AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Reisen und Tourismus - Bundeszentrale für ...

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AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Reisen und Tourismus - Bundeszentrale für ...
71. Jahrgang, 50/2021, 13. Dezember 2021

     AUS POLITIK
UND ZEITGESCHICHTE
 Reisen und Tourismus
       Martina Zschocke                         Gabriele Habinger
      WARUM REISEN?                       REISEN UND EROBERN.
                                        FORMEN DER ANEIGNUNG
     Christian Bunnenberg
                                         IM KONTEXT VON REISEN
     DIE „ORIENTFAHRT“
                                             UND TOURISMUS
  DER „AUGUSTA VICTORIA“
    UND DIE GESCHICHTE                             Frank Bajohr
 DES KREUZFAHRTTOURISMUS                      DARK TOURISM.
                                              ÜBERLEGUNGEN
         Hasso Spode
                                          ZU TOURISMUS, GEWALT
 TOURISMUSGESCHICHTE ALS
                                            UND ERINNERUNG
 ÜBERWINDUNGSGESCHICHTE
                                            Dagmar Lund-Durlacher ·
      Andreas Kagermeier                       Wolfgang Strasdas
  WACHSTUM OHNE ENDE?                  ZUR ZUKUNFT DES REISENS.
 DIE TOURISMUSWIRTSCHAFT                 TOURISMUS IN ZEITEN
        IM WANDEL                         DES KLIMAWANDELS

                  ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE
                       FÜR POLITISCHE BILDUNG
              Beilage zur Wochenzeitung
AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Reisen und Tourismus - Bundeszentrale für ...
Reisen und Tourismus
                                 APuZ 50/2021
MARTINA ZSCHOCKE                                    GABRIELE HABINGER
WARUM REISEN?                                       REISEN UND EROBERN.
Warum zieht es Menschen aller Anstrengungen         FORMEN DER ANEIGNUNG IM KONTEXT
zum Trotz immer wieder in die Ferne? Reisen         VON REISEN UND TOURISMUS
dienen längst nicht nur der Erholung; sie bringen   Reisen und Tourismus sind per se mit der
uns äußerlich und innerlich in Bewegung.            Aneignung „fremder“ Räume verknüpft. Die
Das erzwungene „Reise-Fasten“ während der           europäische koloniale Expansion und daraus
Pandemie hat dies noch verdeutlicht.                resultierende Vorstellungen prägen unsere
Seite 04–08                                         Reisepraktiken bis heute. Es gilt, den westlichen
                                                    Ferntourismus zu „dekolonisieren“.
                                                    Seite 33–39
CHRISTIAN BUNNENBERG
DIE „ORIENTFAHRT“ DER „AUGUSTA
VICTORIA“ UND DIE GESCHICHTE DES                    FRANK BAJOHR
KREUZFAHRTTOURISMUS                                 DARK TOURISM. ÜBERLEGUNGEN ZU
Im Januar 1891 brach das Dampfschiff „Augusta       TOURISMUS, GEWALT UND ERINNERUNG
Victoria“ von Cuxhaven aus zu einer Rundreise       Orte vergangener Gewalt wecken seit einiger
durchs Mittelmeer auf. Die Fahrt gilt heute als     Zeit verstärkt das Interesse von Touristen.
Beginn des Kreuzfahrttourismus, obwohl es           Warum ist das so? Was sind die Reisemotive?
schon früher touristische Reisen dieser Art gab.    Und welche Herausforderungen, aber auch
Was machte diese Tour so besonders?                 Chancen sind damit für Gedenkstätten, Museen
Seite 09–15                                         und Dokumentationsorte verbunden?
                                                    Seite 40–45
HASSO SPODE
TOURISMUSGESCHICHTE ALS                             DAGMAR LUND-DURLACHER ·
ÜBERWINDUNGSGESCHICHTE                              WOLFGANG STRASDAS
Touristische Nachfrage ist im Europa des            ZUR ZUKUNFT DES REISENS.
18. Jahrhunderts entstanden; heute treibt sie       TOURISMUS IN ZEITEN DES KLIMAWANDELS
eine der größten Branchen überhaupt an. Die         Tourismus ist sowohl Mitverursacher als auch
Grundlagen wurden von den 1730er bis zu             Betroffener des Klimawandels. Was bedeutet das
den 1930er Jahren gelegt – vor allem durch die      für seine Zukunft? Wie ließe sich klimaschonen-
Beseitigung von Reisehemmnissen.                    der reisen? Und welche Rolle spielen einzelne
Seite 16–23                                         Tourismusbereiche wie Mobilität, Beherbergung
                                                    und Gastronomie?
                                                    Seite 46–54
ANDREAS KAGERMEIER
WACHSTUM OHNE ENDE?
DIE TOURISMUSWIRTSCHAFT IM WANDEL
Tourismus gilt als eine mögliche Leitökonomie
des 21. Jahrhunderts. Die Entwicklung der
Branche ist von stetem Wachstum geprägt, woran
auch die Corona-Pandemie längerfristig nichts
ändern wird. Erscheinungen des overtourism
erfordern jedoch ein Umdenken.
Seite 24–32
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EDITORIAL
Anfang 2020 blickte die Tourismusbranche optimistisch auf die bevorstehende
Reisesaison: „Urlaubsstimmung: positiv!“, „Rahmenbedingungen: stabil“, hieß
es in der Reiseanalyse der Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reisen. 2019
waren so viele Deutsche wie noch nie in den Urlaub gefahren, und für 72 Pro-
zent stand bereits im Januar des Folgejahres fest, dass sie bald wieder verreisen
würden. „Aus Nachfragesicht spricht demnach nichts gegen ein gutes Reisejahr
2020“, so die Folgerung. Wie wir heute wissen, kam es anders. Die Pandemie
und ihre Bekämpfung brachten den internationalen Reiseverkehr nahezu zum
Erliegen und sorgten für einen beispiellosen Einbruch in einer wachstumsver-
wöhnten Branche. Zugleich wurde vielen der Wert des Reisens schmerzlich
bewusst, die Monate im „Lockdown“ schürten das Fernweh.
    In den Urlaub zu fahren, also mehr oder weniger „zum Vergnügen“ zu reisen,
ist historisch gesehen erst seit kurzer Zeit üblich und überhaupt möglich. Mobi-
lität war in der Regel mit einem handfesten Zweck verbunden, sei es, um Handel
zu treiben oder diplomatische Beziehungen zu pflegen, sei es, um einer Not zu
entkommen. Anspruch auf bezahlte Urlaubstage gibt es flächendeckend erst
seit dem 20. Jahrhundert, und ohne die Entwicklung moderner Verkehrsmittel,
die das Reisen sicherer und weniger strapaziös machen, ist die Entstehung des
heutigen Massentourismus undenkbar. Nach wie vor aber muss man sich den
Ortswechsel zur eigenen Erholung finanziell und zeitlich leisten können. Tou-
ristisches Reisen ist also immer auch Ausdruck von Status – und vor allem ein
Privileg des Globalen Nordens.
    Angesichts der Klimakrise und nicht mehr zu übersehenden Folgen des
overtourism an vielen „Destinationen“ hat sich indes schon lange vor der Pan-
demie die Frage gestellt, ob die Tourismusbranche nicht längst an die Grenzen
eines verträglichen Wachstums gelangt ist. Das erzwungene „Reise-Fasten“ bot
Gelegenheit, hierüber nachzudenken und auch das eigene Reiseverhalten zu
hinterfragen. Reiselust und Klimaschutz miteinander zu vereinbaren, wird in
Zukunft noch stärker gefordert sein.

                                                  Johannes Piepenbrink

                                                                               03
APuZ 50/2021

                                                   ESSAY

                                WARUM REISEN?
                              Zur Psychologie des Reisens
                                          Martina Zschocke

Was hat es mit dem Reisen auf sich? Worin liegt         bestimmtheit zu gewinnen, aber auch den eigenen
das Glück des Aufbruchs? Warum treibt oder              Standpunkt in der Welt neu zu bestimmen, sich
zieht es Menschen aller Anstrengungen zum Trotz         wieder „einzunorden“. Das Motiv der Selbster-
in die Ferne? Grundsätzlich lassen sich Reisemo-        kenntnis und Selbstaktualisierung kann bis hin
tive in Push- und Pull-Motive unterteilen: Wäh-         zu Erweiterungen des Selbst um im Alltag ver-
rend Push-Motive all die Motive sind, die einen         nachlässigte Aspekte der Persönlichkeit reichen.
von Zuhause wegtreiben, sind Pull-Motive alles,         Am häufigsten findet sich dieses Motiv bei länge-
was einen woanders hinzieht. Weiterhin gibt es          ren Reisen, die als Zäsur vor oder nach einer be-
unbestimmte Motive wie „Fernweh“ ganz allge-            stimmten Lebensphase angetreten werden – etwa
mein. Es ist kein Zufall, dass dieser Begriff aus der   nach dem Schul- oder Ausbildungsabschluss,
Zeit der Romantik ab Ende des 18. Jahrhunderts          nach Trennungen oder vor Antritt einer neu-
stammt, in der vieles mit Melancholie und einer         en Arbeitsstelle. Klassische Beispiele sind Work-
unbestimmten Sehnsucht verbunden war und frei-          and-Travel-Aufenthalte, Weltreisen, aber auch
williges Reisen deutlich wichtiger wurde.               die Walz, jene Reise der Handwerker, die je nach
     Zu den Pull-Motiven gehört in erster Li-           Zunft drei Jahre und einen Tag dauern kann und
nie der Reiz bestimmter Länder, Landschaften,           bestimmten Regeln unterliegt (zum Beispiel eine
Städte und Lebenskulturen. Aber auch die Neu-           Bannmeile um den eigenen Wohnort). Diese Rei-
gier und der Wunsch nach Bildung und anderen            sen haben potenziell einen deutlich höheren Ein-
Sprachen zählen dazu. Hinzu kommen physisch-            fluss auf die Identität als rein touristische Reisen,
physikalische Motive wie Reizsuche oder Reiz-           was sich oft in Form der verstärkten Selbster-
vermeidung, aber auch nach außen gerichtete             kenntnis und Selbstaktualisierung zeigt, die einer-
Gründe wie der Wunsch nach Prestige. Ein weite-         seits durch den Abstand vom Alltag, andererseits
res wichtiges Pull-Motiv ist die Freude an Bewe-        durch die Freiheit von den Erwartungen ande-
gung. Dabei ist das Reiseziel oft nicht so bedeu-       rer ermöglicht wird. Dabei werden oft Ideal- und
tend, wie der Aufbruch und das Unterwegssein            Realselbst verglichen und im Optimalfall so ange-
an sich. Andere Pull-Motive können soziale Mo-          glichen, dass sie den eigenen Wert- und Lebens-
tive oder auch Inspirationen durch Filme, Bücher        vorstellungen besser entsprechen. Durch Reisen
oder Musik sein.01 Neben der Suche nach neuen           können also Spielräume für das eigene Leben er-
Eindrücken und Abenteuern kann es auch die Su-          weitert und Lebensentwürfe aktualisiert werden –
che nach Sinn sein, die einen in die Fremde zieht.      die Reise an sich entspricht dann den klassischen
Reisen als Sinnsuche beschreibt etwa der Autor          rites de passage, sie erfüllt mithin die Funktion
und Filmemacher Phil Cousineau, der zwischen            eines Übergangsritus.03 Der Schriftsteller Cees
Reisen im Sinne des Tourismus und Pilgerreisen          Nooteboom beschrieb dies folgendermaßen: „In
unterscheidet, während er unter Letzteren alle          einem nomadischen Leben habe ich vielleicht ge-
Reisen versteht, deren Zweck es ist, etwas zu fin-      lernt, wer ich bin und wer ich nicht bin.“04
den, was für den Reisenden von tiefer Bedeutung
ist. Dies kann sich auch auf Literatur, Kunst, Mu-                  WIEDERENTDECKUNG
sik, Architektur, Lebensstile und -entwürfe und                         DER SINNE
Freiheit beziehen.02
     Zu den Push-Motiven gehören vor allem Ab-          Doch was macht neben den komplexen Reisemo-
stand und Distanz zum Alltag und dessen Zweck-          tiven das Reiseerleben aus, was den besonderen

04
Reisen und Tourismus APuZ

Reiz des Reisens, der dazu führt, dass viele dieses             Abstands von den Anforderungen des Alltags
Erleben immer wieder erfahren möchten? Was                      ist auch die Aufmerksamkeit größer, das heißt,
genau passiert beim Reisen?                                     man ist weniger abgelenkt, und die „Wahrneh-
    Genau genommen beginnt das Reiseerleben                     mungskanäle“ sind offener. Deshalb kommt es
bereits, bevor man die Reise angetreten hat: Vor-               beim Reisen zu einem Gefühl erhöhter Wachheit
freude gilt als schönste Freude – und für viele ist             und Lebendigkeit, weil verschiedene – oft auch
sie ein wesentlicher Teil des Reisens. Wer Reise-               im Alltag weniger genutzte – Sinne angesprochen
führer liest, sich für Ziele entscheidet und Rou-               werden.
ten plant, ist innerlich schon unterwegs und nährt                  Ein anderes Licht, andere Farben, andere ku-
die Vorfreude auf das, was da kommt. Aus der                    linarische Erfahrungen und möglicherweise Sand
psychologischen Forschung weiß man allerdings,                  unter den Füßen: Gerade solche sinnlichen Ein-
dass vor allem unerwartete Reize aktivierend wir-               drücke werden in einer immer stärker durch­
ken. Das heißt, Vorfreude erzeugt zwar eine po-                 media­lisierten Welt immer seltener. Das Übermaß
sitive Spannung vor der Reise, sie kann aber auch               an Informationen, die nicht unmittelbar sinnlich
dazu führen, dass während der eigentlichen Rei-                 – also zum Beispiel über den Geschmacks- oder
se vergleichsweise geringere Freude empfunden                   Tastsinn – vermittelt sind, führt zu einer über-
wird. Denn konkrete Erwartungen vermindern                      mäßigen Beanspruchung und Ausbildung der so-
die Neugier und führen eher zu Enttäuschungen                   genannten Fernsinne wie des Sehsinns. Dies ge-
als zu Offenheit und Spontaneität.1234                          schieht zulasten der sogenannten Nahsinne, die
    Ob man eine Reise lange plant oder spontan                  im Alltag eher unterfordert werden. Und so äu-
aufbricht, hat etwas mit der Persönlichkeit, den                ßerte der Arzt und Psychotherapeut Helmut
persönlichen Rahmenbedingungen und Vorlie-                      Milz zutreffend: „Das Vertrauen in die Qualität
ben sowie mit der ureigenen Neugier und der                     der eigenen Sinne ist dem kultivierten Menschen
Wertschätzung für Überraschungen und Entde-                     in vielfacher Form abhanden gekommen.“05 Rei-
ckungen zu tun. Wer spontan aufbricht, in den                   sen kann das Gleichgewicht wieder herstellen,
erstbesten Zug steigt oder zu blind booking ten-                erst recht, wenn es sich um selbst organisiertes
diert, wo man erst drei Tage vor der Reise erfährt,             Reisen handelt: Es fördert die analoge Wahrneh-
wo es hingeht, wird kaum zielgerichtete Vorfreu-                mung in einer zunehmend digitalisierten Welt.
de empfinden – aber da er oder sie per se offen                     Auf Reisen spielt das Sehen zwar eine zentrale
und aufgeschlossen ist, auch kaum Enttäuschun-                  Rolle, aber es kommt ganz offensichtlich zu ei-
gen erleben.                                                    ner erweiterten Wahrnehmung, in der vor allem
    Wenn der Alltag immer gleich verläuft, feh-                 die Nahsinne Riechen, Schmecken und Fühlen,
len Lebendigkeit und Intensität, die durch wech-                aber auch der Fernsinn Hören bedeutsamer wer-
selnde Reize entstehen. Dabei ist nicht die abso-               den, als sie es im Alltag sind. Welche Sinne dabei
lute Reizstärke wichtig für die Wahrnehmung,                    primär angesprochen werden, ist abhängig von
sondern die Intensitätsänderung. Gleichbleiben-                 den besuchten Gegenden mit ihren jeweils spezi-
de Reize lösen kaum noch Nervenimpulse aus,                     fischen Umgebungsreizen. Je „fremder“ der Ziel-
man „adaptiert“ und nimmt demzufolge weni-                      ort und je größer die Differenz von der vertrau-
ger wahr. Reisen weckt die Wahrnehmung und                      ten Umgebung, desto mehr Sinneskanäle werden
schärft die Sinne. Einerseits, weil die Neuartig-               genutzt.06 An einem Küstenort in Mexiko kann
keit der Reize die Sinne anregt, andererseits, weil             es beispielsweise eine Melange sein aus dem Spü-
die Notwendigkeit der Orientierung auf Reisen                   ren der hohen Luftfeuchtigkeit, dem Riechen der
ihren verstärkten Einsatz fordert. Aufgrund des                 Meeresluft, dem Hören des Getümmels an den
                                                                Straßenständen und dem Sehen der in kräftigen
01 Vgl. John L. Crompton, Motivation for Pleasure Vacations,
                                                                Farben gestrichenen Häuser sowie des türkisblau-
in: Annals of Tourism Research 4/1979, S. 408–424; Martina      en Wassers. In den Großstädten in den USA oder
Zschocke, Mobilität in der Postmoderne. Psychische Kompo-       Japan wird durch die hohen Gebäude, die vielen
nenten von Reisen und Leben im Ausland, Würzburg 2005,          Leuchtreklamen, Menschen und Autos wiederum
S. 155–163.
02 Vgl. Phil Cousineau, The Art of Pilgrimage, Berkeley 1998.
03 Vgl. Zschocke (Anm. 1), S. 258–293.                          05 Helmut Milz, Der wiederentdeckte Körper, München 1994,
04 Cees Nooteboom, Grensoverschrijding, in: ders., Waar je      S. 201.
gevallen bent, blijf je, Amsterdam 1983 (eig. Übersetzung).     06 Vgl. Zschocke (Anm. 1), S. 212–220.

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APuZ 50/2021

eher der Sehsinn angesprochen, wohingegen ein               guter Weg, um diese Balance zu erreichen. Dem
indischer Markt mutmaßlich vor allem dem Ge-                tschechischen Fotografen Josef Koudelka wird
ruchs- und Geschmackssinn bleibende Eindrücke               ein Satz zugeschrieben, der diesen Zusammen-
bieten dürfte. Gerade über Gerüche werden häu-              hang treffend ausdrückt: „Wenn Sie lange an ei-
fig Erinnerungen verankert, ist der Geruchssinn             nem Ort leben, werden Sie blind, weil Sie nichts
doch unser archaischster Sinn.                              mehr beobachten. Ich reise, um nicht blind zu
     Interessanterweise führt nicht nur die Sti-            werden.“08
mulation durch viele neue Reize und Eindrücke
dazu, dass die eigene Aufmerksamkeit gesteigert                                  STIMULANZ
und die Wahrnehmung vertieft wird, sondern                                     FÜR DIE PSYCHE
ebenso absolute Reizarmut – zum Beispiel in
der Wüste. In welchem Maß die Sinne geschärft               Reisen hat darüber hinaus verschiedene positi-
und was aufgenommen wird, hängt unter ande-                 ve Auswirkungen auf die Psyche. Studien ha-
rem von der Art und dem Tempo der Reise sowie               ben gezeigt, dass die tiefere sinnliche Wahrneh-
der Dichte der Umgebungsreize ab. Besonders                 mung, die Aktivierung und die Notwendigkeit
viel und intensiv wird wahrgenommen, wenn die               der Orientierung nach außen sogar helfen kön-
eigene Bewegung nicht zu schnell ist, etwa beim             nen, milde depressive Episoden zu überwinden,
Radfahren oder Flanieren. Bei zu zügigem Reisen             die oft mit einer starken Fokussierung auf sich
gehen Qualität und Tiefe der Wahrnehmung ver-               selbst und mit dauerndem Grübeln über immer
loren. Die Eindrücke verflüchtigen sich rascher,            dieselben Themen einhergehen und einen im
werden bruchstückhaft, und auch die Erinnerun-              wahrsten Sinne des Wortes bewegungsunfähig
gen bleiben oberflächlich.                                  machen. Rausgehen, sich auf die Welt einlassen
     Im Idealfall lernt man auf Reisen auch wie-            und sich in ihr orientieren zu müssen, wirkt dem
der zu staunen. Staunen ist an Überraschung ge-             entgegen. Dies gilt umso mehr, wenn am Reise-
bunden, an unerwartete Erlebnisse. Etymolo-                 ziel intensiveres Licht, Bewegung und befriedi-
gisch kommt staunen von „erstarren“ – es geht               gende soziale Kontakte dazukommen. Dass Be-
also auch um ein Innehalten, Aufmerken. Man                 wegung das beste Mittel gegen Melancholie sei,
staunt eher, wenn man nichts oder wenig er-                 schrieb schon der Gelehrte Robert Burton in
wartet und alle Sensoren auf Empfang geschal-               seiner 1621 veröffentlichten „Anatomie der Me-
tet sind. Hierin wurzelt der Reiz des ersten Mals           lancholie“.09 Im Idealfall ist das allgemeine Ak-
in allen Dingen, aber auch von ersten Reisen in             tivierungsniveau auf Reisen höher – aber auch
Gegenden, die einem neu sind. Das korrespon-                das Verhältnis zwischen An- und Entspannung
diert mit Erkenntnissen der Neuro- und Wahr-                ausgeglichener.
nehmungspsychologie: Bei Dingen, die wir                        Auch bei chronischen psychischen Leiden
das erste Mal tun, ist das Gehirn hellwach und              wurden positive Effekte von Reisen beschrieben.
hochaktiv, beim zweiten Mal reagiert es deut-               So soll der Schriftsteller Bruce Chatwin, der An-
lich verhaltener, und mit jeder weiteren Exposi-            fang der 1960er Jahre für das Londoner Aukti-
tion nimmt die Reaktion ab. Je vertrauter etwas             onshaus Sotheby’s tätig war und an einer schwe-
ist, desto weniger wird unser Gehirn aktiv; die             ren psychogenen Sehstörung litt, von seinem
Adaptation setzt ein, und unsere Aufmerksam-                Arzt „weite Horizonte“ verschrieben bekommen
keit lässt nach. Vorhersagbarkeit ist in gewissem           haben – was offensichtlich fruchtete, denn er reis-
Maße beruhigend und nützlich, zu viel davon                 te in den Sudan, wo er vollständig gesundete.10
lässt uns jedoch abstumpfen, und wir schalten               In den 1980er Jahren beschrieb Dieter Häußer,
gleichsam auf Autopilot. Unser Gehirn ist aber              der ärztliche Direktor einer Nervenklinik, den
per se neugierig: Es benötigt immer wieder – in             Nutzen von Kurzreisen, wobei die Wirkfaktoren
Maßen – Stimulation und funktioniert optimal
bei einem ausgewogenen Maß an Bekanntem
und Neuem.07 Und Reisen ist offenkundig ein                 08 Siehe https://ecobnb.de/blog/zitate-​gedanken-​aphoris-
                                                            men-​reisen.
                                                            09 Vgl. Robert Burton, Die Anatomie der Melancholie, Mün-
07 Vgl. David Eagleman/Anthony Brandt, Kreativität. Wie     chen 2001 (1621), S. 187.
unser Denken die Welt immer wieder neu erschafft, München   10 Vgl. Bruce Chatwin, Der Traum eines Ruhelosen, Frank­
2018, S. 27 ff.                                             furt/M., S. 128.

06
Reisen und Tourismus APuZ

auch hier vor allem in der Aktivitätssteigerung,                    Bewegen als auch beim passiven Bewegtwerden
vermehrter Eigeninitiative und höherer Kontakt-                     kommen Gedanken und Phantasien in Gang.14
bereitschaft lagen.11                                                   Neurowissenschaftliche Forschungen bestäti-
    Nun ist Reisen allerdings kein Allheilmittel                    gen, dass bestimmte Hirnregionen sehr fein auf
gegen Depressionen, und die grundsätzlich po-                       Rhythmen reagieren und dass vor allem gleich-
sitiven Wirkungen können je nach Veranlagung                        mäßige Rhythmen von mittlerer Geschwindig-
und momentanem Zustand auch in ihr Gegen-                           keit, wie sie zum Beispiel beim Laufen entste-
teil umschlagen: So ist Reisen bei Schizophre-                      hen, für viele Gehirnfunktionen förderlich sind.15
nien und Epilepsien deutlich riskanter, da psy-                     Auch wurde herausgefunden, dass das kreative
chotische Schübe oder Krampfanfälle durch                           Potenzial während und kurz nach dem Gehen er-
Reizüberflutung ausgelöst werden können. Was                        höht ist – das Spazieren in abwechslungsreicher
für den einen also positive Anregung, erhöh-                        Umgebung erweist sich hierbei als besonders ef-
te Selbstwirksamkeit und Freude bedeutet, kann                      fektiv.16 Durch Reisen kommt somit nicht nur
für den anderen negativer Stress und Überforde-                     der Reisende selbst, sondern auch vieles in sei-
rung sein. So beschrieb die Psychiaterin Graziel-                   nem Denken in Bewegung, was zu frischen Ge-
la Margherini das Stendhal-Syndrom, das sie bei                     danken, neuen Erkenntnissen und originellen
Touristen feststellte, die auf ihre Notfallstation in               Lösungen führen kann. Neue Orte bieten Inspi-
Florenz eingeliefert wurden. Die von ihr geschil-                   ration, und insbesondere der Aufenthalt im Aus-
derten Symptome ähnelten einer Übererregung,                        land kann die kognitive Flexibilität erhöhen und
wie sie bei einer starken Verliebtheit eintreten                    die Fähigkeit fördern, neue Zusammenhänge her-
kann. Die Ergriffenheit hätte sich bei manchen                      zustellen.17 Entsprechende Studien beziehen sich
Patienten so gesteigert, dass sie über Schwindel,                   zwar auf längere Auslandsaufenthalte, aber ein
Herzbeklemmung, Schweißausbrüche, Schwäche                          ähnlicher Effekt konnte auch nach einfachen Ur-
und Ohnmachtsgefühle klagten. Ihnen waren vor                       laubsreisen nachgewiesen werden.18
lauter Stimulanz „die Sinne geschwunden“.12 Ein                         Wieviel Neues oder Fremdes auf Reisen ge-
anderes im Zusammenhang mit Reisen beobach-                         sucht wird, hängt von der Persönlichkeit, der
tetes Phänomen ist das Jerusalem-Syndrom, bei                       Reisesozialisation, den Vorlieben und der aktu-
dem Besucher der Heiligen Stadt sich angesichts                     ellen Lebenssituation ab. So wird der klassische
der religiösen Bedeutung des Ortes auf einmal für                   sensation seeker, der abwechslungsreiche Erfah-
biblische Figuren halten und anfangen, zu Predi-                    rungen und das Abenteuer sucht, kaum mit dem
gen oder Visionen zu verkünden. Meist helfen ein                    Strandurlaub glücklich. Menschen dieser Katego-
paar Tage Bettruhe, bisweilen sind jedoch auch                      rie brauchen mehr Reize, um auf optimale „Be-
Antipsychotika notwendig. Jedes Jahr sollen etwa                    triebstemperatur“ zu kommen, als Reisende, die
100 Touristen betroffen sein.13                                     von sich aus eher das Bewährte suchen und im-
                                                                    mer wieder an dieselben Lieblingsorte fahren.19
                   ÄU ẞ ERE UND
                INNERE BEWEGUNG                                     14 Vgl. Rainer Schönhammer, In Bewegung. Zur Psychologie
                                                                    der Fortbewegung, Bd. 1, München 1991, S. 96.
                                                                    15 Vgl. Gerd Kempermann, Die Revolution im Kopf. Wie neue
Reisen hat nicht nur Einfluss auf Wahrnehmung
                                                                    Nervenzellen unser Gehirn ein Leben lang jung halten, München
und Psyche, sondern nachweislich auch auf das                       2016.
Denken und die Kreativität: einerseits durch den                    16 Vgl. Marily Oppezzo/Daniel L. Schwartz, Give Your Ideas
gewonnenen Abstand, der größere Aufmerksam-                         Some Legs: The Positive Effect of Walking on Creative Thinking,
keit ermöglicht, andererseits durch die Bewegung                    in: Journal of Experimental Psychology: Learning, Memory, and
                                                                    Cognition 4/2014, S. 1142–1152.
an sich. Denn äußere Bewegung fördert auch in-
                                                                    17 Vgl. Adam Galinsky/William Maddox, Cultural Borders
nere, geistige Bewegung. Sowohl beim aktiven                        and Mental Barriers. The Relationship between Living Abroad
                                                                    and Creativity, in: Journal of Personality and Social Psycholo-
11 Vgl. Dieter Häußer, Kurzreisen chronisch-psychiatrisch Kran-     gy 5/2009, S. 1047–1061.
ker als effektive soziotherapeutische Maßnahme, in: Psychiatrie,    18 Vgl. Jessica de Bloom et al., Vacation from work. A „Ticket to
Neurologie, Medizinische Psychologie 8/1984, S. 496–502.            Creativity“? The Effects of Recreational Travel on Cognitive Fle-
12 Vgl. Graziella Margherini, La sindrome di Stendhal, Florenz      xibility and Originality, in: Tourism Manangement Jg. 44/2014,
1995.                                                               S. 164–171.
13 Vgl. Yair Bar-el et al., Jerusalem Syndrome, in: British Jour-   19 Vgl. Marvin Zuckerman, Sensation Seeking. Beyond the
nal of Psychiatry 1/2000, S. 86–90.                                 Optimal Level of Arousal, Hillsdale–New York 1979.

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APuZ 50/2021

Doch trotz der Unterschiedlichkeit der Reisen,                nisiert ist. Aber bereits jede Kurzreise ermöglicht
die daraus resultieren, treten bei den Reisenden              es, aus der Alltagshabitualisierung auszubrechen
mit Blick auf Wahrnehmung, Psyche und Denken                  – und ein gelegentlicher Tapetenwechsel tut alle-
dieselben Effekte auf – nur in unterschiedlichem              mal gut, um wieder wacher zu werden und inten-
Ausmaß.                                                       siver wahrzunehmen, auch wenn es keine Aben-
                                                              teuerreise ist. Insbesondere Reisen in Gegenden,
                     ERLEBEN                                  die einem noch unbekannt sind, haben einen
                 UND ERINNERUNG                               klar positiven Einfluss auf Psyche und Denken.
                                                              Oder, wie es der Literaturnobelpreisträger Her-
Reisen ist unter anderem auch wichtig, um blei-               mann Hesse in seinem Gedicht „Stufen“ 1941
bende Erinnerungen zu schaffen. Es ist eine of-               ­ausdrückte:
fene Frage, wie die meisten Menschen sich später
an die Zeit der Covid-19-Pandemie erinnern wer-               Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne (…)
den. Sicherlich werden der Beginn und das Ende                Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
der Pandemie im Gedächtnis bleiben, aber was                  Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen;
dazwischen war, davon wird vermutlich nur we-                 Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
nig haften bleiben, weil tiefe Erinnerungsspuren              Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.21
vor allem durch Lebens- und Erlebnisintensität
und eine mittlere Ereignisdichte entstehen – was              Dies trifft auf die ganz realen Reisen genauso zu
im gleichförmigen Corona-Alltag häufig fehlt.                 wie auf die allegorische Lebensreise. Gäbe es kei-
    Nahezu alle Reisenden berichten, dass die                 nen Tourismus, behauptet etwa der Freizeitfor-
Zeit während der Reise wie im Fluge vergan-                   scher Jost Krippendorf, bräuchten wir viel mehr
gen sei, ihnen in der Erinnerung jedoch sehr lang             Sanatorien und Krankenhäuser.22
vorkomme: In der Rückschau erscheinen Wo-                         Die Corona-Pandemie hat das Reisen seit
chen wie Monate. Hohe Ereignisdichte und Er-                  dem Frühjahr 2020 partiell unmöglich gemacht
lebnisintensität verkürzen die Zeitwahrnehmung                oder zumindest sehr stark eingeschränkt, womit
in der Gegenwart und verlängern sie in der Er-                sich Resonanzräume und Möglichkeiten für neue
innerung.20 Da die Tage beim Reisen oft genau                 Reize deutlich verkleinert haben. Nun tut eine
von dieser Intensität geprägt sind, schwinden sie             Zeit des erzwungenen „Reise-Fastens“ unserer
gleichsam dahin und hinterlassen viele und tiefe              übersättigten Gesellschaft – in begrenztem Maße
Erinnerungsspuren. Es gilt, sich auf Neues ein-               – sicherlich mal ganz gut und könnte die Freu-
zulassen, andere Welten zu entdecken und einzu-               de und den Genuss am Reisen nach der Pandemie
tauchen ins Erleben. Dies geschieht allerdings nur            durchaus intensivieren. Erst nach einer längeren
unter der Voraussetzung, dass die Dichte nicht                Zeit der unfreiwilligen Enthaltsamkeit ist vie-
derart überhandnimmt, dass nichts mehr wahrge-                len bewusst geworden, dass ihnen etwas fehlt –
nommen wird und der eigene mentale „Arbeits-                  und es wurde deutlich, dass Reisen für weit mehr
speicher“ quasi permanent überlastet ist.21                   Aspekte sinnvoll ist als für Erholung. Vielleicht
    Reisemotive und Reisearten gibt es wie den                bringt es die Pandemie also mit sich, dass das Rei-
sprichwörtlichen Sand am Meer. Ob man bei Rei-                sen, wenn es denn wieder uneingeschränkt mög-
sen eher Inspiration oder Kontemplation und Re-               lich ist, wieder mehr im ursprünglichen Sinne ge-
generation oder beides sucht, hängt vom Reise-                lebt und erfahren und nicht nur als Konsumgut
typ, aber auch der aktuellen Lebenssituation ab.              wahrgenommen wird.
Reisen lassen einen buchstäblich wieder aufleben.
Die verschiedenen positiven Effekte treten in be-
sonders starkem Maße auf, je länger die Reise
dauert und je individueller sie gestaltet und orga-

20 Vgl. Zschocke (Anm. 1), S. 206 ff.
                                                              MARTINA ZSCHOCKE
21 Hermann Hesse, Stufen. Alte und neue Gedichte in Aus-
wahl, Frank­furt/M. 1961.
                                                              ist Professorin für Freizeitpsychologie und Freizeitso-
22 Vgl. Jost Krippendorf, Die Ferienmenschen. Für ein neues   ziologie an der Hochschule Zittau/Görlitz.
Verständnis von Freizeit und Reisen, Zürich 1984.             m.zschocke@hszg.de

08
Reisen und Tourismus APuZ

                    EXCURSION MIT FOLGEN
             Die „Orientfahrt“ der „Augusta Victoria“ 1891
              und die Geschichte des Kreuzfahrttourismus
                                     Christian Bunnenberg

Als Heinrich Benrath am frühen Morgen des            Kaiser die Gelegenheit zu einem ausführlichen
22. Januar 1891 aus dem Fenster seines Hotelzim-     Besuch des Schiffes. Wilhelm II. ließ sich von Al-
mers in Cuxhaven blickte, klarte der Himmel all-     bert Ballin, dem Direktor der HAPAG, das Schiff
mählich auf. Eine kurze und unruhige Nacht lag       präsentieren, das er schon wenige Jahre zuvor auf
hinter dem „Specialberichterstatter“ des „Ham-       der Stettiner Vulcan-Werft bewundert hatte. Vom
burgischen Correspondenten“. Der heftige             Promenadendeck ging es zunächst durch den
Nordwest-Sturm war abgeflaut, und die Küsten-        erst- und zweitklassigen Rauchsalon, dann über
landschaft lag unter einer Decke frischen Schnees.   den im Rokoko-Stil gehaltenen Damen- und den
Rechtzeitig fand sich Benrath am Hafenbahnhof        Musiksalon an den Passagierkabinen entlang in
ein, wo pünktlich um 8 Uhr ein prominenter Be-       den großen Saal, wo sich der Kaiser an die Um-
sucher einem Sonderzug entstieg – Kaiser Wil-        stehenden wandte und konstatierte: „Sie sehen,
helm II. besuchte die Hafenstadt links der Elb-      meine Herren, wir können in Deutschland Schif-
mündung in die Nordsee.01                            fe bauen.“ Auf dem Weg zur Kommandobrücke,
    Cuxhaven diente im Winter bei widrigen Wit-      so notierte es sich der anwesende Benrath, ka-
terungsverhältnissen als Nothafen für Hamburg.       men Wilhelm II. und Ballin auf den eigentlichen
In den vergangenen Tagen hatte schwerer Eis-         Grund für das Anlegemanöver zu sprechen – die
gang die Einfahrt in die Elbe fast unmöglich ge-     geplante „Orientfahrt“ der „Augusta Victoria“.04
macht, hinzu kam die stürmische See. Der Kai-            Seit November 1890 hatte die HAPAG wie-
ser wollte sich einen eigenen Eindruck von der       derholt in überregionalen Zeitungen eine „Ex-
Lage verschaffen, wenngleich auch bei nun, wie       cursion nach Italien und dem Orient“ mit dem
die Zeitungen später meldeten, „herrlichstem Kai-    „Doppelschrauben-Schnelldampfer Augusta Vic-
serwetter“,02 und sich zudem über die Planungen      toria“ angekündigt. „Genügende Betheiligung
zum Bau eines neuen Seeschiffhafens informie-        vorausgesetzt“ sollten auf der Rundreise durch
ren, von dem zukünftig die großen Hamburger          das Mittelmeer ab dem 21. Januar 1891 in „ca.
Schnelldampfer ablegen sollten. Einen der größten    50 Tagen“ von Hamburg aus „Southampton, Gi-
von ihnen, den Doppelschraubendampfer „Au-           braltar (Genua nur, wenn eine grössere Zahl von
gusta Victoria“ der Hamburg-Amerikanischen           Reisenden wünschen sollte, erst dort an Bord
Packetfahrt-Actien-Gesellschaft (HAPAG), sah         zu gehen), Alexandria (für Cairo und event. Is-
Wilhelm II. von dem Schiffsanleger aus „majestä-     maillia), Port Said, Jaffa (für Jerusalem), Beirut
tisch in einem vollständig eisfreien, schwarz sich   (für Damaskus), Constantinopel, Athen, Malta
abhebenden Wasserstreifen“ wenige hundert Me-        (durch die Strasse von Messina), Palermo, Neapel
ter vor Cuxhaven auf Reede liegen.03                 (für Rom), Algier, Lissabon“ und schließlich wie-
    Erfreut bemerkte der Monarch, der ein aus-       der Southampton und Hamburg angelaufen wer-
geprägtes Faible für alles Maritime hatte, an dem    den. Für die Mitfahrenden waren ausschließlich
aus den drei gelben Schornsteinen aufsteigenden      Kabinenplätze in der 1. Klasse vorgesehen, für die
Dampf, dass das Schiff kurz davor war, an den        „je nach Lage und Grösse“ ein „Passagepreis ein-
Landungsbrücken anzulegen. Mit diesem Ma-            schließlich vollständiger Verpflegung“ von 1600
növer, das wohlvorbereitet und mitnichten so         bis 2400 Mark aufgerufen wurde – immerhin das
spontan stattfand, wie es den Anschein erweckte,     Drei- bis Vierfache eines durchschnittlichen Jah-
verband sich zweierlei: Zum einen bot sich dem       resverdiensts im Deutschen Kaiserreich.05

                                                                                                      09
APuZ 50/2021

    Nachdem Ballin die Nachfrage des Monar-                        doch] auch größerer Erholung“ bedürfe und des-
chen, ob denn alkoholische Getränke im Preis                       halb verreise, um Abstand zum Alltag gewinnen
eingeschlossen seien, verneinte, setzte der darauf-                zu können. Letztlich entscheide aber über den
hin heiter gestimmte Wilhelm II. – „Ah, Sie rech-                  Erfolg, ob die Erholungssuchenden unter reisen
nen auf den Durst Meiner guten Deutschen“ – die                    den dauerhaften Aufenthalt an einem anderen
Besichtigungsrunde fort, bevor er wieder12345 abreis-              Ort oder aber eine „dauernde Fortbewegung, will
te.06 Zeitgleich verließ ein anderer Sonderzug den                 sagen beständiger Wechsel von Eisenbahnen und
Venloer Bahnhof in Hamburg und brachte die                         Hotels, woran sich Bergerkletterungen und ähn-
meisten Passagiere der „Augusta Victoria“ nach                     liches bloß anschließen“, verstünden. Dem „halb-
Cuxhaven, wo sie zwar zu ihrem großen Bedau-                       nomadischen“ Leben der Sommerfrischler zeig-
ern die Abreise des Kaisers verpassten, dafür aber                 te sich Fontane zwar mehr zugetan, doch auch
wohlgelaunt an Bord gingen und erwartungsfroh                      dem „vollnomadisch“ Reisenden, dem Touris-
ihre „Excursion“ antraten, die, nicht ganz un-                     ten, gestand er dessen spezifischen Reisedrang zu.
umstritten, als erste (deutsche) Kreuzfahrtreise                   Letzterer sei aber im Gegensatz zu den Sommer-
in die Geschichte eingehen sollte. Dem Beispiel                    frischlern ständig wechselnden Wirten, Mietskut-
der etwa 240 Reisenden von 1891 folgten seitdem                    schern und Führern und deren „Gewinnsucht
Millionen Kreuzfahrttouristen, allein in Deutsch-                  und Rücksichtslosigkeit“ ausgesetzt und müs-
land buchten 2019 mehr als 2,5 Millionen Men-                      se sich angesichts schlechter Leistung bei hohen
schen eine Kreuzfahrtreise, 17 Prozent mehr als                    Kosten letztlich resilient zeigen – ob das die Er-
im Vorjahr. Erst die Covid-19-Pandemie been-                       holung fördere, zog Fontane in Zweifel.07
dete diesen Boom des Kreuzfahrtmarktes – welt-                          In Fontanes Text, Loblied auf die Erholungs-
weit und mit erheblichen Einschränkungen für                       reise und Tourismuskritik zugleich, spiegelt sich
die gesamte Branche.                                               geradezu idealtypisch die Entwicklung des Tou-
                                                                   rismus zu Beginn des letzten Drittels des langen
                 MODERNES REISEN                                   19. Jahrhunderts zwischen der Französischen
                                                                   Revolution von 1789 und dem Beginn des Ers-
„Zu den Eigentümlichkeiten unserer Zeit gehört                     ten Weltkriegs 1914 wider. Der Begriff „Tourist“
das Massenreisen“, notierte der Schriftsteller und                 für Reisende, deren Reise einzig dem Selbstzweck
Journalist Theodor Fontane 1873 in einem Manu-                     dient, findet sich ab 1800 in Wörterbüchern. Er
skript, das Jahre später unter dem Titel „Moder-                   ist angelehnt an die als „Grand Tour“ bezeichnete
nes Reisen. Eine Plauderei“ veröffentlicht werden                  Rundreise junger europäischer Adeliger, die seit
sollte. Wären früher nur „bevorzugte Individu-                     dem späten 18. Jahrhundert von dem aufkom-
en“ verreist, so sei „jetzt jeder und jede“ unter-                 menden Bürgertum nachgeahmt wurde und sich
wegs, gehörten Gespräche über vergangene und                       schließlich im 19. Jahrhundert, ihren ursprüngli-
zukünftige Reiseziele zum Alltag – wenngleich                      chen Erziehungs- und Bildungscharakter einbü-
auch nur in privilegierten und begüterten Krei-                    ßend, zur Erholungsreise breiter Schichten wan-
sen der Gesellschaft. Für Fontane stand es au-                     delte. Aber schon um 1900 müssen sich Touristen
ßer Frage, dass zwar auch „Mode und Eitelkeit“                     von vermeintlich echten Reisenden als „billiger
ihren Anteil an dieser Entwicklung hätten, „der                    Reisepöbel“ oder „Sightseeing-Volk“ beschimp-
moderne Mensch, angestrengter wie er wird, [je-                    fen lassen.08
                                                                        Dass das Reisen gegen Ende des 18. Jahrhun-
01 Vgl. Heinrich Benrath, Mit der „Augusta Victoria“ ins Mittel-   derts seine Zweckhaftigkeit verlor, wurde, so der
meer vom 22. Januar bis 21. März 1891. Reisebriefe, Hamburg        Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger in sei-
1891.
                                                                   ner Theorie des Tourismus, „durch eine ganz spe-
02 Der Kaiser in Cuxhaven, in: Cuxhavener Tagesblatt,
23. 1. 1891.
                                                                   zifische historische Situation“ begünstigt, deren
03 Der Kaiser in Cuxhaven, in: Hamburgischer Correspondent,
24. 1. 1891.                                                       07 Alle Zitate aus Theodor Fontane, Modernes Reisen. Eine
04 Vgl. Benrath (Anm. 1), S. 7, Zitat Wilhelm II. ebd.             Plauderei (1873), in: ders., Von vor und nach der Reise, Berlin
05 Deutschsprachige Anzeigen zum Beispiel im Hambur-               1894, S. 1–16.
ger Fremdenblatt, 8. 11. 1891, oder der Dresdner Zeitung,          08 Vgl. Burkhart Lauterbach, Tourismus. Eine Einführung
15. 11. 1891. Hinzu kamen noch englischsprachige Anzeigen in       aus Sicht der volkskundlichen Kulturwissenschaft, Würzburg
Großbritannien und den USA.                                        2006, S. 14; Alexander Innes Shand, Old Time Travel, London
06 Zit. nach Benrath (Anm. 1), S. 7.                               1903.

10
Reisen und Tourismus APuZ

Komponenten sich benennen, aber nicht ursäch-
lich hierarchisieren lassen: „die geschichtliche
Situation, aus der der Tourismus hervorgegan-
gen ist, [kann] als ein Syndrom politischer, so-
zialer, wirtschaftlicher, technischer und geistiger
Züge, deren Gemeinsames in ihrem revolutionä-
ren Wesen liegt“ beschrieben werden.09 Die Ro-
mantik erhob (vermeintlich) unberührte und ur-
sprüngliche Landschaften wie Berge und Meere
zu Sehnsuchtsorten, die Industrielle Revoluti-
on veränderte einschneidend Gesellschaften, und
mit Eisenbahnen und Dampfschiffen ließen sich
Räume schrumpfen und Massen bewegen; der
aufkommende Tourismus war damit zugleich
Ausdruck dieser neuen Umstände und Fluchtbe-                       Die „Augusta Victoria“ zwischen 1889 und 1897,
wegung von ihnen fort.                                             fotografiert von John S. Johnson.
    So tummelten sich in der ersten Hälfte des                     Quelle: Library of Congress
19. Jahrhunderts im Rheintal als frühem touristi-
schen Hotspot zwischen Koblenz und Köln zu-
nächst englische Touristen, häufig mit einem neu-                  sichtigung aller Sehenswürdigkeiten einschl. Be-
en Medium in der Hand, dem Reiseführer. Das                        förderung sowie im Programm vorgesehene
„Red Book“ von John Murray und die ebenfalls                       Ausflüge“. Auch die HAPAG fand Erwähnung;
roten Reisehandbücher von Karl Baedeker struk-                     sie lege seit 1891 den Hauptwert auf Schiffsreisen
turierten und erschlossen die Welt für die ver-                    mit „geschwinden und vorzüglich ausgestatteten
gleichsweise wohlhabenden Individualtouris-                        Schnelldampfern“, sorge aber für die Reisenden
ten, während der baptistische Missionar Thomas                     nur „während deren Aufenthalt auf dem Schiff“
Cook 1841 die Pauschalreise erfand und für ei-                     und überließe die Organisation der Landausflü-
nen Festpreis einen Tagesausflug mit der Eisen-                    ge Reisebüros.
bahn organisierte, Schinkenbrot und Tee inklu-
sive.10 Das Reiseunternehmen Thomas Cook &                                           ERFINDUNG DER
Son sollte nur wenige Jahre später Weltmarktfüh-                                     KREUZFAHRTREISE
rer im Tourismusbereich sein.
    Ende des 19. Jahrhunderts galt die „Gesell-                    Der Hamburger Journalist Heinrich Egon Wallsee,
schaftsreise“ als akzeptierte Form der Reise-                      1891 ebenfalls Teilnehmer der „Orientfahrt“ auf
organisation. Die 6. Auflage von Meyers Kon-                       der „Augusta Victoria“, schrieb in seinen Reise­
versationslexikon (1902–1908) definierte die                       erinnerungen, bislang sei es nur in der Phantasie
Gesellschaftsreise als „Unternehmen, dessen Ver-                   eines Schriftstellers möglich gewesen, dass „eine
anstalter (…) eine Anzahl Reiselustiger vereini-                   auf Reisen gehende, mehrhundertköpfige Gesell-
gen, um sie unter einheitlicher Leitung nach ei-                   schaft einen schwimmenden Prunkbau mit sich
nem vorher bekannt gegebenen Programm nach                         nimmt, wie die Schnecke ihr Haus“.11 Als Refe-
interessanten Orten und Gegenden des In- und                       renz führte er den Schriftsteller Mark Twain an,
Auslands (…) zu führen“. Für einen Festpreis er-                   der 1867 an einer mehrmonatigen Gruppenreise
hielten die Reisenden „freie Fahrt, Ab- und Zu-                    auf einem gecharterten Raddampfer teilgenom-
gänge von und nach den Stationen, Gepäckbe-                        men hatte, die ihn zu Zielen im gesamten Mittel-
sorgung, Unterkommen mit voller Verpflegung                        meerraum führte. Als Höhepunkt der Reise galt
einschl. Trinkgelder (jedoch ohne Wein und Hei-                    der Aufenthalt in Palästina. Neben Zeitungsar-
zung), orts- und sprachkundige Führer, freie Be-                   tikeln verfasste Twain zu dieser Reise auch ein
                                                                   Buch, das 1869 unter dem Titel „The Innocents
                                                                   Abroad“ (deutscher Titel: „Die Arglosen im Aus-
09 Hans Magnus Enzensberger, Vergebliche Brandung der Fer-
ne. Eine Theorie des Tourismus, in: Merkur 8/1958, S. 701–720.
10 Vgl. Susanne Müller, Die Welt des Baedeker. Eine Medien-        11 Heinrich Egon Wallsee, Modernes Reisen. Die Orientfahrt
kulturgeschichte des Reiseführers 1830–1945, Frank­furt/M. 2012.   der „Augusta Victoria“, Hamburg 1891, S. 5.

                                                                                                                                11
APuZ 50/2021

land“) erschien. Wallsee konnte sich aber anschei-             und neu, wie entzückend geplante Rundreise
nend nicht vorstellen, dass diese Reise tatsächlich            nach den Gestaden des Mittelmeers bis nach der
stattgefunden hatte.                                           Sultanstadt am Bosporus“ auszurichten, waren
     Und in der Tat war die „Excursion“ der „Au-               der HAPAG sicher.13
gusta Victoria“ die erste deutsche Kreuzfahrtrei-                  Das Unternehmen sprach mit diesem Vorha-
se ins Mittelmeer. Die erste Kreuzfahrtreise über-             ben gleich mehrere Vorlieben und Bedürfnisse
haupt war sie hingegen nicht. Norwegische und                  reisender Zeitgenossinnen und Zeitgenossen an.
britische Reedereien unternahmen seit spätestens               Die in der Retrospektive „exotisch“ anmutenden
1875 gelegentlich Kreuzfahrtreisen und nutz-                   Ziele wirken weniger spektakulär, wenn man sich
ten für diese pleasure cruises sogar eigens gebau-             die Annoncen für Nilkreuzfahrten in damaligen
te oder umgebaute Schiffe. Und noch im Jahr vor                deutschen Tageszeitungen vergegenwärtigt, die
der „Orientfahrt“ der „Augusta Victoria“ hatte                 von Thomas Cook & Son oder dem Berliner Rei-
die Bremer Reederei Norddeutscher Lloyd eine                   sebüro von Carl Stangen ausgerichtet wurden.14
14-tägige Kreuzfahrt nach Norwegen veranstal-                  Der Verlauf solcher Reisen war ebenfalls be-
tet. Dass die Reise auf der „Augusta Victoria“ bis             kannt, beispielsweise durch die überaus erfolgrei-
in die Gegenwart als Beginn des Kreuzfahrttou-                 che Reisebeschreibung „Frau Buchholz im Ori-
rismus gesetzt wird,12 liegt in mehreren Aspekten              ent“ von Julius Stinde, der an einer von Stangen
begründet. Einer ist die große öffentliche Auf-                organisierten Reise teilgenommen hatte.15 Die-
merksamkeit, die der Fahrt zuteilwurde.                        se und weitere Reiseerzählungen (man denke an
     Die Idee zur Reise war zunächst aus der Not               Karl Mays „Orientzyklus“), Genremalerei, Vor-
geboren. So hatte die wirtschaftlich angeschlage-              träge, Sachbücher und Reiseführer sorgten für
ne HAPAG auf Drängen Albert Ballins, der ab                    eine breite „Orient-Begeisterung“; sie brachten
1886 zunächst als Leiter der Passagier-Abteilung               die Ferne in die Heimat und lockten zugleich in
tätig war und 1888 als 31-Jähriger in den Vorstand             die Ferne – mit romantischen Traumbildern, ko-
berufen wurde, vier moderne Schnelldampfer für                 lonialen Phantasien und eurozentrischen Welt-
den Post- und Passagierdienst nach New York                    vorstellungen im Gepäck.16
angeschafft. Diese Schiffe versprachen durch den                   Mit dem Doppelschraubendampfer wuss-
neuen Doppelschraubenantrieb nicht nur mehr                    te die HAPAG auf zwei Feldern zu überzeugen.
Sicherheit, sie waren auch vergleichsweise lu-                 Zum einen wurde, ganz im Geiste der Zeit, der
xuriös ausgestattet; zumindest in den Bereichen                hohe Sicherheitsstandard der „Augusta Victoria“
für die 1. und 2. Klasse. Aber selbst die von Aus-             betont, zum anderen die gehobene Ausstattung,
wanderinnen und Auswanderern häufig genutz-                    für die wiederholt das Bild des schwimmenden
te 3. Klasse bot bescheidenen Komfort. Da das                  Grandhotels bemüht wurde. Das Schiff stand da-
Auswanderergeschäft konjunkturellen Schwan-                    mit für ein modernes und komfortables Trans-
kungen unterlag, die Transatlantikrouten nur sai-              portmittel, das in dem Format einer „Vergnü-
sonal betrieben wurden und die Elbe im Winter                  gungsreise“, in Anlehnung an Theodor Fontane,
für Schiffe dieser Größenordnung bis Hamburg                   zudem die Bodenständigkeit der Sommerfrische
nur bedingt schiffbar war, lagen die kostspieli-               und den Eskapismus der Sommerreise auf attrak-
gen Neuanschaffungen im Winter 1890 auf Ree-                   tive Weise in Einklang zu bringen wusste.
de. Der Entschluss, eine Kreuzfahrt zu organisie-                  Hinter dieser neuen Attraktivität maritimen
ren, war also letztlich wirtschaftlich begründet.              Reisens sollten die zuvor herrschenden Gefahren
Das öffentliche Interesse und die Begeisterung
darüber, „wenigstens einen dieser prachtvollen
                                                               13 Wallsee (Anm. 11), Einleitung.
Schnelldampfer auch einem größeren, nicht nach
                                                               14 Für ein Beispiel siehe die Werbung für eine Nilkreuz-
America reisenden Publikum einmal vorzufüh-                    fahrt von Thomas Cook & Son im Hamburger Fremdenblatt,
ren“ und zu diesem Zwecke „eine ebenso kühn                    31. 10. 1890.
                                                               15 Vgl. Julius Stinde, Frau Buchholz im Orient, Berlin 1888. Von
                                                               dem Buch wurden in drei Monaten 19 Auflagen gedruckt.
12 Beispiele hierfür sind Jürgen Elvert, Europa, das Meer      16 Vgl. Nana Badenberg, Ägyptenreisen auf den Spuren von
und die Welt. Eine maritime Geschichte der Neuzeit, München    Virchow und Schliemann. 1888: Julius Stindes Frau Buchholz
2018, S. 460; Arnold Kludas, Vergnügungsreisen zur See. Eine   im Orient, in: Alexander Honold/Klaus R. Scherpe (Hrsg.), Mit
Geschichte der deutschen Kreuzfahrt, Bd. 1: 1889–1939, Bre-    Deutschland um die Welt. Eine Kulturgeschichte des Fremden in
merhaven 2001, S. 16.                                          der Kolonialzeit, Stuttgart 2004, S. 106–114.

12
Reisen und Tourismus APuZ

Die Zeichnung von Christian Wilhelm Allers zeigt Kreuzfahrtpassagiere der „Augusta Victoria“ bei der
Besichtigung der „Alabaster-Moschee“ in Kairo, in ihren Händen Reiseführer. In der Bildmitte ein „Englischer
Posten am Thor der Citadelle“.
Quelle: Christian Wilhelm Allers, Backschisch. Erinnerungen an die Reise der Augusta Victoria in den Orient, Hamburg 1891.

und Härten einer Schiffsreise verblassen.17 Die                    Zeichner Christian Wilhelm Allers mit an Bord,
HAPAG zeigte daher großes Engagement für eine                      der ein illustriertes Reisetagebuch anfertigte und
breite und vor allem positive Berichterstattung                    damit Johann Heinrich Strumper perfekt ergänz-
über die „Excursion ins Mittelmeer“. Neben Ben-                    te, der vor allem die Reiseziele und ausgewählte
rath und Wallsee fuhren noch weitere Journalisten                  Episoden des Bordlebens fotografisch dokumen-
mit: C. Jahnel von der „Norddeutschen Allgemei-                    tierte. Das, und nicht zuletzt der Umstand, dass
nen Zeitung“ sowie H. Weth vom „Hamburger                          Ballin höchstpersönlich die Reise begleitete, sollte
Fremdenblatt“ und „Berliner Börsen-Kurier“.                        sicherstellen, dass die Kreuzfahrt mit der „Augus-
Neben ihren Reisereportagen legten alle bis auf                    ta Victoria“ ein Erfolg werden würde. Vor diesem
Jahnel noch im selben Jahr jeweils einen Reisebe-                  Hintergrund sind auch die um einen Tag verzö-
richt als Buch vor.18 Weiterhin ging der bekannte                  gerte Abfahrt und der Besuch des Kaisers an Bord
                                                                   des abgehenden Schiffes zu bewerten.

17 Für einen Überblick vgl. Dagmar Bellmann, Von Höllenge-                          DIE „EXCURSION
fährten zu schwimmenden Palästen. Die Passagierschifffahrt auf
                                                                                 NACH DEM MITTELMEER“
dem Atlantik 1840–1930, Frank­furt/M. 2015.
18 Vgl. Benrath (Anm. 1); Wallsee (Anm. 11); H. Weth, Die
Orient-Reise der Augusta Victoria vom Januar bis März 1891,        Mit dem Schiff betraten die Passagiere am 22. Ja-
Hamburg 1891.                                                      nuar 1891 nicht nur ihre Unterkunft für die kom-

                                                                                                                             13
APuZ 50/2021

menden Wochen, sondern auch eine ihnen zumeist                   konnte. Schon bald ermunterte deshalb ein eilends
völlig fremde Welt. Sogar dem Zeichner Allers fiel               eingesetztes „Damencomité“ die „Reisegenossin-
die Orientierung zunächst schwer, obwohl er in                   nen“, „gemeinsam durch Unterschrift erklären
der Kaiserlichen Marine gedient hatte. In seiner                 zu wollen, dass sie einen militärischen Gruss der
Kabine angekommen, einem kleinen Raum mit                        Herren während der Fahrt für angebrachter halten
schmalen Schränken und zwei übereinander ange-                   würden, als das unter Umständen sehr unbeque-
brachten Betten, bestaunte er zunächst die Wasch-                me Abnehmen der Kopf­bedeckung“.20
becken mit fließend kaltem und warmem Wasser                         Auf See strukturierten die Mahlzeiten den Ta-
sowie das elektrische Licht – was für ein Luxus!19               gesablauf. Die erste Ausgabe der an Bord gedruck-
Die meisten Passagiere teilten sich eine Kabine mit              ten „Augusta-Victoria-Zeitung“ informierte die
einem ihnen fremden Mitreisenden; Bäder und                      Passagiere über den neuen Rhythmus ihres Alltags:
Toiletten waren als Gemeinschaftseinrichtungen                   Um 7.45 Uhr drehte der „Gong-Steward“ seine
über den Flur gut zu erreichen, und für die Be-                  Runde über alle Decks, schlug zunächst den Weck-
nutzung der Badewannen konnte man sich beim                      ruf, und um 8 Uhr zum reichhaltigen Frühstück
Bade­steward auf eine Terminliste setzen lassen.                 – „Kaffee, Thee, Chokolade nach Wahl, Beefsteak,
    Das Leben der Reisenden spielte sich vor allem               Eier in allen Gestalten, Pfannkuchen, Schinken
auf dem Hauptdeck, dem Oberdeck und dem Pro-                     und allen möglichen Aufschnitt, alle Sorten Brot
menadendeck ab; weniger in den Kabinen als viel-                 und köstliche Butter“.21 Ein zweites Frühstück mit
mehr in den Salons, dem großen Speisesaal oder in                Suppe, zwei bis drei Fleischspeisen und Nachtisch
den Außenbereichen. Mehr als 70 Stewards, ein Arzt               wurden um 12 Uhr gereicht, das Diner als Haupt-
nebst Gehilfen, ein Friseur und 21 Köche kümmer-                 mahlzeit um 18 Uhr. Akribisch notierte sich Ben-
ten sich um das Wohlbefinden der Passagiere. Eini-               rath die verbrauchten Lebensmittel: unter anderem
ge von ihnen spielten zudem in der Bordkapelle, die              2378 Pfund Schinken, 11 950 Austern, 43 700 Eier
auf dieser Reise bei sprichwörtlich jedem Wind und               und 700 Rehrücken.22 Zwischen den Mahlzeiten
Wetter musizierte. Dem Kapitän, einer unnahbaren                 ging man auf Deck spazieren, schrieb Briefe, las,
wie unantastbaren Respektsperson, unterstanden                   malte, fotografierte, führte Unterhaltungen, plante
ein halbes Dutzend Offiziere sowie 35 Bootsleu-                  die Landausflüge oder vertrieb sich die Zeit in den
te und Matrosen. Für die meisten Gäste unsichtbar                Salons mit Cocktails, Bier und Skat. Mitunter or-
blieben hingegen die insgesamt fast 150 Maschinis-               ganisierten die Passagiere Tanzabende und Kunst-
ten, Heizer und Kohlenzieher, die auf den unteren                ausstellungen mit Verlosung. Der Erlös kam der
Decks des knapp 145 Meter langen und 17 Meter                    Witwenkasse der Besatzung zugute.
breiten Schiffs die beiden Dampfmaschinen mit ins-                   In den Häfen begaben sich die meisten Passa-
gesamt 14 110 PS am Laufen hielten.                              giere auf Landausflüge, gebucht an Bord bei dem
    Der typische Passagier auf der „Augusta Vic-                 Agenten der Firma Thomas Cook & Son, deren
toria“ war ein männlicher bürgerlicher Allein-                   touristische Infrastruktur angesichts der Gruppen-
reisender aus Deutschland. So gab es unter den                   größe wiederholt an ihre Grenzen stieß. Bis ins Mit-
insgesamt rund 240 Gästen, die in Cuxhaven, Sou-                 telmeer hatten die Reisenden mit schlechtem und
thampton und Genua an Bord gingen und mehr-                      kaltem Wetter, Sturm in der Biskaya und Seekrank-
heitlich aus Deutschland, den USA, Großbritan-                   heit zu kämpfen. Mit dem Reiseführer unter dem
nien, den Niederlanden, Frankreich, der Schweiz                  Arm wurden aber schon wenig später die Pyrami-
und Norwegen stammten, nur wenige Ehepaare,                      den besucht, Jerusalem und Konstantinopel besich-
keine Kinder, wenige Jugendliche und kaum al-                    tigt, die Akropolis bestaunt und der Vesuv bestie-
lein reisende Damen, dafür aber mehrere Väter                    gen. In den Reiseberichten und Tagebuchnotizen
mit Töchtern in heiratsfähigem Alter. Die Rechts-                werden die intensiven Eindrücke betont, zum Ende
anwälte, Offiziere, Unternehmer, Stadt- und                      der Reise hin zeugen sie aber auch von Ermüdungs-
Kommerzienräte, Rittergutsbesitzer, Architek-                    erscheinungen und Übersättigung. Die Rückkehr
ten, Kaufleute und Direktoren pflegten zumeist                   nach Hamburg geriet zu einem triumphalen Ein-
bürgerliche Umgangsformen, was angesichts der                    laufen – dank der laufenden Presseberichterstat-
Enge des Schiffes durchaus anstrengend werden
                                                                 20 Augusta-Victoria-Zeitung, 3. 2. 1891.
19 Vgl. Christian Wilhelm Allers, Backschisch. Erinnerungen an   21 Weth (Anm. 18), S. 16.
die Reise der Augusta Victoria in den Orient, Hamburg 1891.      22 Vgl. Benrath (Anm. 1), S. 159.

14
Reisen und Tourismus APuZ

tung war die Öffentlichkeit detailliert über den Ab-                Während in der Weimarer Zeit und in der Bun-
lauf der Reise informiert, und der Kaiser schickte              desrepublik der Kreuzfahrttourismus weiterhin
ein Glückwunschtelegramm „zur Beendigung der                    den betuchten Reisenden vorbehalten blieb, ziel-
schönen Reise der Augusta Victoria“.23 Mehr Wer-                ten die staatlich organisierten Kreuzfahrten in den
bung für dieses Reiseformat ging nicht.                         beiden deutschen Diktaturen auf eine Öffnung
                                                                dieses touristischen Formats für die „Volksge-
                  TRAUMREISEN                                   nossen“ oder „Arbeiter und Bauern“. Auch wenn
                 VON DER STANGE                                 die Teilnehmenden an diesen Reisen letztlich nur
                                                                eine zumeist handverlesene und überwachte ge-
Auch wenn die „Orientfahrt“ der „Augusta Vic-                   sellschaftliche Minderheit war, schufen die pro-
toria“ nicht die erste Kreuzfahrtreise gewesen                  pagandistischen Bilder der nationalsozialistischen
sein mag, so markiert sie trotzdem den Beginn                   KdF-Fahrten oder der Reisen auf dem DDR-
des Kreuzfahrttourismus im eigentlichen Sinne.                  Kreuzfahrtschiff „Völkerfreundschaft“ einen
Die Reise als touristisches Produkt des 19. Jahr-               Sehnsuchtsort, der im bundesrepublikanischen
hunderts lässt sich, so erneut Enzensberger, mit                Teil Deutschlands seit 1981 durch die Fernsehsen-
Begriffen aus der industriellen Fertigung be-                   dung „Traumschiff“ weiter gefestigt wurde.24
schreiben. Zunächst bedarf es genormter Einzel-                     Nach der Wiedervereinigung 1990 etablier-
elemente, im Fall des Tourismus sind das ganz all-              te die Kreuzfahrtmarke Aida Cruises mit dem
gemein Sehenswürdigkeiten, deren Besichtigung                   Konzept des Clubschiffs US-amerikanische
letztlich auch das vermeintlich zweckfreie Reisen               Spielarten der Kreuzfahrt am deutschen Markt
wieder mit einem Zweck auflud. Eine touristische                und erreichte damit neue Kundenkreise. In den
Reise entsteht durch die Montage ausgewählter                   2000er Jahren setzte in der Kreuzfahrtbranche
Sehenswürdigkeiten und kann, abhängig von den                   ein erstaunlicher Boom ein, trotz Kritik an der
Erwartungen und Bedürfnissen der Reisenden,                     Umweltunverträglichkeit von Kreuzfahrtschiffen
immer wieder neu zusammengesetzt werden. Um                     und dem Aspekt des overtourism. Kritik gab es
diese Reisen wirtschaftlich ertragreich zu gestal-              indes auch schon 1911, als in dem Baedeker zu
ten, versuchten Reiseunternehmen fortan, die aus                Schweden und Norwegen der Hinweis enthalten
genormten Elementen montierten Produkte in                      war, dass es für andere Reisende unangenehm sei,
die Serienfertigung zu geben.2456                               „in den Strom der aus den Vergnügungsdampfern
    Der tatsächliche oder herbeigeschriebene Er-                an Land gehenden Scharen zu geraten, da diese
folg der „Excursion“ von 1891 bestärkte Albert                  bisweilen alle Wagen in Anspruch nehmen und
Ballin und die HAPAG nicht nur darin, von nun                   die Gasthäuser immer füllen“.25 Auch in Zeiten
an jährlich eine Kreuzfahrt ins Mittelmeer an-                  des frühen Massentourismus waren die lästigen
zubieten, sondern eine eigene Sparte innerhalb                  Touristen anscheinend immer nur die anderen.
des Unternehmens aufzubauen, mit Reisen nach                        Doch die Begeisterung für dieses touristische
Norwegen und in die Karibik, einem speziell für                 Reiseformat hält ungebrochen an, sogar trotz der
diese Aufgabe gebauten Schiff und umfangreichen                 Covid-19-Pandemie. Und so wird manche Tou-
Werbematerialien. Die Nachfrage nach Kreuz-                     ristin und mancher Tourist am Ende einer Kreuz-
fahrtreisen war so groß, dass mehrere Anbieter                  fahrtreise ebenso wie der Journalist H. Weth nach
in diesem Markt tätig sein konnten. Die schwim-                 der „Orientfahrt“ der „Augusta Victoria“ von
menden Grandhotels boten kontrollierten Eska-                   1891 auf die Frage „Wie hat Ihnen die Reise gefal-
pismus mit doppeltem Boden und schrieben eine                   len?“ antworten: „Prachtvoll von Anfang bis zum
touristische Erfolgsgeschichte, die erst mit dem                Ende. Selten hat noch eine Partie von Touristen
Ersten Weltkrieg ihr vorläufiges Ende fand.                     in so kurzer Zeit so Vieles und so Herrliches ge-
                                                                sehen, wie wir, und so hübsch, so bequem, so mit
23 Hamburger Correspondent, 24. 3. 1891.                        Fürsorge und Luxus umgeben, hat sie es über-
24 Für die DDR vgl. Andreas Stirn, Traumschiffe des Sozialis-   haupt noch nicht.“26
mus. Die Geschichte der DDR-Urlauberschiffe 1953–1990, Berlin
2011, S. 110 ff.
                                                                CHRISTIAN BUNNENBERG
25 Karl Baedeker, Handbuch für Reisende. Schweden, Norwe-
gen nebst den Reiserouten durch Dänemark und Ausflügen nach
                                                                ist Professor für Didaktik der Geschichte und Public
Island und Spitzbergen, Leipzig 1911, S. XVIII.                 History an der Ruhr-Universität Bochum.
26 Weth (Anm. 18), S. 224.                                      christian.bunnenberg@ruhr-​uni-​bochum.de

                                                                                                                   15
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