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71. Jahrgang, 50/2021, 13. Dezember 2021 AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE Reisen und Tourismus Martina Zschocke Gabriele Habinger WARUM REISEN? REISEN UND EROBERN. FORMEN DER ANEIGNUNG Christian Bunnenberg IM KONTEXT VON REISEN DIE „ORIENTFAHRT“ UND TOURISMUS DER „AUGUSTA VICTORIA“ UND DIE GESCHICHTE Frank Bajohr DES KREUZFAHRTTOURISMUS DARK TOURISM. ÜBERLEGUNGEN Hasso Spode ZU TOURISMUS, GEWALT TOURISMUSGESCHICHTE ALS UND ERINNERUNG ÜBERWINDUNGSGESCHICHTE Dagmar Lund-Durlacher · Andreas Kagermeier Wolfgang Strasdas WACHSTUM OHNE ENDE? ZUR ZUKUNFT DES REISENS. DIE TOURISMUSWIRTSCHAFT TOURISMUS IN ZEITEN IM WANDEL DES KLIMAWANDELS ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Beilage zur Wochenzeitung
Reisen und Tourismus APuZ 50/2021 MARTINA ZSCHOCKE GABRIELE HABINGER WARUM REISEN? REISEN UND EROBERN. Warum zieht es Menschen aller Anstrengungen FORMEN DER ANEIGNUNG IM KONTEXT zum Trotz immer wieder in die Ferne? Reisen VON REISEN UND TOURISMUS dienen längst nicht nur der Erholung; sie bringen Reisen und Tourismus sind per se mit der uns äußerlich und innerlich in Bewegung. Aneignung „fremder“ Räume verknüpft. Die Das erzwungene „Reise-Fasten“ während der europäische koloniale Expansion und daraus Pandemie hat dies noch verdeutlicht. resultierende Vorstellungen prägen unsere Seite 04–08 Reisepraktiken bis heute. Es gilt, den westlichen Ferntourismus zu „dekolonisieren“. Seite 33–39 CHRISTIAN BUNNENBERG DIE „ORIENTFAHRT“ DER „AUGUSTA VICTORIA“ UND DIE GESCHICHTE DES FRANK BAJOHR KREUZFAHRTTOURISMUS DARK TOURISM. ÜBERLEGUNGEN ZU Im Januar 1891 brach das Dampfschiff „Augusta TOURISMUS, GEWALT UND ERINNERUNG Victoria“ von Cuxhaven aus zu einer Rundreise Orte vergangener Gewalt wecken seit einiger durchs Mittelmeer auf. Die Fahrt gilt heute als Zeit verstärkt das Interesse von Touristen. Beginn des Kreuzfahrttourismus, obwohl es Warum ist das so? Was sind die Reisemotive? schon früher touristische Reisen dieser Art gab. Und welche Herausforderungen, aber auch Was machte diese Tour so besonders? Chancen sind damit für Gedenkstätten, Museen Seite 09–15 und Dokumentationsorte verbunden? Seite 40–45 HASSO SPODE TOURISMUSGESCHICHTE ALS DAGMAR LUND-DURLACHER · ÜBERWINDUNGSGESCHICHTE WOLFGANG STRASDAS Touristische Nachfrage ist im Europa des ZUR ZUKUNFT DES REISENS. 18. Jahrhunderts entstanden; heute treibt sie TOURISMUS IN ZEITEN DES KLIMAWANDELS eine der größten Branchen überhaupt an. Die Tourismus ist sowohl Mitverursacher als auch Grundlagen wurden von den 1730er bis zu Betroffener des Klimawandels. Was bedeutet das den 1930er Jahren gelegt – vor allem durch die für seine Zukunft? Wie ließe sich klimaschonen- Beseitigung von Reisehemmnissen. der reisen? Und welche Rolle spielen einzelne Seite 16–23 Tourismusbereiche wie Mobilität, Beherbergung und Gastronomie? Seite 46–54 ANDREAS KAGERMEIER WACHSTUM OHNE ENDE? DIE TOURISMUSWIRTSCHAFT IM WANDEL Tourismus gilt als eine mögliche Leitökonomie des 21. Jahrhunderts. Die Entwicklung der Branche ist von stetem Wachstum geprägt, woran auch die Corona-Pandemie längerfristig nichts ändern wird. Erscheinungen des overtourism erfordern jedoch ein Umdenken. Seite 24–32
EDITORIAL Anfang 2020 blickte die Tourismusbranche optimistisch auf die bevorstehende Reisesaison: „Urlaubsstimmung: positiv!“, „Rahmenbedingungen: stabil“, hieß es in der Reiseanalyse der Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reisen. 2019 waren so viele Deutsche wie noch nie in den Urlaub gefahren, und für 72 Pro- zent stand bereits im Januar des Folgejahres fest, dass sie bald wieder verreisen würden. „Aus Nachfragesicht spricht demnach nichts gegen ein gutes Reisejahr 2020“, so die Folgerung. Wie wir heute wissen, kam es anders. Die Pandemie und ihre Bekämpfung brachten den internationalen Reiseverkehr nahezu zum Erliegen und sorgten für einen beispiellosen Einbruch in einer wachstumsver- wöhnten Branche. Zugleich wurde vielen der Wert des Reisens schmerzlich bewusst, die Monate im „Lockdown“ schürten das Fernweh. In den Urlaub zu fahren, also mehr oder weniger „zum Vergnügen“ zu reisen, ist historisch gesehen erst seit kurzer Zeit üblich und überhaupt möglich. Mobi- lität war in der Regel mit einem handfesten Zweck verbunden, sei es, um Handel zu treiben oder diplomatische Beziehungen zu pflegen, sei es, um einer Not zu entkommen. Anspruch auf bezahlte Urlaubstage gibt es flächendeckend erst seit dem 20. Jahrhundert, und ohne die Entwicklung moderner Verkehrsmittel, die das Reisen sicherer und weniger strapaziös machen, ist die Entstehung des heutigen Massentourismus undenkbar. Nach wie vor aber muss man sich den Ortswechsel zur eigenen Erholung finanziell und zeitlich leisten können. Tou- ristisches Reisen ist also immer auch Ausdruck von Status – und vor allem ein Privileg des Globalen Nordens. Angesichts der Klimakrise und nicht mehr zu übersehenden Folgen des overtourism an vielen „Destinationen“ hat sich indes schon lange vor der Pan- demie die Frage gestellt, ob die Tourismusbranche nicht längst an die Grenzen eines verträglichen Wachstums gelangt ist. Das erzwungene „Reise-Fasten“ bot Gelegenheit, hierüber nachzudenken und auch das eigene Reiseverhalten zu hinterfragen. Reiselust und Klimaschutz miteinander zu vereinbaren, wird in Zukunft noch stärker gefordert sein. Johannes Piepenbrink 03
APuZ 50/2021 ESSAY WARUM REISEN? Zur Psychologie des Reisens Martina Zschocke Was hat es mit dem Reisen auf sich? Worin liegt bestimmtheit zu gewinnen, aber auch den eigenen das Glück des Aufbruchs? Warum treibt oder Standpunkt in der Welt neu zu bestimmen, sich zieht es Menschen aller Anstrengungen zum Trotz wieder „einzunorden“. Das Motiv der Selbster- in die Ferne? Grundsätzlich lassen sich Reisemo- kenntnis und Selbstaktualisierung kann bis hin tive in Push- und Pull-Motive unterteilen: Wäh- zu Erweiterungen des Selbst um im Alltag ver- rend Push-Motive all die Motive sind, die einen nachlässigte Aspekte der Persönlichkeit reichen. von Zuhause wegtreiben, sind Pull-Motive alles, Am häufigsten findet sich dieses Motiv bei länge- was einen woanders hinzieht. Weiterhin gibt es ren Reisen, die als Zäsur vor oder nach einer be- unbestimmte Motive wie „Fernweh“ ganz allge- stimmten Lebensphase angetreten werden – etwa mein. Es ist kein Zufall, dass dieser Begriff aus der nach dem Schul- oder Ausbildungsabschluss, Zeit der Romantik ab Ende des 18. Jahrhunderts nach Trennungen oder vor Antritt einer neu- stammt, in der vieles mit Melancholie und einer en Arbeitsstelle. Klassische Beispiele sind Work- unbestimmten Sehnsucht verbunden war und frei- and-Travel-Aufenthalte, Weltreisen, aber auch williges Reisen deutlich wichtiger wurde. die Walz, jene Reise der Handwerker, die je nach Zu den Pull-Motiven gehört in erster Li- Zunft drei Jahre und einen Tag dauern kann und nie der Reiz bestimmter Länder, Landschaften, bestimmten Regeln unterliegt (zum Beispiel eine Städte und Lebenskulturen. Aber auch die Neu- Bannmeile um den eigenen Wohnort). Diese Rei- gier und der Wunsch nach Bildung und anderen sen haben potenziell einen deutlich höheren Ein- Sprachen zählen dazu. Hinzu kommen physisch- fluss auf die Identität als rein touristische Reisen, physikalische Motive wie Reizsuche oder Reiz- was sich oft in Form der verstärkten Selbster- vermeidung, aber auch nach außen gerichtete kenntnis und Selbstaktualisierung zeigt, die einer- Gründe wie der Wunsch nach Prestige. Ein weite- seits durch den Abstand vom Alltag, andererseits res wichtiges Pull-Motiv ist die Freude an Bewe- durch die Freiheit von den Erwartungen ande- gung. Dabei ist das Reiseziel oft nicht so bedeu- rer ermöglicht wird. Dabei werden oft Ideal- und tend, wie der Aufbruch und das Unterwegssein Realselbst verglichen und im Optimalfall so ange- an sich. Andere Pull-Motive können soziale Mo- glichen, dass sie den eigenen Wert- und Lebens- tive oder auch Inspirationen durch Filme, Bücher vorstellungen besser entsprechen. Durch Reisen oder Musik sein.01 Neben der Suche nach neuen können also Spielräume für das eigene Leben er- Eindrücken und Abenteuern kann es auch die Su- weitert und Lebensentwürfe aktualisiert werden – che nach Sinn sein, die einen in die Fremde zieht. die Reise an sich entspricht dann den klassischen Reisen als Sinnsuche beschreibt etwa der Autor rites de passage, sie erfüllt mithin die Funktion und Filmemacher Phil Cousineau, der zwischen eines Übergangsritus.03 Der Schriftsteller Cees Reisen im Sinne des Tourismus und Pilgerreisen Nooteboom beschrieb dies folgendermaßen: „In unterscheidet, während er unter Letzteren alle einem nomadischen Leben habe ich vielleicht ge- Reisen versteht, deren Zweck es ist, etwas zu fin- lernt, wer ich bin und wer ich nicht bin.“04 den, was für den Reisenden von tiefer Bedeutung ist. Dies kann sich auch auf Literatur, Kunst, Mu- WIEDERENTDECKUNG sik, Architektur, Lebensstile und -entwürfe und DER SINNE Freiheit beziehen.02 Zu den Push-Motiven gehören vor allem Ab- Doch was macht neben den komplexen Reisemo- stand und Distanz zum Alltag und dessen Zweck- tiven das Reiseerleben aus, was den besonderen 04
Reisen und Tourismus APuZ Reiz des Reisens, der dazu führt, dass viele dieses Abstands von den Anforderungen des Alltags Erleben immer wieder erfahren möchten? Was ist auch die Aufmerksamkeit größer, das heißt, genau passiert beim Reisen? man ist weniger abgelenkt, und die „Wahrneh- Genau genommen beginnt das Reiseerleben mungskanäle“ sind offener. Deshalb kommt es bereits, bevor man die Reise angetreten hat: Vor- beim Reisen zu einem Gefühl erhöhter Wachheit freude gilt als schönste Freude – und für viele ist und Lebendigkeit, weil verschiedene – oft auch sie ein wesentlicher Teil des Reisens. Wer Reise- im Alltag weniger genutzte – Sinne angesprochen führer liest, sich für Ziele entscheidet und Rou- werden. ten plant, ist innerlich schon unterwegs und nährt Ein anderes Licht, andere Farben, andere ku- die Vorfreude auf das, was da kommt. Aus der linarische Erfahrungen und möglicherweise Sand psychologischen Forschung weiß man allerdings, unter den Füßen: Gerade solche sinnlichen Ein- dass vor allem unerwartete Reize aktivierend wir- drücke werden in einer immer stärker durch ken. Das heißt, Vorfreude erzeugt zwar eine po- medialisierten Welt immer seltener. Das Übermaß sitive Spannung vor der Reise, sie kann aber auch an Informationen, die nicht unmittelbar sinnlich dazu führen, dass während der eigentlichen Rei- – also zum Beispiel über den Geschmacks- oder se vergleichsweise geringere Freude empfunden Tastsinn – vermittelt sind, führt zu einer über- wird. Denn konkrete Erwartungen vermindern mäßigen Beanspruchung und Ausbildung der so- die Neugier und führen eher zu Enttäuschungen genannten Fernsinne wie des Sehsinns. Dies ge- als zu Offenheit und Spontaneität.1234 schieht zulasten der sogenannten Nahsinne, die Ob man eine Reise lange plant oder spontan im Alltag eher unterfordert werden. Und so äu- aufbricht, hat etwas mit der Persönlichkeit, den ßerte der Arzt und Psychotherapeut Helmut persönlichen Rahmenbedingungen und Vorlie- Milz zutreffend: „Das Vertrauen in die Qualität ben sowie mit der ureigenen Neugier und der der eigenen Sinne ist dem kultivierten Menschen Wertschätzung für Überraschungen und Entde- in vielfacher Form abhanden gekommen.“05 Rei- ckungen zu tun. Wer spontan aufbricht, in den sen kann das Gleichgewicht wieder herstellen, erstbesten Zug steigt oder zu blind booking ten- erst recht, wenn es sich um selbst organisiertes diert, wo man erst drei Tage vor der Reise erfährt, Reisen handelt: Es fördert die analoge Wahrneh- wo es hingeht, wird kaum zielgerichtete Vorfreu- mung in einer zunehmend digitalisierten Welt. de empfinden – aber da er oder sie per se offen Auf Reisen spielt das Sehen zwar eine zentrale und aufgeschlossen ist, auch kaum Enttäuschun- Rolle, aber es kommt ganz offensichtlich zu ei- gen erleben. ner erweiterten Wahrnehmung, in der vor allem Wenn der Alltag immer gleich verläuft, feh- die Nahsinne Riechen, Schmecken und Fühlen, len Lebendigkeit und Intensität, die durch wech- aber auch der Fernsinn Hören bedeutsamer wer- selnde Reize entstehen. Dabei ist nicht die abso- den, als sie es im Alltag sind. Welche Sinne dabei lute Reizstärke wichtig für die Wahrnehmung, primär angesprochen werden, ist abhängig von sondern die Intensitätsänderung. Gleichbleiben- den besuchten Gegenden mit ihren jeweils spezi- de Reize lösen kaum noch Nervenimpulse aus, fischen Umgebungsreizen. Je „fremder“ der Ziel- man „adaptiert“ und nimmt demzufolge weni- ort und je größer die Differenz von der vertrau- ger wahr. Reisen weckt die Wahrnehmung und ten Umgebung, desto mehr Sinneskanäle werden schärft die Sinne. Einerseits, weil die Neuartig- genutzt.06 An einem Küstenort in Mexiko kann keit der Reize die Sinne anregt, andererseits, weil es beispielsweise eine Melange sein aus dem Spü- die Notwendigkeit der Orientierung auf Reisen ren der hohen Luftfeuchtigkeit, dem Riechen der ihren verstärkten Einsatz fordert. Aufgrund des Meeresluft, dem Hören des Getümmels an den Straßenständen und dem Sehen der in kräftigen 01 Vgl. John L. Crompton, Motivation for Pleasure Vacations, Farben gestrichenen Häuser sowie des türkisblau- in: Annals of Tourism Research 4/1979, S. 408–424; Martina en Wassers. In den Großstädten in den USA oder Zschocke, Mobilität in der Postmoderne. Psychische Kompo- Japan wird durch die hohen Gebäude, die vielen nenten von Reisen und Leben im Ausland, Würzburg 2005, Leuchtreklamen, Menschen und Autos wiederum S. 155–163. 02 Vgl. Phil Cousineau, The Art of Pilgrimage, Berkeley 1998. 03 Vgl. Zschocke (Anm. 1), S. 258–293. 05 Helmut Milz, Der wiederentdeckte Körper, München 1994, 04 Cees Nooteboom, Grensoverschrijding, in: ders., Waar je S. 201. gevallen bent, blijf je, Amsterdam 1983 (eig. Übersetzung). 06 Vgl. Zschocke (Anm. 1), S. 212–220. 05
APuZ 50/2021 eher der Sehsinn angesprochen, wohingegen ein guter Weg, um diese Balance zu erreichen. Dem indischer Markt mutmaßlich vor allem dem Ge- tschechischen Fotografen Josef Koudelka wird ruchs- und Geschmackssinn bleibende Eindrücke ein Satz zugeschrieben, der diesen Zusammen- bieten dürfte. Gerade über Gerüche werden häu- hang treffend ausdrückt: „Wenn Sie lange an ei- fig Erinnerungen verankert, ist der Geruchssinn nem Ort leben, werden Sie blind, weil Sie nichts doch unser archaischster Sinn. mehr beobachten. Ich reise, um nicht blind zu Interessanterweise führt nicht nur die Sti- werden.“08 mulation durch viele neue Reize und Eindrücke dazu, dass die eigene Aufmerksamkeit gesteigert STIMULANZ und die Wahrnehmung vertieft wird, sondern FÜR DIE PSYCHE ebenso absolute Reizarmut – zum Beispiel in der Wüste. In welchem Maß die Sinne geschärft Reisen hat darüber hinaus verschiedene positi- und was aufgenommen wird, hängt unter ande- ve Auswirkungen auf die Psyche. Studien ha- rem von der Art und dem Tempo der Reise sowie ben gezeigt, dass die tiefere sinnliche Wahrneh- der Dichte der Umgebungsreize ab. Besonders mung, die Aktivierung und die Notwendigkeit viel und intensiv wird wahrgenommen, wenn die der Orientierung nach außen sogar helfen kön- eigene Bewegung nicht zu schnell ist, etwa beim nen, milde depressive Episoden zu überwinden, Radfahren oder Flanieren. Bei zu zügigem Reisen die oft mit einer starken Fokussierung auf sich gehen Qualität und Tiefe der Wahrnehmung ver- selbst und mit dauerndem Grübeln über immer loren. Die Eindrücke verflüchtigen sich rascher, dieselben Themen einhergehen und einen im werden bruchstückhaft, und auch die Erinnerun- wahrsten Sinne des Wortes bewegungsunfähig gen bleiben oberflächlich. machen. Rausgehen, sich auf die Welt einlassen Im Idealfall lernt man auf Reisen auch wie- und sich in ihr orientieren zu müssen, wirkt dem der zu staunen. Staunen ist an Überraschung ge- entgegen. Dies gilt umso mehr, wenn am Reise- bunden, an unerwartete Erlebnisse. Etymolo- ziel intensiveres Licht, Bewegung und befriedi- gisch kommt staunen von „erstarren“ – es geht gende soziale Kontakte dazukommen. Dass Be- also auch um ein Innehalten, Aufmerken. Man wegung das beste Mittel gegen Melancholie sei, staunt eher, wenn man nichts oder wenig er- schrieb schon der Gelehrte Robert Burton in wartet und alle Sensoren auf Empfang geschal- seiner 1621 veröffentlichten „Anatomie der Me- tet sind. Hierin wurzelt der Reiz des ersten Mals lancholie“.09 Im Idealfall ist das allgemeine Ak- in allen Dingen, aber auch von ersten Reisen in tivierungsniveau auf Reisen höher – aber auch Gegenden, die einem neu sind. Das korrespon- das Verhältnis zwischen An- und Entspannung diert mit Erkenntnissen der Neuro- und Wahr- ausgeglichener. nehmungspsychologie: Bei Dingen, die wir Auch bei chronischen psychischen Leiden das erste Mal tun, ist das Gehirn hellwach und wurden positive Effekte von Reisen beschrieben. hochaktiv, beim zweiten Mal reagiert es deut- So soll der Schriftsteller Bruce Chatwin, der An- lich verhaltener, und mit jeder weiteren Exposi- fang der 1960er Jahre für das Londoner Aukti- tion nimmt die Reaktion ab. Je vertrauter etwas onshaus Sotheby’s tätig war und an einer schwe- ist, desto weniger wird unser Gehirn aktiv; die ren psychogenen Sehstörung litt, von seinem Adaptation setzt ein, und unsere Aufmerksam- Arzt „weite Horizonte“ verschrieben bekommen keit lässt nach. Vorhersagbarkeit ist in gewissem haben – was offensichtlich fruchtete, denn er reis- Maße beruhigend und nützlich, zu viel davon te in den Sudan, wo er vollständig gesundete.10 lässt uns jedoch abstumpfen, und wir schalten In den 1980er Jahren beschrieb Dieter Häußer, gleichsam auf Autopilot. Unser Gehirn ist aber der ärztliche Direktor einer Nervenklinik, den per se neugierig: Es benötigt immer wieder – in Nutzen von Kurzreisen, wobei die Wirkfaktoren Maßen – Stimulation und funktioniert optimal bei einem ausgewogenen Maß an Bekanntem und Neuem.07 Und Reisen ist offenkundig ein 08 Siehe https://ecobnb.de/blog/zitate-gedanken-aphoris- men-reisen. 09 Vgl. Robert Burton, Die Anatomie der Melancholie, Mün- 07 Vgl. David Eagleman/Anthony Brandt, Kreativität. Wie chen 2001 (1621), S. 187. unser Denken die Welt immer wieder neu erschafft, München 10 Vgl. Bruce Chatwin, Der Traum eines Ruhelosen, Frank 2018, S. 27 ff. furt/M., S. 128. 06
Reisen und Tourismus APuZ auch hier vor allem in der Aktivitätssteigerung, Bewegen als auch beim passiven Bewegtwerden vermehrter Eigeninitiative und höherer Kontakt- kommen Gedanken und Phantasien in Gang.14 bereitschaft lagen.11 Neurowissenschaftliche Forschungen bestäti- Nun ist Reisen allerdings kein Allheilmittel gen, dass bestimmte Hirnregionen sehr fein auf gegen Depressionen, und die grundsätzlich po- Rhythmen reagieren und dass vor allem gleich- sitiven Wirkungen können je nach Veranlagung mäßige Rhythmen von mittlerer Geschwindig- und momentanem Zustand auch in ihr Gegen- keit, wie sie zum Beispiel beim Laufen entste- teil umschlagen: So ist Reisen bei Schizophre- hen, für viele Gehirnfunktionen förderlich sind.15 nien und Epilepsien deutlich riskanter, da psy- Auch wurde herausgefunden, dass das kreative chotische Schübe oder Krampfanfälle durch Potenzial während und kurz nach dem Gehen er- Reizüberflutung ausgelöst werden können. Was höht ist – das Spazieren in abwechslungsreicher für den einen also positive Anregung, erhöh- Umgebung erweist sich hierbei als besonders ef- te Selbstwirksamkeit und Freude bedeutet, kann fektiv.16 Durch Reisen kommt somit nicht nur für den anderen negativer Stress und Überforde- der Reisende selbst, sondern auch vieles in sei- rung sein. So beschrieb die Psychiaterin Graziel- nem Denken in Bewegung, was zu frischen Ge- la Margherini das Stendhal-Syndrom, das sie bei danken, neuen Erkenntnissen und originellen Touristen feststellte, die auf ihre Notfallstation in Lösungen führen kann. Neue Orte bieten Inspi- Florenz eingeliefert wurden. Die von ihr geschil- ration, und insbesondere der Aufenthalt im Aus- derten Symptome ähnelten einer Übererregung, land kann die kognitive Flexibilität erhöhen und wie sie bei einer starken Verliebtheit eintreten die Fähigkeit fördern, neue Zusammenhänge her- kann. Die Ergriffenheit hätte sich bei manchen zustellen.17 Entsprechende Studien beziehen sich Patienten so gesteigert, dass sie über Schwindel, zwar auf längere Auslandsaufenthalte, aber ein Herzbeklemmung, Schweißausbrüche, Schwäche ähnlicher Effekt konnte auch nach einfachen Ur- und Ohnmachtsgefühle klagten. Ihnen waren vor laubsreisen nachgewiesen werden.18 lauter Stimulanz „die Sinne geschwunden“.12 Ein Wieviel Neues oder Fremdes auf Reisen ge- anderes im Zusammenhang mit Reisen beobach- sucht wird, hängt von der Persönlichkeit, der tetes Phänomen ist das Jerusalem-Syndrom, bei Reisesozialisation, den Vorlieben und der aktu- dem Besucher der Heiligen Stadt sich angesichts ellen Lebenssituation ab. So wird der klassische der religiösen Bedeutung des Ortes auf einmal für sensation seeker, der abwechslungsreiche Erfah- biblische Figuren halten und anfangen, zu Predi- rungen und das Abenteuer sucht, kaum mit dem gen oder Visionen zu verkünden. Meist helfen ein Strandurlaub glücklich. Menschen dieser Katego- paar Tage Bettruhe, bisweilen sind jedoch auch rie brauchen mehr Reize, um auf optimale „Be- Antipsychotika notwendig. Jedes Jahr sollen etwa triebstemperatur“ zu kommen, als Reisende, die 100 Touristen betroffen sein.13 von sich aus eher das Bewährte suchen und im- mer wieder an dieselben Lieblingsorte fahren.19 ÄU ẞ ERE UND INNERE BEWEGUNG 14 Vgl. Rainer Schönhammer, In Bewegung. Zur Psychologie der Fortbewegung, Bd. 1, München 1991, S. 96. 15 Vgl. Gerd Kempermann, Die Revolution im Kopf. Wie neue Reisen hat nicht nur Einfluss auf Wahrnehmung Nervenzellen unser Gehirn ein Leben lang jung halten, München und Psyche, sondern nachweislich auch auf das 2016. Denken und die Kreativität: einerseits durch den 16 Vgl. Marily Oppezzo/Daniel L. Schwartz, Give Your Ideas gewonnenen Abstand, der größere Aufmerksam- Some Legs: The Positive Effect of Walking on Creative Thinking, keit ermöglicht, andererseits durch die Bewegung in: Journal of Experimental Psychology: Learning, Memory, and Cognition 4/2014, S. 1142–1152. an sich. Denn äußere Bewegung fördert auch in- 17 Vgl. Adam Galinsky/William Maddox, Cultural Borders nere, geistige Bewegung. Sowohl beim aktiven and Mental Barriers. The Relationship between Living Abroad and Creativity, in: Journal of Personality and Social Psycholo- 11 Vgl. Dieter Häußer, Kurzreisen chronisch-psychiatrisch Kran- gy 5/2009, S. 1047–1061. ker als effektive soziotherapeutische Maßnahme, in: Psychiatrie, 18 Vgl. Jessica de Bloom et al., Vacation from work. A „Ticket to Neurologie, Medizinische Psychologie 8/1984, S. 496–502. Creativity“? The Effects of Recreational Travel on Cognitive Fle- 12 Vgl. Graziella Margherini, La sindrome di Stendhal, Florenz xibility and Originality, in: Tourism Manangement Jg. 44/2014, 1995. S. 164–171. 13 Vgl. Yair Bar-el et al., Jerusalem Syndrome, in: British Jour- 19 Vgl. Marvin Zuckerman, Sensation Seeking. Beyond the nal of Psychiatry 1/2000, S. 86–90. Optimal Level of Arousal, Hillsdale–New York 1979. 07
APuZ 50/2021 Doch trotz der Unterschiedlichkeit der Reisen, nisiert ist. Aber bereits jede Kurzreise ermöglicht die daraus resultieren, treten bei den Reisenden es, aus der Alltagshabitualisierung auszubrechen mit Blick auf Wahrnehmung, Psyche und Denken – und ein gelegentlicher Tapetenwechsel tut alle- dieselben Effekte auf – nur in unterschiedlichem mal gut, um wieder wacher zu werden und inten- Ausmaß. siver wahrzunehmen, auch wenn es keine Aben- teuerreise ist. Insbesondere Reisen in Gegenden, ERLEBEN die einem noch unbekannt sind, haben einen UND ERINNERUNG klar positiven Einfluss auf Psyche und Denken. Oder, wie es der Literaturnobelpreisträger Her- Reisen ist unter anderem auch wichtig, um blei- mann Hesse in seinem Gedicht „Stufen“ 1941 bende Erinnerungen zu schaffen. Es ist eine of- ausdrückte: fene Frage, wie die meisten Menschen sich später an die Zeit der Covid-19-Pandemie erinnern wer- Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne (…) den. Sicherlich werden der Beginn und das Ende Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise der Pandemie im Gedächtnis bleiben, aber was Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen; dazwischen war, davon wird vermutlich nur we- Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise, nig haften bleiben, weil tiefe Erinnerungsspuren Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.21 vor allem durch Lebens- und Erlebnisintensität und eine mittlere Ereignisdichte entstehen – was Dies trifft auf die ganz realen Reisen genauso zu im gleichförmigen Corona-Alltag häufig fehlt. wie auf die allegorische Lebensreise. Gäbe es kei- Nahezu alle Reisenden berichten, dass die nen Tourismus, behauptet etwa der Freizeitfor- Zeit während der Reise wie im Fluge vergan- scher Jost Krippendorf, bräuchten wir viel mehr gen sei, ihnen in der Erinnerung jedoch sehr lang Sanatorien und Krankenhäuser.22 vorkomme: In der Rückschau erscheinen Wo- Die Corona-Pandemie hat das Reisen seit chen wie Monate. Hohe Ereignisdichte und Er- dem Frühjahr 2020 partiell unmöglich gemacht lebnisintensität verkürzen die Zeitwahrnehmung oder zumindest sehr stark eingeschränkt, womit in der Gegenwart und verlängern sie in der Er- sich Resonanzräume und Möglichkeiten für neue innerung.20 Da die Tage beim Reisen oft genau Reize deutlich verkleinert haben. Nun tut eine von dieser Intensität geprägt sind, schwinden sie Zeit des erzwungenen „Reise-Fastens“ unserer gleichsam dahin und hinterlassen viele und tiefe übersättigten Gesellschaft – in begrenztem Maße Erinnerungsspuren. Es gilt, sich auf Neues ein- – sicherlich mal ganz gut und könnte die Freu- zulassen, andere Welten zu entdecken und einzu- de und den Genuss am Reisen nach der Pandemie tauchen ins Erleben. Dies geschieht allerdings nur durchaus intensivieren. Erst nach einer längeren unter der Voraussetzung, dass die Dichte nicht Zeit der unfreiwilligen Enthaltsamkeit ist vie- derart überhandnimmt, dass nichts mehr wahrge- len bewusst geworden, dass ihnen etwas fehlt – nommen wird und der eigene mentale „Arbeits- und es wurde deutlich, dass Reisen für weit mehr speicher“ quasi permanent überlastet ist.21 Aspekte sinnvoll ist als für Erholung. Vielleicht Reisemotive und Reisearten gibt es wie den bringt es die Pandemie also mit sich, dass das Rei- sprichwörtlichen Sand am Meer. Ob man bei Rei- sen, wenn es denn wieder uneingeschränkt mög- sen eher Inspiration oder Kontemplation und Re- lich ist, wieder mehr im ursprünglichen Sinne ge- generation oder beides sucht, hängt vom Reise- lebt und erfahren und nicht nur als Konsumgut typ, aber auch der aktuellen Lebenssituation ab. wahrgenommen wird. Reisen lassen einen buchstäblich wieder aufleben. Die verschiedenen positiven Effekte treten in be- sonders starkem Maße auf, je länger die Reise dauert und je individueller sie gestaltet und orga- 20 Vgl. Zschocke (Anm. 1), S. 206 ff. MARTINA ZSCHOCKE 21 Hermann Hesse, Stufen. Alte und neue Gedichte in Aus- wahl, Frankfurt/M. 1961. ist Professorin für Freizeitpsychologie und Freizeitso- 22 Vgl. Jost Krippendorf, Die Ferienmenschen. Für ein neues ziologie an der Hochschule Zittau/Görlitz. Verständnis von Freizeit und Reisen, Zürich 1984. m.zschocke@hszg.de 08
Reisen und Tourismus APuZ EXCURSION MIT FOLGEN Die „Orientfahrt“ der „Augusta Victoria“ 1891 und die Geschichte des Kreuzfahrttourismus Christian Bunnenberg Als Heinrich Benrath am frühen Morgen des Kaiser die Gelegenheit zu einem ausführlichen 22. Januar 1891 aus dem Fenster seines Hotelzim- Besuch des Schiffes. Wilhelm II. ließ sich von Al- mers in Cuxhaven blickte, klarte der Himmel all- bert Ballin, dem Direktor der HAPAG, das Schiff mählich auf. Eine kurze und unruhige Nacht lag präsentieren, das er schon wenige Jahre zuvor auf hinter dem „Specialberichterstatter“ des „Ham- der Stettiner Vulcan-Werft bewundert hatte. Vom burgischen Correspondenten“. Der heftige Promenadendeck ging es zunächst durch den Nordwest-Sturm war abgeflaut, und die Küsten- erst- und zweitklassigen Rauchsalon, dann über landschaft lag unter einer Decke frischen Schnees. den im Rokoko-Stil gehaltenen Damen- und den Rechtzeitig fand sich Benrath am Hafenbahnhof Musiksalon an den Passagierkabinen entlang in ein, wo pünktlich um 8 Uhr ein prominenter Be- den großen Saal, wo sich der Kaiser an die Um- sucher einem Sonderzug entstieg – Kaiser Wil- stehenden wandte und konstatierte: „Sie sehen, helm II. besuchte die Hafenstadt links der Elb- meine Herren, wir können in Deutschland Schif- mündung in die Nordsee.01 fe bauen.“ Auf dem Weg zur Kommandobrücke, Cuxhaven diente im Winter bei widrigen Wit- so notierte es sich der anwesende Benrath, ka- terungsverhältnissen als Nothafen für Hamburg. men Wilhelm II. und Ballin auf den eigentlichen In den vergangenen Tagen hatte schwerer Eis- Grund für das Anlegemanöver zu sprechen – die gang die Einfahrt in die Elbe fast unmöglich ge- geplante „Orientfahrt“ der „Augusta Victoria“.04 macht, hinzu kam die stürmische See. Der Kai- Seit November 1890 hatte die HAPAG wie- ser wollte sich einen eigenen Eindruck von der derholt in überregionalen Zeitungen eine „Ex- Lage verschaffen, wenngleich auch bei nun, wie cursion nach Italien und dem Orient“ mit dem die Zeitungen später meldeten, „herrlichstem Kai- „Doppelschrauben-Schnelldampfer Augusta Vic- serwetter“,02 und sich zudem über die Planungen toria“ angekündigt. „Genügende Betheiligung zum Bau eines neuen Seeschiffhafens informie- vorausgesetzt“ sollten auf der Rundreise durch ren, von dem zukünftig die großen Hamburger das Mittelmeer ab dem 21. Januar 1891 in „ca. Schnelldampfer ablegen sollten. Einen der größten 50 Tagen“ von Hamburg aus „Southampton, Gi- von ihnen, den Doppelschraubendampfer „Au- braltar (Genua nur, wenn eine grössere Zahl von gusta Victoria“ der Hamburg-Amerikanischen Reisenden wünschen sollte, erst dort an Bord Packetfahrt-Actien-Gesellschaft (HAPAG), sah zu gehen), Alexandria (für Cairo und event. Is- Wilhelm II. von dem Schiffsanleger aus „majestä- maillia), Port Said, Jaffa (für Jerusalem), Beirut tisch in einem vollständig eisfreien, schwarz sich (für Damaskus), Constantinopel, Athen, Malta abhebenden Wasserstreifen“ wenige hundert Me- (durch die Strasse von Messina), Palermo, Neapel ter vor Cuxhaven auf Reede liegen.03 (für Rom), Algier, Lissabon“ und schließlich wie- Erfreut bemerkte der Monarch, der ein aus- der Southampton und Hamburg angelaufen wer- geprägtes Faible für alles Maritime hatte, an dem den. Für die Mitfahrenden waren ausschließlich aus den drei gelben Schornsteinen aufsteigenden Kabinenplätze in der 1. Klasse vorgesehen, für die Dampf, dass das Schiff kurz davor war, an den „je nach Lage und Grösse“ ein „Passagepreis ein- Landungsbrücken anzulegen. Mit diesem Ma- schließlich vollständiger Verpflegung“ von 1600 növer, das wohlvorbereitet und mitnichten so bis 2400 Mark aufgerufen wurde – immerhin das spontan stattfand, wie es den Anschein erweckte, Drei- bis Vierfache eines durchschnittlichen Jah- verband sich zweierlei: Zum einen bot sich dem resverdiensts im Deutschen Kaiserreich.05 09
APuZ 50/2021 Nachdem Ballin die Nachfrage des Monar- doch] auch größerer Erholung“ bedürfe und des- chen, ob denn alkoholische Getränke im Preis halb verreise, um Abstand zum Alltag gewinnen eingeschlossen seien, verneinte, setzte der darauf- zu können. Letztlich entscheide aber über den hin heiter gestimmte Wilhelm II. – „Ah, Sie rech- Erfolg, ob die Erholungssuchenden unter reisen nen auf den Durst Meiner guten Deutschen“ – die den dauerhaften Aufenthalt an einem anderen Besichtigungsrunde fort, bevor er wieder12345 abreis- Ort oder aber eine „dauernde Fortbewegung, will te.06 Zeitgleich verließ ein anderer Sonderzug den sagen beständiger Wechsel von Eisenbahnen und Venloer Bahnhof in Hamburg und brachte die Hotels, woran sich Bergerkletterungen und ähn- meisten Passagiere der „Augusta Victoria“ nach liches bloß anschließen“, verstünden. Dem „halb- Cuxhaven, wo sie zwar zu ihrem großen Bedau- nomadischen“ Leben der Sommerfrischler zeig- ern die Abreise des Kaisers verpassten, dafür aber te sich Fontane zwar mehr zugetan, doch auch wohlgelaunt an Bord gingen und erwartungsfroh dem „vollnomadisch“ Reisenden, dem Touris- ihre „Excursion“ antraten, die, nicht ganz un- ten, gestand er dessen spezifischen Reisedrang zu. umstritten, als erste (deutsche) Kreuzfahrtreise Letzterer sei aber im Gegensatz zu den Sommer- in die Geschichte eingehen sollte. Dem Beispiel frischlern ständig wechselnden Wirten, Mietskut- der etwa 240 Reisenden von 1891 folgten seitdem schern und Führern und deren „Gewinnsucht Millionen Kreuzfahrttouristen, allein in Deutsch- und Rücksichtslosigkeit“ ausgesetzt und müs- land buchten 2019 mehr als 2,5 Millionen Men- se sich angesichts schlechter Leistung bei hohen schen eine Kreuzfahrtreise, 17 Prozent mehr als Kosten letztlich resilient zeigen – ob das die Er- im Vorjahr. Erst die Covid-19-Pandemie been- holung fördere, zog Fontane in Zweifel.07 dete diesen Boom des Kreuzfahrtmarktes – welt- In Fontanes Text, Loblied auf die Erholungs- weit und mit erheblichen Einschränkungen für reise und Tourismuskritik zugleich, spiegelt sich die gesamte Branche. geradezu idealtypisch die Entwicklung des Tou- rismus zu Beginn des letzten Drittels des langen MODERNES REISEN 19. Jahrhunderts zwischen der Französischen Revolution von 1789 und dem Beginn des Ers- „Zu den Eigentümlichkeiten unserer Zeit gehört ten Weltkriegs 1914 wider. Der Begriff „Tourist“ das Massenreisen“, notierte der Schriftsteller und für Reisende, deren Reise einzig dem Selbstzweck Journalist Theodor Fontane 1873 in einem Manu- dient, findet sich ab 1800 in Wörterbüchern. Er skript, das Jahre später unter dem Titel „Moder- ist angelehnt an die als „Grand Tour“ bezeichnete nes Reisen. Eine Plauderei“ veröffentlicht werden Rundreise junger europäischer Adeliger, die seit sollte. Wären früher nur „bevorzugte Individu- dem späten 18. Jahrhundert von dem aufkom- en“ verreist, so sei „jetzt jeder und jede“ unter- menden Bürgertum nachgeahmt wurde und sich wegs, gehörten Gespräche über vergangene und schließlich im 19. Jahrhundert, ihren ursprüngli- zukünftige Reiseziele zum Alltag – wenngleich chen Erziehungs- und Bildungscharakter einbü- auch nur in privilegierten und begüterten Krei- ßend, zur Erholungsreise breiter Schichten wan- sen der Gesellschaft. Für Fontane stand es au- delte. Aber schon um 1900 müssen sich Touristen ßer Frage, dass zwar auch „Mode und Eitelkeit“ von vermeintlich echten Reisenden als „billiger ihren Anteil an dieser Entwicklung hätten, „der Reisepöbel“ oder „Sightseeing-Volk“ beschimp- moderne Mensch, angestrengter wie er wird, [je- fen lassen.08 Dass das Reisen gegen Ende des 18. Jahrhun- 01 Vgl. Heinrich Benrath, Mit der „Augusta Victoria“ ins Mittel- derts seine Zweckhaftigkeit verlor, wurde, so der meer vom 22. Januar bis 21. März 1891. Reisebriefe, Hamburg Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger in sei- 1891. ner Theorie des Tourismus, „durch eine ganz spe- 02 Der Kaiser in Cuxhaven, in: Cuxhavener Tagesblatt, 23. 1. 1891. zifische historische Situation“ begünstigt, deren 03 Der Kaiser in Cuxhaven, in: Hamburgischer Correspondent, 24. 1. 1891. 07 Alle Zitate aus Theodor Fontane, Modernes Reisen. Eine 04 Vgl. Benrath (Anm. 1), S. 7, Zitat Wilhelm II. ebd. Plauderei (1873), in: ders., Von vor und nach der Reise, Berlin 05 Deutschsprachige Anzeigen zum Beispiel im Hambur- 1894, S. 1–16. ger Fremdenblatt, 8. 11. 1891, oder der Dresdner Zeitung, 08 Vgl. Burkhart Lauterbach, Tourismus. Eine Einführung 15. 11. 1891. Hinzu kamen noch englischsprachige Anzeigen in aus Sicht der volkskundlichen Kulturwissenschaft, Würzburg Großbritannien und den USA. 2006, S. 14; Alexander Innes Shand, Old Time Travel, London 06 Zit. nach Benrath (Anm. 1), S. 7. 1903. 10
Reisen und Tourismus APuZ Komponenten sich benennen, aber nicht ursäch- lich hierarchisieren lassen: „die geschichtliche Situation, aus der der Tourismus hervorgegan- gen ist, [kann] als ein Syndrom politischer, so- zialer, wirtschaftlicher, technischer und geistiger Züge, deren Gemeinsames in ihrem revolutionä- ren Wesen liegt“ beschrieben werden.09 Die Ro- mantik erhob (vermeintlich) unberührte und ur- sprüngliche Landschaften wie Berge und Meere zu Sehnsuchtsorten, die Industrielle Revoluti- on veränderte einschneidend Gesellschaften, und mit Eisenbahnen und Dampfschiffen ließen sich Räume schrumpfen und Massen bewegen; der aufkommende Tourismus war damit zugleich Ausdruck dieser neuen Umstände und Fluchtbe- Die „Augusta Victoria“ zwischen 1889 und 1897, wegung von ihnen fort. fotografiert von John S. Johnson. So tummelten sich in der ersten Hälfte des Quelle: Library of Congress 19. Jahrhunderts im Rheintal als frühem touristi- schen Hotspot zwischen Koblenz und Köln zu- nächst englische Touristen, häufig mit einem neu- sichtigung aller Sehenswürdigkeiten einschl. Be- en Medium in der Hand, dem Reiseführer. Das förderung sowie im Programm vorgesehene „Red Book“ von John Murray und die ebenfalls Ausflüge“. Auch die HAPAG fand Erwähnung; roten Reisehandbücher von Karl Baedeker struk- sie lege seit 1891 den Hauptwert auf Schiffsreisen turierten und erschlossen die Welt für die ver- mit „geschwinden und vorzüglich ausgestatteten gleichsweise wohlhabenden Individualtouris- Schnelldampfern“, sorge aber für die Reisenden ten, während der baptistische Missionar Thomas nur „während deren Aufenthalt auf dem Schiff“ Cook 1841 die Pauschalreise erfand und für ei- und überließe die Organisation der Landausflü- nen Festpreis einen Tagesausflug mit der Eisen- ge Reisebüros. bahn organisierte, Schinkenbrot und Tee inklu- sive.10 Das Reiseunternehmen Thomas Cook & ERFINDUNG DER Son sollte nur wenige Jahre später Weltmarktfüh- KREUZFAHRTREISE rer im Tourismusbereich sein. Ende des 19. Jahrhunderts galt die „Gesell- Der Hamburger Journalist Heinrich Egon Wallsee, schaftsreise“ als akzeptierte Form der Reise- 1891 ebenfalls Teilnehmer der „Orientfahrt“ auf organisation. Die 6. Auflage von Meyers Kon- der „Augusta Victoria“, schrieb in seinen Reise versationslexikon (1902–1908) definierte die erinnerungen, bislang sei es nur in der Phantasie Gesellschaftsreise als „Unternehmen, dessen Ver- eines Schriftstellers möglich gewesen, dass „eine anstalter (…) eine Anzahl Reiselustiger vereini- auf Reisen gehende, mehrhundertköpfige Gesell- gen, um sie unter einheitlicher Leitung nach ei- schaft einen schwimmenden Prunkbau mit sich nem vorher bekannt gegebenen Programm nach nimmt, wie die Schnecke ihr Haus“.11 Als Refe- interessanten Orten und Gegenden des In- und renz führte er den Schriftsteller Mark Twain an, Auslands (…) zu führen“. Für einen Festpreis er- der 1867 an einer mehrmonatigen Gruppenreise hielten die Reisenden „freie Fahrt, Ab- und Zu- auf einem gecharterten Raddampfer teilgenom- gänge von und nach den Stationen, Gepäckbe- men hatte, die ihn zu Zielen im gesamten Mittel- sorgung, Unterkommen mit voller Verpflegung meerraum führte. Als Höhepunkt der Reise galt einschl. Trinkgelder (jedoch ohne Wein und Hei- der Aufenthalt in Palästina. Neben Zeitungsar- zung), orts- und sprachkundige Führer, freie Be- tikeln verfasste Twain zu dieser Reise auch ein Buch, das 1869 unter dem Titel „The Innocents Abroad“ (deutscher Titel: „Die Arglosen im Aus- 09 Hans Magnus Enzensberger, Vergebliche Brandung der Fer- ne. Eine Theorie des Tourismus, in: Merkur 8/1958, S. 701–720. 10 Vgl. Susanne Müller, Die Welt des Baedeker. Eine Medien- 11 Heinrich Egon Wallsee, Modernes Reisen. Die Orientfahrt kulturgeschichte des Reiseführers 1830–1945, Frankfurt/M. 2012. der „Augusta Victoria“, Hamburg 1891, S. 5. 11
APuZ 50/2021 land“) erschien. Wallsee konnte sich aber anschei- und neu, wie entzückend geplante Rundreise nend nicht vorstellen, dass diese Reise tatsächlich nach den Gestaden des Mittelmeers bis nach der stattgefunden hatte. Sultanstadt am Bosporus“ auszurichten, waren Und in der Tat war die „Excursion“ der „Au- der HAPAG sicher.13 gusta Victoria“ die erste deutsche Kreuzfahrtrei- Das Unternehmen sprach mit diesem Vorha- se ins Mittelmeer. Die erste Kreuzfahrtreise über- ben gleich mehrere Vorlieben und Bedürfnisse haupt war sie hingegen nicht. Norwegische und reisender Zeitgenossinnen und Zeitgenossen an. britische Reedereien unternahmen seit spätestens Die in der Retrospektive „exotisch“ anmutenden 1875 gelegentlich Kreuzfahrtreisen und nutz- Ziele wirken weniger spektakulär, wenn man sich ten für diese pleasure cruises sogar eigens gebau- die Annoncen für Nilkreuzfahrten in damaligen te oder umgebaute Schiffe. Und noch im Jahr vor deutschen Tageszeitungen vergegenwärtigt, die der „Orientfahrt“ der „Augusta Victoria“ hatte von Thomas Cook & Son oder dem Berliner Rei- die Bremer Reederei Norddeutscher Lloyd eine sebüro von Carl Stangen ausgerichtet wurden.14 14-tägige Kreuzfahrt nach Norwegen veranstal- Der Verlauf solcher Reisen war ebenfalls be- tet. Dass die Reise auf der „Augusta Victoria“ bis kannt, beispielsweise durch die überaus erfolgrei- in die Gegenwart als Beginn des Kreuzfahrttou- che Reisebeschreibung „Frau Buchholz im Ori- rismus gesetzt wird,12 liegt in mehreren Aspekten ent“ von Julius Stinde, der an einer von Stangen begründet. Einer ist die große öffentliche Auf- organisierten Reise teilgenommen hatte.15 Die- merksamkeit, die der Fahrt zuteilwurde. se und weitere Reiseerzählungen (man denke an Die Idee zur Reise war zunächst aus der Not Karl Mays „Orientzyklus“), Genremalerei, Vor- geboren. So hatte die wirtschaftlich angeschlage- träge, Sachbücher und Reiseführer sorgten für ne HAPAG auf Drängen Albert Ballins, der ab eine breite „Orient-Begeisterung“; sie brachten 1886 zunächst als Leiter der Passagier-Abteilung die Ferne in die Heimat und lockten zugleich in tätig war und 1888 als 31-Jähriger in den Vorstand die Ferne – mit romantischen Traumbildern, ko- berufen wurde, vier moderne Schnelldampfer für lonialen Phantasien und eurozentrischen Welt- den Post- und Passagierdienst nach New York vorstellungen im Gepäck.16 angeschafft. Diese Schiffe versprachen durch den Mit dem Doppelschraubendampfer wuss- neuen Doppelschraubenantrieb nicht nur mehr te die HAPAG auf zwei Feldern zu überzeugen. Sicherheit, sie waren auch vergleichsweise lu- Zum einen wurde, ganz im Geiste der Zeit, der xuriös ausgestattet; zumindest in den Bereichen hohe Sicherheitsstandard der „Augusta Victoria“ für die 1. und 2. Klasse. Aber selbst die von Aus- betont, zum anderen die gehobene Ausstattung, wanderinnen und Auswanderern häufig genutz- für die wiederholt das Bild des schwimmenden te 3. Klasse bot bescheidenen Komfort. Da das Grandhotels bemüht wurde. Das Schiff stand da- Auswanderergeschäft konjunkturellen Schwan- mit für ein modernes und komfortables Trans- kungen unterlag, die Transatlantikrouten nur sai- portmittel, das in dem Format einer „Vergnü- sonal betrieben wurden und die Elbe im Winter gungsreise“, in Anlehnung an Theodor Fontane, für Schiffe dieser Größenordnung bis Hamburg zudem die Bodenständigkeit der Sommerfrische nur bedingt schiffbar war, lagen die kostspieli- und den Eskapismus der Sommerreise auf attrak- gen Neuanschaffungen im Winter 1890 auf Ree- tive Weise in Einklang zu bringen wusste. de. Der Entschluss, eine Kreuzfahrt zu organisie- Hinter dieser neuen Attraktivität maritimen ren, war also letztlich wirtschaftlich begründet. Reisens sollten die zuvor herrschenden Gefahren Das öffentliche Interesse und die Begeisterung darüber, „wenigstens einen dieser prachtvollen 13 Wallsee (Anm. 11), Einleitung. Schnelldampfer auch einem größeren, nicht nach 14 Für ein Beispiel siehe die Werbung für eine Nilkreuz- America reisenden Publikum einmal vorzufüh- fahrt von Thomas Cook & Son im Hamburger Fremdenblatt, ren“ und zu diesem Zwecke „eine ebenso kühn 31. 10. 1890. 15 Vgl. Julius Stinde, Frau Buchholz im Orient, Berlin 1888. Von dem Buch wurden in drei Monaten 19 Auflagen gedruckt. 12 Beispiele hierfür sind Jürgen Elvert, Europa, das Meer 16 Vgl. Nana Badenberg, Ägyptenreisen auf den Spuren von und die Welt. Eine maritime Geschichte der Neuzeit, München Virchow und Schliemann. 1888: Julius Stindes Frau Buchholz 2018, S. 460; Arnold Kludas, Vergnügungsreisen zur See. Eine im Orient, in: Alexander Honold/Klaus R. Scherpe (Hrsg.), Mit Geschichte der deutschen Kreuzfahrt, Bd. 1: 1889–1939, Bre- Deutschland um die Welt. Eine Kulturgeschichte des Fremden in merhaven 2001, S. 16. der Kolonialzeit, Stuttgart 2004, S. 106–114. 12
Reisen und Tourismus APuZ Die Zeichnung von Christian Wilhelm Allers zeigt Kreuzfahrtpassagiere der „Augusta Victoria“ bei der Besichtigung der „Alabaster-Moschee“ in Kairo, in ihren Händen Reiseführer. In der Bildmitte ein „Englischer Posten am Thor der Citadelle“. Quelle: Christian Wilhelm Allers, Backschisch. Erinnerungen an die Reise der Augusta Victoria in den Orient, Hamburg 1891. und Härten einer Schiffsreise verblassen.17 Die Zeichner Christian Wilhelm Allers mit an Bord, HAPAG zeigte daher großes Engagement für eine der ein illustriertes Reisetagebuch anfertigte und breite und vor allem positive Berichterstattung damit Johann Heinrich Strumper perfekt ergänz- über die „Excursion ins Mittelmeer“. Neben Ben- te, der vor allem die Reiseziele und ausgewählte rath und Wallsee fuhren noch weitere Journalisten Episoden des Bordlebens fotografisch dokumen- mit: C. Jahnel von der „Norddeutschen Allgemei- tierte. Das, und nicht zuletzt der Umstand, dass nen Zeitung“ sowie H. Weth vom „Hamburger Ballin höchstpersönlich die Reise begleitete, sollte Fremdenblatt“ und „Berliner Börsen-Kurier“. sicherstellen, dass die Kreuzfahrt mit der „Augus- Neben ihren Reisereportagen legten alle bis auf ta Victoria“ ein Erfolg werden würde. Vor diesem Jahnel noch im selben Jahr jeweils einen Reisebe- Hintergrund sind auch die um einen Tag verzö- richt als Buch vor.18 Weiterhin ging der bekannte gerte Abfahrt und der Besuch des Kaisers an Bord des abgehenden Schiffes zu bewerten. 17 Für einen Überblick vgl. Dagmar Bellmann, Von Höllenge- DIE „EXCURSION fährten zu schwimmenden Palästen. Die Passagierschifffahrt auf NACH DEM MITTELMEER“ dem Atlantik 1840–1930, Frankfurt/M. 2015. 18 Vgl. Benrath (Anm. 1); Wallsee (Anm. 11); H. Weth, Die Orient-Reise der Augusta Victoria vom Januar bis März 1891, Mit dem Schiff betraten die Passagiere am 22. Ja- Hamburg 1891. nuar 1891 nicht nur ihre Unterkunft für die kom- 13
APuZ 50/2021 menden Wochen, sondern auch eine ihnen zumeist konnte. Schon bald ermunterte deshalb ein eilends völlig fremde Welt. Sogar dem Zeichner Allers fiel eingesetztes „Damencomité“ die „Reisegenossin- die Orientierung zunächst schwer, obwohl er in nen“, „gemeinsam durch Unterschrift erklären der Kaiserlichen Marine gedient hatte. In seiner zu wollen, dass sie einen militärischen Gruss der Kabine angekommen, einem kleinen Raum mit Herren während der Fahrt für angebrachter halten schmalen Schränken und zwei übereinander ange- würden, als das unter Umständen sehr unbeque- brachten Betten, bestaunte er zunächst die Wasch- me Abnehmen der Kopfbedeckung“.20 becken mit fließend kaltem und warmem Wasser Auf See strukturierten die Mahlzeiten den Ta- sowie das elektrische Licht – was für ein Luxus!19 gesablauf. Die erste Ausgabe der an Bord gedruck- Die meisten Passagiere teilten sich eine Kabine mit ten „Augusta-Victoria-Zeitung“ informierte die einem ihnen fremden Mitreisenden; Bäder und Passagiere über den neuen Rhythmus ihres Alltags: Toiletten waren als Gemeinschaftseinrichtungen Um 7.45 Uhr drehte der „Gong-Steward“ seine über den Flur gut zu erreichen, und für die Be- Runde über alle Decks, schlug zunächst den Weck- nutzung der Badewannen konnte man sich beim ruf, und um 8 Uhr zum reichhaltigen Frühstück Badesteward auf eine Terminliste setzen lassen. – „Kaffee, Thee, Chokolade nach Wahl, Beefsteak, Das Leben der Reisenden spielte sich vor allem Eier in allen Gestalten, Pfannkuchen, Schinken auf dem Hauptdeck, dem Oberdeck und dem Pro- und allen möglichen Aufschnitt, alle Sorten Brot menadendeck ab; weniger in den Kabinen als viel- und köstliche Butter“.21 Ein zweites Frühstück mit mehr in den Salons, dem großen Speisesaal oder in Suppe, zwei bis drei Fleischspeisen und Nachtisch den Außenbereichen. Mehr als 70 Stewards, ein Arzt wurden um 12 Uhr gereicht, das Diner als Haupt- nebst Gehilfen, ein Friseur und 21 Köche kümmer- mahlzeit um 18 Uhr. Akribisch notierte sich Ben- ten sich um das Wohlbefinden der Passagiere. Eini- rath die verbrauchten Lebensmittel: unter anderem ge von ihnen spielten zudem in der Bordkapelle, die 2378 Pfund Schinken, 11 950 Austern, 43 700 Eier auf dieser Reise bei sprichwörtlich jedem Wind und und 700 Rehrücken.22 Zwischen den Mahlzeiten Wetter musizierte. Dem Kapitän, einer unnahbaren ging man auf Deck spazieren, schrieb Briefe, las, wie unantastbaren Respektsperson, unterstanden malte, fotografierte, führte Unterhaltungen, plante ein halbes Dutzend Offiziere sowie 35 Bootsleu- die Landausflüge oder vertrieb sich die Zeit in den te und Matrosen. Für die meisten Gäste unsichtbar Salons mit Cocktails, Bier und Skat. Mitunter or- blieben hingegen die insgesamt fast 150 Maschinis- ganisierten die Passagiere Tanzabende und Kunst- ten, Heizer und Kohlenzieher, die auf den unteren ausstellungen mit Verlosung. Der Erlös kam der Decks des knapp 145 Meter langen und 17 Meter Witwenkasse der Besatzung zugute. breiten Schiffs die beiden Dampfmaschinen mit ins- In den Häfen begaben sich die meisten Passa- gesamt 14 110 PS am Laufen hielten. giere auf Landausflüge, gebucht an Bord bei dem Der typische Passagier auf der „Augusta Vic- Agenten der Firma Thomas Cook & Son, deren toria“ war ein männlicher bürgerlicher Allein- touristische Infrastruktur angesichts der Gruppen- reisender aus Deutschland. So gab es unter den größe wiederholt an ihre Grenzen stieß. Bis ins Mit- insgesamt rund 240 Gästen, die in Cuxhaven, Sou- telmeer hatten die Reisenden mit schlechtem und thampton und Genua an Bord gingen und mehr- kaltem Wetter, Sturm in der Biskaya und Seekrank- heitlich aus Deutschland, den USA, Großbritan- heit zu kämpfen. Mit dem Reiseführer unter dem nien, den Niederlanden, Frankreich, der Schweiz Arm wurden aber schon wenig später die Pyrami- und Norwegen stammten, nur wenige Ehepaare, den besucht, Jerusalem und Konstantinopel besich- keine Kinder, wenige Jugendliche und kaum al- tigt, die Akropolis bestaunt und der Vesuv bestie- lein reisende Damen, dafür aber mehrere Väter gen. In den Reiseberichten und Tagebuchnotizen mit Töchtern in heiratsfähigem Alter. Die Rechts- werden die intensiven Eindrücke betont, zum Ende anwälte, Offiziere, Unternehmer, Stadt- und der Reise hin zeugen sie aber auch von Ermüdungs- Kommerzienräte, Rittergutsbesitzer, Architek- erscheinungen und Übersättigung. Die Rückkehr ten, Kaufleute und Direktoren pflegten zumeist nach Hamburg geriet zu einem triumphalen Ein- bürgerliche Umgangsformen, was angesichts der laufen – dank der laufenden Presseberichterstat- Enge des Schiffes durchaus anstrengend werden 20 Augusta-Victoria-Zeitung, 3. 2. 1891. 19 Vgl. Christian Wilhelm Allers, Backschisch. Erinnerungen an 21 Weth (Anm. 18), S. 16. die Reise der Augusta Victoria in den Orient, Hamburg 1891. 22 Vgl. Benrath (Anm. 1), S. 159. 14
Reisen und Tourismus APuZ tung war die Öffentlichkeit detailliert über den Ab- Während in der Weimarer Zeit und in der Bun- lauf der Reise informiert, und der Kaiser schickte desrepublik der Kreuzfahrttourismus weiterhin ein Glückwunschtelegramm „zur Beendigung der den betuchten Reisenden vorbehalten blieb, ziel- schönen Reise der Augusta Victoria“.23 Mehr Wer- ten die staatlich organisierten Kreuzfahrten in den bung für dieses Reiseformat ging nicht. beiden deutschen Diktaturen auf eine Öffnung dieses touristischen Formats für die „Volksge- TRAUMREISEN nossen“ oder „Arbeiter und Bauern“. Auch wenn VON DER STANGE die Teilnehmenden an diesen Reisen letztlich nur eine zumeist handverlesene und überwachte ge- Auch wenn die „Orientfahrt“ der „Augusta Vic- sellschaftliche Minderheit war, schufen die pro- toria“ nicht die erste Kreuzfahrtreise gewesen pagandistischen Bilder der nationalsozialistischen sein mag, so markiert sie trotzdem den Beginn KdF-Fahrten oder der Reisen auf dem DDR- des Kreuzfahrttourismus im eigentlichen Sinne. Kreuzfahrtschiff „Völkerfreundschaft“ einen Die Reise als touristisches Produkt des 19. Jahr- Sehnsuchtsort, der im bundesrepublikanischen hunderts lässt sich, so erneut Enzensberger, mit Teil Deutschlands seit 1981 durch die Fernsehsen- Begriffen aus der industriellen Fertigung be- dung „Traumschiff“ weiter gefestigt wurde.24 schreiben. Zunächst bedarf es genormter Einzel- Nach der Wiedervereinigung 1990 etablier- elemente, im Fall des Tourismus sind das ganz all- te die Kreuzfahrtmarke Aida Cruises mit dem gemein Sehenswürdigkeiten, deren Besichtigung Konzept des Clubschiffs US-amerikanische letztlich auch das vermeintlich zweckfreie Reisen Spielarten der Kreuzfahrt am deutschen Markt wieder mit einem Zweck auflud. Eine touristische und erreichte damit neue Kundenkreise. In den Reise entsteht durch die Montage ausgewählter 2000er Jahren setzte in der Kreuzfahrtbranche Sehenswürdigkeiten und kann, abhängig von den ein erstaunlicher Boom ein, trotz Kritik an der Erwartungen und Bedürfnissen der Reisenden, Umweltunverträglichkeit von Kreuzfahrtschiffen immer wieder neu zusammengesetzt werden. Um und dem Aspekt des overtourism. Kritik gab es diese Reisen wirtschaftlich ertragreich zu gestal- indes auch schon 1911, als in dem Baedeker zu ten, versuchten Reiseunternehmen fortan, die aus Schweden und Norwegen der Hinweis enthalten genormten Elementen montierten Produkte in war, dass es für andere Reisende unangenehm sei, die Serienfertigung zu geben.2456 „in den Strom der aus den Vergnügungsdampfern Der tatsächliche oder herbeigeschriebene Er- an Land gehenden Scharen zu geraten, da diese folg der „Excursion“ von 1891 bestärkte Albert bisweilen alle Wagen in Anspruch nehmen und Ballin und die HAPAG nicht nur darin, von nun die Gasthäuser immer füllen“.25 Auch in Zeiten an jährlich eine Kreuzfahrt ins Mittelmeer an- des frühen Massentourismus waren die lästigen zubieten, sondern eine eigene Sparte innerhalb Touristen anscheinend immer nur die anderen. des Unternehmens aufzubauen, mit Reisen nach Doch die Begeisterung für dieses touristische Norwegen und in die Karibik, einem speziell für Reiseformat hält ungebrochen an, sogar trotz der diese Aufgabe gebauten Schiff und umfangreichen Covid-19-Pandemie. Und so wird manche Tou- Werbematerialien. Die Nachfrage nach Kreuz- ristin und mancher Tourist am Ende einer Kreuz- fahrtreisen war so groß, dass mehrere Anbieter fahrtreise ebenso wie der Journalist H. Weth nach in diesem Markt tätig sein konnten. Die schwim- der „Orientfahrt“ der „Augusta Victoria“ von menden Grandhotels boten kontrollierten Eska- 1891 auf die Frage „Wie hat Ihnen die Reise gefal- pismus mit doppeltem Boden und schrieben eine len?“ antworten: „Prachtvoll von Anfang bis zum touristische Erfolgsgeschichte, die erst mit dem Ende. Selten hat noch eine Partie von Touristen Ersten Weltkrieg ihr vorläufiges Ende fand. in so kurzer Zeit so Vieles und so Herrliches ge- sehen, wie wir, und so hübsch, so bequem, so mit 23 Hamburger Correspondent, 24. 3. 1891. Fürsorge und Luxus umgeben, hat sie es über- 24 Für die DDR vgl. Andreas Stirn, Traumschiffe des Sozialis- haupt noch nicht.“26 mus. Die Geschichte der DDR-Urlauberschiffe 1953–1990, Berlin 2011, S. 110 ff. CHRISTIAN BUNNENBERG 25 Karl Baedeker, Handbuch für Reisende. Schweden, Norwe- gen nebst den Reiserouten durch Dänemark und Ausflügen nach ist Professor für Didaktik der Geschichte und Public Island und Spitzbergen, Leipzig 1911, S. XVIII. History an der Ruhr-Universität Bochum. 26 Weth (Anm. 18), S. 224. christian.bunnenberg@ruhr-uni-bochum.de 15
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