AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Krieg in der Ukraine - BPB
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73. Jahrgang, 10–11/2023, 6. März 2023 AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE Krieg in der Ukraine Gwendolyn Sasse · Julia Grauvogel · Volodymyr Yermolenko · Tanja Penter Christian von Soest 24. FEBRUAR 2022: ERFOLG UND GRENZEN EIN JAHR DANACH DER SANKTIONSPOLITIK Nicole Deitelhoff André Härtel WIE LÄSST SICH DIMENSIONEN DER KRIEG BEENDEN? DES WIEDERAUFBAUS Michael Müller · Peter Brandt · Martin Wengeler Reiner Braun REDEN ÜBER FRIEDEN SCHAFFEN DEN KRIEG Franziska Davies ENDE DER OSTPOLITIK? Der APuZ-Podcast ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE dcast FÜR POLITISCHE BILDUNG bpb.de/apuz-po Beilage zur Wochenzeitung
Krieg in der Ukraine APuZ 10–11/2023 GWENDOLYN SASSE · VOLODYMYR JULIA GRAUVOGEL · CHRISTIAN VON SOEST YERMOLENKO · TANJA PENTER ERFOLG UND GRENZEN DER 24. FEBRUAR 2022: EIN JAHR DANACH SANKTIONSPOLITIK Das Kriegsjahr 2022 in der Ukraine war geprägt Westliche Staaten haben bemerkenswert schnell von großem Leid. Zugleich brachte es neue mit harten Sanktionen auf die Invasion Russ- und mitunter überraschende Erkenntnisse. lands in die Ukraine reagiert. Nach einem Jahr Drei unterschiedliche Perspektiven auf einen zeigen sich erste Wirkungen der Zwangsmaß- Krieg, den vor einem Jahr nur die wenigsten für nahmen, die Erwartungen an dieses Instrument möglich gehalten hatten. sollten aber realistisch bleiben. Seite 04–11 Seite 33–39 NICOLE DEITELHOFF ANDRÉ HÄRTEL WIE LÄSST SICH DER KRIEG BEENDEN? DIMENSIONEN DES WIEDERAUFBAUS Ein baldiges Ende des Krieges in der Ukraine Anders als in der Ukraine selbst hat die wird zunehmend unwahrscheinlicher. Statt Wiederaufbaudebatte international an Schwung einer Verhandlungslösung zeichnet sich ein verloren. Dabei wären wegen der Komplexität langer Abnutzungskrieg ab, in dem die Ukraine des Unterfangens frühzeitige Planungen not- auf Jahre hinaus wirtschaftlich, finanziell und wendig, um die Wiederaufbaukampagne mit den militärisch unterstützt werden muss. 2014 begonnenen Reformen zu verknüpfen. Seite 14–19 Seite 40–45 MICHAEL MÜLLER · PETER BRANDT · MARTIN WENGELER REINER BRAUN REDEN ÜBER DEN KRIEG FRIEDEN SCHAFFEN Die „Zeitenwende“-Reden aus dem Februar Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine 2022 reihen sich trotz mancher Unterschiede ist nicht zu rechtfertigen, aber er hat eine in die Tradition deutscher Kriegs- und Aufrüs- komplexe und komplizierte Vorgeschichte sowie tungsreden ein. Die politischen Herausforderun- weitreichende Folgen für die zusammengewach- gen mögen neue sein, auf sprachlich-rhetorischer sene Welt. Gerade Deutschland muss mehr tun Ebene ist vieles schon einmal dagewesen. für eine gesamteuropäische Friedensarchitektur. Seite 47–53 Seite 20–26 FRANZISKA DAVIES ENDE DER OSTPOLITIK? Die Ostpolitik der 1970er und 1980er Jahre hat nicht nur die deutsche Sozialdemokratie, sondern auch die gesamte Außenpolitik über viele Jahre nachhaltig geprägt. Die mit ihr verbundene Russlandfixierung hat sowohl der Ukraine als auch uns selbst geschadet. Seite 28–32
EDITORIAL Seit mehr als einem Jahr herrscht Krieg in der gesamten Ukraine. Nach Schät- zungen der Vereinten Nationen und von westlichen Geheimdiensten sind dem russischen Angriffskrieg bislang Zehntausende Frauen, Männer und Kinder in der ukrainischen Zivilgesellschaft und noch einmal deutlich mehr Soldaten auf beiden Kriegsseiten zum Opfer gefallen. Fast acht Millionen Menschen haben die Ukraine mittlerweile verlassen, weitere sechs Millionen wurden zu Binnen- flüchtlingen. Der Alptraum, der für viele Menschen in der Ukraine bereits 2014 begann, hält unvermindert an. Sein Ende ist nicht abzusehen. Selten war in der jüngeren europäischen Geschichte die Illegitimität eines kriegerischen Angriffs so eindeutig wie in diesem Fall, waren Aggressor und Opfer so klar identifizierbar. Die moralische Pflicht, den Angegriffenen zur Seite zu stehen, kann daher nicht infrage stehen. Dass aber über Ausmaß, Form und Ziel der Hilfe diskutiert, mitunter auch heftig polemisiert wird, gehört in einer offenen Gesellschaft zur Auseinandersetzung dazu. Auch die Frage, wie es zu diesem Krieg gekommen ist und welche Lehren daraus für die Zukunft gezogen werden können, ist legitimer Gegenstand konstruktiven Streits in einer liberalen Demokratie. Die jeweils andere Seite wahlweise als „Kriegstreiber“ oder „Russlandversteher“ zu diskreditieren, trägt gleichwohl kaum zur Verstän- digung bei. Auch nach einem Jahr „Zeitenwende“ tasten sich Politik, Wissenschaft und Gesellschaft mehr oder weniger langsam und vorsichtig an die neuen Realitäten heran. Dabei ist es eigentlich keine Schwäche der Demokratie, sondern ihre Stärke, dass sie sich für solch fundamentale Entscheidungen, wie sie heute von ihr verlangt werden, Zeit nimmt und Argumente abwägt. Dass die Menschen in der Ukraine für solche Abwägungsprozesse faktisch keine Zeit haben, gehört allerdings ebenfalls zur Wahrheit – und zeigt das ganze Dilemma demokrati- scher Politik in Zeiten des Krieges. Sascha Kneip 03
APuZ 10–11/2023 24. FEBRUAR 2022: EIN JAHR DANACH Das Kriegsjahr 2022 in der Ukraine war geprägt von großem Leid. Zugleich brachte es neue und mitunter überraschende Erkenntnisse. Gwendolyn Sasse, Volodymyr Yermolenko und Tanja Penter blicken aus unterschiedlichen Per- spektiven auf einen Krieg, den vor einem Jahr nur die wenigsten für möglich gehalten hatten. Irpin, Butscha, Mariupol und vielen anderen Or- ten ohne die weitere Rückeroberung von Gebie- Von erwartbaren ten keine Basis für Verhandlungen. So sieht es ukrainischen Meinungsumfragen zufolge auch und überraschenden die große Mehrheit der Ukrainer*innen. Die in Entwicklungen der westlichen öffentlichen Debatte unnötig zu- gespitzte Dichotomie von „Krieg versus Ver- handlungen“ ist irreführend: Westliche militäri- Gwendolyn Sasse sche und finanzielle Unterstützung der Ukraine zielt darauf ab, sie in eine Position zu bringen, von der aus sie verhandeln kann. Verhandlungen Der Beginn des Angriffskriegs Russlands auf die über Teilaspekte des Krieges finden darüber hi- gesamte Ukraine am 24. Februar 2022 markiert naus statt, so zum Beispiel über Gefangenenaus- eine Zäsur. Ein langes Jahr später sind die Dimen- tausch oder den Export von Getreide. Westliche sionen dieses Krieges und seine Folgen greifba- Regierungschefs strecken in Abständen ihre Füh- rer geworden, übersteigen in ihrer Gesamtheit ler gen Moskau aus, um den Moment für sinn- jedoch noch immer die individuelle Vorstellungs- volle Verhandlungen beziehungsweise Verände- kraft. Ein Gefühl von Unsicherheit prägt die Poli- rungen im politischen System Russlands nicht tik und die Gesellschaften in Europa und anderen zu verpassen. Länder wie China, Indien und die Teilen der Welt, und die Schwächen internatio- Türkei pflegen weiterhin enge wirtschaftliche Be- naler Institutionen wie der UNO sind allzu of- ziehungen mit Russland, und ihre Beteiligung an fensichtlich. Noch dazu zeichnet sich kein Ende Vermittlungsversuchen ist ebenfalls nicht ausge- dieses Krieges ab. Das zum jetzigen Zeitpunkt schlossen. Die Türkei etwa hatte in den ersten wahrscheinlichste Szenario ist ein noch Monate, Wochen nach der Invasion vom Februar 2022 be- vielleicht Jahre andauernder Krieg. Die kürzlich reits eine aktive Vermittlerrolle eingenommen. beschlossene Lieferung von Kampfpanzern west- licher Bauart aus Europa und den USA reicht in FEHLPERZEPTIONEN ihren Umsetzungsplänen ebenfalls schon bis ins Jahr 2024. Trotz grundlegender Veränderungen im Selbst- Der vor allem in der deutschen Debatte im- verständnis westlicher Regierungen und Gesell- mer wieder präsente Ruf nach Verhandlungen schaften im Laufe des vergangenen Jahres haben über einen Waffenstillstand oder gar ein Kriegs- sich einige falsche Vorstellungen über die Ukraine ende ist vom Grundverständnis her nachvollzieh- erstaunlich beharrlich gehalten. Die Terminolo- bar, verkennt aber die derzeitige Situation. Die gie, mit der dieser Krieg beschrieben wird, bleibt Führung Russlands zeigt keinen politischen Wil- weiterhin problematisch. Die Begriffe „Ukraine- len für Verhandlungen und Kompromisse – und Krieg“ oder „Ukraine-Konflikt“ sind nach wie die ukrainische Regierung sieht nach den von der vor omnipräsent in den Medien und öffentlichen russischen Armee verübten Kriegsverbrechen in Debatten. Begrifflichkeiten prägen den Vorstel- 04
Krieg in der Ukraine APuZ lungshorizont und damit auch die Schlussfolge- teil derer, die sich für zivilen oder militärischen rungen, die gezogen werden. Der Begriff „Uk- Widerstand im Falle eines weiteren Angriffs raine-Krieg“ vermittelt den Eindruck, dass es Russlands auf die Ukraine aussprachen, deutlich sich um eine interne Auseinandersetzung in der angestiegen, aber ob eine gesellschaftliche Stim- Ukraine handele. Nichts wäre weiter entfernt mung politisch aktiviert wird, zeigt sich erst im von der täglichen Realität in der Ukraine – vor Testfall selbst. und seit dem 24. Februar 2022. Das Bild eines in sich gespaltenen Landes bemüht auch die russi- WIDERSTANDSKRAFT sche Regierung seit Jahrzehnten und hat es mit dem Begriff des „Bürgerkriegs“ zugespitzt. Statt- Die Resilienz der Ukrain er*innen ist nicht bloß dessen handelt es sich um Russlands Krieg gegen eine plötzliche Reaktion auf das Kriegsgesche- die Ukraine. Es geht der Führung Russlands um hen. Ihr liegt ein Selbstverständnis der Menschen die Zerstörung des ukrainischen Staates und der als ukrainische Staatsbürger*innen zugrunde, das ukrainischen Nation, der ganz offen ihr Existenz- insbesondere durch Zyklen von Massenprotesten recht abgesprochen wird. Die begriffliche Veren- – die Orangene Revolution 2004 und den Euro- gung auf „Putins Krieg“ greift dabei ebenfalls zu maidan 2013/14 – gestärkt wurde. Massenmobili- kurz. Dem Präsidenten und Oberbefehlshaber sierung ist ein seltenes Phänomen. Wenn es noch kommt selbstverständlich eine Schlüsselrolle zu, dazu wiederholt auftritt, verändert sich die Ge- doch das durch ihn und seine Eliten ausgebau- sellschaft – auch über die direkt Beteiligten hi- te autoritäre System sowie die autoritäre Gesell- naus. Direkte und indirekte Erfahrungen, Hoff- schaft, die von diesem System geprägt wurde und nungen, Erwartungen, Ideen und eine kollektive die die Entscheidungen der Staatsspitze ermög- Erinnerung an diese Schlüsselmomente wirken licht und mitträgt, sind Teil dieses Krieges. lange nach, nicht zuletzt in sozialen und insti- Ebenso notwendig ist es, den Krieg genau zu tutionellen Netzwerken, die zu einem späteren datieren. Russlands Krieg gegen die Ukraine hat Zeitpunkt reaktiviert oder neu aufgestellt werden nicht im Februar 2022 begonnen, auch wenn die- können. Die Erfahrungen aus den Massenprotes- ser Satz immer wieder fällt. Der Krieg begann im ten stehen auch in direkter Verbindung zur wach- Februar und März 2014 mit der Besetzung und senden Bedeutung des nicht institutionalisierten Annexion der Krim durch Russland, setzte sich sozialen Engagements (Volunteering). Die Ak- im von Russland von Anfang an militärisch und teure hinter dieser Art des Engagements gehörten finanziell kontrollierten Krieg in Teilen des Don- in den vergangenen Jahren ukrainischen Umfra- bass von 2014 bis 2022 fort und kulminierte in gen zufolge regelmäßig zu den vertrauenswür- der groß angelegten Invasion ab dem 24. Februar digsten „Institutionen“ – nach Armee, NGOs 2022. Diese sukzessive Ausweitung des Krieges und, je nach Zeitpunkt der Umfrage, den Kirchen durch Russland brachte sowohl auf russischer oder dem Präsidenten. Dieses Engagement und als auch auf westlicher Seite Zeit und Raum für seine gesellschaftliche Anerkennung bildeten eine Anpassungen mit sich. Russland hat diese Spiel- wichtige Grundlage, auf der verschiedene For- räume ausgetestet und ausgenutzt, während der men des Widerstands aufbauen konnten. Westen seine Fähigkeiten, die Situation zu stabi- Im Zuge dieser Entwicklungen war eine auf lisieren oder die Beziehungen zu Russland kon- den Staat fokussierte Identität längst zur wichti- trollierbar zu halten, überschätzt hat. Deutsch- gen Bezugskategorie geworden. Die ukrainische lands Nord-Stream-2-Politik ist das eklatanteste Staatsnation entstand somit nicht erst im Februar Beispiel dieser Fehlkalkulation. 2022, auch wenn dies häufig behauptet wird. Von Trotz der Warnungen westlicher Geheim- außen wurde die Ukraine zu häufig als ein eth- dienste blieb Russlands Entschluss zur militäri- nisch, sprachlich und regional gespaltenes Land schen Eskalation in der Form eines Großangriffs wahrgenommen. Dieser Blick hat viel mit einem auf die Ukraine bis zuletzt für viele kaum vor- kolonialen Blick auf Osteuropa zu tun, der eth- stellbar. Noch überraschender war – auch für nische und sprachliche Diversität problemati- westliche Geheimdienste – das Ausmaß des mili- siert und als zwangsläufig konfliktbehaftet wahr- tärischen und zivilen Widerstands der Ukrainer* nimmt. Die Überlappung und Kompatibilität innen. In ukrainischen Meinungsumfragen war in unterschiedlicher Identitäten in der Ukraine ist den Monaten vor dem 24. Februar 2022 der An- weithin unterschätzt worden, obwohl sozialwis- 05
APuZ 10–11/2023 senschaftliche Forschung diesen Trend seit vielen ratoren ineinander. Diese translokale ukrainische Jahren empirisch dokumentiert. Dieses Wissen in Gesellschaft zeichnet heute ein hoher Mobilisie- den Mainstream der Wissenschaft, aber auch in rungs- und Vernetzungsgrad aus. Auf nationaler die Politik und Öffentlichkeit zu transferieren, Ebene hat hingegen eine Zentralisierung politi- war strukturell bedingt schwierig. Seit Februar scher Entscheidungsprozesse stattgefunden. 2022 wurde für Einordnungen auf der Grundlage Die Ukraine hat sich auf tragische Weise in die dieser Forschung im öffentlichen Diskurs mehr mentale Landkarte Europas eingeschrieben. Soli- Raum geschaffen. Die direkte Begegnung von darität und Engagement für die Geflüchteten ha- Menschen mit „der Ukraine“ in Form von ge- ben der Ukraine in der Mitte der europäischen flüchteten Ukrain er*innen im privaten und pro- Gesellschaften eine dauerhafte Präsenz verschafft. fessionellen Umfeld vermittelt nicht nur direk- Eine „Zeitenwende“ in der öffentlichen Wahr- te Kontakte, sondern weckt auch Interesse und nehmung erfolgte schnell, auch im Hinblick auf schließt Wissenslücken. die militärische Unterstützung für die Ukraine. Das eigentlich Überraschende im ersten Die Ankündigung der politischen Zeitenwende Kriegsjahr war die Tatsache, dass Wladimir Pu- durch Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar tin und die ihn umgebenden Eliten die Ukraine 2022 im Deutschen Bundestag erfolgte, gemessen so gründlich missverstanden haben. Allen An- an der deutschen Nachkriegsgeschichte, ebenfalls zeichen zufolge hat man an Schlüsselstellen im schnell. Doch für die Ukraine und ihre mittel- System wirklich geglaubt, dass der Durchmarsch und nordeuropäischen Nachbarn kam die darauf nach Kyjiw mit Panzerkolonnen innerhalb weni- aufbauende militärische Unterstützung dennoch ger Tage gelingen würde und die russischen Trup- zu langsam. Dies ist ein Teil des Dilemmas der pen dort zumindest von Teilen der Gesellschaft Gleichzeitigkeit in diesem Krieg, in dem Zeit be- und der Eliten willkommen geheißen würden. reits seit seinem Beginn 2014 ein entscheidender Daraus spricht rückblickend einmal mehr die Faktor ist. koloniale Arroganz dem vermeintlich „kleinen Bruder“ gegenüber. Damit verbunden sind die selbst für westliche Geheimdienste und Vertei- digungsministerien überraschenden offensichtli- chen Schwächen in der russischen Kriegsführung, insbesondere in der Logistik, der inflexiblen Be- fehlsstruktur, der fehlenden Vorbereitung der Sol- daten und im Rekrutierungsprozess insgesamt, aber auch im Ausmaß der Gewaltbereitschaft der Truppen. Was als schneller Sieg konzipiert war, ist nun zum Test für das politische System unter Pu- tin geworden. FAKTOR ZEIT Seit Februar 2022 sind zwischen einem Viertel und einem Drittel der Bevölkerung der Ukraine in Bewegung, darunter geschätzt 7 bis 8 Millionen Binnenflüchtlinge und etwa 5 Millionen Geflüch- tete im westlichen Ausland. Sie sind ein wichtiger GWENDOLYN SASSE Teil der veränderten sozialen Struktur der Ukra- ist Wissenschaftliche Direktorin des Zentrums für ine – dadurch, dass vor allem Frauen und Kinder Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) geflüchtet sind, aber auch durch die Rekonfigu- und Einstein-Professorin für Vergleichende ration von persönlichen und sozialen Netzwer- Demokratie- und Autoritarismusforschung an ken. Diese Netzwerke sind translokal und multi- der Humboldt-Universität zu Berlin. Bei C. H.Beck direktional. So greifen Unterstützung bei Flucht erschien im Herbst 2022 ihr Buch „Der Krieg gegen und Angriffen sowie Crowdfunding für die mi- die Ukraine“. litärische Ausrüstung der Armee oder für Gene- gwendolyn.sasse@zois-berlin.de 06
Krieg in der Ukraine APuZ ZWEITENS: DER NIEDERGANG DER VERNUNFT Fünf Lehren ÖFFNET DER GEWALT TÜR UND TOR aus der russischen Invasion Fast jeder „Beginn eines neuen Jahrhunderts“ hat, wie wir aus der jüngeren Geschichte wissen, eine Gegenbewegung zur Vernunft und Rationalität Volodymyr Yermolenko hervorgebracht. Wir kennen diesen Backlash aus dem frühen 20. Jahrhundert mit dem Aufleben ir- rationaler Philosophien und der Kritik an der Auf- Ein Jahr ist vergangen, seit Russland einen großen klärung – eine Haltung, die am Ende den Faschis- Krieg begonnen hat, einen Krieg des 21. Jahrhun- mus, Nationalsozialismus und Stalinismus an die derts. Dieser Krieg hat gezeigt, dass wir nicht aus Macht brachte. Eine ähnliche Gegenreaktion kön- den Fehlern der Vergangenheit lernen. Aber das nen wir zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit dem sollten wir. Wir sollten lernen, aus diesen Fehlern Aufkommen der Romantik und der Restaurati- zu lernen. Ich möchte versuchen, einige Schluss- on erkennen, in deren Folge wieder antidemokra- folgerungen zu ziehen – in der Hoffnung, dass ir- tische monarchische Autokratien mit ihren aus- gendjemand einen Nutzen davon hat. geklügelten Unterdrückungssystemen das Sagen in Europa hatten. Heute erleben wir eine ähnli- ERSTENS: che Gegenbewegung der Irrationalität. Rationali- DEMOKRATIEN KÖNNEN STÄRKER tät wird kritisiert, und man entdeckt das Anima- SEIN ALS AUTOKRATIEN lische im Menschen wieder. Irrationale Impulse – Instinkte, Emotionen, die Intuition und anderes Im Gegensatz zu den wachsenden Selbstzweifeln mehr – sind rehabilitiert; der Unterschied zwischen und der zunehmenden Skepsis, die in den ver- dem Menschen und anderen Tieren wird reduziert. gangenen 20 Jahren in den Demokratien welt- Dieser „biophilosophische“ Backlash hat in vie- weit zu beobachten waren, zeigt der Krieg, dass len Ländern ein Klima geschaffen, in dem Sektie- sich Demokratien wehren und stärker als Auto- rertum, Unnachgiebigkeit und Voluntarismus über kratien sein können. Autokratien stützen sich die Ideale der rationalen Diskussion gesiegt haben auf Angst, Strafe, Gewalt und Ordnung; Demo- und der „Kampf“ im Mittelpunkt steht. In Russ- kratien auf die Ermächtigung ihrer Bürgerinnen land hat diese Gegenbewegung ein revanchisti- und Bürger und die individuelle Initiative. Der sches Regime hervorgebracht, das die Welt als gro- ukrainische Widerstand gegen die russische In- ßen Kampf ums Überleben interpretiert und den vasion zeigt, dass die Ermächtigung der Men- Kult um eine „starke Hand“ und einen „männli- schen die größte Stärke einer Demokratie ist und chen Führer“ propagiert (an anderer Stelle habe ich sie in die Lage versetzt, auch großen aggressiven einmal von „Zoopolitics“ gesprochen).01 Mächten die Stirn zu bieten. Wenn eine Gesell- Doch all diese Epochen haben auch gezeigt, schaft so gestaltet ist, dass die einzelnen Bürge- dass der Niedergang der Vernunft grausame Kon- rinnen und Bürger daran gewöhnt sind, die Ini- sequenzen hat. Die „Biologisierung“ des Men- tiative zu ergreifen, wenn sie ihre eigene Macht schen, die Reduzierung der Gesetze unseres Zu- kennen und wissen, dass sie selbst Veränderun- sammenlebens auf die Gesetze der Biologie, der gen bewirken können, dann kann das einen gro- Kampf um „Lebensraum“ und ums Überleben ßen Unterschied ausmachen im Kampf gegen bilden die Grundlage für eine überaus grausame Regime, in denen die Bürger ihre Verantwortung Ideologie, in der das Töten des Gegners mit der abgegeben haben und nur aus Angst vor Strafe Zeit zur Norm und Krieg (real oder symbolisch) und/oder der Bereitschaft kooperieren, die Au- als Sinn des Lebens betrachtet wird. Wir müssen gen vor der brutalen Realität ihres Lebens zu zu den Idealen der Aufklärung mit ihrem Fokus verschließen. Demokratien sind stärker, als vie- le Menschen glauben; das zeigt das Beispiel der 01 Vgl. Volodymyr Yermolenko, Russia, Zoopolitics, and Infor- Ukraine und die weltweite Solidarität mit ihrem mation Bombs, 26. 5. 2015, h ttps://euromaidanpress.com/2015/ Kampf. 05/26/russia. 07
APuZ 10–11/2023 auf Pluralismus und Rationalität zurückkehren, sischen Gesellschaft, in der sich in den vergange- der Gültigkeit von Ideen und Argumenten und nen Jahrzehnten eine Kultur des Revanchismus dem grundlegenden Unterschied zwischen un- mit dem Ziel entwickelt hat, die Niederlage Russ- serer menschlichen Welt und der Tierwelt. Doch lands im Kalten Krieg auszumerzen. In diesem dafür müssen wir die Herausforderung anneh- Weltbild gilt das Recht des Stärkeren, regieren men und gegen die neue Grausamkeit der russi- Macht und Gewalt. Die erstaunliche Unterstüt- schen „Zoopolitics“ angehen. zung für den Krieg in der russischen Gesellschaft, das Ausbleiben massiver Proteste nicht nur inner- DRITTENS: halb Russlands, sondern auch bei den russischen DER KAMPF GEGEN DIE TYRANNEI Bürgern, die Russland seit Beginn des Krieges IST TEIL DER UKRAINISCHEN verlassen haben, zeigt, wie tief diese Haltung be- POLITISCHEN KULTUR reits geht. Die Ursachen dafür sind in der allge- genwärtigen Gewalt zu suchen – Gewalt in der Der ukrainische Widerstand lässt sich weder mit Familie, beim Militär, bei der Arbeit, im Verhält- kurzfristigen Ursachen noch mit der Rolle einzel- nis zwischen dem Staat, der Polizei und den ganz ner Personen erklären. Es gibt etwas in unserer Na- normalen Menschen –, die die gesamte Gesell- tion, das Millionen Menschen durchdringt und sie schaft durchdringt. Dieser Masochismus der Zi- dazu gebracht hat, sich sofort nach dem Überfall vilgesellschaft wird zum Sadismus, wenn Bürger freiwillig zu melden und ihr komfortables Leben – als Opfer wiederholter Gewalt und Erniedrigung und in vielen Fällen auch ihre Gesundheit und ihr instinktiv versuchen, die Gewalt, die er oder sie Leben – für ihr Land aufs Spiel zu setzen oder gar erlebt hat, auf andere zu übertragen, oder, um sich zu opfern. Dieses „Etwas“ ist eine tiefsitzende Ab- als Teil eines größeren Ganzen zu fühlen, Gewalt scheu vor der tyrannischen Politik, die der russi- gegen andere ausüben. Masochismus, der zu Sa- sche Imperialismus seit Jahrhunderten verkörpert. dismus wird, ist ein Symptom dieser Entwick- Diese Haltung ist seit Generationen in der ukrai- lung. Ein weiteres Symptom ist der angespro- nischen Gesellschaft lebendig, auch wenn immer chene Hass auf den Rationalismus, der auch in wieder versucht wurde, sie auszurotten. Sie hat Kernelementen der russischen Literatur und Kul- sich regeneriert und entfaltet heute eine neue, tief- tur (angefangen bei Wladimir Solowjew und Fjo- greifende Kraft. Die politische Kultur der Ukraine dor Dostojewski) zum Ausdruck kommt und oft basiert im Gegensatz zur russischen auf der Idee, so weit geht, dass der westliche „Rationalismus“ dass Tyrannei illegitim ist, dass Freiheit das höchs- zugunsten der „russischen Seele“ abgelehnt wird. te Gut ist, zivile Gewalt nicht tolerierbar ist, die Das dritte Element ist die Vernachlässigung des Gesellschaft pluralistisch sein und jeder Mensch in Individualismus, wie man ihn in der russischen seiner Würde geschützt werden sollte. Diese Werte intellektuellen Tradition und der Vorstellung ei- – die ich als „republikanisch“ bezeichne, abgelei- ner größeren „panideologischen Gemeinschaft“ tet von res publica, dem „Gemeinwesen“, das wie- findet. derum auf die griechische politeia zurückgeht, die Politischer und gesellschaftlicher Sadomaso- politische Gemeinschaft, die all ihren Mitgliedern chismus, Hass auf die Vernunft und die Vernach- die Mitwirkung ermöglicht – existierten in Ost- lässigung des Individualismus sind Symptome ei- europa schon viele Jahrhunderte, bevor das russi- ner Krankheit, die die russische kulturelle und sche Reich im 18. Jahrhundert expandierte und die politische Tradition befallen hat, und die mitver- Staaten der Polen, Ukrainer und Krimtataren zer- antwortlich für den aktuellen Krieg ist. störte. Heute besteht die Chance, diese republika- nische Kultur wieder aufleben zu lassen. FÜNFTENS: EINE GESUNDE GESELLSCHAFT VIERTENS: WAHRT DIE BALANCE ZWISCHEN DIE RUSSISCHE GESELLSCHAFT AGORA UND AGON IST DURCHDRUNGEN VOM KULT DER GEWALT Die republikanische politische Kultur hat zwei Säulen: die Agora und den Agon. Auf der Agora, Es ist falsch, diesen Krieg als „Putins Krieg“ zu dem Marktplatz, trifft man sich und tauscht sich bezeichnen. Putin ist nur ein Symptom der rus- aus – Waren, Worte, Ideen, Gefühle, Erfahrungen 08
Krieg in der Ukraine APuZ und Geschichten. Auf dem Agon, dem Schlacht- feld, kämpft man. Auf der Agora gewinnen beide Seiten, auf dem Agon nur eine. Weisheit in einer Aus Krisen lernen Gesellschaft bedeutet, zu wissen, wo der Agon seinen Platz hat und wo die Agora. Tanja Penter Wenn der Agon das einzige Prinzip einer Ge- sellschaft ist, wird eine Unterhaltung unmöglich. Dann ist der Kampf die einzige Form der Inter- Das schlimme erste Jahr des Krieges in der Ukra- aktion. Daraus entstehen in der Regel faschisti- ine war auch ein Jahr voller Überraschungen. sche Ideologien, die Verehrung eines Kriegers Zu diesen Überraschungen zählen die Brutali- als Anführer und ein Kult der Gewalt. Wenn die tät des russischen Angriffs und die zahlreichen Agora das einzige Prinzip ist, besteht das Risiko, Kriegsverbrechen ebenso wie der starke Wider- dass man auch Kompromisse mit dem Bösen ein- standswille der Ukrainer:innen und ihre schnel- geht, man sich also auf einen Pakt mit dem Teu- le Selbstbehauptung im internationalen Kom- fel einlässt. Das Beispiel der Ukraine zeigt, dass munikations- und Informationsraum. Ebenso sich Agora und Agon kombinieren lassen. Diese unerwartet waren die entschlossene Reaktion der Synthese ist schwierig, aber möglich. Nach innen Nato und ihrer Mitgliedstaaten, die rasche Eini- schätzt man die Agora, die Pluralität innerhalb gung der europäischen Regierungen auf Sankti- der Gesellschaft, ist aber gleichzeitig auch in der onen und Waffenlieferungen an die Ukraine, die Lage, die eigenen Grenzen nach außen zu vertei- Bereitschaft der europäischen Zivilgesellschaften, digen, sich dem Kampf, dem Agon, zuzuwenden, Millionen von ukrainischen Geflüchteten aufzu- wenn es nötig ist. nehmen, aber auch die offenkundigen Schwächen Das sind die fünf Lehren, die ich aus dem des russischen Militärs, das bei seinen Planungen vergangenen Jahr gezogen habe. Es gibt jedoch offenbar deutlichen Fehleinschätzungen über die noch eine sechste, und sie ist vielleicht sogar die Ukraine aufgesessen ist. Der Schrecken über den wichtigste: Es gibt keinen höheren Wert als das Grad der „Zombisierung“01 der russischen Ge- menschliche Leben. Es gibt keine größere Tragö- sellschaft ging zugleich mit der Erkenntnis einher, die als den Verlust des Lebens. Es gibt keine grö- dass auch unter der mit nackter Gewalt regieren- ßere Ungerechtigkeit als die, dass eine Mutter ihr den Putinschen Diktatur ziviler Protest niemals Kind verliert. Wir brauchen diesen Krieg nicht, vollständig ausradiert werden kann.02 um all das zu lernen. Die Geschichte, deren Ende 1989 von Francis Und die letzte Schlussfolgerung: Das Gute Fukuyama voreilig vorausgesagt worden war,03 wird siegen. Die Ukraine wird siegen. Die Frei- ist 2022 mit solcher Wucht zurückgekehrt, dass heit wird siegen. Doch für diesen Sieg braucht die selbst Historiker:innen überrascht waren. Das Ukraine Unterstützung. Es gibt Zeiten, in denen Ausmaß und die extreme Geschwindigkeit, mit die Agora sich selbst verteidigen muss, in denen der die „Zeitenwende“ voranschritt und neue Tat- sie kämpfen muss. Sonst wird sie verschwinden. sachen von voraussichtlich langanhaltender Wir- kung schuf, kam auch für viele Osteuropaexpert: Übersetzung aus dem Englischen: Heike Schlatterer, innen unerwartet. Der entscheidende Treiber für Pforzheim. die gewalttätige Rückkehr der Geschichte war ein russischer Präsident, der seinen völkerrechtswid- rigen Angriffskrieg in bizarren Geschichtsaufsät- zen und Reden mit historischen Bezügen zu legiti- mieren versuchte und seine Politik unter anderem in die Tradition der Expansionspolitik des Russi- VOLODYMYR YERMOLENKO ist Philosoph und Essayist, Chefredakteur der 01 Der Begriff der Zombisierung steht für die Manipulation der Onlineplattform „UkraineWorld“ und Leiter der russischen Gesellschaft durch die Staatspropaganda. 02 Einige mutige Beispiele finden sich bei Michael Thumann, Abteilung für politische Analysen bei „Internews Revanche. Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt ge- Ukraine“. Er lehrt an der Mohyla-Akademie in Kyjiw schaffen hat, München 2023, Kapitel 12. und ist Präsident des PEN Ukraine. 03 Vgl. Francis Fukuyama, The End of History and the Last vyermolenko@internews.ua Man, New York 1992. 09
APuZ 10–11/2023 schen Imperiums seit Peter I. stellte.04 Geschichte Wissenschaft betroffen ist. So ist es etwa schwie- war von Wladimir Putin bereits vor seinem An- riger geworden, Visa und Fördermittel für russi- griff auf die Ukraine instrumentalisiert worden, sche Kolleg:innen zu bekommen. Gleichwohl ist um von wachsenden innergesellschaftlichen Pro- es wichtig, die letzten Brücken nicht abzubre- blemen und der gescheiterten Modernisierung des chen, sondern die Kontakte zu kritischen russi- Landes abzulenken.05 Während ideologisch aufge- schen Wissenschaftler:innen aufrechtzuerhalten. ladene Geschichtsbilder und -klitterungen in Pu- Nicht wenige von ihnen sind inzwischen in Staa- tins Russland zunehmend als Legitimationsquel- ten des Kaukasus und Zentralasiens migriert, die le für staatliche Politik instrumentalisiert wurden, sich zu neuen Zentren des russischen Massenexo- wuchs auch das Berufsrisiko strafrechtlicher Ver- dus entwickeln. Die georgische Hauptstadt Tiflis, folgung für kritische Historiker:innen.06 die bereits einige internationale Organisationen beherbergt, könnte zukünftig noch stärker in den BESCHLEUNIGTE VERFLECHTUNG Fokus der internationalen Wissenschaftskoope- UND ENTFLECHTUNG ration rücken und zu einer Art Begegnungsort für Forscher:innen aus dem postsowjetischen Der russische Angriffskrieg setzte auf vielen ge- Raum werden.08 sellschaftlichen Ebenen eine ukrainisch-deutsche Wir lernen aus den Erfahrungen des vergan- Verflechtung in Gang oder beschleunigte sie, die genen Jahres, dass Prozesse der Verflechtung und in der Wissenschaft erst nach 2014 langsam be- Entflechtung, wenn sie auf einem breiten politi- gonnen hatte. Viele deutsche Universitäten nah- schen und gesellschaftlichen Konsens beruhen, men geflüchtete ukrainische Wissenschaftler: mit großer Geschwindigkeit erfolgen können. innen und Studierende auf; deutsche Stiftungen In der Krise ist schnelles Handeln möglich, wie starteten bemerkenswert schnell und unbüro- nicht zuletzt die erfolgreiche Abwendung der kratisch entsprechende Hilfsprogramme.07 Ein Energienotlage und die Verringerung der deut- Nebeneffekt dieser Entwicklung ist, dass die In- schen Abhängigkeit von russischen Gaslieferun- ternationalisierung und Vernetzung der ukraini- gen verdeutlichen. Dies lässt hoffen, dass mit die- schen Geschichtswissenschaft, die Stärkung der sen Erfahrungen und Lerneffekten auch andere Ukraineexpertise an deutschen Universitäten und internationale Großkrisen zukünftig gemeistert der Aufbau zukünftiger neuer Kooperationen be- werden können. schleunigt und befördert wurde. Mit ebenso großer Geschwindigkeit voll- LERNPROZESSE zog sich zugleich, vorangetrieben durch Putins Politik der Isolation, eine Entflechtung der rus- Ich möchte den Blick auf diese Lernprozesse sisch-deutschen Beziehungen, von der auch die richten, weil sie, trotz aller berechtigten düs- teren mittelfristigen Zukunftsprognosen, auch 04 Vgl. Andreas Kappeler, Revisionismus und Drohungen. etwas Hoffnung machen. Zu Beginn des Krie- Vladimir Putins Text zur Einheit von Russen und Ukrainern, in: ges waren es vor allem die Lehren und Erfah- Osteuropa 7/2021, S. 67–76; siehe auch Putins Reden vom rungen aus der Corona-Pandemie, die uns hal- 21. sowie vom 24. Februar 2022 in: Osteuropa 1–3/2022, fen, die neuen Herausforderungen anzugehen. S. 119–135, S. 141–148. 05 Vgl. Klaus Gestwa, Putin, der Cliotherapeut. Überdosis an Die digitale Kommunikation in Form von Vi- Geschichte und politisierte Erinnerungskonflikte in Osteuropa, in: deo-Konferenzen, Webinaren oder der Nutzung Neue Politische Literatur 67/2022, S. 15–53; Guido Hausmann/ von Messenger-Diensten war in der Pandemie Tanja Penter, Der Gebrauch der Geschichte. Ukraine 2014: Ideo- für uns selbstverständlich geworden, und daran logie vs. Historiographie, in: Osteuropa 9–10/2014, S. 35–50. konnte nach dem 24. Februar 2022 angeknüpft 06 Davon zeugen zum Beispiel die regelmäßigen Länder- und Jahresberichte des Network of Concerned Historians, werden: Vom ersten Kriegstag an hielten wir www.concernedhistorians.org. Historiker:innen und Osteuropa-Expert:innen 07 Dazu zählen große Stiftungen wie etwa die VW-Stiftung, enge Kontakte zu unseren ukrainischen Kol die schon 2016 ein Programm zur Förderung ukrainisch-russisch- leg: innen, die auf zahlreichen Videokonferen- deutscher Forschungskooperationen aufgelegt hatten, oder die Philipp-Schwartz-Initiative der Humboldt-Stiftung für verfolgte Wissenschaftler:innen, aber auch die kleinere Vector-Stiftung, 08 In Tiflis plant nun auch die Max Weber Stiftung, ein neues die bis dahin hauptsächlich Forschung und Bildung im MINT- Büro zu eröffnen. Ein dringendes Desiderat bleibt die Einrichtung Bereich förderte. eines Standortes der Stiftung in Kyjiv. 10
Krieg in der Ukraine APuZ zen das Publikum unmittelbar an ihren Kriegs- auch die Feststellung eines Vermittlungsproblems erfahrungen teilhaben ließen und diese zugleich und die Einsicht, dass die Osteuropawissenschaft wissenschaftlich einzuordnen versuchten. Allen nicht erst seit 2014 mit ihren Forschungserkennt- russischen Angriffen zum Trotz konnten ukrai- nissen Politik und Öffentlichkeit nicht ausrei- nische Kolleg:innen weiterhin am internationa- chend erreicht hat. Im Ergebnis könnte der Krieg len wissenschaftlichen Austausch teilhaben und in der Ukraine also positive Impulse sowohl für hier wichtige Impulse setzen.9 Bemerkenswert den Zusammenhalt im Fach als auch für den Wis- ist auch, wie es ukrainischen Autor:innen, die senstransfer in die Öffentlichkeit setzen. kraftvoll gegen den Krieg anschreiben, in kur- zer Zeit gelungen ist, den deutschen Buchmarkt AUSBLICK zu erobern.10 In der deutschen Osteuropawissenschaft hat Nur eine Randnotiz war in diesem schlimmen ver- der Ukrainekrieg nicht nur eine kritische Selbst- gangenen Jahr der Tod von Michail Gorbatschow reflexion im Hinblick auf die bisherige starke am 30. August, der im Schatten der Zeitenwen- Russland-Fokussierung und Diskussionen über de des 24. Februars ebenfalls das Ende einer Epo- eine notwendige Dekolonisierung der Osteuro- che besiegelte. Die Erinnerung an Gorbatschow, päischen Geschichte angestoßen,11 sondern auch der, wie der russische Friedensnobelpreisträger das Bewusstsein für die Notwendigkeit des Wis- Dmitrij Muratov in einem Nachruf festhielt, den senstransfers in eine breite Öffentlichkeit ge- Krieg verachtete und seinem Land und der Welt schärft. Angesichts der Vielzahl neuer Aufga- das unglaubliche Geschenk des Friedens bereitet ben, die der Krieg mit sich brachte – angefangen hatte,13 lässt hoffen, dass in Russland irgendwann bei der Wissensvermittlung in die Öffentlichkeit in der Zukunft auch wieder friedliche Entwick- über die Präsenz in (digitalen) Medien bis hin zur lungen möglich sein werden. Vielleicht kann dann konkreten Unterstützung geflüchteter Kol leg: nachgeholt werden, was 1991 nach dem Ende der innen und Studierender –, erwies es sich als hilf- Sowjetunion nicht gelungen ist und sich heute als reich, die Ressourcen und Kompetenzen in ge- hochexplosives Erbe der Sowjetepoche erweist: meinsamen (digitalen) Veranstaltungsformaten die gemeinsame Aufarbeitung der geteilten Ge- zu bündeln. Zudem reifte die Erkenntnis, dass waltgeschichte des 20. Jahrhunderts durch His wir als Fach enger zusammenstehen müssen, um toriker:innen aus den Nachfolgestaaten der So medienwirksamen „Ex pert: innen“ auch öffent- wjet union – mit dem Ziel, Verständigung und lich stärker zu widersprechen.12 Dahinter13 steht Aussöhnung zu befördern und zu einer geteil- ten Erinnerungskultur zu finden. Angesichts des andauernden Krieges, der den Menschen in der 9 Siehe zum Beispiel die Online-Seminarreihe der Deutsch- Ukraine größte Opfer abverlangt, ist dies derzeit Ukrainischen Historischen Kommission „Historians and the War: Rethinking the Future“, www.duhk.org/historians-and-war. aber nur eine ferne Wunschvorstellung. 10 Siehe zum Beispiel die Teilnehmer:innen des deutsch-ukra- inischen Schriftsteller:innentreffens in Weimar: www.klassik- stiftung.de/ihr-besuch/veranstaltung/eine-bruecke-aus-papier. Auch in der russischsprachigen Literatur erfährt Antikriegslyrik eine expressive Blüte. Siehe z. B. den Sammelband „Poesie der Endzeit“: Jurij Leving, Poezija poslednego vremeni. Chronika, St. Petersburg 2022. 11 Siehe unter anderem die Diskussionsbeiträge zur Lage des Faches in Ab Imperio 1/2022, der Historischen Zeit- schrift 2/2022 sowie im demnächst erscheinenden Band der Jahrbücher für Geschichte Osteuropas (JGO) 1/2023. 12 Siehe zum Beispiel die Wortmeldungen von Fachvertreter: innen zu den Vorträgen von Gabriele Krone-Schmalz: Franziska Davies, Desinformationsexpertin. Russland, die Ukraine und Frau Krone-Schmalz, in: Osteuropa 9–10/2022, S. 245–265; Heidelberger Podiumsdiskussion „Desinformation, Social Media TANJA PENTER und die Rolle von Expert:innen“, www.youtube.com/watch?v= Lw72t0ohfyQ. ist Professorin für Osteuropäische Geschichte an 13 Vgl. Dmitrij Muratov, Gorbatschow, 31. 8. 2022, h ttps:// der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. novayagazeta.ru/articles/2022/08/31/gorbachev. tanja.penter@zegk.uni-heidelberg.de 11
APuZ 10–11/2023 WIE LÄSST SICH DER KRIEG IN DER UKRAINE BEENDEN? Nicole Deitelhoff Der berühmte Militärtheoretiker Carl von Clause- territoriale Integrität, das allen Staaten gleicherma- witz formulierte einmal, der Krieg beginne erst mit ßen zukommt, und nicht zuletzt das Bekenntnis der Verteidigung.01 Dieses Bonmot muss dem frisch zu Menschenrechten. Es würde mithin die Sicher- gewählten brasilianischen Präsidenten Lula da Silva heit aller europäischen Staaten gefährden. im Ohr geklungen haben, als er Ende Januar 2023 Wie steht es aus dieser Perspektive um die den deutschen Bundeskanzler bei einer gemeinsa- Frage, wie dieser Konflikt beendet werden kann? men Pressekonferenz zur Frage der Unterstützung Der Blick auf die Entwicklungen in der Ukraine der Ukraine im Krieg gegen Russland wissen ließ, und ein knapper Durchgang durch die Forschung dass sich zwei nicht streiten könnten, wenn einer zu Kriegsbeendigungen legen nahe, dass ein bal- nicht wolle.02 Die Logik ist bestechend, und man diges Ende des Konflikts zu Beginn des Jahres hört sie bisweilen auch im deutschen Mediendis- 2023 unwahrscheinlicher wird. Stattdessen zeich- kurs. Würde die Ukraine die Kampfhandlungen net sich ein langer Abnutzungskrieg ab, in dem einstellen, hätte sie sie gar nicht erst aufgenom- die westlichen Staaten die Ukraine auf Jahre hi- men oder würde der Westen seine Unterstützung naus massiv wirtschaftlich, finanziell und vor al- der Ukraine einstellen, so die Argumentation, gäbe lem militärisch unterstützen müssen. es diesen Krieg nicht, würde er die Welt nicht so in Mitleidenschaft ziehen oder wäre er doch längst WIE KRIEGE ENDEN mit weit weniger Opfern beendet worden. In ihrer Konsequenz und nach allem, was sich in der Ukra- Die Wege, auf denen Kriege enden können, sind ine seit Ausbruch dieses Krieges beobachten lässt zahlreich: Sie reichen von der militärischen Ent- und vom Angreifer, Russland, zu hören ist, wäre es scheidung, im Sinne einer Entscheidungsschlacht wohl darauf hinausgelaufen, dass es die Ukraine als oder schlicht einer erdrückenden militärischen unabhängigen Staat heute nicht mehr gäbe. Nicht Überlegenheit, über Waffenstillstände und De- der Streit wäre verschwunden, sondern der Streit- mobilisierungsmaßnahmen zu Friedensabkom- gegner. Und auch hinsichtlich der Frage, wie viele men mit und ohne Vermittlung Dritter bis hin zur Opfer dieser Krieg kostet, gibt es mit Blick auf die Erschöpfung beziehungsweise dem Einfrieren russische Militär- und vor allem Besatzungspraxis von Konflikten ohne eindeutiges Ergebnis. Diese in der Ukraine keine eindeutige Antwort. unterschiedlichen Enden – oder besser: Ausgän- Das alles weist darauf hin, dass die Frage, ge – sind nicht vollständig unabhängig voneinan- wie sich dieser Krieg beenden lässt, nicht losge- der, sondern stehen in vielfältigen Beziehungen löst von der Frage erörtert werden kann, welches zueinander. Während in Verhandlungen um ein Ende man dafür in Kauf zu nehmen bereit ist. En- Friedensabkommen gerungen wird, gehen oft- den gibt es viele, aber nicht alle sind gleicherma- mals die Kämpfe weiter, weil die Parteien hoffen, ßen wünschenswert. Aus der Perspektive einer auf einen entscheidenden militärischen Vorteil auf Status quo, Kooperation und Menschenrechts- dem Schlachtfeld erringen zu können, der ihre schutz setzenden europäischen Friedens- und Si- Verhandlungsposition stärkt.03 Waffenstillstände cherheitsordnung ist das oben skizzierte Ende leiten oftmals keinen Frieden ein, sondern eher nicht akzeptabel, würde es doch die grundlegen- eine Ruhephase in einem Abnutzungskrieg, die den Prinzipien der europäischen und der interna- dann endet, wenn eine oder beide Parteien wieder tionalen Friedensordnung mit Füßen treten: das über hinreichend Ressourcen verfügen, um die Prinzip, dass Grenzen nicht mit Gewalt verändert Kämpfe fortzuführen. Viele Kriege haben kein werden dürfen, das damit einhergehende Recht auf eindeutiges Ergebnis, sondern gehen eher durch 14
Krieg in der Ukraine APuZ eine Reihe von Kriegsepisoden, die unterschied- vermuten ist, dass die beiden Kriegsformen un- liche Formen der (Zwischen-)Beendigungen auf- terschiedliche Dynamiken in ihren Ursachen, weisen, bevor es zu einem dauerhaften Frieden Verläufen und eben auch Enden aufweisen, ist es kommt. Beispiele dafür sind etwa die Konflikte wichtig, zwischen ihnen zu differenzieren, um zwischen Israel und seinen Nachbarn, die teil- eine Verzerrung in den Ergebnissen zu vermei- weise bis heute keinen formalen Friedensschluss den. Tut man das, gibt es aber gleichwohl eini- kennen oder erst jüngst in einen Friedensprozess ge Erkenntnisse, die auch für die aktuelle Debatte überführt wurden.123 um den Russischen Angriffskrieg in der Ukraine Obwohl eine breite, datengestützte Forschung von Relevanz sind. zu Gewaltkonflikten existiert, gilt das nicht in glei- Anders als vielfach argumentiert, wird dann chem Maße für die spezifische Analyse von Kriegs- deutlich, dass fast die Hälfte der vom UCDP ko- beendigungen. Allerdings gibt es Datensätze und dierten Ausgänge zwischenstaatlicher Konflikte -analysen, die sich mit der Frage der Beendigung auf eine Form von Verhandlung verweisen. Die von Gewaltkonflikten befassen. Dazu zählen bei- Kriegsbeendigungen durch Verhandlung stei- spielsweise das Conflict Termination Dataset des gen dabei nach Ende des Kalten Krieges in den Uppsala Conflict Data Project (UCDP)04 oder 1990er Jahren deutlich an, pendeln sich aber in auch die Daten der Arbeitsgemeinschaft Kriegs- den 2000er Jahren wieder auf dem Niveau des ursachenforschung (AKUF) der Universität Ham- Kalten Krieges ein. Zu den Kriegsbeendigun- burg.05 Die Datensätze weisen zwar einige Un- gen, die mit Verhandlungen zusammenhän- terschiede hinsichtlich der Zählung (Kodierung) gen, zählt der Conflict-Termination-Datensatz gewaltsamer Konflikte und Konfliktbeendigungen sowohl begonnene und beendete Friedens- auf, dennoch lassen sich grobe Muster der Kriegs- verhandlungen beziehungsweise Abkommen beendigung aus ihnen ablesen. (16 Prozent) als auch Waffenstillstandsabkom- Um das mit Blick auf den aktuellen Konflikt men (30 Prozent).07 in der Ukraine zu tun, muss aber beachtet werden, Nur 20 Prozent der zwischenstaatlichen dass die Datensätze differenziert nach Konflikt- Konflikte enden dagegen mit einem militäri- typen ausgewertet werden müssen. Das ist wich- schen Sieg beziehungsweise einer Niederlage.08 tig, weil dort weitaus mehr innerstaatliche Kon- Das steht in deutlicher Diskrepanz zu inner- flikte als zwischenstaatliche kodiert sind. Schon staatlichen Konflikten, bei denen militärische seit Ende des Zweiten Weltkrieges hat sich das Entscheidungen immerhin mehr als 30 Pro- Kriegsgeschehen immer mehr zu innerstaatlichen zent der Fälle ausmachen.09 Für beide gilt aber, Konflikten hin verlagert, während zwischenstaat- dass ein erheblicher Anteil der Konflikte ohne liche Kriege, wie jener zwischen Russland und klares Ergebnis endet: Bei zwischenstaatli- der Ukraine, kontinuierlich in ihrem Anteil am chen Konflikten sind es über 30 Prozent, bei Kriegsgeschehen abgenommen haben.06 Da zu innerstaatlichen Konflikten 40 Prozent. Hier- bei handelt es sich um Konflikte, bei denen die Kriegshandlungen eher aus Erschöpfung erlah- 01 Vgl. Carl von Clausewitz, Vom Kriege, hrsg. von Werner men, aber bei entsprechendem Ressourcenzu- Hahlweg, Bonn 1980, S. 644. fluss auch schnell wieder aufflammen können. 02 Vgl. Matthias Wyssuwa, Lulas „Friedensklub“ soll den Krieg beenden, 31. 1. 2023, www.faz.net/-18642288.html. Es sind mithin eingefrorene Konflikte, wie wir 03 Vgl. Nicole Deitelhoff, Verhandlungen unter Feinden. Warum im Ukrainekrieg Gespräche unbedingt geboten sind, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 12/2022, S. 49–55. 07 Viele Konflikte enden nicht mit einem abgeschlossenen 04 Vgl. Joakim Kreutz, How and When Armed Conflicts End: Friedensabkommen, sondern eher mit umfassenden Waffen- Introducing the UCDP Conflict Determination Dataset, in: Journal stillstandsabkommen und eventuellen weiteren Abkommen zu of Peace Research 2/2010, S. 243–250. Demobilisierungsmaßnahmen. Vgl. dazu auch Tanisha Fazal, 05 Vgl. www.wiso.uni-hamburg.de/fachbereich-sowi/profes- The Demise of Peace Treaties in Interstate War, in: International suren/jakobeit/forschung/akuf.html sowie Wolfgang Schreiber, Organization 4/2013, S. 695–724. Die Ukraine wird gewinnen. Einschätzungen aus der Forschung 08 Vgl. Kreutz (Anm. 4), S. 246. Auch hierbei ist anzumerken, zu Kriegsbeendigungen, in: Wissenschaft & Frieden 3/2022, dass „militärische Niederlage“ in den allerseltensten Fällen eine S. 12 ff. bedingungslose Kapitulation bezeichnet, sondern meist einen 06 Vgl. Shawn Davies/Therese Pettersson/Magnus Öberg, Rückzug aufgrund deutlicher militärischer Überlegenheit der Organized Violence 1989–2021 and Drone Warfare, in: Journal Gegenseite meint. of Peace Research 4/2022, S. 593–610. 09 Vgl. ebd., S. 246; Schreiber (Anm. 5). 15
APuZ 10–11/2023 sie in Russlands Nachbarschaft, etwa im Kau- Kommt es nicht zu einem raschen Sieg einer kasus, vielfach beobachten. Seite in einem Konflikt, steigt die Wahrscheinlich- Allerdings sagen diese Zahlen nur wenig über keit einer Verhandlungslösung, wenn für beide die Nachhaltigkeit von Kriegsbeendigungen aus. Konfliktparteien die Kosten der Kriegsführung Dazu zeichnen die jeweiligen Datensätze kein jene der Verhandlungen systematisch überstei- allzu optimistisches Bild: Wenn wir als Grund- gen. Das ist der sogenannte Reifungsmoment in lage für einen dauerhaften Frieden annehmen, einem Konflikt,14 der allerdings theoretisch sehr dass fünf Jahre keine Kriegshandlungen mehr viel klarer erscheint, als er empirisch zu beobach- stattfinden, so zeigt sich, dass in innerstaatlichen ten, geschweige denn zu prognostizieren ist. Der Konflikten militärische Siege beziehungsweise klassische Fall für einen solchen Reifungsmo- Niederlagen die höchste Wahrscheinlichkeit für ment ist der sogenannte mutually hurting stale- einen nachhaltigen Frieden nach sich ziehen.10 mate, der dann entsteht, wenn die Konfliktpartei- In zwischenstaatlichen Konflikten, in denen en in einem Patt gefangen sind, in dem keine Seite militärische Siege noch einmal seltener auftre- mehr nennenswerte militärische Erfolge erzielt, ten und Verhandlungslösungen stärker vertre- aber beide erhebliche Verluste erleiden. ten sind, führen immer noch 37 Prozent aller Ebenfalls möglich sind Situationen, in denen Verhandlungslösungen zu einem Rückfall in die sich Präferenzen der Kriegsparteien deutlich ver- Gewalt.11 ändern. Das kann zum Beispiel geschehen, wenn Insgesamt weisen innerstaatliche Kriege es auf einer Seite zum Regierungswechsel kommt durchschnittlich eine höhere Dauer auf als zwi- oder die innenpolitische Unterstützung für den schenstaatliche Kriege.12 Dabei zeigt sich, dass Kriegskurs zusammenbricht – oder auch durch Kriege, die mit einer militärischen Entscheidung das Verhalten dritter Akteure, die Druck ausüben (Sieg oder Niederlage) enden, statistisch gesehen können, indem sie Sanktionen verhängen oder von kürzerer Dauer sind, während solche, die in militärisch unterstützen, und damit Anreize für Verhandlungen enden, länger andauern. Das lässt Verhandlungen setzen. Dazu kann auch die An- sich umdrehen: Kommt es binnen der ersten Wo- drohung der Beendigung externer Unterstützung chen und Monate nicht zu einer klaren militä- zählen. Mit Blick auf die AKUF-Daten zeigt sich rischen Entscheidung zugunsten einer Seite, ist etwa, dass es bei externem Druck gerade der Weg- die Wahrscheinlichkeit hoch, dass der jeweili- fall dieses Drucks ist, der eine Kriegsbeendigung ge Konflikt von langer Dauer sein wird. Das gilt beschleunigt.15 auch für asymmetrische Kriege, bei denen eine Großmacht gegen einen konventionell stark un- DIE LAGE AM ENDE terlegenen Gegner antritt. Kommt es in solchen DES ERSTEN KRIEGSJAHRES Konflikten nicht zu einer schnellen militärischen Entscheidung, ziehen sie sich lange hin, weil Was bedeuten nun diese Trends und Muster für Großmächte, mit asymmetrischer Kriegsführung eine Beendigung des Krieges in der Ukraine? konfrontiert, lange brauchen, um eine Niederlage Sie sind zuallererst das: Trends und Muster, die zu akzeptieren beziehungsweise die Unmöglich- keine konkrete Vorhersage für einen speziellen keit des Gewinnens einzusehen und einen Rück- Konflikt zulassen. Was sie aber erlauben, sind zug einzuleiten.13 Aussagen über eher wahrscheinliche und eher unwahrscheinliche Szenarien für einen konkreten 10 Vgl. Kreutz (Anm. 4), S. 247. Allerdings argumentieren Gro- Konflikt, und um die soll es im Folgenden gehen. mes und Ranft unter Zuhilfenahme eines neueren Datensatzes zu Russlands Krieg gegen die Ukraine dauert Bürgerkriegen, dass Friedensabkommen ein ähnliches Potenzial mittlerweile seit mehr als einem Jahr an, obwohl zur Senkung des Rückfallrisikos aufweisen wie militärische Siege. Vgl. Thorsten Gromes/Florian Ranft, Preventing Civil War Recur- diese „militärische Spezialoperation“ nach den rence: Do Military Victories Really Perform Better Than Peace Vorstellungen des Kremls in wenigen Wochen Agreements? Causal Claims and Underpinning Assumptions hätte erfolgreich beendet sein sollen. Für diese Revisited, in: Civil Wars 4/2021, S. 612–636. 11 Vgl. Therese Pettersson/Magnus Öberg, Organized Violence, 1989–2019, in: Journal of Peace Research 4/2020, 14 Vgl. William Zartman, The Timing of Peace Initiatives: S. 597–613. Hurting Stalemates and Ripe Moments, in: Global Review of 12 Vgl. Kreutz (Anm. 4), S. 246. Ethnopolitics 1/2001, S. 8–18. 13 So Wolfgang Schreiber (Anm. 5). 15 Vgl. Schreiber (Anm. 5). 16
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