AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Krieg in der Ukraine - BPB

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AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Krieg in der Ukraine - BPB
73. Jahrgang, 10–11/2023, 6. März 2023

    AUS POLITIK
UND ZEITGESCHICHTE
 Krieg in der Ukraine
         Gwendolyn Sasse ·                            Julia Grauvogel ·
 Volodymyr Yermolenko · Tanja Penter                 Christian von Soest
       24. FEBRUAR 2022:                       ERFOLG UND GRENZEN
       EIN JAHR DANACH                         DER SANKTIONSPOLITIK
          Nicole Deitelhoff                            André Härtel
       WIE LÄSST SICH                              DIMENSIONEN
     DER KRIEG BEENDEN?                         DES WIEDERAUFBAUS
    Michael Müller · Peter Brandt ·                   Martin Wengeler
            Reiner Braun                              REDEN ÜBER
       FRIEDEN SCHAFFEN                                DEN KRIEG
          Franziska Davies
     ENDE DER OSTPOLITIK?

                                                                               Der
                                                                           APuZ-Podcast

                      ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE
                                                                                         dcast
                           FÜR POLITISCHE BILDUNG                          bpb.de/apuz-po

                  Beilage zur Wochenzeitung
AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Krieg in der Ukraine - BPB
Krieg in der Ukraine
                                APuZ 10–11/2023
GWENDOLYN SASSE · VOLODYMYR                       JULIA GRAUVOGEL · CHRISTIAN VON SOEST
YERMOLENKO · TANJA PENTER                         ERFOLG UND GRENZEN DER
24. FEBRUAR 2022: EIN JAHR DANACH                 SANKTIONSPOLITIK
Das Kriegsjahr 2022 in der Ukraine war geprägt    Westliche Staaten haben bemerkenswert schnell
von großem Leid. Zugleich brachte es neue         mit harten Sanktionen auf die Invasion Russ-
und mitunter überraschende Erkenntnisse.          lands in die Ukraine reagiert. Nach einem Jahr
Drei unterschiedliche Perspektiven auf einen      zeigen sich erste Wirkungen der Zwangsmaß-
Krieg, den vor einem Jahr nur die wenigsten für   nahmen, die Erwartungen an dieses Instrument
möglich gehalten hatten.                          sollten aber realistisch bleiben.
Seite 04–11                                       Seite 33–39

NICOLE DEITELHOFF                                 ANDRÉ HÄRTEL
WIE LÄSST SICH DER KRIEG BEENDEN?                 DIMENSIONEN DES WIEDERAUFBAUS
Ein baldiges Ende des Krieges in der Ukraine      Anders als in der Ukraine selbst hat die
wird zunehmend unwahrscheinlicher. Statt          Wiederaufbaudebatte international an Schwung
einer Verhandlungslösung zeichnet sich ein        verloren. Dabei wären wegen der Komplexität
langer Abnutzungskrieg ab, in dem die Ukraine     des Unterfangens frühzeitige Planungen not-
auf Jahre hinaus wirtschaftlich, finanziell und   wendig, um die Wiederaufbaukampagne mit den
militärisch unterstützt werden muss.              2014 begonnenen Reformen zu verknüpfen.
Seite 14–19                                       Seite 40–45

MICHAEL MÜLLER · PETER BRANDT ·                   MARTIN WENGELER
REINER BRAUN                                      REDEN ÜBER DEN KRIEG
FRIEDEN SCHAFFEN                                  Die „Zeitenwende“-Reden aus dem Februar
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine     2022 reihen sich trotz mancher Unterschiede
ist nicht zu rechtfertigen, aber er hat eine      in die Tradition deutscher Kriegs- und Aufrüs-
komplexe und komplizierte Vorgeschichte sowie     tungsreden ein. Die politischen Herausforderun-
weitreichende Folgen für die zusammengewach-      gen mögen neue sein, auf sprachlich-rhetorischer
sene Welt. Gerade Deutschland muss mehr tun       Ebene ist vieles schon einmal dagewesen.
für eine gesamteuropäische Friedensarchitektur.   Seite 47–53
Seite 20–26

FRANZISKA DAVIES
ENDE DER OSTPOLITIK?
Die Ostpolitik der 1970er und 1980er Jahre
hat nicht nur die deutsche Sozialdemokratie,
sondern auch die gesamte Außenpolitik über
viele Jahre nachhaltig geprägt. Die mit ihr
verbundene Russlandfixierung hat sowohl der
Ukraine als auch uns selbst geschadet.
Seite 28–32
AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Krieg in der Ukraine - BPB
EDITORIAL
Seit mehr als einem Jahr herrscht Krieg in der gesamten Ukraine. Nach Schät-
zungen der Vereinten Nationen und von westlichen Geheimdiensten sind dem
russischen Angriffskrieg bislang Zehntausende Frauen, Männer und Kinder in
der ukrainischen Zivilgesellschaft und noch einmal deutlich mehr Soldaten auf
beiden Kriegsseiten zum Opfer gefallen. Fast acht Millionen Menschen haben
die Ukraine mittlerweile verlassen, weitere sechs Millionen wurden zu Binnen-
flüchtlingen. Der Alptraum, der für viele Menschen in der Ukraine bereits 2014
begann, hält unvermindert an. Sein Ende ist nicht abzusehen.
   Selten war in der jüngeren europäischen Geschichte die Illegitimität eines
kriegerischen Angriffs so eindeutig wie in diesem Fall, waren Aggressor und
Opfer so klar identifizierbar. Die moralische Pflicht, den Angegriffenen zur
Seite zu stehen, kann daher nicht infrage stehen. Dass aber über Ausmaß, Form
und Ziel der Hilfe diskutiert, mitunter auch heftig polemisiert wird, gehört in
einer offenen Gesellschaft zur Auseinandersetzung dazu. Auch die Frage, wie
es zu diesem Krieg gekommen ist und welche Lehren daraus für die Zukunft
gezogen werden können, ist legitimer Gegenstand konstruktiven Streits in einer
liberalen Demokratie. Die jeweils andere Seite wahlweise als „Kriegstreiber“
oder „Russlandversteher“ zu diskreditieren, trägt gleichwohl kaum zur Verstän-
digung bei.
   Auch nach einem Jahr „Zeitenwende“ tasten sich Politik, Wissenschaft und
Gesellschaft mehr oder weniger langsam und vorsichtig an die neuen Realitäten
heran. Dabei ist es eigentlich keine Schwäche der Demokratie, sondern ihre
Stärke, dass sie sich für solch fundamentale Entscheidungen, wie sie heute von
ihr verlangt werden, Zeit nimmt und Argumente abwägt. Dass die Menschen in
der Ukraine für solche Abwägungsprozesse faktisch keine Zeit haben, gehört
allerdings ebenfalls zur Wahrheit – und zeigt das ganze Dilemma demokrati-
scher Politik in Zeiten des Krieges.

                                                     Sascha Kneip

                                                                             03
AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Krieg in der Ukraine - BPB
APuZ 10–11/2023

     24. FEBRUAR 2022: EIN JAHR DANACH
Das Kriegsjahr 2022 in der Ukraine war geprägt von großem Leid. Zugleich
brachte es neue und mitunter überraschende Erkenntnisse. Gwendolyn Sasse,
Volodymyr Yermolenko und Tanja Penter blicken aus unterschiedlichen Per-
spektiven auf einen Krieg, den vor einem Jahr nur die wenigsten für möglich
gehalten hatten.

                                                     Irpin, Butscha, Mariupol und vielen anderen Or-
                                                     ten ohne die weitere Rückeroberung von Gebie-
         Von erwartbaren                             ten keine Basis für Verhandlungen. So sieht es
                                                     ukrainischen Meinungsumfragen zufolge auch
        und überraschenden                           die große Mehrheit der Ukra­i­ner*­innen. Die in
           Entwicklungen                             der westlichen öffentlichen Debatte unnötig zu-
                                                     gespitzte Dichotomie von „Krieg versus Ver-
                                                     handlungen“ ist irreführend: Westliche militäri-
              Gwendolyn Sasse                        sche und finanzielle Unterstützung der Ukraine
                                                     zielt darauf ab, sie in eine Position zu bringen,
                                                     von der aus sie verhandeln kann. Verhandlungen
Der Beginn des Angriffskriegs Russlands auf die      über Teilaspekte des Krieges finden darüber hi-
gesamte Ukraine am 24. Februar 2022 markiert         naus statt, so zum Beispiel über Gefangenenaus-
eine Zäsur. Ein langes Jahr später sind die Dimen-   tausch oder den Export von Getreide. Westliche
sionen dieses Krieges und seine Folgen greifba-      Regierungschefs strecken in Abständen ihre Füh-
rer geworden, übersteigen in ihrer Gesamtheit        ler gen Moskau aus, um den Moment für sinn-
jedoch noch immer die individuelle Vorstellungs-     volle Verhandlungen beziehungsweise Verände-
kraft. Ein Gefühl von Unsicherheit prägt die Poli-   rungen im politischen System Russlands nicht
tik und die Gesellschaften in Europa und anderen     zu verpassen. Länder wie China, Indien und die
Teilen der Welt, und die Schwächen internatio-       Türkei pflegen weiterhin enge wirtschaftliche Be-
naler Institutionen wie der UNO sind allzu of-       ziehungen mit Russland, und ihre Beteiligung an
fensichtlich. Noch dazu zeichnet sich kein Ende      Vermittlungsversuchen ist ebenfalls nicht ausge-
dieses Krieges ab. Das zum jetzigen Zeitpunkt        schlossen. Die Türkei etwa hatte in den ersten
wahrscheinlichste Szenario ist ein noch Monate,      Wochen nach der Invasion vom Februar 2022 be-
vielleicht Jahre andauernder Krieg. Die kürzlich     reits eine aktive Vermittlerrolle eingenommen.
beschlossene Lieferung von Kampfpanzern west-
licher Bauart aus Europa und den USA reicht in                    FEHLPERZEPTIONEN
ihren Umsetzungsplänen ebenfalls schon bis ins
Jahr 2024.                                           Trotz grundlegender Veränderungen im Selbst-
    Der vor allem in der deutschen Debatte im-       verständnis westlicher Regierungen und Gesell-
mer wieder präsente Ruf nach Verhandlungen           schaften im Laufe des vergangenen Jahres haben
über einen Waffenstillstand oder gar ein Kriegs-     sich einige falsche Vorstellungen über die Ukraine
ende ist vom Grundverständnis her nachvollzieh-      erstaunlich beharrlich gehalten. Die Terminolo-
bar, verkennt aber die derzeitige Situation. Die     gie, mit der dieser Krieg beschrieben wird, bleibt
Führung Russlands zeigt keinen politischen Wil-      weiterhin problematisch. Die Begriffe „Ukraine-
len für Verhandlungen und Kompromisse – und          Krieg“ oder „Ukraine-Konflikt“ sind nach wie
die ukrainische Regierung sieht nach den von der     vor omnipräsent in den Medien und öffentlichen
russischen Armee verübten Kriegsverbrechen in        Debatten. Begrifflichkeiten prägen den Vorstel-

04
Krieg in der Ukraine APuZ

lungshorizont und damit auch die Schlussfolge-       teil derer, die sich für zivilen oder militärischen
rungen, die gezogen werden. Der Begriff „Uk-         Widerstand im Falle eines weiteren Angriffs
raine-Krieg“ vermittelt den Eindruck, dass es        Russlands auf die Ukraine aussprachen, deutlich
sich um eine interne Auseinandersetzung in der       angestiegen, aber ob eine gesellschaftliche Stim-
Ukraine handele. Nichts wäre weiter entfernt         mung politisch aktiviert wird, zeigt sich erst im
von der täglichen Realität in der Ukraine – vor      Testfall selbst.
und seit dem 24. Februar 2022. Das Bild eines in
sich gespaltenen Landes bemüht auch die russi-                    WIDERSTANDSKRAFT
sche Regierung seit Jahrzehnten und hat es mit
dem Begriff des „Bürgerkriegs“ zugespitzt. Statt-    Die Resilienz der Ukra­in ­ er*­innen ist nicht bloß
dessen handelt es sich um Russlands Krieg gegen      eine plötzliche Reaktion auf das Kriegsgesche-
die Ukraine. Es geht der Führung Russlands um        hen. Ihr liegt ein Selbstverständnis der Menschen
die Zerstörung des ukrainischen Staates und der      als ukrainische Staats­bür­ger*­innen zugrunde, das
ukrainischen Nation, der ganz offen ihr Existenz-    insbesondere durch Zyklen von Massenprotesten
recht abgesprochen wird. Die begriffliche Veren-     – die Orangene Revolution 2004 und den Euro-
gung auf „Putins Krieg“ greift dabei ebenfalls zu    maidan 2013/14 – gestärkt wurde. Massenmobili-
kurz. Dem Präsidenten und Oberbefehlshaber           sierung ist ein seltenes Phänomen. Wenn es noch
kommt selbstverständlich eine Schlüsselrolle zu,     dazu wiederholt auftritt, verändert sich die Ge-
doch das durch ihn und seine Eliten ausgebau-        sellschaft – auch über die direkt Beteiligten hi-
te autoritäre System sowie die autoritäre Gesell-    naus. Direkte und indirekte Erfahrungen, Hoff-
schaft, die von diesem System geprägt wurde und      nungen, Erwartungen, Ideen und eine kollektive
die die Entscheidungen der Staatsspitze ermög-       Erinnerung an diese Schlüsselmomente wirken
licht und mitträgt, sind Teil dieses Krieges.        lange nach, nicht zuletzt in sozialen und insti-
     Ebenso notwendig ist es, den Krieg genau zu     tutionellen Netzwerken, die zu einem späteren
datieren. Russlands Krieg gegen die Ukraine hat      Zeitpunkt reaktiviert oder neu aufgestellt werden
nicht im Februar 2022 begonnen, auch wenn die-       können. Die Erfahrungen aus den Massenprotes-
ser Satz immer wieder fällt. Der Krieg begann im     ten stehen auch in direkter Verbindung zur wach-
Februar und März 2014 mit der Besetzung und          senden Bedeutung des nicht institutionalisierten
Annexion der Krim durch Russland, setzte sich        sozialen Engagements (Volunteering). Die Ak-
im von Russland von Anfang an militärisch und        teure hinter dieser Art des Engagements gehörten
finanziell kontrollierten Krieg in Teilen des Don-   in den vergangenen Jahren ukrainischen Umfra-
bass von 2014 bis 2022 fort und kulminierte in       gen zufolge regelmäßig zu den vertrauenswür-
der groß angelegten Invasion ab dem 24. Februar      digsten „Institutionen“ – nach Armee, NGOs
2022. Diese sukzessive Ausweitung des Krieges        und, je nach Zeitpunkt der Umfrage, den Kirchen
durch Russland brachte sowohl auf russischer         oder dem Präsidenten. Dieses Engagement und
als auch auf westlicher Seite Zeit und Raum für      seine gesellschaftliche Anerkennung bildeten eine
Anpassungen mit sich. Russland hat diese Spiel-      wichtige Grundlage, auf der verschiedene For-
räume ausgetestet und ausgenutzt, während der        men des Widerstands aufbauen konnten.
Westen seine Fähigkeiten, die Situation zu stabi-        Im Zuge dieser Entwicklungen war eine auf
lisieren oder die Beziehungen zu Russland kon-       den Staat fokussierte Identität längst zur wichti-
trollierbar zu halten, überschätzt hat. Deutsch-     gen Bezugskategorie geworden. Die ukrainische
lands Nord-Stream-2-Politik ist das eklatanteste     Staatsnation entstand somit nicht erst im Februar
Beispiel dieser Fehlkalkulation.                     2022, auch wenn dies häufig behauptet wird. Von
     Trotz der Warnungen westlicher Geheim-          außen wurde die Ukraine zu häufig als ein eth-
dienste blieb Russlands Entschluss zur militäri-     nisch, sprachlich und regional gespaltenes Land
schen Eskalation in der Form eines Großangriffs      wahrgenommen. Dieser Blick hat viel mit einem
auf die Ukraine bis zuletzt für viele kaum vor-      kolonialen Blick auf Osteuropa zu tun, der eth-
stellbar. Noch überraschender war – auch für         nische und sprachliche Diversität problemati-
westliche Geheimdienste – das Ausmaß des mili-       siert und als zwangsläufig konfliktbehaftet wahr-
tärischen und zivilen Widerstands der Ukra­i­ner*­   nimmt. Die Überlappung und Kompatibilität
innen. In ukrainischen Meinungsumfragen war in       unterschiedlicher Identitäten in der Ukraine ist
den Monaten vor dem 24. Februar 2022 der An-         weithin unterschätzt worden, obwohl sozialwis-

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senschaftliche Forschung diesen Trend seit vielen     ratoren ineinander. Diese translokale ukrainische
Jahren empirisch dokumentiert. Dieses Wissen in       Gesellschaft zeichnet heute ein hoher Mobilisie-
den Mainstream der Wissenschaft, aber auch in         rungs- und Vernetzungsgrad aus. Auf nationaler
die Politik und Öffentlichkeit zu transferieren,      Ebene hat hingegen eine Zentralisierung politi-
war strukturell bedingt schwierig. Seit Februar       scher Entscheidungsprozesse statt­gefunden.
2022 wurde für Einordnungen auf der Grundlage             Die Ukraine hat sich auf tragische Weise in die
dieser Forschung im öffentlichen Diskurs mehr         mentale Landkarte Europas eingeschrieben. Soli-
Raum geschaffen. Die direkte Begegnung von            darität und Engagement für die Geflüchteten ha-
Menschen mit „der Ukraine“ in Form von ge-            ben der Ukraine in der Mitte der europäischen
flüchteten Ukra­in­ er*­innen im privaten und pro-    Gesellschaften eine dauerhafte Präsenz verschafft.
fessionellen Umfeld vermittelt nicht nur direk-       Eine „Zeitenwende“ in der öffentlichen Wahr-
te Kontakte, sondern weckt auch Interesse und         nehmung erfolgte schnell, auch im Hinblick auf
schließt Wissenslücken.                               die militärische Unterstützung für die Ukraine.
    Das eigentlich Überraschende im ersten            Die Ankündigung der politischen Zeitenwende
Kriegsjahr war die Tatsache, dass Wladimir Pu-        durch Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar
tin und die ihn umgebenden Eliten die Ukraine         2022 im Deutschen Bundestag erfolgte, gemessen
so gründlich missverstanden haben. Allen An-          an der deutschen Nachkriegsgeschichte, ebenfalls
zeichen zufolge hat man an Schlüsselstellen im        schnell. Doch für die Ukraine und ihre mittel-
System wirklich geglaubt, dass der Durchmarsch        und nordeuropäischen Nachbarn kam die darauf
nach Kyjiw mit Panzerkolonnen innerhalb weni-         aufbauende militärische Unterstützung dennoch
ger Tage gelingen würde und die russischen Trup-      zu langsam. Dies ist ein Teil des Dilemmas der
pen dort zumindest von Teilen der Gesellschaft        Gleichzeitigkeit in diesem Krieg, in dem Zeit be-
und der Eliten willkommen geheißen würden.            reits seit seinem Beginn 2014 ein entscheidender
Daraus spricht rückblickend einmal mehr die           Faktor ist.
koloniale Arroganz dem vermeintlich „kleinen
Bruder“ gegenüber. Damit verbunden sind die
selbst für westliche Geheimdienste und Vertei-
digungsministerien überraschenden offensichtli-
chen Schwächen in der russischen Kriegsführung,
insbesondere in der Logistik, der inflexiblen Be-
fehlsstruktur, der fehlenden Vorbereitung der Sol-
daten und im Rekrutierungsprozess insgesamt,
aber auch im Ausmaß der Gewaltbereitschaft der
Truppen. Was als schneller Sieg konzipiert war, ist
nun zum Test für das politische System unter Pu-
tin geworden.

                  FAKTOR ZEIT

Seit Februar 2022 sind zwischen einem Viertel
und einem Drittel der Bevölkerung der Ukraine
in Bewegung, darunter geschätzt 7 bis 8 Millionen
Binnenflüchtlinge und etwa 5 Millionen Geflüch-
tete im westlichen Ausland. Sie sind ein wichtiger    GWENDOLYN SASSE
Teil der veränderten sozialen Struktur der Ukra-      ist Wissenschaftliche Direktorin des Zentrums für
ine – dadurch, dass vor allem Frauen und Kinder       Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS)
geflüchtet sind, aber auch durch die Rekonfigu-       und Einstein-Professorin für Vergleichende
ration von persönlichen und sozialen Netzwer-         Demokratie- und Autoritarismusforschung an
ken. Diese Netzwerke sind translokal und multi-       der Humboldt-Universität zu Berlin. Bei C. H.Beck
direktional. So greifen Unterstützung bei Flucht      erschien im Herbst 2022 ihr Buch „Der Krieg gegen
und Angriffen sowie Crowdfunding für die mi-          die Ukraine“.
litärische Ausrüstung der Armee oder für Gene-        gwendolyn.sasse@zois-​berlin.de

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Krieg in der Ukraine APuZ

                                                                      ZWEITENS:
                                                            DER NIEDERGANG DER VERNUNFT
            Fünf Lehren                                          ÖFFNET DER GEWALT
                                                                     TÜR UND TOR
         aus der russischen
              Invasion                                Fast jeder „Beginn eines neuen Jahrhunderts“ hat,
                                                      wie wir aus der jüngeren Geschichte wissen, eine
                                                      Gegenbewegung zur Vernunft und Rationalität
         Volodymyr Yermolenko                         hervorgebracht. Wir kennen diesen Backlash aus
                                                      dem frühen 20. Jahrhundert mit dem Aufleben ir-
                                                      rationaler Philosophien und der Kritik an der Auf-
Ein Jahr ist vergangen, seit Russland einen großen    klärung – eine Haltung, die am Ende den Faschis-
Krieg begonnen hat, einen Krieg des 21. Jahrhun-      mus, Nationalsozialismus und Stalinismus an die
derts. Dieser Krieg hat gezeigt, dass wir nicht aus   Macht brachte. Eine ähnliche Gegenreaktion kön-
den Fehlern der Vergangenheit lernen. Aber das        nen wir zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit dem
sollten wir. Wir sollten lernen, aus diesen Fehlern   Aufkommen der Romantik und der Restaurati-
zu lernen. Ich möchte versuchen, einige Schluss-      on erkennen, in deren Folge wieder antidemokra-
folgerungen zu ziehen – in der Hoffnung, dass ir-     tische monarchische Autokratien mit ihren aus-
gendjemand einen Nutzen davon hat.                    geklügelten Unterdrückungssystemen das Sagen
                                                      in Europa hatten. Heute erleben wir eine ähnli-
              ERSTENS:                                che Gegenbewegung der Irrationalität. Rationali-
     DEMOKRATIEN KÖNNEN STÄRKER                       tät wird kritisiert, und man entdeckt das Anima-
        SEIN ALS AUTOKRATIEN                          lische im Menschen wieder. Irrationale Impulse
                                                      – In­stinkte, Emotionen, die Intuition und anderes
Im Gegensatz zu den wachsenden Selbstzweifeln         mehr – sind rehabilitiert; der Unterschied zwischen
und der zunehmenden Skepsis, die in den ver-          dem Menschen und anderen Tieren wird reduziert.
gangenen 20 Jahren in den Demokratien welt-           Dieser „biophilosophische“ Backlash hat in vie-
weit zu beobachten waren, zeigt der Krieg, dass       len Ländern ein Klima geschaffen, in dem Sektie-
sich Demokratien wehren und stärker als Auto-         rertum, Unnachgiebigkeit und Voluntarismus über
kratien sein können. Autokratien stützen sich         die Ideale der rationalen Diskussion gesiegt haben
auf Angst, Strafe, Gewalt und Ordnung; Demo-          und der „Kampf“ im Mittelpunkt steht. In Russ-
kratien auf die Ermächtigung ihrer Bürgerinnen        land hat diese Gegenbewegung ein revanchisti-
und Bürger und die individuelle Initiative. Der       sches Regime hervorgebracht, das die Welt als gro-
ukrainische Widerstand gegen die russische In-        ßen Kampf ums Überleben interpretiert und den
vasion zeigt, dass die Ermächtigung der Men-          Kult um eine „starke Hand“ und einen „männli-
schen die größte Stärke einer Demokratie ist und      chen Führer“ propagiert (an anderer Stelle habe ich
sie in die Lage versetzt, auch großen aggressiven     einmal von „Zoopolitics“ gesprochen).01
Mächten die Stirn zu bieten. Wenn eine Gesell-            Doch all diese Epochen haben auch gezeigt,
schaft so gestaltet ist, dass die einzelnen Bürge-    dass der Niedergang der Vernunft grausame Kon-
rinnen und Bürger daran gewöhnt sind, die Ini-        sequenzen hat. Die „Biologisierung“ des Men-
tiative zu ergreifen, wenn sie ihre eigene Macht      schen, die Reduzierung der Gesetze unseres Zu-
kennen und wissen, dass sie selbst Veränderun-        sammenlebens auf die Gesetze der Biologie, der
gen bewirken können, dann kann das einen gro-         Kampf um „Lebensraum“ und ums Überleben
ßen Unterschied ausmachen im Kampf gegen              bilden die Grundlage für eine überaus grausame
Regime, in denen die Bürger ihre Verantwortung        Ideologie, in der das Töten des Gegners mit der
abgegeben haben und nur aus Angst vor Strafe          Zeit zur Norm und Krieg (real oder symbolisch)
und/oder der Bereitschaft kooperieren, die Au-        als Sinn des Lebens betrachtet wird. Wir müssen
gen vor der brutalen Realität ihres Lebens zu         zu den Idealen der Aufklärung mit ihrem Fokus
verschließen. Demokratien sind stärker, als vie-
le Menschen glauben; das zeigt das Beispiel der       01 Vgl. Volodymyr Yermolenko, Russia, Zoopolitics, and Infor-
Ukraine und die weltweite Solidarität mit ihrem       mation Bombs, 26. 5. 2015, h­ ttps://euromaidanpress.com/​2015/​
Kampf.                                                05/​26/russia.

                                                                                                                   07
APuZ 10–11/2023

auf Pluralismus und Rationalität zurückkehren,          sischen Gesellschaft, in der sich in den vergange-
der Gültigkeit von Ideen und Argumenten und             nen Jahrzehnten eine Kultur des Revanchismus
dem grundlegenden Unterschied zwischen un-              mit dem Ziel entwickelt hat, die Niederlage Russ-
serer menschlichen Welt und der Tierwelt. Doch          lands im Kalten Krieg auszumerzen. In diesem
dafür müssen wir die Herausforderung anneh-             Weltbild gilt das Recht des Stärkeren, regieren
men und gegen die neue Grausamkeit der russi-           Macht und Gewalt. Die erstaunliche Unterstüt-
schen „Zoopolitics“ angehen.                            zung für den Krieg in der russischen Gesellschaft,
                                                        das Ausbleiben massiver Proteste nicht nur inner-
                  DRITTENS:                             halb Russlands, sondern auch bei den russischen
     DER KAMPF GEGEN DIE TYRANNEI                       Bürgern, die Russland seit Beginn des Krieges
        IST TEIL DER UKRAINISCHEN                       verlassen haben, zeigt, wie tief diese Haltung be-
            POLITISCHEN KULTUR                          reits geht. Die Ursachen dafür sind in der allge-
                                                        genwärtigen Gewalt zu suchen – Gewalt in der
Der ukrainische Widerstand lässt sich weder mit         Familie, beim Militär, bei der Arbeit, im Verhält-
kurzfristigen Ursachen noch mit der Rolle einzel-       nis zwischen dem Staat, der Polizei und den ganz
ner Personen erklären. Es gibt etwas in unserer Na-     normalen Menschen –, die die gesamte Gesell-
tion, das Millionen Menschen durchdringt und sie        schaft durchdringt. Dieser Masochismus der Zi-
dazu gebracht hat, sich sofort nach dem Überfall        vilgesellschaft wird zum Sadismus, wenn Bürger
freiwillig zu melden und ihr komfortables Leben –       als Opfer wiederholter Gewalt und Erniedrigung
und in vielen Fällen auch ihre Gesundheit und ihr       instinktiv versuchen, die Gewalt, die er oder sie
Leben – für ihr Land aufs Spiel zu setzen oder gar      erlebt hat, auf andere zu übertragen, oder, um sich
zu opfern. Dieses „Etwas“ ist eine tiefsitzende Ab-     als Teil eines größeren Ganzen zu fühlen, Gewalt
scheu vor der tyrannischen Politik, die der russi-      gegen andere ausüben. Masochismus, der zu Sa-
sche Imperialismus seit Jahrhunderten verkörpert.       dismus wird, ist ein Symptom dieser Entwick-
Diese Haltung ist seit Generationen in der ukrai-       lung. Ein weiteres Symptom ist der angespro-
nischen Gesellschaft lebendig, auch wenn immer          chene Hass auf den Rationalismus, der auch in
wieder versucht wurde, sie auszurotten. Sie hat         Kernelementen der russischen Literatur und Kul-
sich regeneriert und entfaltet heute eine neue, tief-   tur (angefangen bei Wladimir Solow­jew und Fjo-
greifende Kraft. Die politische Kultur der Ukraine      dor Dostojewski) zum Ausdruck kommt und oft
basiert im Gegensatz zur russischen auf der Idee,       so weit geht, dass der westliche „Rationalismus“
dass Tyrannei illegitim ist, dass Freiheit das höchs-   zugunsten der „russischen Seele“ abgelehnt wird.
te Gut ist, zivile Gewalt nicht tolerierbar ist, die    Das dritte Element ist die Vernachlässigung des
Gesellschaft pluralistisch sein und jeder Mensch in     Individualismus, wie man ihn in der russischen
seiner Würde geschützt werden sollte. Diese Werte       intellektuellen Tradition und der Vorstellung ei-
– die ich als „republikanisch“ bezeichne, abgelei-      ner größeren „panideologischen Gemeinschaft“
tet von res publica, dem „Gemeinwesen“, das wie-        findet.
derum auf die griechische politeia zurückgeht, die          Politischer und gesellschaftlicher Sadomaso-
politische Gemeinschaft, die all ihren Mitgliedern      chismus, Hass auf die Vernunft und die Vernach-
die Mitwirkung ermöglicht – existierten in Ost-         lässigung des Individualismus sind Symptome ei-
europa schon viele Jahrhunderte, bevor das russi-       ner Krankheit, die die russische kulturelle und
sche Reich im 18. Jahrhundert expandierte und die       politische Tradition befallen hat, und die mitver-
Staaten der Polen, Ukrainer und Krimtataren zer-        antwortlich für den aktuellen Krieg ist.
störte. Heute besteht die Chance, diese republika-
nische Kultur wieder aufleben zu lassen.                              FÜNFTENS:
                                                              EINE GESUNDE GESELLSCHAFT
                 VIERTENS:                                   WAHRT DIE BALANCE ZWISCHEN
       DIE RUSSISCHE GESELLSCHAFT                                  AGORA UND AGON
      IST DURCHDRUNGEN VOM KULT
               DER GEWALT                               Die republikanische politische Kultur hat zwei
                                                        Säulen: die Agora und den Agon. Auf der Agora,
Es ist falsch, diesen Krieg als „Putins Krieg“ zu       dem Marktplatz, trifft man sich und tauscht sich
bezeichnen. Putin ist nur ein Symptom der rus-          aus – Waren, Worte, Ideen, Gefühle, Erfahrungen

08
Krieg in der Ukraine APuZ

und Geschichten. Auf dem Agon, dem Schlacht-
feld, kämpft man. Auf der Agora gewinnen beide
Seiten, auf dem Agon nur eine. Weisheit in einer                  Aus Krisen lernen
Gesellschaft bedeutet, zu wissen, wo der Agon
seinen Platz hat und wo die Agora.                                        Tanja Penter
    Wenn der Agon das einzige Prinzip einer Ge-
sellschaft ist, wird eine Unterhaltung unmöglich.
Dann ist der Kampf die einzige Form der Inter-        Das schlimme erste Jahr des Krieges in der Ukra-
aktion. Daraus entstehen in der Regel faschisti-      ine war auch ein Jahr voller Überraschungen.
sche Ideologien, die Verehrung eines Kriegers         Zu diesen Überraschungen zählen die Brutali-
als Anführer und ein Kult der Gewalt. Wenn die        tät des russischen Angriffs und die zahlreichen
Agora das einzige Prinzip ist, besteht das Risiko,    Kriegsverbrechen ebenso wie der starke Wider-
dass man auch Kompromisse mit dem Bösen ein-          standswille der Ukra­i­ner:­innen und ihre schnel-
geht, man sich also auf einen Pakt mit dem Teu-       le Selbstbehauptung im internationalen Kom-
fel einlässt. Das Beispiel der Ukraine zeigt, dass    munikations- und Informationsraum. Ebenso
sich Agora und Agon kombinieren lassen. Diese         unerwartet waren die entschlossene Reaktion der
Synthese ist schwierig, aber möglich. Nach innen      Nato und ihrer Mitgliedstaaten, die rasche Eini-
schätzt man die Agora, die Pluralität innerhalb       gung der europäischen Regierungen auf Sankti-
der Gesellschaft, ist aber gleichzeitig auch in der   onen und Waffenlieferungen an die Ukraine, die
Lage, die eigenen Grenzen nach außen zu vertei-       Bereitschaft der europäischen Zivilgesellschaften,
digen, sich dem Kampf, dem Agon, zuzuwenden,          Millionen von ukrainischen Geflüchteten aufzu-
wenn es nötig ist.                                    nehmen, aber auch die offenkundigen Schwächen
    Das sind die fünf Lehren, die ich aus dem         des russischen Militärs, das bei seinen Planungen
vergangenen Jahr gezogen habe. Es gibt jedoch         offenbar deutlichen Fehleinschätzungen über die
noch eine sechste, und sie ist vielleicht sogar die   Ukraine aufgesessen ist. Der Schrecken über den
wichtigste: Es gibt keinen höheren Wert als das       Grad der „Zombisierung“01 der russischen Ge-
menschliche Leben. Es gibt keine größere Tragö-       sellschaft ging zugleich mit der Erkenntnis einher,
die als den Verlust des Lebens. Es gibt keine grö-    dass auch unter der mit nackter Gewalt regieren-
ßere Ungerechtigkeit als die, dass eine Mutter ihr    den Putinschen Diktatur ziviler Protest niemals
Kind verliert. Wir brauchen diesen Krieg nicht,       vollständig ausradiert werden kann.02
um all das zu lernen.                                     Die Geschichte, deren Ende 1989 von Francis
    Und die letzte Schlussfolgerung: Das Gute         Fukuyama voreilig vorausgesagt worden war,03
wird siegen. Die Ukraine wird siegen. Die Frei-       ist 2022 mit solcher Wucht zurückgekehrt, dass
heit wird siegen. Doch für diesen Sieg braucht die    selbst His­to­ri­ker:­innen überrascht waren. Das
Ukraine Unterstützung. Es gibt Zeiten, in denen       Ausmaß und die extreme Geschwindigkeit, mit
die Agora sich selbst verteidigen muss, in denen      der die „Zeitenwende“ voranschritt und neue Tat-
sie kämpfen muss. Sonst wird sie verschwinden.        sachen von voraussichtlich langanhaltender Wir-
                                                      kung schuf, kam auch für viele Ost­eu­ro­pa­ex­pert:­
Übersetzung aus dem Englischen: Heike Schlatterer,    innen unerwartet. Der entscheidende Treiber für
Pforzheim.                                            die gewalttätige Rückkehr der Geschichte war ein
                                                      russischer Präsident, der seinen völkerrechtswid-
                                                      rigen Angriffskrieg in bizarren Geschichtsaufsät-
                                                      zen und Reden mit historischen Bezügen zu legiti-
                                                      mieren versuchte und seine Politik unter anderem
                                                      in die Tradition der Expansionspolitik des Russi-
VOLODYMYR YERMOLENKO
ist Philosoph und Essayist, Chefredakteur der         01 Der Begriff der Zombisierung steht für die Manipulation der
Onlineplattform „UkraineWorld“ und Leiter der         russischen Gesellschaft durch die Staatspropaganda.
                                                      02 Einige mutige Beispiele finden sich bei Michael Thumann,
Abteilung für politische Analysen bei „Internews
                                                      Revanche. Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt ge-
Ukraine“. Er lehrt an der Mohyla-Akademie in Kyjiw    schaffen hat, München 2023, Kapitel 12.
und ist Präsident des PEN Ukraine.                    03 Vgl. Francis Fukuyama, The End of History and the Last
vyermolenko@internews.ua                              Man, New York 1992.

                                                                                                                 09
APuZ 10–11/2023

schen Imperiums seit Peter I. stellte.04 Geschichte                  Wissenschaft betroffen ist. So ist es etwa schwie-
war von Wladimir Putin bereits vor seinem An-                        riger geworden, Visa und Fördermittel für russi-
griff auf die Ukraine instrumentalisiert worden,                     sche Kol­leg:­innen zu bekommen. Gleichwohl ist
um von wachsenden innergesellschaftlichen Pro-                       es wichtig, die letzten Brücken nicht abzubre-
blemen und der gescheiterten Modernisierung des                      chen, sondern die Kontakte zu kritischen russi-
Landes abzulenken.05 Während ideologisch aufge-                      schen Wis­sen­schaft­ler:­innen aufrechtzuerhalten.
ladene Geschichtsbilder und -klitterungen in Pu-                     Nicht wenige von ihnen sind inzwischen in Staa-
tins Russland zunehmend als Legitimationsquel-                       ten des Kaukasus und Zentralasiens migriert, die
le für staatliche Politik instrumentalisiert wurden,                 sich zu neuen Zentren des russischen Massenexo-
wuchs auch das Berufsrisiko strafrechtlicher Ver-                    dus entwickeln. Die georgische Hauptstadt Tiflis,
folgung für kritische His­to­ri­ker:­innen.06                        die bereits einige internationale Organisationen
                                                                     beherbergt, könnte zukünftig noch stärker in den
       BESCHLEUNIGTE VERFLECHTUNG                                    Fokus der internationalen Wissenschaftskoope-
           UND ENTFLECHTUNG                                          ration rücken und zu einer Art Begegnungsort
                                                                     für For­scher:­innen aus dem postso­wje­tischen
Der russische Angriffskrieg setzte auf vielen ge-                    Raum werden.08
sellschaftlichen Ebenen eine ukrainisch-deutsche                         Wir lernen aus den Erfahrungen des vergan-
Verflechtung in Gang oder beschleunigte sie, die                     genen Jahres, dass Prozesse der Verflechtung und
in der Wissenschaft erst nach 2014 langsam be-                       Entflechtung, wenn sie auf einem breiten politi-
gonnen hatte. Viele deutsche Universitäten nah-                      schen und gesellschaftlichen Konsens beruhen,
men geflüchtete ukrainische Wis­sen­schaft­ler:­                     mit großer Geschwindigkeit erfolgen können.
innen und Studierende auf; deutsche Stiftungen                       In der Krise ist schnelles Handeln möglich, wie
starteten bemerkenswert schnell und unbüro-                          nicht zuletzt die erfolgreiche Abwendung der
kratisch entsprechende Hilfsprogramme.07 Ein                         Energienotlage und die Verringerung der deut-
Nebeneffekt dieser Entwicklung ist, dass die In-                     schen Abhängigkeit von russischen Gaslieferun-
ternationalisierung und Vernetzung der ukraini-                      gen verdeutlichen. Dies lässt hoffen, dass mit die-
schen Geschichtswissenschaft, die Stärkung der                       sen Erfahrungen und Lerneffekten auch andere
Ukraineexpertise an deutschen Universitäten und                      internationale Großkrisen zukünftig gemeistert
der Aufbau zukünftiger neuer Kooperationen be-                       werden können.
schleunigt und befördert wurde.
    Mit ebenso großer Geschwindigkeit voll-                                               LERNPROZESSE
zog sich zugleich, vorangetrieben durch Putins
Politik der Isolation, eine Entflechtung der rus-                    Ich möchte den Blick auf diese Lernprozesse
sisch-deutschen Beziehungen, von der auch die                        richten, weil sie, trotz aller berechtigten düs-
                                                                     teren mittelfristigen Zukunftsprognosen, auch
04 Vgl. Andreas Kappeler, Revisionismus und Drohungen.               etwas Hoffnung machen. Zu Beginn des Krie-
Vladimir Putins Text zur Einheit von Russen und Ukrainern, in:       ges waren es vor allem die Lehren und Erfah-
Osteuropa 7/2021, S. 67–76; siehe auch Putins Reden vom              rungen aus der Corona-Pandemie, die uns hal-
21. sowie vom 24. Februar 2022 in: Osteuropa 1–3/2022,
                                                                     fen, die neuen Herausforderungen anzugehen.
S. 119–135, S. 141–148.
05 Vgl. Klaus Gestwa, Putin, der Cliotherapeut. Überdosis an
                                                                     Die digitale Kommunikation in Form von Vi-
Geschichte und politisierte Erinnerungskonflikte in Osteuropa, in:   deo-Konferenzen, Webinaren oder der Nutzung
Neue Politische Literatur 67/2022, S. 15–53; Guido Hausmann/         von Messenger-Diensten war in der Pandemie
Tanja Penter, Der Gebrauch der Geschichte. Ukraine 2014: Ideo-       für uns selbstverständlich geworden, und daran
logie vs. Historiographie, in: Osteuropa 9–10/2014, S. 35–50.
                                                                     konnte nach dem 24. Februar 2022 angeknüpft
06 Davon zeugen zum Beispiel die regelmäßigen Länder-
und Jahresberichte des Network of Concerned Historians,
                                                                     werden: Vom ersten Kriegstag an hielten wir
www.concernedhistorians.org.                                         His­to­ri­ker:­innen und Ost­eu­ro­pa-Ex­pert:­innen
07 Dazu zählen große Stiftungen wie etwa die VW-Stiftung,            enge Kontakte zu unseren ukrainischen Kol­
die schon 2016 ein Programm zur Förderung ukrainisch-russisch-       leg:­
                                                                         innen, die auf zahlreichen Videokonferen-
deutscher Forschungskooperationen aufgelegt hatten, oder die
Philipp-Schwartz-Initiative der Humboldt-Stiftung für verfolgte
Wis­sen­schaft­ler:­innen, aber auch die kleinere Vector-Stiftung,   08 In Tiflis plant nun auch die Max Weber Stiftung, ein neues
die bis dahin hauptsächlich Forschung und Bildung im MINT-           Büro zu eröffnen. Ein dringendes Desiderat bleibt die Einrichtung
Bereich förderte.                                                    eines Standortes der Stiftung in Kyjiv.

10
Krieg in der Ukraine APuZ

zen das Publikum unmittelbar an ihren Kriegs-                        auch die Feststellung eines Vermittlungsproblems
erfahrungen teilhaben ließen und diese zugleich                      und die Einsicht, dass die Osteuropawissenschaft
wissenschaftlich einzuordnen versuchten. Allen                       nicht erst seit 2014 mit ihren Forschungserkennt-
russischen Angriffen zum Trotz konnten ukrai-                        nissen Politik und Öffentlichkeit nicht ausrei-
nische Kol­leg:­innen weiterhin am internationa-                     chend erreicht hat. Im Ergebnis könnte der Krieg
len wissenschaftlichen Austausch teilhaben und                       in der Ukraine also positive Impulse sowohl für
hier wichtige Impulse ­setzen.9 Bemerkenswert                        den Zusammenhalt im Fach als auch für den Wis-
ist auch, wie es ukrainischen Autor:innen, die                       senstransfer in die Öffentlichkeit setzen.
kraftvoll gegen den Krieg anschreiben, in kur-
zer Zeit gelungen ist, den deutschen Buchmarkt                                          AUSBLICK
zu erobern.10
    In der deutschen Osteuropawissenschaft hat                       Nur eine Randnotiz war in diesem schlimmen ver-
der Ukrainekrieg nicht nur eine kritische Selbst-                    gangenen Jahr der Tod von Michail Gor­ba­tschow
reflexion im Hinblick auf die bisherige starke                       am 30. August, der im Schatten der Zeitenwen-
Russland-Fokussierung und Diskussionen über                          de des 24. Februars ebenfalls das Ende einer Epo-
eine notwendige Dekolonisierung der Osteuro-                         che besiegelte. Die Erinnerung an Gor­ba­tschow,
päischen Geschichte angestoßen,11 sondern auch                       der, wie der russische Friedensnobelpreisträger
das Bewusstsein für die Notwendigkeit des Wis-                       Dmitrij Muratov in einem Nachruf festhielt, den
senstransfers in eine breite Öffentlichkeit ge-                      Krieg verachtete und seinem Land und der Welt
schärft. Angesichts der Vielzahl neuer Aufga-                        das unglaubliche Geschenk des Friedens bereitet
ben, die der Krieg mit sich brachte – angefangen                     hatte,13 lässt hoffen, dass in Russland irgendwann
bei der Wissensvermittlung in die Öffentlichkeit                     in der Zukunft auch wieder friedliche Entwick-
über die Präsenz in (digitalen) Medien bis hin zur                   lungen möglich sein werden. Vielleicht kann dann
konkreten Unterstützung geflüchteter Kol­     leg:­                  nachgeholt werden, was 1991 nach dem Ende der
innen und Studierender –, erwies es sich als hilf-                   So­wjet­union nicht gelungen ist und sich heute als
reich, die Ressourcen und Kompetenzen in ge-                         hochexplosives Erbe der Sowjetepoche erweist:
meinsamen (digitalen) Veranstaltungsformaten                         die gemeinsame Aufarbeitung der geteilten Ge-
zu bündeln. Zudem reifte die Erkenntnis, dass                        waltgeschichte des 20. Jahrhunderts durch His­
wir als Fach enger zusammenstehen müssen, um                         to­ri­ker:­innen aus den Nachfolgestaaten der So­
medienwirksamen „Ex­    pert:­
                             innen“ auch öffent-                     wjet­ union – mit dem Ziel, Verständigung und
lich stärker zu widersprechen.12 Dahinter13 steht                    Aussöhnung zu befördern und zu einer geteil-
                                                                     ten Erinnerungskultur zu finden. Angesichts des
                                                                     andauernden Krieges, der den Menschen in der
9 Siehe zum Beispiel die Online-Seminarreihe der Deutsch-
                                                                     Ukraine größte Opfer abverlangt, ist dies derzeit
Ukrainischen Historischen Kommission „Historians and the War:
Rethinking the Future“, www.duhk.org/historians-​and-​war.
                                                                     aber nur eine ferne Wunschvorstellung.
10 Siehe zum Beispiel die Teil­neh­mer:­innen des deutsch-ukra-
inischen Schrift­stel­ler:­innen­tref­fens in Weimar: www.klassik-
stiftung.de/ihr-besuch/veranstaltung/eine-bruecke-aus-papier.
Auch in der russischsprachigen Literatur erfährt Antikriegslyrik
eine expressive Blüte. Siehe z. B. den Sammelband „Poesie der
Endzeit“: Jurij Leving, Poezija poslednego vremeni. Chronika, St.
Petersburg 2022.
11 Siehe unter anderem die Diskussionsbeiträge zur Lage
des Faches in Ab Imperio 1/2022, der Historischen Zeit-
schrift 2/2022 sowie im demnächst erscheinenden Band der
Jahrbücher für Geschichte Osteuropas (JGO) 1/2023.
12 Siehe zum Beispiel die Wortmeldungen von Fach­ver­tre­ter:­
innen zu den Vorträgen von Gabriele Krone-Schmalz: Franziska
Davies, Desinformationsexpertin. Russland, die Ukraine und
Frau Krone-Schmalz, in: Osteuropa 9–10/2022, S. 245–265;
Heidelberger Podiumsdiskussion „Desinformation, Social Media
                                                                     TANJA PENTER
und die Rolle von Ex­pert:­innen“, www.youtube.com/watch?​v=​
Lw72t0ohfyQ.
                                                                     ist Professorin für Osteuropäische Geschichte an
13 Vgl. Dmitrij Muratov, Gorbatschow, 31. 8. 2022, h­ ttps://        der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg.
novayagazeta.ru/articles/​2022/​08/​31/gorbachev.                    tanja.penter@zegk.uni-​heidelberg.de

                                                                                                                        11
APuZ 10–11/2023

                  WIE LÄSST SICH DER KRIEG
                  IN DER UKRAINE BEENDEN?
                                          Nicole Deitelhoff

Der berühmte Militärtheoretiker Carl von Clause-       territoriale Integrität, das allen Staaten gleicherma-
witz formulierte einmal, der Krieg beginne erst mit    ßen zukommt, und nicht zuletzt das Bekenntnis
der Verteidigung.01 Dieses Bonmot muss dem frisch      zu Menschenrechten. Es würde mithin die Sicher-
gewählten brasilianischen Präsidenten Lula da Silva    heit aller europäischen Staaten gefährden.
im Ohr geklungen haben, als er Ende Januar 2023            Wie steht es aus dieser Perspektive um die
den deutschen Bundeskanzler bei einer gemeinsa-        Frage, wie dieser Konflikt beendet werden kann?
men Pressekonferenz zur Frage der Unterstützung        Der Blick auf die Entwicklungen in der Ukraine
der Ukraine im Krieg gegen Russland wissen ließ,       und ein knapper Durchgang durch die Forschung
dass sich zwei nicht streiten könnten, wenn einer      zu Kriegsbeendigungen legen nahe, dass ein bal-
nicht wolle.02 Die Logik ist bestechend, und man       diges Ende des Konflikts zu Beginn des Jahres
hört sie bisweilen auch im deutschen Mediendis-        2023 unwahrscheinlicher wird. Stattdessen zeich-
kurs. Würde die Ukraine die Kampfhandlungen            net sich ein langer Abnutzungskrieg ab, in dem
einstellen, hätte sie sie gar nicht erst aufgenom-     die westlichen Staaten die Ukraine auf Jahre hi-
men oder würde der Westen seine Unterstützung          naus massiv wirtschaftlich, finanziell und vor al-
der Ukraine einstellen, so die Argumentation, gäbe     lem militärisch unterstützen müssen.
es diesen Krieg nicht, würde er die Welt nicht so
in Mitleidenschaft ziehen oder wäre er doch längst                   WIE KRIEGE ENDEN
mit weit weniger Opfern beendet worden. In ihrer
Konsequenz und nach allem, was sich in der Ukra-       Die Wege, auf denen Kriege enden können, sind
ine seit Ausbruch dieses Krieges beobachten lässt      zahlreich: Sie reichen von der militärischen Ent-
und vom Angreifer, Russland, zu hören ist, wäre es     scheidung, im Sinne einer Entscheidungsschlacht
wohl darauf hinausgelaufen, dass es die Ukraine als    oder schlicht einer erdrückenden militärischen
unabhängigen Staat heute nicht mehr gäbe. Nicht        Überlegenheit, über Waffenstillstände und De-
der Streit wäre verschwunden, sondern der Streit-      mobilisierungsmaßnahmen zu Friedensabkom-
gegner. Und auch hinsichtlich der Frage, wie viele     men mit und ohne Vermittlung Dritter bis hin zur
Opfer dieser Krieg kostet, gibt es mit Blick auf die   Erschöpfung beziehungsweise dem Einfrieren
russische Militär- und vor allem Besatzungspraxis      von Konflikten ohne eindeutiges Ergebnis. Diese
in der Ukraine keine eindeutige Antwort.               unterschiedlichen Enden – oder besser: Ausgän-
    Das alles weist darauf hin, dass die Frage,        ge – sind nicht vollständig unabhängig voneinan-
wie sich dieser Krieg beenden lässt, nicht losge-      der, sondern stehen in vielfältigen Beziehungen
löst von der Frage erörtert werden kann, welches       zueinander. Während in Verhandlungen um ein
Ende man dafür in Kauf zu nehmen bereit ist. En-       Friedensabkommen gerungen wird, gehen oft-
den gibt es viele, aber nicht alle sind gleicherma-    mals die Kämpfe weiter, weil die Parteien hoffen,
ßen wünschenswert. Aus der Perspektive einer auf       einen entscheidenden militärischen Vorteil auf
Status quo, Kooperation und Menschenrechts-            dem Schlachtfeld erringen zu können, der ihre
schutz setzenden europäischen Friedens- und Si-        Verhandlungsposition stärkt.03 Waffenstillstände
cherheitsordnung ist das oben skizzierte Ende          leiten oftmals keinen Frieden ein, sondern eher
nicht akzeptabel, würde es doch die grundlegen-        eine Ruhephase in einem Abnutzungskrieg, die
den Prinzipien der europäischen und der interna-       dann endet, wenn eine oder beide Parteien wieder
tionalen Friedensordnung mit Füßen treten: das         über hinreichend Ressourcen verfügen, um die
Prinzip, dass Grenzen nicht mit Gewalt verändert       Kämpfe fortzuführen. Viele Kriege haben kein
werden dürfen, das damit einhergehende Recht auf       eindeutiges Ergebnis, sondern gehen eher durch

14
Krieg in der Ukraine APuZ

eine Reihe von Kriegsepisoden, die unterschied-                    vermuten ist, dass die beiden Kriegsformen un-
liche Formen der (Zwischen-)Beendigungen auf-                      terschiedliche Dynamiken in ihren Ursachen,
weisen, bevor es zu einem dauerhaften Frieden                      Verläufen und eben auch Enden aufweisen, ist es
kommt. Beispiele dafür sind etwa die Konflikte                     wichtig, zwischen ihnen zu differenzieren, um
zwischen Israel und seinen Nachbarn, die teil-                     eine Verzerrung in den Ergebnissen zu vermei-
weise bis heute keinen formalen Friedensschluss                    den. Tut man das, gibt es aber gleichwohl eini-
kennen oder erst jüngst in einen Friedensprozess                   ge Erkenntnisse, die auch für die aktuelle Debatte
überführt wurden.123                                               um den Russischen Angriffskrieg in der Ukraine
    Obwohl eine breite, datengestützte Forschung                   von Relevanz sind.
zu Gewaltkonflikten existiert, gilt das nicht in glei-                 Anders als vielfach argumentiert, wird dann
chem Maße für die spezifische Analyse von Kriegs-                  deutlich, dass fast die Hälfte der vom UCDP ko-
beendigungen. Allerdings gibt es Datensätze und                    dierten Ausgänge zwischenstaatlicher Konflikte
-analysen, die sich mit der Frage der Beendigung                   auf eine Form von Verhandlung verweisen. Die
von Gewaltkonflikten befassen. Dazu zählen bei-                    Kriegsbeendigungen durch Verhandlung stei-
spielsweise das Conflict Termination Dataset des                   gen dabei nach Ende des Kalten Krieges in den
Uppsala Conflict Data Project (UCDP)04 oder                        1990er Jahren deutlich an, pendeln sich aber in
auch die Daten der Arbeitsgemeinschaft Kriegs-                     den 2000er Jahren wieder auf dem Niveau des
ursachenforschung (AKUF) der Universität Ham-                      Kalten Krieges ein. Zu den Kriegsbeendigun-
burg.05 Die Datensätze weisen zwar einige Un-                      gen, die mit Verhandlungen zusammenhän-
terschiede hinsichtlich der Zählung (Kodierung)                    gen, zählt der Conflict-Termination-Datensatz
gewaltsamer Konflikte und Konfliktbeendigungen                     sowohl begonnene und beendete Friedens-
auf, dennoch lassen sich grobe Muster der Kriegs-                  verhandlungen beziehungsweise Abkommen
beendigung aus ihnen ablesen.                                      (16 Prozent) als auch Waffenstillstandsabkom-
    Um das mit Blick auf den aktuellen Konflikt                    men ­(30 ­Prozent).07
in der Ukraine zu tun, muss aber beachtet werden,                      Nur 20 Prozent der zwischenstaatlichen
dass die Datensätze differenziert nach Konflikt-                   Konflikte enden dagegen mit einem militäri-
typen ausgewertet werden müssen. Das ist wich-                     schen Sieg beziehungsweise einer Niederlage.08
tig, weil dort weitaus mehr innerstaatliche Kon-                   Das steht in deutlicher Diskrepanz zu inner-
flikte als zwischenstaatliche kodiert sind. Schon                  staatlichen Konflikten, bei denen militärische
seit Ende des Zweiten Weltkrieges hat sich das                     Entscheidungen immerhin mehr als 30 Pro-
Kriegsgeschehen immer mehr zu innerstaatlichen                     zent der Fälle ausmachen.09 Für beide gilt aber,
Konflikten hin verlagert, während zwischenstaat-                   dass ein erheblicher Anteil der Konflikte ohne
liche Kriege, wie jener zwischen Russland und                      klares Ergebnis endet: Bei zwischenstaatli-
der Ukraine, kontinuierlich in ihrem Anteil am                     chen Konflikten sind es über 30 Prozent, bei
Kriegsgeschehen abgenommen haben.06 Da zu                          innerstaatlichen Konflikten 40 Prozent. Hier-
                                                                   bei handelt es sich um Konflikte, bei denen die
                                                                   Kriegshandlungen eher aus Erschöpfung erlah-
01 Vgl. Carl von Clausewitz, Vom Kriege, hrsg. von Werner          men, aber bei entsprechendem Ressourcenzu-
Hahlweg, Bonn 1980, S. 644.
                                                                   fluss auch schnell wieder aufflammen können.
02 Vgl. Matthias Wyssuwa, Lulas „Friedensklub“ soll den Krieg
beenden, 31. 1. 2023, www.faz.net/-​18642288.html.
                                                                   Es sind mithin eingefrorene Konflikte, wie wir
03 Vgl. Nicole Deitelhoff, Verhandlungen unter Feinden. Warum
im Ukrainekrieg Gespräche unbedingt geboten sind, in: Blätter
für deutsche und internationale Politik 12/2022, S. 49–55.         07 Viele Konflikte enden nicht mit einem abgeschlossenen
04 Vgl. Joakim Kreutz, How and When Armed Conflicts End:           Friedensabkommen, sondern eher mit umfassenden Waffen-
Introducing the UCDP Conflict Determination Dataset, in: Journal   stillstandsabkommen und eventuellen weiteren Abkommen zu
of Peace Research 2/2010, S. 243–250.                              Demobilisierungsmaßnahmen. Vgl. dazu auch Tanisha Fazal,
05 Vgl. www.wiso.uni-​hamburg.de/fachbereich-​sowi/profes-         The Demise of Peace Treaties in Interstate War, in: International
suren/jakobeit/forschung/akuf.html sowie Wolfgang Schreiber,       Organization 4/2013, S. 695–724.
Die Ukraine wird gewinnen. Einschätzungen aus der Forschung        08 Vgl. Kreutz (Anm. 4), S. 246. Auch hierbei ist anzumerken,
zu Kriegsbeendigungen, in: Wissenschaft & Frieden 3/2022,          dass „militärische Niederlage“ in den allerseltensten Fällen eine
S. 12 ff.                                                          bedingungslose Kapitulation bezeichnet, sondern meist einen
06 Vgl. Shawn Davies/Therese Pettersson/Magnus Öberg,              Rückzug aufgrund deutlicher militärischer Überlegenheit der
Organized Violence 1989–2021 and Drone Warfare, in: Journal        Gegenseite meint.
of Peace Research 4/2022, S. 593–610.                              09 Vgl. ebd., S. 246; Schreiber (Anm. 5).

                                                                                                                                  15
APuZ 10–11/2023

 sie in Russlands Nachbarschaft, etwa im Kau-                            Kommt es nicht zu einem raschen Sieg einer
 kasus, vielfach ­beobachten.                                       Seite in einem Konflikt, steigt die Wahrscheinlich-
     Allerdings sagen diese Zahlen nur wenig über                   keit einer Verhandlungslösung, wenn für beide
 die Nachhaltigkeit von Kriegsbeendigungen aus.                     Konfliktparteien die Kosten der Kriegsführung
 Dazu zeichnen die jeweiligen Datensätze kein                       jene der Verhandlungen systematisch überstei-
 allzu optimistisches Bild: Wenn wir als Grund-                     gen. Das ist der sogenannte Reifungsmoment in
 lage für einen dauerhaften Frieden annehmen,                       einem Konflikt,14 der allerdings theoretisch sehr
 dass fünf Jahre keine Kriegshandlungen mehr                        viel klarer erscheint, als er empirisch zu beobach-
 stattfinden, so zeigt sich, dass in innerstaatlichen               ten, geschweige denn zu prognostizieren ist. Der
 Konflikten militärische Siege beziehungsweise                      klassische Fall für einen solchen Reifungsmo-
 Niederlagen die höchste Wahrscheinlichkeit für                     ment ist der sogenannte mutually hurting stale-
 einen nachhaltigen Frieden nach sich ziehen.10                     mate, der dann entsteht, wenn die Konfliktpartei-
 In zwischenstaatlichen Konflikten, in denen                        en in einem Patt gefangen sind, in dem keine Seite
 militärische Siege noch einmal seltener auftre-                    mehr nennenswerte militärische Erfolge erzielt,
 ten und Verhandlungslösungen stärker vertre-                       aber beide erhebliche Verluste erleiden.
 ten sind, führen immer noch 37 Prozent aller                            Ebenfalls möglich sind Situationen, in denen
 Verhandlungslösungen zu einem Rückfall in die                      sich Präferenzen der Kriegsparteien deutlich ver-
­Gewalt.11                                                          ändern. Das kann zum Beispiel geschehen, wenn
     Insgesamt weisen innerstaatliche Kriege                        es auf einer Seite zum Regierungswechsel kommt
 durchschnittlich eine höhere Dauer auf als zwi-                    oder die innenpolitische Unterstützung für den
 schenstaatliche Kriege.12 Dabei zeigt sich, dass                   Kriegskurs zusammenbricht – oder auch durch
 Kriege, die mit einer militärischen Entscheidung                   das Verhalten dritter Akteure, die Druck ausüben
 (Sieg oder Niederlage) enden, statistisch gesehen                  können, indem sie Sanktionen verhängen oder
 von kürzerer Dauer sind, während solche, die in                    militärisch unterstützen, und damit Anreize für
 Verhandlungen enden, länger andauern. Das lässt                    Verhandlungen setzen. Dazu kann auch die An-
 sich umdrehen: Kommt es binnen der ersten Wo-                      drohung der Beendigung externer Unterstützung
 chen und Monate nicht zu einer klaren militä-                      zählen. Mit Blick auf die AKUF-Daten zeigt sich
 rischen Entscheidung zugunsten einer Seite, ist                    etwa, dass es bei externem Druck gerade der Weg-
 die Wahrscheinlichkeit hoch, dass der jeweili-                     fall dieses Drucks ist, der eine Kriegsbeendigung
 ge Konflikt von langer Dauer sein wird. Das gilt                   beschleunigt.15
 auch für asymmetrische Kriege, bei denen eine
 Großmacht gegen einen konventionell stark un-                                    DIE LAGE AM ENDE
 terlegenen Gegner antritt. Kommt es in solchen                                DES ERSTEN KRIEGSJAHRES
 Konflikten nicht zu einer schnellen militärischen
 Entscheidung, ziehen sie sich lange hin, weil                      Was bedeuten nun diese Trends und Muster für
 Großmächte, mit asymmetrischer Kriegsführung                       eine Beendigung des Krieges in der Ukraine?
 konfrontiert, lange brauchen, um eine Niederlage                   Sie sind zuallererst das: Trends und Muster, die
 zu akzeptieren beziehungsweise die Unmöglich-                      keine konkrete Vorhersage für einen speziellen
 keit des Gewinnens einzusehen und einen Rück-                      Konflikt zulassen. Was sie aber erlauben, sind
 zug einzuleiten.13                                                 Aussagen über eher wahrscheinliche und eher
                                                                    unwahrscheinliche Szenarien für einen konkreten
10 Vgl. Kreutz (Anm. 4), S. 247. Allerdings argumentieren Gro-      Konflikt, und um die soll es im Folgenden gehen.
mes und Ranft unter Zuhilfenahme eines neueren Datensatzes zu           Russlands Krieg gegen die Ukraine dauert
Bürgerkriegen, dass Friedensabkommen ein ähnliches Potenzial
                                                                    mittlerweile seit mehr als einem Jahr an, obwohl
zur Senkung des Rückfallrisikos aufweisen wie militärische Siege.
Vgl. Thorsten Gromes/Florian Ranft, Preventing Civil War Recur-
                                                                    diese „militärische Spezialoperation“ nach den
rence: Do Military Victories Really Perform Better Than Peace       Vorstellungen des Kremls in wenigen Wochen
Agreements? Causal Claims and Underpinning Assumptions              hätte erfolgreich beendet sein sollen. Für diese
Revisited, in: Civil Wars 4/2021, S. 612–636.
11 Vgl. Therese Pettersson/Magnus Öberg, Organized
Violence, 1989–2019, in: Journal of Peace Research 4/2020,          14 Vgl. William Zartman, The Timing of Peace Initiatives:
S. 597–613.                                                         Hurting Stalemates and Ripe Moments, in: Global Review of
12 Vgl. Kreutz (Anm. 4), S. 246.                                    Ethnopolitics 1/2001, S. 8–18.
13 So Wolfgang Schreiber (Anm. 5).                                  15 Vgl. Schreiber (Anm. 5).

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