einen Ver- ordnungsvorschlag zur Harmonisierung des inter- nationalen Privatrechts in Bezug auf die Elternschaft stands • Bestimmung des anwendbaren Rechts JESSICA KÖNIG Juristischer Dienst ÖRAK-Vertretung in Brüssel. auf EU-Ebene veröffentlicht. Ziel des Vorschlags ist es, • Vorschriften für die Anerkennung der Elternschaft die Anerkennung einer in einem EU-Mitgliedstaat begrün- • Einführung eines europäischen Elternschaftszertifikats 2023/63 deten Elternschaft ohne ein besonderes Verfahren in allen Der Vorschlag soll andere EU-Vorschriften des internatio- anderen Mitgliedstaaten zu gewährleisten. Im Mittelpunkt nalen Privatrechts, zB in Bezug auf Erbsachen, ergänzen, sollen dabei das Wohl und die Rechte des Kindes stehen. aber harmonisiert nicht das materielle Familienrecht. Die- Kinder sollen auch in grenzüberschreitenden Situationen ses fällt weiterhin in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. ihre Rechte behalten, auch falls ihre Familienmitglieder in- nerhalb der EU reisen oder den Wohnort wechseln. Der Vorschlag zielt daher darauf ab, die Grundrechte von Kindern zu schützen, Rechtssicherheit für die Familien zu schaffen und die Prozesskosten und Belastungen für die Familien und die Verwaltungs- und Justizsysteme der Mit- gliedstaaten zu verringern. Zudem sollen die Rechte von Menschen, die in gleichgeschlechtlichen Ehen leben, ge- stärkt werden. Im Verordnungsvorschlag enthalten sind Vorschlag für die Verordnung (EN) insb folgende Elemente: österreichisches anwältinnenblatt 02_2023
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